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Full text of "Germanistische Abhandlungen"

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Das  Priämel 

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bis  Hans  Rosenplüt 


Studien  zur  Volkspoesie 


von 


Karl  Euling  i 


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Breslau 

Verlag  von  M.  &  H.  Marcus 

1905 


Vorwort 

Wenn  es  möglich  geworden  ist,  den  ersten  bis  Hans  Bosen- 
plüt  reichenden  Band  dieser  Priamelstadien  vorzulegen,  so  ver- 
dankt man  es  zeitweiliger  Förderung  der  Preußischen  Unterrichts- 
Verwaltung;  eine  mit  deren  Unterstützung  unternommene  Beise 
verschaffte  erst  einen  Überblick  über  das  wirklich  erhaltene  Ma- 
terial süddeutscher  und  österreichischer  Bibliotheken,  wobei  am 
wichtigsten  die  Auffindung  einer  Priamelrede  wurde,  und  gelegent- 
lich bewilligte  Beurlaubung  gestattete  das  Dargebotene  zu  einem 
wenigstens  formellen  Abschluß  zu  bringen. 

Im  übrigen  ist  die  Arbeit  wieder  durchweg  kärglicher  Muße 
langsam  abgerungen  und  verleugnet  auch  nirgends  die  Schwierig- 
keiten, die  sich  aus  der  Benutzung  einer  nur  kleinen  deutschen 
Bibliothek  ergeben. 

Die  Chronologie  des  Spruchmaterials  ist  nichts  weniger  als 
abgeschlossen.  Daß  der  oft  auf  ferne  Zusammenhänge  gerichtete 
Blick  Nahes  übersehen  und  verfehlt  hat,  ist  mit  Sicherheit  voraus- 
zusetzen; doch  solche  Fehler  von  vornherein  auszuschalten,  ging 
nicht  an.  Den  beiden  Einwänden  gegenüber,  ich  sei  zu  weitläufig 
gewesen  oder  habe  mir  die  Sache  zu  leicht  gemacht,  berufe  ich 
mich  auf  Garlyles  Ansicht  über  Oründlichkeit.  Wer  aber  unter 
günstigeren  Umständen  schafft,  wird  an  manchen  Punkten  weiter- 
kommen, „und  nichts  wird  förderlicher  sein,  als  wenn  jeder  an 
seinem  Platze  festhält,  weiß,  was  er  vermag,  ausübt,  was  er  kann, 
andern  dagegen  die  gleiche  Befugnis  zugesteht,  daß  auch  sie 
wirken  und  leisten. '^ 


Königsbergs  im  Oktober  1905 


Karl  Euling 


141711 


Übersicht  des  Inhaltes 


Zur  ElnflUinuig  S.  1-^3. 

I.  Begriff  des  Priamek  S.  4—39.  Kritik  früherer  Definitionen  S.  5—13. 
Eigene  Definition  des  fertigen  Priamels  S.  13—16.  Unterschied  von 
verwandten  Gattungen:  Prosasentenzen  S.  16 — 17.  Triaden  S.  17 — 20. 
Sprichwort,  Gnome  S.  20—21.  öaptcnuc  S.  21 — 22.  Kampfgespräch 
S.  22.  Spottlied  S.  23.  Akrostichon,  ABC -Sprüche,  Zahlenlieder, 
Leberreime  S.  24.  Arbeitslied,  Kinderreim  S.  25—26.  Schnaderhüpfel 
S.  26^29.  Gento  S.  29—30.  Quodlibet  S.  30—34.  Abenteuerliche 
Bede  S.  35.  Lügenspruch  S.  35-36.  Rätsel  S.  36— 37.  Epigranmi 
S.  37.  Madrigal  S.  37.  Ikon  S.  37—38.  Ghasel  S.  38.  Sonett  S.  38; 
TergL  S.  137—140. 

IL  Rame  des  Priamels  S.  40—62.  Begrenzter  Umfang  der  Be- 
zeichnung S.  40 — 41.  Die  musikalische  Bedeutung  bei  Kosenplüt 
S.  41 — 44.  Das  Priamel  als  primitive  instrumentale  Improvisation 
S.  44—58.  Priamel  in  Predigt  und  Fechtkunst  S.  58—59.  Form  des 
Wortes  S.  59 — 60.    Anwendung  auf  das  Improvisationsgedicht  S.  61. 

IlL  Zur  Überlieferang  des  Priamels  S.  63—80.  —  1.  Schriftliche  Über- 
lieferung S.  63 — 71.  Angebliche  Priamelhandschriften  S.  64 — 65. 
Yor-Rosenplütsche  Überlieferung  S.  65.  Die  Priamelrede  S.  65—66; 
Torgl.  S.  396  ff.  Beste  des  Trierer  Spruchbuches  S.  66.  Die  Haupt- 
masse der  Überlieferung  S.  67— 71.  —  2.  Mündliche  Überlieferung 
8.  71—80.  Volkspoesie  und  Kunstdichtung  ein  Zirkel  S.  72—74. 
Beispiele  S.  74—80. 

lY.  Weitliteratiir  und  Priamel  S.  81—141.  —  1.  Allgemeine  Bedenken 
gegen  bisher  geübte  Yergleichung  S.  82 — 92.  —  2.  Ein  Beispiel 
S.  92—102.  —  3.  Indisches  S.  102—111.  —  4.  Biblisches  S.  111—114. 
—  5.  Mittellateinisches  S.  114—118.  —  6.  Finnisches  S.  118—126. 
,yDie  altgermanische  Priamel''  S.  124  ff.  —  7.  Romanisches  S.  127 — 140. 
->  8.  Folgerungen  S.  140—141. 


VII 


y.  Theorien    ssar    Entstebang    und  Torgresciiiehte    des    Prlaniels 

S.  142— 165.  —  I.  Theorien  über  die  Entstehung  der  Form  befrie- 
digen nicht  S.  142—146.  —  2.  Insbesondere  ist  das  Priamel  nicht 
ohne  weiteres  aus  der  Häufung  entstanden  S,  147 — 165.  „Die  angel- 
sächsischen und  altnordischen  Ptiameln^  S.  156  ff. 

VI.  Der  PrlamelYlerzetler  S.  166—417.  —  1.  Allgemeines  S.  166-180. 
Die  Volkspoesie  ist  nicht  tot  S.  168.  —  Unformuliertes  intuitives 
Denken  S.  169.  —  Gnomische  Rede  S.  169—171.  —  Gnome,  Sprich- 
wort, Spruch  S.  171—173.  —  Theorien  über  Entstehung  rhythmischer 
Formen  S.  174—175.  —  Rhythmus  S.  176.  —  Viertakter  S.  177  bis 
179.  —  2.  Vorformen:  Einzeller  bis  Elfzeiler  S.  180— 186.  „Die 
abgekürzten  Priameln''  S.  182  f.  Vierzeiler  und  PriameWierzeiler 
S.  186—203.    —  \  Typen   des  Priamelvierzeilers  S.  203—244.    — 

4.  Seine  Verwendung  in  der  Volkspoesie:  im  Arbeitsgesang  S.  245, 
in  Zauberformeln  S.  245—253,  Wunsch  und  Gruß  S.  253—256, 
Rätsel   S.  257—258,    Kinderlied   und   Volksreim    S.  258—270.    — 

5.  Der  deutsche  PriameWierzeiler  bis  zum  16.  Jh.  S.  270 — 417.  — 
Unliterarisches  Vorleben  bis  zum  12.  Jh.  S.  271 — 285.  Er  wird  im 
13.  Jh.  volksliterarisch  selbständig  S.  285  ff.  Freidank  S.  286—294. 
Spervogel^  Herger  S.  295.  Cato,  Tischzuchten  S.  296—298.  Thomasin 
von  Circlaria  S.  298.  Konrad  von  Haslau  S.  299.  Spiegel  der 
Tugenden  S.  299—300.  Wolfram  S.  301.  Hugo  von  Trimberg 
S.  301-313.  Vierzehntes  Jahrhundert  S.  314  ff.  Michel  Scherer 
S.  338  ff.  Genrebild  S.  339-343.  Inschriften  S.  344—346.  Hugo 
von  Montfort  S.  346—347.  Heinrich  Wittenweiler  S.  347.  Hans 
Kebicz  S.  350—351.  Das  Narrenschiff  1494  S.  352—354.  Sebastian 
Brant  S.  354—356.  Mitteldeutsches  S.  356—357.  Niederrheinisches 
S.  357—358.  Mittelniederländisches  S.  358—364.  Mittelnieder- 
deutsches S.  364-387.  Lateinisches  S.  387—389.  Den  letzten 
Schliff  erhält  der  Priamelvierzeiler  im  Nürnberger  Fastnachtsspiel 
S.  389  ff.  Die  Priamelrede  S.  396  402.  Verbreitung  S.  403  ff. 
,Ich  leb  und  waiß  nit  wie  langk'  S.  408—414.   Rückblick  S.  414-  417. 

Vn.  Piiamelhalle  Reimpaare  S.  418—462.  Längere  Reihen  in  der 
Stegreifdichtung  S.  419—425.  Weiterentwicklung  des  Vierzeilers 
S.  425—427.  Heinrich  von  Melk  S.  427.  Wemher  von  Elmendorf 
S.  427.  Die  mhd.  „Präambulisten«  S.  428.  Konrad  von  Würzburg 
S.  429.  Der  Wolf  in  der  Schule  S.  430.  Freidank  S.  431—435. 
Thomasin  S.  435—437.  Sermones  nuUi  parcontes  S.  438—440.  Sei- 
fried Helbling  S.  440—442.  Hugo  von  Trimberg  S.  442—450. 
Boner  S.  451.  Vintler  S.  453.  Praeambnla  Batava  vetustissima 
S.  454 — 461.     Niederrheinische   und  lateinische  Reime  S.  461 — 462. 

VIII.  Piiamelhalte  Formen  Im  Minne-  nnd  Meister-Gesang  S.  463—483. 
Spervogel    S.  464.     „Reinmar  der   Alte"*  S.  465*    Walther   S.  466. 


vni 

Relnrnsr  Ton  Zweier  S.  466—470.  Marner  S.  470.  TanDhäuser 
S.  470—472.  Der  Unverzagte  S.  472.  Stolle  S.  473.  Boppe  S.  474. 
Raumsland  S.  476.  Frauenlob  S.  476 — 478.  Unechte  Reinmarsprüche 
S.  479—480.    Beurteüung  S.  481—483. 

IX.  HauB  Bosenpint  S.  484—583.  —  1.  Rosenplnt  und  Nürnberg  S.  484 
bis  490.  Seine  spezifische  Begabung  für  das  Priamel  S.  490—494. 
Fastnachtsspiel  und  Priamel  S.  494 — 497.  —  2.  Priamel  -  Stoffe 
und -Motive  S.  498—566.  —  3.  Bau  des  klassischen  Priamels  S.  566 
bis  573.  Witz,  Humor,  Pointe,  Satire  S.  573—576.  Vortrag  S.  576 
bis  578.    Nachwirkung  S.  578—580.    Bewertung  S.  580—583. 


„Es  ist  eine  Eigenheit,  dem  Menschen  angeboren  und  mit 
seiner  Natur  innigst  verwebt,  daß  ihm  zur  Erkenntnis  das  Nächste 
nicht  genügt,  da  doch  jede  Erscheinung,  die  wir  selbst  gewahr 
werden,  im  Augenblick  das  Nächste  ist  und  wir  von  ihr  fordern 
können,  daß  sie  sich  selbs.t  erkläre,  wenn  wir  kräftig  in  sie 
dringen.  Das  werden  aber  die  Menschen  nicht  lernen,  weil  es 
gegen  ihre  Natur  ist;  daher  die  Gebildeten  es  selbst  nicht  lassen 
können,  wenn  sie  an  Ort  und  Stelle  irgend  ein  Wahres  erkannt 
haben,  es  nicht  nur  mit  dem  Nächsten,  sondern  auch  mit  dem 
Weitesten  und  Fernsten  zusammenzuhängen,  woraus  denn  Irrtum 
über  Irrtum  entspringt."  Selten  ist  gegen  die  Goethesche  Forderung, 
ein  wissenschaftliches  Objekt  zunächst  aus  sich  selbst  zu  erklären, 
so  sehr  gefehlt  wie  in  der  Bosenplütforschung.  Den  Klassiker 
des  Priamels  hat  man  zu  einem  Schüler  des  Humanismus  ge- 
stempelt und  das,  was  im  fünfzehnten  Jahrhundert  Priamel  genannt 
wurde,  in  einen  unmöglichen  Zusammenhang  mit  akademischen 
Disputationen  bringen  wollen.  Hier  wird  nun  der  Versuch  ge- 
macht, die  Priameldichtung  aus  sich  selbst  und  aus  der  Volks- 
poesie zu  verstehen'). 

Es  handelt  sich  dabei  nicht  nur  um  statistische  Stilbe- 
schreibung, so  wichtig  auch  sie  schon  für  die  Beurteilung 
poetischer  Gebilde  ist,  sondern  darum,  eine  tiefere  genetische 
Ergründung  ihrer  Struktur  anzustreben.  In  unserm  Fall  liegt 
keine  von  außen  hereingetragene  oder  aus  der  Fremde  über- 
nommene Form  vor,  wie  beim  Madrigal,  beim  Sonett  oder  bei 
ähnlichen  Erscheinungen;  eigenrichtig,  wie  uns  Meister  der  Kunst- 
wissenschaft altdeutsche  Art  haben   verstehen   gelehrt,    entwickelt 


*)  Einige    allgemein    orientierende    Bemerkungen    sind   in    den    Neuen 
Heidelberger  Jahrbüchern  XII  73  ff.  vorausgeschickt. 

Euling,  Priamel  I 


sich  auch  die  Improvisationsdichtung  des  Priamels.  War  später 
beim  Epigramm  die  Form  Nebensache,  die  Pointe,  der  witzige 
Einfall,  das  Wesentliche ^J:  so  ist  das  hier  genau  umgekehrt. 
Beim  Priamel  ist  der  pointierte  Schluß  sekundär  und  erst  spät 
entwickelt.  Das  kleine  Gebilde  hat  einen  vielleicht  typischen 
Weg  zurückgelegt,  der  von  automatischen  Anfängen  über  das 
Tanzlied  zu  wahrhaft;  künstlerischer  Ausgestaltung,  zu  Stil  im 
höchsten  Sinne  des  Wortes  führt.  An  solche  allgemeine  Fragen 
knüpfte  sich  allmählich  das  Hauptinteresse  einer  Arbeit,  die  ur- 
sprünglich nur  einer  Sammlung  der  Texte  gegolten  hatte.  Leider 
ist  die  Form  der  Behandlung  in  den  ersten  fünf  Abschnitten  weit 
mehr,  als  es  zum  Zweck  einfacher  Darlegung  wünschenswert  ge- 
wesen wäre,  durch  die  unvermeidliche  Bücksicht  auf  die  bisherige 
Forschung  bestimmt  und  eben  daduröh  wie  sie  ins  Breite  geraten, 
teilweise  ein  notgedrungenes  ^YoUvwiia  ek  t6  Trapa/p^fi«.  Aber 
andrerseits  liegt  die  üferlosigkeit  der  Debatte  auch  in  der  Natur 
des  Gegenstandes.  Volksdichtung  auf  wenige  glatte  Formeln 
zurückzuführen,  wird  niemand  gelingen;  und  wer  der  Andacht 
zum  Unbedeutenden  und  Verachteten  entbehrt,  verzichte  nur  gleich 
von  vornherein  auf  Verständnis  der  Volkspoesie  wie  des  Volkes 
überhaupt.  Volksdichtung  ist  eben  ein  lebendiger  Organismus,  und 
„organischen  Erscheinungen  gegenüber  sind  Formeln  stets  Phrasen." 
An  ihr  lernt  niemand  aus,  man  wird  recht  eigentlich  nie  mit 
ihr  fertig,  schon  weil  bei  stets  fortgesetzter  Produktion  das  Detail 
überhaupt  nicht  zu  erschöpfen  ist.  Es  bleibt  wissenschaftlicher 
Behandlung  nichts  anderes  übrig,  als  durchweg  das  Typische  und 
Gesetzmäßige  herauszuarbeiten.  Wer  dabei  auf  Vollständigkeit 
im  Einzelnen  Anspruch  erhebt,  bezeugt  nur  seine  Oberflächlichkeit. 
Besondere  Schwierigkeit  veranlaßt  die  Beschaffenheit  des 
Stoffes.  Jedes  aphoristische  Verschen  in  lebendigem  Zusammen- 
hange zu  sehen,  setzt  eine  so  allseitige  Kenntnis  mittelalterlichen 
Lebens  und  seiner  Kultur  voraus,  wie  sie  am  wenigsten  der  Ver- 
fasser sich  zutraut.  Daß  sich  die  zahlreichen  und  äußerst  ver- 
schiedenartigen Sprüche,  die  hier  zum  ersten  Mal  nach  einheit- 
lichen Gesichtspunkten  verarbeitet  sind,  jeder  für  sich  und  alle 
in  unerschöpflich  mannigfaltiger  Beziehung  auf  einander  auch  von 


')  Von  Waldberg,  Die  deutsche  Eenaissance-Lyrik  S.  210. 


andern  Seiten  betrachten  lassen,  ist  selbstverständlich;  möge  nur 
diese  Behandlung  zu  fruchtbringender  Arbeit  anregen:  ein  Anfang, 
nicht  ein  Abschluß  der  Priamelforschung  wollen  diese  Blätter 
sein,  sie  wollen,  nachdem  trotz  aller  Deutungsversuche  die  Priamel- 
form  doch  eigentlich  eine  rätselhafte  literarhistorische  Versteinerung 
geblieben  war,  ihr  Wesen  ernstlich  zur  Erörterung  stellen.  Wie 
gegen  Büchers  Gesichtspunkt  der  Arbeit  wird  man  auch  gegen 
den  hier  verfolgten  Gesichtspunkt  der  Improvisation  den  Einwand 
der  Einseitigkeit  erheben  können.  Mit  Recht,  und  mit  Unrecht: 
mit  Recht,  insofern  Ergänzungen  von  allen  Seiten  sich  bieten; 
mit  Unrecht,  insofern  ohne  eine  gewisse  Einseitigkeit  ein  Gedanke 
bestimmter  Eigenart  überhaupt  wohl  nicht  lebendig  zu  machen 
ist.  Bei  so  ungemörtelt  brüchigem-  Material,  wie  es  hier  vorliegt, 
wird  man  vorderhand  mit  ähnlichen  Zielen  sich  zufrieden  geben 
müssen,  wie  sie  Furtwängler  bei  der  Bearbeitung  der  antiken 
Gemmen  sich  gesteckt  hat^-  Auch  hier  steht  die  ganze  weitere 
Kultivierung  des  Gebietes  noch  bevor;  ungelöste  Probleme  aller 
Art^)  fordern  Monographien,  (leschichte  der  Spruchdichtung  und 
Rosen plütforschung  werden  viele  feinere  und  gröbere,  wichtigere 
und  unwichtigere  Züge  nach-  und  überhaupt  erst  aufzutragen 
haben.  Nur  erst  die  Grundlagen  einer  literaturwissenschaftlichen 
Behandlung  des  Priamels  galt  es  hier  zu  gewinnen. 


*)  Band  I  (Leipzig-Berlin  190Q)  S.  XV:  „Bei  aller  UnvoUkommenheit, 
die  niemand  mehr  empfinden  kann  als  ich,  hoffe  ich  doch  wenigstens,  mit 
diesem  Werke  einen  festen  Grund  gelegt,  einen  dauernden  Damm  gebaut 
zu  haben,  auf  dem  sich  der  Morast  nun  hesser  durchschreiten  läßt,  dem 
bisher  das  Gebiet  der  alten  Glyptik  glich,  wo  der  schwankende  Fuß  bei 
jedem  Schritt  einzusinken  drohte.  Allein  diese  Wegbannachung  war  ja  nur 
die  erste  der  Aufgaben,  die  uns  hier  gestellt  sind  ....  Mögen  sich  rasch 
.  .  .  viele  und  tüchtige  Arbeiter  einfinden." 

^)  Das  wichtigste  bleiben  die  Anfänge  der  bürgerlichen  Literatur,  die 
man  natürlich  nicht  von  1450  oder  mit  Zarncke  vom  Narrenschiff  datieren 
kann.  Wer  freilich  Versuche,  die  Frage  nach  der  Entstehung  unserer 
modernen  Literatur  von  innen  heraus  ohne  Schießpulver,  Humanismus,  Er- 
oberung Konstantinopels  und  dergleichen  zu  lösen,  für  fASTatoTiovia  hält,  käme 
dabei  wieder  nicht  auf  seine  Rechnung. 


sich  auch  die  ImprovisationsdichtuDg  des  Priamels.  War  später 
beim  Epigramm  die  Form  Nebensache,  die  Pointe,  der  witzige 
Einfall,  das  Wesentliche ^J:  so  ist  das  hier  genau  umgekehrt. 
Beim  Priamel  ist  der  pointierte  Schluß  sekundär  und  erst  spät 
entwickelt.  Das  kleine  Gebilde  hat  einen  vielleicht  typischen 
Weg  zurückgelegt,  der  von  automatischen  Anfängen  über  das 
Tanzlied  zu  wahrhaft  künstlerischer  Ausgestaltung,  zu  Stil  im 
höchsten  Sinne  des  Wortes  führt.  An  solche  allgemeine  Fragen 
knüpfte  sich  allmählich  das  Hauptinteresse  einer  Arbeit,  die  ur- 
sprünglich nur  einer  Sammlung  der  Texte  gegolten  hatte.  Leider 
ist  die  Form  der  Behandlung  in  den  ersten  fünf  Abschnitten  weit 
mehr,  als  es  zum  Zweck  einfacher  Darlegung  wünschenswert  ge- 
wesen wäre,  durch  die  unvermeidliche  Bücksicht  auf  die  bisherige 
Forschung  bestimmt  und  eben  dadurch  wie  sie  ins  Breite  geraten, 
teilweise  ein  notgedrungenes  (^YcSvwiia  ek  t6  icapa/p9ijjLa.  Aber 
andrerseits  liegt  die  Uferlosigkeit  der  Debatte  auch  in  der  Natur 
des  Gegenstandes.  Volksdichtung  auf  wenige  glatte  Formeln 
zurückzuführen,  wird  niemand  gelingen;  und  wer  der  Andacht 
zum  Unbedeutenden  und  Verachteten  entbehrt,  verzichte  nur  gleich 
von  vornherein  auf  Verständnis  der  Volkspoesie  wie  des  Volkes 
überhaupt.  Volksdichtung  ist  eben  ein  lebendiger  Organismus,  und 
„organischen  Erscheinungen  gegenüber  sind  Formeln  stets  Phrasen." 
An  ihr  lernt  niemand  aus,  man  wird  recht  eigentlich  nie  mit 
ihr  fertig,  schon  weil  bei  stets  fortgesetzter  Produktion  das  Detail 
überhaupt  nicht  zu  erschöpfen  ist.  Es  bleibt  wissenschaftlicher 
Behandlung  nichts  anderes  übrig,  als  durchweg  das  Typische  und 
Gesetzmäßige  herauszuarbeiten.  Wer  dabei  auf  Vollständigkeit 
im  Einzelnen  Anspruch  erhebt,  bezeugt  nur  seine  Oberflächlichkeit. 
Besondere  Schwierigkeit  veranlaßt  die  Beschaffenheit  des 
Stoffes.  Jedes  aphoristische  Verschen  in  lebendigem  Zusammen- 
hange zu  sehen,  setzt  eine  so  allseitige  Kenntnis  mittelalterlichen 
Lebens  und  seiner  Kultur  voraus,  wie  sie  am  wenigsten  der  Ver- 
fasser sich  zutraut.  Daß  sich  die  zahlreichen  und  äußerst  ver- 
schiedenartigen Sprüche,  die  hier  zum  ersten  Mal  nach  eiuheit- 
lichen  Gesichtspunkten  verarbeitet  sind,  jeder  für  sich  und  alle 
in  unerschöpflich  mannigfaltiger  Beziehung  auf  einander  auch  von 


')  Von  Waldberg,  Die  deutsche  Eenaissance-Lyrik  S.  210. 


andern  Seiten  betrachten  lassen,  ist  selbstverständlich;  möge  nur 
diese  Behandlung  zu  fruchtbringender  Arbeit  anregen:  ein  Anfang, 
nicht  ein  Abschluß  der  Priamelforschung  wollen  diese  Blätter 
sein,  sie  wollen,  nachdem  trotz  aller  Deutungsversuche  die  Priamel- 
form  doch  eigentlich  eine  rätselhafte  literarhistorische  Versteinerung 
geblieben  war,  ihr  Wesen  ernstlich  zur  Erörterung  stellen.  Wie 
gegen  Büchers  Gesichtspunkt  der  Arbeit  wird  man  auch  gegen 
den  hier  verfolgten  Gesichtspunkt  der  Improvisation  den  Einwand 
der  Einseitigkeit  erheben  können.  Mit  Recht,  und  mit  Unrecht: 
mit  Becht,  insofern  Ergänzungen  von  allen  Seiten  sich  bieten; 
mit  Unrecht,  insofern  ohne  eine  gewisse  Einseitigkeit  ein  Gedanke 
bestimmter  Eigenart  überhaupt  wohl  nicht  lebendig  zu  machen 
ist.  Bei  so  ungemörtelt  brüchigem-  Material,  wie  es  hier  vorliegt, 
wird  man  vorderhand  mit  ähnlichen  Zielen  sich  zufrieden  geben 
müssen,  wie  sie  Furtwängler  bei  der  Bearbeitung  der  antiken 
Gemmen  sich  gesteckt  hat^).  Auch  hier  steht  die  ganze  weitere 
Kultivierung  des  Gebietes  noch  bevor;  ungelöste  Probleme  aller 
Art^)  fordern  Monographien,  beschichte  der  Spruchdichtung  und 
Rosenplütforschung  werden  viele  feinere  und  gröbere,  wichtigere 
und  unwichtigere  Züge  nach-  und  überhaupt  erst  aufzutragen 
haben.  Nur  erst  die  Grundlagen  einer  literaturwissenschaftliclien 
Behandlung  des  Priamels  galt  es  hier  zu  gewinnen. 


*)  Band  I  (Leipzig-Berlin  190Q)  S.  XV:  „Bei  aller  UnvoUkommenheit, 
die  niemand  mehr  empfinden  kann  als  ich,  hoffe  ich  doch  wenigstens,  mit 
diesem  Werke  einen  festen  Grund  gelegt,  einen  dauernden  Damm  gebaut 
zu  haben,  auf  dem  sich  der  Morast  nun  besser  durchschreiten  läßt,  dem 
bisher  das  Gebiet  der  alten  Glyptik  glich,  wo  der  schwankende  Fuß  bei 
jedem  Schritt  einzusinken  drohte.  Allein  diese  Wegbarmachung  war  ja  nur 
die  erste  der  Aufgaben,  die  uns  hier  gestellt  sind  ....  Mögen  sich  rasch 
.  .  .  viele  und  tüchtige  Arbeiter  einfinden." 

^)  Das  wichtigste  bleiben  die  Anfänge  der  bürgerlichen  Literatur,  die 
man  natürlich  nicht  von  1450  oder  mit  Zarncke  vom  Narrenschiff  datieren 
kann.  Wer  freilich  Versuche,  die  Frage  nach  der  Entstehung  unserer 
modernen  Literatur  von  innen  heraus  ohne  Schießpulver,  Humanismus,  Er- 
oberung Konstantinopels  und  dergleichen  zu  lösen,  für  [xaxaioTrovfa  hält,  käme 
dabei  wieder  nicht  auf  seine  Rechnung. 


L 

Begriff  des  Priamels. 


In  Kanst  und  Wissenschaft  sowie  in  Tan 
und  Handeln  kommt  alles  darauf  an,  daß  die 
Olüekte  rein  aufgefaßt  und  ihrer  Natur  gem&ß 
behandelt  werden.  Goethe. 


Kritik  früherer  Definitionen.  Eigene  Definition  des  fertigen  Priamels.  — 
Unterschied  von  verwandten  Gattungen:  Prosasentenzen,  Triaden,  Sprich- 
wort, Gnome,  öaptatu«,  Spottlied,  Akrostichon,  Leberreim,  Kinderreim, 
Schnaderhüpfel,  Cento,  Quodlibet,  abenteuerliche  Rede,  Lügenspruch,  Rätsel, 

Epigramm,  Madrigal,  Ikon,  Ghasel,  Sonett. 

Daß  in  der  Volkspoesie  alles  strenge  Klassifizieren  vom  Obel 
sei,  ist  jetzt  allgemeine  Überzeugung,  und  eine  normative  Definition 
an  die  Spitze  der  Untersuchung  zu  stellen,  wäre  selbst  bei  einem 
so  charakteristischen  Gebilde  wie  das  klassische  Priamel  mißlich, 
im  besten  Falle  wird  die  vorläufige  Determination  beschreibend  aus- 
fallen. Ebenso  unbequem  als  unvermeidlich  ist  es  dabei  manches 
vorweg  zu  nehmen,  was  später  erst  seine  rechte  Begründung  er- 
fahrt, und  sich  gelegentlich  zu  wiederholen.  So  kommt  man 
über  eine  diskursive  Untersuchung  nicht  jiinaus;  und  wenn 
Begriff  Summe,  Idee  Resultat  der  Erfahrung  ist,  so  werden  wir 
uns  hier  zunächst  mit  dem  Oeringeren  begnügen  müssen:  ein 
Querschnitt  durch  das  Gebiet  verwandter  Dichtungsgattungen  hat 
zu  zeigen,  daß  das  Priamel  ihnen  ähnlich,  aber  von  ihnen  ver- 
schieden ist.  „Erst  durch  die  negative  Ergänzung:  nicht  so  und 
nicht  so,  gewinnt  die  positive  Schilderung  Relief  und  wird  der 
Begriff  aus  dem  Worte  erlöst." 


1. 

Man  hat  sich  bisher  hauptsächlich  bemüht  aus  dem  Namen 
des  Priamels  sein  Wesen  zu  bestimmen,  ohne  seine  innere  Form 
zu  erkennen.  Die  Fruchtbarkeit  etymologischer  Deutungen  ist 
im  allgemeinen  keineswegs  zu  bestreiten,  wenn  auch  der  Glaube 
an  die  blaue  Blume  des  Etymons  im  Schwinden  begriffen  ist*); 
doch  einseitig,  ohne  vollständige  Kenntnis  des  Gegenstandes  geübt, 
führen  sie  oft  zu  bloßen  Nominaldefinitionen,  die  den  Inhalt  des 
Begriffes  nicht  erschöpfen.  Selten  dürften  also  die  Namen  allein 
sichern  Aufschluß  über  den  Begriff  geben;  häufig  entspringen  die 
Bezeichnungen  sogar  Mißverständnissen,  wie  der  Name  des  latei- 
nischen Accusativs,  immer  sind  sie  als  Termini  technici  konventio- 
nell. Man  vergleiche  die  Entwicklungsgeschichte  der  klassifizieren- 
den literargeschichtlichen  Bezeichnungen  wie  Sonett,  Idyll,  Epi- 
gramm^), Novelle,  Roman  ^),  Tragödie*)  u.  s.  w„  stets  ergibt  sich,  daß 
Name  und  Begriff  zu  einander  in  dem  Verhältnis  eines  Kompromisses 
stehen,  aber  sich  nicht  völlig  decken.  Regelmäßig  findet  Ausdehnung 
des  Namens  auf  analoge  Erscheinungen  früherer  und  späterer  Zeit 
statt.  Daher  schon  kann  der  Name  alleiu  nicht  den  Ausschlag 
geben.  Es  entscheidet  bei  der  Begriffsbestimmung  für  Modeworte 
wie  Priamel,  Madrigal  oder  Lais^),  nicht  der  Name,  sondern  die 
literarhistorischen  Tatsachen;  „in  Kunst  und  Wissenschaft  sowie 
in  Tun  und  Handeln  kommt  alles  darauf  an,  daß  die  Objekte 
rein  aufgefaßt  werden"*). 

*)  Zeitschrift  für  deutsche  Philologie  32,  415.  Von  Wilamowitz- 
Moellendorff,  Eeden  und  Vorträge  S.  7.  Thurneysen,  Prorektoratsrede 
über  Etymologie.     Freiburg  i.  B.  1904.     S.  36  ff.  60. 

')  Plinius,  Ep.  4,  14.  Lessing  11,  257  (Muncker).  Reitzenstein, 
Epigramm  und  Skolion  S.  87  ff.     Seh  er  er,  Poetik  S.  126. 

3)  Rohde,  Der  griechische  Roman  S.  350. 

*)  Rohde  S.  351  f.  QF.  12,  17.  W.  Gl oetta, .Beiträge  zur  Literatur- 
geschichte des  Mittelalters  und  der  Renaissance  I,  1  ff.  Komödie  und 
Tragödie  im  Mittelalter  S.  46. 

*)  Auch  der  Name  sonet  beweist  bei  den  Provencjalen  nichts  für  das 
Sonett.  Welti,  Geschichte  des  Sonettes  S.  18  f.  Gröber,  im  Grundriß 
der  romanischen  Phil.  11^  659  f.  Hertz,  Spielmannsbuch  S.  46^.  —  „Man 
sieht  .  .  .,  welch  ein  unfruchtbares  und  armseliges  Verfahren  es  ist,  mit 
einer  Worterklärung  .  .  .  anzufangen  und  aus  dieser  alles  herausspinnen  zu 
Wollen."     W.  Schlegel,  Vorlesungen,  hg.  von  Minor,  1,  263- 

®)  Goethe,   Maximen  und  Reflexionen  JI.     „Mit  Worterklärungen  und 


Nur  auf  Grund  einer  vollständigen  Induktion  gelangt  man 
auch  hier  zu  gesichertem  Ergebnis.  Das  Material  Lessings  und 
Eschenburgs  war  sehr  mangelhaft  ^),  die  Ausdeutung  dieses  Materials 
ein  Notbehelf.  Herder  hat  sie  geliefert  und  damit  die  erste 
Definition  des  Priamels  gegeben.  „Es  wird  ....  erst  lange 
präambulirt  und  dann  folgt  der  kurze  Schluß  oder  Aufschluß  .... 
Priamel  ist  also  ein  kurzes  Gedicht  mit  Erwartung  und  Aufschluß; 
gerade  die  wesentlichen  Stucke,  in  die  Lessing  das  Sinngedicht 
setzet^).'' 

Diese  Erklärung  berücksichtigt  nur  die  eine  Hauptform  des 
klassischen  Priamels,  das  synthetische,  und  sucht  nur  den 
wörtlichen  Sinn  des  lateinischen  Praeambulum  in  der  ganzen 
Gattung  des  Priamels  wiederzufinden^);  sie  ist  also  zu  eng.  Daß  sie 
unermüdlich  bald  mit  größerer,  bald  mit  geringerer  Sicherheit 
wiederholt  wird,  benimmt  ihr  nichts  von  ihrer  Unrichtigkeit.  In 
allen  Fällen  mangelte  es  an  hinreichender  Übersicht  und  Erwägung 
der  wirklich  vorhandenen  Beispiele*). 


zufallig     aufgehaschten     Merkmalen     ist    demnach     nichts     ausgerichtet.^ 
W.  Schlegel,  Vorlesungen  1,  266. 

*)  Göttinger  Beiträge  zur  deutschen  Philologie  2,  4. 

s)  Suphan  15,  121  ff. 

3)  Es  ist  derselbe  typische  Irrtum,  der,  wie  Eeitzenstein  gezeigt  hat, 
die  Erkenntnis  des  Epigramms  hinderte.  Wie  wenig  berechtigt  es  ist,  sich 
auf  die  ursprüngliche  Bedeutung  des  Wortes  Praeambulum  zu  beschränken, 
lehrt  z.  B.  Leonhard  Kleber,  der  Praeambulum  sogar  mit  Finale  identi- 
fiziert. Blatt  162b.  Vgl.,Loewenfeld,  L.  Kleber.  Berlin  1897.  S.  54A. 
Allgemein  vertauschen  die  Musiker  Praeambulum  mit  Fantasia,  Automata 
und  dergleichen:   noch  J.  Seb.  Bach.     The  Oxford  History  of  Music  4,  154. 

*)  Schon  in  den  N.  Heidelberger  Jahrbüchern  XII  78  wurde  erwähnt, 
daß  Herder  dem  Priam«l  auch  noch  die  Spitzmarke  der  Meistersängerei  mit 
auf  den  Weg  gegeben  hatte.  Das  Priamel  hat  darunter,  wie  andere  Er- 
zeugnisse der  spätmittelalterlichen  Literatur  [vgl.  z.  B.  Münchener  Sitzungs- 
berichte III  (1873)  671  ff.  1891,  639  ff.  Max  Koch,  Geschichte  der  deutschen 
Literatur.  Zweite  Auflage,  S.  56  ff.]  bis  auf  Victor  Hehn  (Über  Goethes 
Hermann  und  Dorothea.  Zweite  Auflage,  S.  110)  zu  leiden  gehabt.  Das 
Priamel  hat  an  sich  nichts  mit  dem  Meistergesang  zu  tun.  Ohne  Eingehen 
auf  Herders  Auffassung  und  ohne  Kenntnis  der  Literatur  sind  diese  Fragen 
wieder  von  Reinke,  Herder  als  Übersetzer  altdeutscher  Gedichte.  Münster 
1902,  S.  52  f.  behandelt. 


Jakob  Grimm  schloß  sich  in  einer  Becension  der  Weckher- 
linschen  Beiträge  dieser  Definition  an  und  nahm  die  Gattung 
als  urgermanisch  in  Anspruch.  „Wenn  man  je  gegen  Namen 
eifern  soll,  so  müßte  es  gegen  dieses  Wort  geschehen,  welches 
aus  präambul  entstanden,  eine  sehr  charakteristische  Gattung 
urgermanischer  Spruchweisheit  bezeichnet.  Es  ist  eine  Reihe  von 
Spruchen,  die  mit  einem  auf  alle  einzelnen  passenden  Schluß  zuletzt 
vereinigt  werden^)."  Eigene  Studien  hat  er  trotz  der  im  ersten 
Satz  ausgedrückten  Zweifel  ebensowenig  wie  Wilhelm  Grimm^) 
der  Frage  widmen  können.  Noch  Ehrismann  hält  Herders 
Standpunkt  fest,  wenn  er  auch  mit  Scherer  eine  strengere  und 
losere  Form  unterscheidet^). 

Den  entgegengesetzten  Einwand  muß  man  gegen  die  neueste  ^) 
Erklärung  erheben,  welche  das  Priamel  mit  dem  Witz  gleich- 
setzen  wilP).     Die  Definition  ist   viel   zu   weit,   schon    weil   es 


1)  Kleinere  Schriften  6,  103. 

2)  Bescheidenheit  S.  CXXH. 

^)  Anzeiger  für  deutsches  Altertum  25,  164;   166. 

*)  Nur  neu  ist  sie  nicht;  einen  ähnlichen  vagen  Begriff  versuchte 
schon  1863  der  Grosätti  us'm  Leberberg  (Franz  Josef  Schild)  einzuführen. 
Grosätti  3«,  46.    Nr.  105  ff. 

5)  Uhl,  Die  deutsche  Priamel,  ihre  Entstehung  und  Ausbildung.  Mit 
Beiträgen  zur  Geschichte  der  deutschen  Universitäten  im  Mittelalter. 
Leipzig  1897.  Vgl.  Literarisches  Centralblatt  1898,  S.  1490  f.  Deutsche 
Literaturzeitung  1899,  S.  303 ff.  Ehrismann  a.  a.  0.  Der  Verfasser  hat 
es  dem  Leser  schwer  gemacht,  seinen  Ansichten  gerecht  zu  werden.  Es 
finden  sich  Widersprüche  und  Inkongruenzen:  Auf  eins  habe  ich  schon 
in  der  D  L  Z.  a.  a.  0.  hingewiesen ;  es  betrifft  das  Verhältnis  zur 
indischen  Gnomik ;  S.  26  heißt  die  Priamel  ein  Studentenwitz,  S.  536  wird 
sie  Scholaren witz  umgenannt;  S.  28  wird  das  Quodlibet  mit  Disputationen 
in  Verbindung  gebracht,  S.  280  angedeutet,  es  sei  keineswegs  so  jung,  wie 
man  annehme,  S.  441  gesagt:  „Aus  den  Zeiten  vor  Menantes  habe  ich  kein 
Quodlibet  finden  können,^  S.  260  der  Koker  als  Quodlibet  nicht  erkannt, 
S.  29  aber  Goethes  „Brautnacht"  irrtümlich  in  diesen  Zusammenhang  ein- 
gefügt, S.  28  das  Quodlibet  eine  Liedergattung  genannt;  S.  39  wird  „Plures 
crapula  quam  gladio  moriuntur"  als  deutsches  Sprichwort  angesprochen, 
S.  322  aus  Franck  Jesus  Sirach  als  Quelle  angegeben  (näheres:  Denker, 
Ein  Beitrag  zur  literarischen  Würdigung  Friedrichs  von  Logau  S.  24) ;  S.  81 
soll  akademische  Sitte  Vorläufer  der  modernen  Priamel  sein,  S.  209  ist  sie 
schon  in  der  Edda  vorhanden;  S.  93  wird  für  die  Priamel  der  Handschrift 
FG  ein  Schreiber   zugegeben,    S.  99,    108   wird  von  mehreren  gesprochen 


8 


unzählige  Witze  gibt,  die  keine  Piiamel  sein  können;  sie  hebt 
die  Kunstgattung  des  Priamels  auf,  ohne  von  der  Existenz  der 
Priamelrede  zu  wissen  „Je  mehr  sich  der  Begriff  der  Priamel 
verwirrte,  um  so  mehr  wurde  er  zugleich  erweitert."  Insofern 
diese  Definition  sich  alsdann  auf  unwirkliche  und  unhistorische 
Voraussetzungen  und  mangelhafte  Beherrschung  des  Gegenstandes 
stützt,  wird  sie  durch  die  geschichtlichen  Tatsachen  widerlegt. 
Der  so  fingierte  Scholaren witz  „der  deutschen  Priamel"  hat  mit 
dem,  was  das  Priamel  gewesen  ist,  nichts  gemein.  Verleitete 
bei  der  Herdersehen  Erklärung  der  Mangel  des  Materials  zum 
Irrtum,  so  verwirrte  hier  die  nicht  mehr  zu  bewältigende  Fülle 
eines  fremden,  gewaltsam  gepreßten  Materials  in  Verbindung 
mit  Verkennung  des  eigentlichen  Gegenstandes.  Die  witzige 
geistreiche  Sentenz  ist  an  und  für  sich  noch  keine  literarische 
Gattung,  an  keine  bestimmte  Form  gebunden  und  de  Laroche- 
foucauld  auch  kein  Priameldichter. 

Philosophische  und  ästhetisch-psychologische  Literaturbetrach- 
tung hat  unser  historisches  Problem  als  solches  auch  nicht 
fördern  können.  R.  M.  Werners  Betrachtungen  gipfeln  in 
der  das  Wesen  des  Priamels  doch  verkennenden  Annahme  langer 
lyrischer  Priamel.  Zunächst  baut  Werner  seine  Ansicht  wieder 
auf  den  irrigen  Begriff  des  Präambulierens.  „Allerdings  gibt 
es  eine  Gattung  des  Monologs,  welche  mit  dem  Rätsel  einiger- 
maßen verwandt  ist  und  fast  mit  denselben  Worten  Goethes 
charakterisiert  werden  könnte,  wie  das  Rätsel.  Dem  Rätsel  ist 
eigen,  daß  die  vorgetragenen  Momente,  Züge,  Besonderheiten  erst 
dann  wirkliches  Leben  empfangen,  wenn  das  lösende  Wort  be- 
kannt ist,  dieses  lösende  Wort  muß  aber  der  Zuhörer  aussprechen. 
Nun  kennen  wir  eine  Gattung,  welche  ganz  ebenso  Momente, 
Züge,  Besonderheiten  erwähnt,  welche  so  lange  unverständlich 
bleiben,  als  der  Dichter  nicht  das  Wort  ausgesprochen,  das  sie 
zu  einer  höheren  Einheit  zusammenfaßt;  man  nannte  solche  Ge- 
dichte Priameln,    weil  längere  Zeit    präambuliert    wird,    ehe    der 


(A.  f.  d.  A.  25,  162);  S.  97  soll  ein  Stück  aus  F  eins  der  ältesten  Beispiele 
«einer  Priamel  mit  Pointe**  sein,  S.  212  wird  schon  Havamal  85  ff.  dazu  ge- 
macht: S.  117  ist  ,,die  Priamel"  ein  Witz,  ebenda  ein  Rätsel,  S.  112  ein 
Mischmasch;  S.  260  ist  der  Verfasser  des  Kokers  unbekannt,  S.  263  ver- 
mutlich Hackmann,  S.  539  Bote. 


Abschluß  erfolgt"  „Die  Priamel  kann  man  nach  dem  Gesagten 
mit  dem  Rätsel  vergleichen,  muß  sie  aber  zum  Vortragsmonolug 
stellen,  sie  ist  nur  sehr  selten  dialogisch.**  Wollte  man  in  dieser 
Weise,  ohne  die  innere  Form  des  Priaraels  als  maßgebend  zu 
betrachten,  nur  nach  dem  äußern  syntaktisch-rhetorischen  Bau 
der  Verse  Priameldichtung  konstatieren,  so  würde  auch,  wie  wir 
sehen  werden,  Petrarca^)  unter  die  Priameldichter  gehören:  und 
welcher  Dichter*)  etwa  nicht? 

Meist  verfuhr  man  vorsichtiger.  Zu  berücksichtigen  ist  auch 
hier  nur  bisher  in  der  Debatte  Übersehenes.  Rosenkranz  be- 
zeichnet das  Priamel  als  Subsumtion  einer  Menge  einzelner  kon- 
kreter Anschauungen  unter  die  Identität  eines  abstrakten  Satzes^). 
Gerber*)  erklärt  es  als  zusammengesetzte  Guome,  welche  die 
Subjektbegriffe  mehrerer  Gnomen  zusammenstellt  und  sie  mit 
einem  für  alle  passenden  Prädikate  versieht^).  Allerdings  sind  die 
einzelnen  Glieder  des  Priamels  meist  keine  selbständige  Gnomen*^), 
und  ebensowenig  sind  es  immer  gerade  die  Subjektsbegriffe,  die 
man  im  Priamel  aufgereiht  findet.  Trotzdem  ist  anzuerkennen, 
daß  Gerber  sich  von  der  mechanischen  Auffassung  dieser  Kunst- 
form nicht  hat  beeinflussen  lassen,  recht  skeptisch  den  von 
Bergmann  ^)  voreilig  konstruierten  internationalen  Zusammenhängen 
gegenüber  steht  und  das  sogenannte  Präambulieren  einzelner  Be- 


^)  Le  Rime  di  Francesco  Petrarca  rcstituite  da  Giovanni  Mestica. 
Firenze  1896.     S.  144.    No.  79. 

•  2)  Insbesondere  die  Katalogpoesie.  S  kutsch,  Aus  Virgils  Frühzeit, 
Leipzig  1901.  S.  55  ff.  Was  Werner  unter  lyrischen  Priameln  versteht, 
ergeben  seine  Beispiele.  Lyrik  und  Lyriker  S.  545  f.  W.  zitiert  Eichen- 
dorffs  „Das  ist  der  alte  Baum  nicht  mehr",  Heines  „Die  blauen  Veilchen 
der  Äugelein",  „Aus  alten  Märchen  winkt  es,"  Goethes  „Freudvoll  und 
leidvoll"  und  derartiges. 

3)  Geschichte  der  deutschen  Poesie  im  Mittelalter  S.  566.  Ähnlich 
Bergmann,  Des  Hehren  Sprüche  S.  196. 

4)  Die  Sprache  als  Kunst  2,  207. 

*)  Die  Begriffe  Subjekt  und  Prädikat  als  Elemente  des  Priamels  gehen 
auf  Eschenburg  zurück.     Zur  Geschichte  und  Literatur  5,  180. 

6)  Wie  beispielsweise  in  den  Canzonen  des  Antonio  Veneziano:  Pitre, 
Proverbi  Siciliani  4,  283. 

^)  La  priamele  dans  les  differentes  litteratures  anciennes  et  modernes. 
Straßburg  und  Kolmar  1868.    Des  Hehren  Sprüche  S.  ^97. 


10 

griffe  bezweifelt.  Umsichtig  umschreibt  Boetbe^)  die  Form  der 
Priamel,  wenn  er  sagt,  daß  sie  „eine  Reibe  paralleler  Bilder  und 
GedankeD  wohlgeordoet  an  einander  reilit,  sie  gern  anaphuriscli 
verknüpft  nnd  —  wenigstens  in  ihrer  geläu%sten  Art  —  zu 
einer  Schlußpointe  sich  steigert."  Friedrich  Vogt  nennt  (in 
der  Oesehiehte  der  deutschen  Literatur.  Leipzig  und  Wien  1904*) 
S.  197)  die  Priamel  „eine  eigentümliche  Gattung,  deren  charakte- 
ristischste Form  die  ist,  dalj  eine  Keihe  scheinbar  zusammenhang- 
loser Begriffe  oder  Beobachtungen  neben  einander  gestellt  werden, 
zu  denen  dann  doch  ein  gemeinsames  Bindeglied  gefunden  wird*)." 

Wie  fern  andrerseits  der  Gegenstand  lag,  zeigt  die  Tatsache, 
daß  Bächtold  und  Comparetti  von  Priamel  en  reden ^).  Ganz 
flüchtig  nennt  Marc  Monnier  die  Priamel  eine  Art  Epigramm, 
das  durch  Aufzählung  fortschreitet*),  und  Hans  Qrasberger  führt 
in  seiner  literarhistorischen  Studio  Aber  die  Naturgeschichte 
des  Schnaderhüpfels  durch  Wiederholung  der  Fabel  vom  Ab- 
schnappen der  „Schnepper"  noch  einmal  Herders  DeflnitioD  ad 
absordum'). 

2. 

Die  größten  Verdienste  um  die  Definition  der  Form  des 
Priamets  hatte  sich  schon  im  Jahre  1870  ohne  Zweifel  Wendeler") 
erworben,  und  was  Richtiges  seitdem  in  besonnenen  urteilen  der 
Literarhistoriker  enthalten  ist,  verdankt  man  meist  Wendeler. 
Vor  ihm  verfügte  niemand  über  eine  so  gründliehe,  wenn  anch 
nicht  voltständige,  Kenntnis  seines  Gegenstandes.  Er  hat  Begriff, 
Namen  nnd  Ursprung  des  Priamels  behandelt.  Während  er  in  Üer 
sachlichen  Herleitung  des  Namens  irrte,  hat  er  für  Definition 
und  Geschichte  des  Priamels  den  Weg  geniesen.  Außerdem  ist 
seine   Dissertation    reich    an    guten   Beobachtungen.     Prüfen    wir 


I)  Die  Gedichte  IteinmarB  von  Zwutct  S.  24C. 

')  Sein  Zitat  Uhls  in  Pauls  Gnindrifl  JI'  3IG  ist  ohne  Korrektiv 
vielleicht  mißverständlich. 

")  Alemannia  5,  53.     Comparetti,  Der  Kalcwala  S.  äOl. 

*)  Literaturgeschichte  der  Itenaisaance  (Deutsche  autorisierte  Ausgabe. 
Nördlingcn  1888.)    S.  20O. 

')  Naturgeschichte  doa  Schnaderhüpfels.    Leipzig  I8!)6,     S.  ö.i. 

^j  De  pracambulia  eorumque  histuria  in  Germania.  Particula  1.  De 
praeambulomm  indole,  nomine,  origise.     Halle  1870. 


11 


seine  Definition,  so  ist  allerdings  Eichard  M.  Meyer*)  zuzugeben, 
daß  sie  von  großer  ürnstäudlichkeit  und  geringer  Klarh*»it  zeugt, 
aber  ebenso  zu  betonen,  daß  ihr  Grundgedanke  besser  ist  als 
dessen  Stilisierung. 

Seite  19  f.  faßt  Wendeler  seine  Resultate  so  zusammen: 
„Priameln  sind  in  Verszahl  und  Versmaß  nicht  beschränkte,  aber 
doch  meist  kurze  und  einfache,  paarweise  gereimte,  nur  über  eine 
Reihe  scheinbar  oder  wirklich  einander  fernstehender  abstrakter 
oder  konkreter  Einzelheiten  reflektierende  Gedichte,  die  in  Deutsch- 
land vor  und  nach  der  Zeit  ihrer  Blüte  meist  direkt  moralisch 
lehrhaft,  öfter  auch  satirisch  getarbt  sind,  in  ihrer  Blütezeit  aber 
gewöhnlich  alle  jene  Einzelheiten  eben  nur  zu  einer  organischen 
Einheit  verbinden  wollen,  einmal  in  möglichst  neuer  und  un- 
erwarteter, dabei  aber  doch  nicht  immer  nur  witziger  Weise  und 
dann  durch  ein,  teils  am  Anfange  oder  am  Schluß  der  Reihe 
stehendes,  teils  in  den  einzelnen  Gliedern  stets  wiederholtes  Binde- 
glied, oder  durch  den  bis  zu  einem  gewissen  Abschluß  ge- 
steigerten Sinn.^ 

Aus  dieser  Definition  ist  als  zunächst  unzutrefTend  die  Be- 
stimmung auszuscheiden:  „in  Verszahl  nicht  beschränkte^,  weil 
endlose  Reihen  von  priamelartigen  Sprüchen  der  integrierenden 
geschlossenen  Kunstform  des  Priamels  entbehren*).  Ihre  Aus- 
dehnung widerspricht  dem  Charakter  der  Kleinkunst.  Überlange 
Improvisationen  sind  eben  keine  mehr.  Man  schießt  Pfeile  vom 
Bogen,  keine  Speere.  Die  Einheit  des  Gedichtes  wird  dabei 
mindestens  in  formeller  Hinsicht  aufgehoben,  oder  sie  ist  eine 
andere  als  im  Priamel.  Ein  gelungenes  Gedicht  des  vierzehnten 
Jahrhunderts^)    zählt   verlorene   Arbeiten    auf:    der  Kranke    liebt 


*)  Die  altgermanische  Poesie  S.  435. 

^)    Zu    erinnern    ist    an    Yavassors    Satz:     Epigramma    est    poema 

cominodum seque  ipso  absolutum.     J.  G.  Meister  meint  sogar  in 

seinen  Unvorgreifflichen  Gcdancken  Von  Teutschcn  Epigrammatibus,  Leipzig 
1698,  S.  75:  „Wo  man  schon  8,  10  und  mehr  Zeilen  durchlauften  muß,  ehe 
man  die  Mühe  durch  ein  scharffsinniges  Epiphonema  vergolten  siehet,  so 
hebet  die  Gedult  nach  und  nach  an  zu  verstiebcn.  Ja  der  Schluß  mag 
alsdcnn  so  artlich  fallen,  als  er  will,  so  hat  man  schon  den  verdrüßlichen 
('oncept  im  Kopfl'e,  und  das  Raisonemont  wird  so  gütig  nicht  gefasset,  als 
wenn  der  Leser  seinen  Appetit  zeitlicher  hätte  stillen  können. ** 

3)  Liedersaal  No.  243. 


sich  anch  die  Improvisationsdichtang  des  Priamels.  War  später 
beim  Epigramm  die  Form  Nebensache,  die  Pointe,  der  witzige 
Einfall,  das  Wesentliche  ^J:  so  ist  das  hier  genau  umgekehrt. 
Beim  Priamel  ist  der  pointierte  Schluß  sekundär  und  erst  spät 
entwickelt.  Das  kleine  Gebilde  hat  einen  vielleicht  typischen 
Weg  zurückgelegt,  der  von  automatischen  Anfängen  über  das 
Tanzlied  zu  wahrhaft;  künstlerischer  Ausgestaltung,  zu  Stil  im 
höchsten  Sinne  des  Wortes  führt.  An  solche  allgemeine  Fragen 
knüpfte  sich  allmählich  das  Hauptinteresse  einer  Arbeit,  die  ur- 
sprünglich nur  einer  Sammlung  der  Texte  gegolten  hatte.  Leider 
ist  die  Form  der  Behandlung  in  den  ersten  fünf  Abschnitten  weit 
mehr,  als  es  zum  Zweck  einfacher  Darlegung  wünschenswert  ge- 
wesen wäre,  durch  die  unvermeidliche  Bücksicht  auf  die  bisherige 
Forschung  bestimmt  und  eben  daduröh  wie  sie  ins  Breite  geraten, 
teilweise  ein  notgedrungenes  dYcuvtdfia  sie  to  irapa'/pTjfia.  Aber 
andrerseits  liegt  die  Uferlosigkeit  der  Debatte  auch  in  der  Natur 
des  Gegenstandes.  Volksdichtung  auf  wenige  glatte  Formeln 
zurückzuführen,  wird  niemand  gelingen;  und  wer  der  Andacht 
zum  Unbedeutenden  und  Verachteten  entbehrt,  verzichte  nur  gleich 
von  vornherein  auf  Verständnis  der  Volkspoesie  wie  des  Volkes 
überhaupt.  Volksdichtung  ist  eben  ein  lebendiger  Organismus,  und 
„organischen  Erscheinungen  gegenüber  sind  Formeln  stets  Phrasen." 
An  ihr  lernt  niemand  aus,  man  wird  recht  eigentlich  nie  mit 
ihr  fertig,  schon  weil  bei  stets  fortgesetzter  Produktion  das  Detail 
überhaupt  nicht  zu  erschöpfen  ist.  Es  bleibt  wissenschaftlicher 
Behandlung  nichts  anderes  übrig,  als  durchweg  das  Typische  und 
Gesetzmäßige  herauszuarbeiten.  Wer  dabei  auf  Vollständigkeit 
im  Einzelnen  Anspruch  erhebt,  bezeugt  nur  seine  Oberflächlichkeit. 
Besondere  Schwierigkeit  veranlaßt  die  Beschaffenheit  des 
Stoffes.  Jedes  aphoristische  Verschen  in  lebendigem  Zusammen- 
hange zu  sehen,  setzt  eine  so  allseitige  Kenntnis  mittelalterlichen 
Lebens  und  seiner  Kultur  voraus,  wie  sie  am  wenigsten  der  Ver- 
fasser sich  zutraut.  Daß  sich  die  zahlreichen  und  äußerst  ver- 
schiedenartigen Sprüche,  die  hier  zum  ersten  Mal  nach  einheit- 
lichen Gesichtspunkten  verarbeitet  sind,  jeder  für  sich  und  alle 
in  unerschöpflich  mannigfaltiger  Beziehung  auf  einander  auch  von 


^)  Von  Waldberg,  Die  deutsche  Benaissancc-Ljrik  S.  210. 


andern  Seiten  betrachten  lassen,  ist  selbstverständlich;  möge  nur 
diese  Behandlung  zu  fruchtbringender  Arbeit  anregen:  ein  Anfang, 
nicht  ein  Abschluß  der  Priamelforschung  wollen  diese  Blätter 
sein,  sie  wollen,  nachdem  trotz  aller  Deutungsversuche  die  Priamel- 
form  doch  eigentlich  eine  rätselhafte  literarhistorische  Versteinerung 
geblieben  war,  ihr  Wesen  ernstlich  zur  Erörterung  stellen.  Wie 
gegen  Büchers  Gesichtspunkt  der  Arbeit  wird  man  auch  gegen 
den  hier  verfolgten  Gesichtspunkt  der  Improvisation  den  Einwand 
der  Einseitigkeit  erheben  können.  Mit  Recht,  und  mit  Unrecht: 
mit  Becht,  insofern  Ergänzungen  von  allen  Seiten  sich  bieten; 
mit  Unrecht,  insofern  ohne  eine  gewisse  Einseitigkeit  ein  Gedanke 
bestimmter  Eigenart  überhaupt  wohl  nicht  lebendig  zu  machen 
ist.  Bei  so  ungemörtelt  brüchigem-  Material,  wie  es  hier  vorliegt, 
wird  man  vorderhand  mit  ähnlichen  Zielen  sich  zufrieden  geben 
müssen,  wie  sie  Furtwängler  bei  der  Bearbeitung  der  antiken 
Gemmen  sich  gesteckt  hat^).  Auch  hier  steht  die  ganze  weitere 
Kultivierung  des  Gebietes  noch  bevor;  ungelöste  Probleme  aller 
Art^)  fordern  Monographien,  Geschichte  der  Spruchdichtung  und 
Bosenplütforschung  werden  viele  feinere  und  gröbere,  wichtigere 
und  unwichtigere  Züge  nach-  und  überhaupt  erst  aufzutragen 
haben.  Nur  erst  die  Grundlagen  einer  literaturwissenschaftlichen 
Behandlung  des  Priamels  galt  es  hier  zu  gewinnen. 


*)  Band  I  (Leipzig-Berlin  190Q)  S.  XV:  „Bei  aller  Unvollkommenheit, 
die  niemand  mehr  empfinden  kann  als  ich,  hoffe  ich  doch  wenigstens,  mit 
diesem  Werke  einen  festen  Grund  gelegt,  einen  dauernden  Damm  gebaut 
zu  haben,  auf  dem  sich  der  Morast  nun  besser  durchschreiten  läßt,  dem 
bisher  das  Gebiet  der  alten  Glyptik  glich,  wo  der  schwankende  Fuß  bei 
jedem  Schritt  einzusinken  drohte.  Allein  diese  Wegbarmachung  war  ja  nur 
die  erste  der  Aufgaben,  die  uns  hier  gestellt  sind  ....  Mögen  sich  rasch 
.  .  .  viele  und  tüchtige  Ai'beiter  einfinden." 

2)  Das  wichtigste  bleiben  die  Anfänge  der  bürgerlichen  Literatur,  die 
man  natürlich  nicht  von  1450  oder  mit  Zarncke  vom  Narrenschiff  datieren 
kann.  Wer  freilich  Versuche,  die  Frage  nach  der  Entstehung  unserer 
modernen  Literatur  von  innen  heraus  ohne  Schießpulver,  Humanismus,  Er- 
oberung Konstantinopels  und  dergleichen  zu  lösen,  für  {xaiaioirov^a  hält,  käme 
dabei  wieder  nicht  auf  seine  Rechnung. 


L 

Begriff  des  Priamels. 


In  Knnst  uod  Wissenschaft  sowie  in  Tan 
und  Handeln  kommt  alles  darauf  an,  daß  die 
Objekte  rein  aufgefaßt  und  ihrer  Natur  gemäß 
behandelt  werden.  Goethe. 


Kritik  früherer  Definitionen.  Eigene  Definition  des  fertigen  Priamels.  — 
Unterschied  von  verwandten  Gattungen:  Prosasentenzen,  Triaden,  Sprich- 
wort, Gnome,  öapioru«,  Spottlied,  Akrostichon,  Leberreim,  KindeiTcim, 
Schnaderhüpfel,  Cento,  Quodlibet,  abenteuerliche  Eede,  Lügenspruch,  Rätsel, 

Epigramm,  Madrigal,  Ikon,  Ghasel,  Sonett. 

Daß  in  der  Volkspoesie  alles  strenge  Klassifizieren  vom  Obel 
sei,  ist  jetzt  allgemeine  Überzeugung,  und  eine  normative  Definition 
an  die  Spitze  der  Untersuchung  zu  stellen,  wäre  selbst  bei  einem 
so  charakteristischen  Gebilde  wie  das  klassische  Priamel  mißlich, 
im  besten  Falle  wird  die  vorläufige  Determination  beschreibend  aus- 
fallen. Ebenso  unbequem  als  unvermeidlich  ist  es  dabei  manches 
vorweg  zu  nehmen,  was  später  erst  seine  rechte  Begründung  er- 
fahrt, und  sich  gelegentlich  zu  wiederholen.  So  kommt  man 
über  eine  diskursive  Untersuchung  nicht  liinaus;  und  wenn 
Begriff  Summe,  Idee  Resultat  der  Erfahrung  ist,  so  werden  wir 
uns  hier  zunächst  mit  dem  Oeringeren  begnügen  müssen:  ein 
Querschnitt  durch  das  Gebiet  verwandter  Dichtungsgattungen  hat 
zu  zeigen,  daß  das  Priamel  ihnen  ähnlich,  aber  von  ihnen  ver- 
schieden ist.  „Erst  durch  die  negative  Ergänzung:  nicht  so  und 
nicht  so,  gewinnt  die  positive  Schilderung  Relief  und  wird  der 
Begriflf  aus  dem  Worte  erlöst." 


1. 

Man  hat  sich  bisher  hauptsächlich  bemüht  aus  dem  Namen 
des  Priamels  sein  Wesen  zu  bestimmen,  ohne  seine  innere  Form 
zu  erkennen.  Die  Fruchtbarkeit  etymologischer  Deutungen  ist 
im  allgemeinen  keineswegs  zu  bestreiten,  wenn  auch  der  Glaube 
an  die  blaue  Blume  des  Etymons  im  Schwinden  begrififen  ist*); 
doch  einseitig,  ohne  vollständige  Kenntnis  des  Gegenstandes  geübt, 
führen  sie  oft  zu  bloßen  Nominaldefinitionen,  die  den  Inhalt  des 
Begriffes  nicht  erschöpfen.  Selten  dürften  also  die  Namen  allein 
sichern  Aufschluß  über  den  Begriff  geben;  häufig  entspringen  die 
Bezeichnungen  sogar  Mißverständnissen,  wie  der  Name  des  latei- 
nischen Accusativs,  immer  sind  sie  als  Termini  technici  konventio- 
nell. Man  vergleiche  die  Entwicklungsgeschichte  der  klassifizieren- 
den literargeschichtlichen  Bezeichnungen  wie  Sonett,  Idyll,  Epi- 
gramm^), Novelle,  Roman  ^),  Tragödie*)  u.  s.  w„  stets  ergibt  sich,  daß 
Name  und  Begriff  zu  einander  in  dem  Verhältnis  eines  Kompromisses 
stehen,  aber  sich  nicht  völlig  decken.  Begelmäßig  findet  Ausdehnung 
des  Namens  auf  analoge  Erscheinungen  früherer  und  späterer  Zeit 
statt.  Daher  schon  kann  der  Name  allein  nicht  den  Ausschlag 
geben.  Es  entscheidet  bei  der  Begriffsbestimmung  für  Modeworte 
wie  Priamel,  Madrigal  oder  Lais^),  nicht  der  Name,  sondern  die 
literarhistorischen  Tatsachen;  „in  Kunst  und  Wissenschaft  sowie 
in  Tun  und  Handeln  kommt  alles  darauf  an,  daß  die  Objekte 
rein  aufgefaßt  werden"®). 

*)  Zeitschrift  für  deutsche  Philologie  32,  415.  Von  Wilamowitz- 
Moellendorff,  Reden  und  Vorträge  S.  7.  Thurneysen,  Prorektoratsrede 
über  Etymologie.    Freiburg  i.  B.  1904.     S.  36  ff.  60. 

')  Plinius,  Ep.  4,  14.  Lessing  11,  257  (Muncker).  Reitzenstein, 
Epigramm  und  Skolion  S.  87  ff.     Seh  er  er,  Poetik  S.  126. 

^  Rohde,  Der  griechische  Roman  S.  350. 

*)  Rohde  S.  351  f.  QF.  12,  17.  W.  Cloetta^Beiträge  zur  Literatur- 
geschichte des  Mittelalters  und  der  Renaissance  I,  1  ff.  Komödie  und 
Tragödie  im  Mittelalter  S.  46. 

5)  Auch  der  Name  sonet  beweist  bei  den  Proven<jalen  nichts  für  das 
Sonett.  Welti,  Geschichte  des  Sonettes  S.  18  f.  Gröber,  im  Grundriß 
der  romanischen  Phil.  11^  659  f.  Hertz,  Spielmannsbuch  S.  46^.  —  „Man 
sieht  .  .  .,  welch  ein  unfruchtbares  und  armseliges  Verfahren  es  ist,  mit 
einer  Worterklärung  .  .  .  anzufangen  und  aus  dieser  alles  herausspinnen  zu 
Wollen."     W.  Schlegel,  Vorlesungen,  hg.  von  Minor,  1,  263- 

^)  Goethe,   Maximen  und  Reflexionen  11.     „Mit  Worterkläyungen  und 


Nur  auf  Grund  einer  vollständigen  Induktion  gelangt  man 
auch  hier  zu  gesichertem  Ergebnis.  Das  Material  Lessings  und 
Eschenburgs  war  sehr  mangelhaft  ^),  die  Ausdeutung  dieses  Materials 
ein  Notbehelf.  Herder  hat  sie  geliefert  und  damit  die  erste 
Definition  des  Priamels  gegeben.  „Es  wird  ....  erst  lange 
präambulirt  und  dann  folgt  der  kurze  Schluß  oder  Aufschluß  .... 
Priamel  ist  also  ein  kurzes  Gedicht  mit  Erwartung  und  Aufschluß; 
gerade  die  wesentlichen  Stücke,  in  die  Lessing  das  Sinngedicht 
setzet^)." 

Diese  Erklärung  berücksichtigt  nur  die  eine  Haupt  form  des 
klassischen  Priamels,  das  synthetische,  und  sucht  nur  den 
wörtlichen  Sinn  des  lateinischen  Praeambulum  in  der  ganzen 
(jattung  des  Priamels  wiederzufinden^);  sie  ist  also  zu  eng.  Daß  sie 
unermüdlich  bald  mit  größerer,  bald  mit  geringerer  Sicherheit 
wiederholt  wird,  benimmt  ihr  nichts  von  ihrer  Unrichtigkeit.  In 
allen  Fällen  mangelte  es  an  hinreichender  Übersicht  und  Erwägung 
der  wirklich  vorhandenen  Beispiele*). 


zufallig     aufgehaschten     Merkmalen     ist    demnach     nichts     ausgerichtet.^ 
W.  Schlegel,  Vorlesungen  1,  266. 

*)  Göttinger  Beiträge  zur  deutschen  Philologie  2,  4. 

«)  Suphan  15,  121  ff. 

3)  Es  ist  derselbe  typische  Irrtum,  der,  wie  Reitzenstein  gezeigt  hat, 
die  Erkenntnis  des  Epigi*amms  hinderte.  Wie  wenig  berechtigt  es  ist,  sich 
auf  die  ursprüngliche  Bedeutung  des  Wortes  Praeambulum  zu  beschränken, 
lehrt  z.  B.  Leonhard  Kleber,  der  Praeambulum  sogar  mit  Finale  identi- 
fiziert. Blatt  162b.  Vgl..Loewenfeld,  L.  Kleber.  Berlin  1897.  S.  54A. 
Allgemein  vertauschen  die  Musiker  Praeambulum  mit  Fantasia,  Automata 
und  dergleichen:   noch  J.  Seb.  Bach.     The  Oxford  History  of  Music  4,  154. 

*)  Schon  in  den  N.  Heidelberger  Jahrbüchern  XII  78  wurde  erwähnt, 
daß  Herder  dem  Priamel  auch  noch  die  Spitzmarke  der  Meistersängerei  mit 
auf  den  Weg  gegeben  hatte.  Das  Priamel  hat  darunter,  wie  andere  Er- 
zeugnisse der  spätmittelalterlichen  Literatur  [vgl.  z.  B.  Münchener  Sitzungs- 
berichte III  (1873)  671  ff.  1891,  639  ff.  Max  Koch,  Geschichte  der  deutschen 
Literatur.  Zweite  Auflage,  S.  56  ff.]  bis  auf  Victor  Hehn  (Über  Goethes 
Hermann  und  Dorothea.  Zweite  Auflage,  S.  110)  zu  leiden  gehabt.  Das 
Priamel  hat  an  sich  nichts  mit  dem  Meistergesang  zu  tun.  Ohne  Eingehen 
auf  Herders  Auffassung  und  ohne  Kenntnis  der  Literatur  sind  diese  Fragen 
wieder  von  Reinke,  Herder  als  Übersetzer  altdeutscher  Gedichte.  Münster 
1902,  S.  52  f.  behandelt. 


Jakob  Grimm  schloß  sich  in  einer  Eecension  der  Weckher- 
linschen  Beiträge  dieser  Definition  an  und  nahm  die  Gattung 
als  urgermanisch  in  Anspruch.  „Wenn  man  je  gegen  Namen 
eifern  soll,  so  müßte  es  gegen  dieses  Wort  geschehen,  welches 
aus  präambul  entstanden,  eine  sehr  charakteristische  Gattung 
urgermanischer  Spruchweisheit  bezeichnet.  Es  ist  eine  Reihe  von 
Spruchen,  die  mit  einem  auf  alle  einzelnen  passenden  Schluß  zuletzt 
vereinigt  werden^)."  Eigene  Studien  hat  er  trotz  der  im  ersten 
Satz  ausgedrückten  Zweifel  ebensowenig  wie  Wilhelm  Grimm^) 
der  Frage  widmen  können.  Noch  Ehrismann  hält  Herders 
Standpunkt  fest,  wenn  er  auch  mit  Scherer  eine  strengere  und 
losere  Form  unterscheidet^). 

Den  entgegengesetzten  Einwand  muß  man  gegen  die  neueste^) 
Erklärung  erheben,  welche  das  Priamel  mit  dem  Witz  gleich- 
setzen  wilP).     Die  Definition  ist   viel    zu    weit,    schon    weil   es 


0  Kleinere  Schriften  6,  103. 

3)  Bescheidenheit  S.  CXXII. 

3)  Anzeiger  für  deutsches  Altertum  25,  164;   166. 

*)  Nur  neu  ist  sie  nicht;  einen  ähnlichen  vagen  Begriff  versuchte 
schon  1863  der  Grosätti  us'm  Leberberg  (Franz  Josef  Schild)  einzuführen. 
Grosätti  3»,  46.    Nr.  105  ff. 

*)  Uhl,  Die  deutsche  Priamel,  ihre  Entstehung  und  Ausbildung.  Mit 
Beiträgen  zur  Geschichte  der  deutschen  Universitäten  im  Mittelalter. 
Leipzig  1897.  Vgl.  Literarisches  Centralblatt  1898,  S.  1490  f.  Deutsche 
Literaturzeitung  1899,  S.  303  ff.  Ehrismann  a.  a.  0.  Der  Verfasser  hat 
es  dem  Leser  schwer  gemacht,  seinen  Ansichten  gerecht  zu  werden.  Es 
finden  sich  Widersprüche  und  Inkongruenzen:  Auf  eins  habe  ich  schon 
in  der  D  L  Z.  a.  a.  0.  hingewiesen ;  es  betrifft  das  Verhältnis  zur 
indischen  Gnomik ;  S.  26  heißt  die  Priamel  ein  Studentenwitz,  S.  536  wird 
sie  Scholarenwitz  umgenannt;  S.  28  wird  das  Quodlibet  mit  Disputationen 
in  Verbindung  gebracht,  S.  280  angedeutet,  es  sei  keineswegs  so  jung,  wie 
man  annehme,  S.  441  gesagt:  „Aus  den  Zeiten  vor  Menantes  habe  ich  kein 
Quodlibet  finden  können,"  S.  260  der  Koker  als  Quodlibet  nicht  erkannt, 
S.  29  aber  Goethes  „Brautnacht"  irrtümlich  in  diesen  Zusammenhang  ein- 
gefügt, S.  28  das  Quodlibet  eine  Liedergattung  genannt;  S.  39  wird  „Plures 
crapula  quam  gladio  moriuntur"  als  deutsches  Sprichwort  angesprochen, 
S.  322  aus  Franck  Jesus  Sirach  als  Quelle  angegeben  (näheres:  Denker, 
Ein  Beitrag  zur  literarischen  Würdigung  Friedrichs  von  Logau  S.  24);  S.  81 
soll  akademische  Sitte  Vorläufer  der  modernen  Priamel  sein,  S.  209  ist  sie 
schon  in  der  Edda  vorhanden;  S.  93  wird  für  die  Priamel  der  Handschrift 
FG  ein  Schreiber   zugegeben,    S.  99,    108   wird  von  mehreren  gesprochen 


18 

Zählen.  Es  gibt  Triaden  der  Weisheit,  des  Geizigen,  der  ge- 
bildeten Sitten,  des  Kymren,  der  Dichtkunst,  der  verschönernden 
Umschreibungen^).  In  dies  Geflecht  dürrer  Abstraktion  verirrt 
sich  gelegentlich  echt  gnomische  Weisheit,  verkümmert  aber  darin. 
Mittellateioische,  romanische  und  germanische  Literatur  kennt 
solche  Listen,  die  sich  eigentlich  nicht  über  das  Niveau  des 
Kalendermachers  erheben,  gelegentlich  auch  die  Aufzählung  des 
Priamels  kreuzen.  Beliebt  ist  im  sechzehnten  Jahrhundert  die 
Trias  Bomana^),  und  Johann  Basch^),  Organist  ^es  Wiener 
Schottenklosters,  vielschreibender  Ealendermann  und  Polyjiistor, 
stellt  1589  in  einem  besonderen  Buche  270  nützliche,  feine, 
vierteilige  Lehrpuncte  zusammen^).  Der  Titel  beruft  sich  auf 
die  alten  Weisen  und  das  alte  Testament.  Es  ist  die  Ver- 
deutschung des  Libellus  de  Virtutibus  et  Scientiis.  Tetragrammata 
seu  Arithmologia  moralia  et  Versus  Legales.  Monachii  1574, 
eine  Pflichtenlehre,  die  mit  Tod,  Gericht,  Himmel,  Hölle  schließt. 
Auch  diese  Sentenzen  fielen  dem  rührenden,  aber  schädlichen 
Sammeleifer  Wanders  zum  Opfer  und  figurieren  als  deutsche 
Sprichwörter  in  seinem  Lexikon.  Im  Indischen,  wie  im  Hebräischen  ^) 
sind  mehrteilige  Sentenzen  dieser  Art  sehr  verbreitet,  ohne  sich 
auf  Triaden  zu  beschränken.     Ans  dem  Buch   der  Beispiele   ge- 


')  Schure  (Geschichte  des  deutschen  Liedes.  Minden  1884,^  S.  45) 
macht  auf  den  offiziellen  Charakter  der  keltischen  Poesie  aufmerksam.  Eine 
Herdersche  Parahel  (Suphan  16,  147)  erzählt,  die  Repuhlik  hahe  zur  Warnung 
Tabellen  aufgestellt,  in  denen  den  Mängeln  der  Menschen  eine  Yergleichung 
beigeschrieben  gewesen:  Regenten  ohne  Gerechtigkeit,  Ströme  ohne  Wasser; 
ein  Reicher  ohne  Milde,  ein  Baum  ohne  Frucht  u.  s.  w.  Über  den  nicht 
Yolkstümlichen  Charakter  der  Triaden:    Morel-Fatio  Romania  12,   232  f. 

•)  Romanisches  aus  älterer  Zeit  Romania  12,  230.  Spanisches  aus 
Santob  de  Carrion  bei  Stein,  Untersuchungen  über  die  Proverbios  Morales 
S.  81.  Handbuchlein  oder  Yorzeichnus  etzlicher  feiner  ynd  fumehmer 
Sprüchlein  ....  Alle  auff  Drej  Dinge  gerichtet.  Dresden  1588  durch 
Gimel  Bergen. 

^)  19  a  gl  und-  Z  ei  dl  er.  Deutsch  -  Österreichische  Literaturgeschichte 
1,  560. 

*)  Vgl.  Le  quaternaire  Saint-Thomas.  Le  quatre  choses  S.  Thoma; 
deutsch:  Zeitschrift  für  Volkskunde  1901,  S.  382,  Anm.  1. 

^)  Die  jüngste  Behandlung  faßt  sie  als  Zahlenrätsel  auf.  Ed.  König, 
Stilistik,  Rhetorik,  Poetik  in  bezug  auf  die  Biblische  Literatur.  Leipzig 
1900.    S.  13.    Dagegen  Frankenberg  GGA  1901.    No.  4.     S.  277. 


19 

langen  Triadensentenzen  in  eine  Comedie  des  Hans  Sachs,  um 
alsdann  wieder  Wander  und  seine  unkritischen  Benutzer  zu  be- 
reichern. 

Eine  eigcntfimliche  Verwendung  erlebt  die  Triade  im  Anschluß 
an  das  Paternoster  und  das  Ave  Maria  gegen  Ende  des  Mittel- 
alters. Einzelne  Qebetsteile  werden  mit  ,dryerley  vslegung'  ver- 
sehen, nach  dem  Schema: 

Vatter  vnnser: 
Hoch  in  der  schöpflfung, 
Süß  in  diner  lieb, 
Rieh  in  dinem  erbteyU). 

Das  umgekehrte  Verfahren  liebt  französische  Volksdichtung 
des  ausgehenden  Mittelalters  und  reizt  zur  Parodie.  Im  Pater- 
nostre  des  Verollez,  avec  une  complaincte  contre  les  medecins') 
stehen  die  Gebetsteile  am  Schluß;   z.  B. 

Les  mcdecins  ne  voyent  goutte 
Et  ne  nous  laissent  ung  denier, 
Et  nous  avons  si  fort  la  goutte 
Que  presque  nous  fault  regnier 
Nomen  tuum. 

Die  ganze  Liianei  wird  in  der  Letanie  des  bons  Gompaignons 
mit  priamelhaftem  Inhalt  parodiert. 

De  petit  disner  et  mal  cuyt 
De  mal  soupper  et  masle  nuyt, 
Et  de  boyre  du  vin  tourne, 
Libera  nos,  Domine  ^). 

Zum  ,To  rogamus,  audi  nos^  wird  gewünscht: 

Donnez  nous  perdrix  et  pigcons, 
Graces  gelines  et  cochons, 
Et  nous  remplös  de  vin  noz  pots: 
Te  rogamus,    audi  nos. 


^)  Alemannia  12,  167.  Vgl.  Montaiglon,  Recueil  de  poesies  fran(^oises 
des  15e  et  16e  siecles  7,  299.  Thurau,  Der  Refrain  in  der  franz.  Chanson. 
Berlin  1901,  S.  281  f.  Roethe  in  der  Zeitschr.  f.  d.  A.  44,  190  flf.,  430 ff. 
Aach  heute  noch  sind  Ähnliche  Blätter  im  Volke  verbreitet. 

^)  Montaiglon,  Recueil  1,  68. 

^)  Vgl.  Spanische  Proverbios  bei  Morphy,  Die  spanischen  Lauten- 
meister des  16.  Jhs.    Leipzig  1902.    II,  157. 

2* 


20 

Donnez  nous  bon  pain,  bonne  chair, 
Et  la  belle  fiUe  au  coucher 
Pour  faire  la  beste  k  deux  doz: 
Te  rogamus,  audi  nos  *). 

Es  sind  ähnliche  Dinge,  wie  in  dem  altdeutschen  Sprach 
gewünscht  werden,  der  Luther  aufgelogen  wurde. 

Als  bloße  Spruch-  oder  Sentenzreihe  kann  das  Priamel 
übrigens,  auch  abgesehen  von  seinem  spezifischen  Bau,  nicht  gelten; 
die  besten  Priamel  sind  Genrebilder,  nichts  weniger  als  sentenziös  ^). 
B.  Steffen  hat  unbedenklich  eine  Abteilung  der  Stevs  Genrebilder 
überschrieben. 

„Die  Sprichwörter  stellen  den  Übergang  von  der  un- 
gebundenen zur  gebundenen  Bede  in  seinen  mannigfaltigen  Ab- 
stufungen dar.  Wir  können  im  allgemeinen  ihre  Form  als 
rhythmische  Prosa  bezeichnen^)."  Das  gilt,  wenn  wir  uns  ein- 
mal mit  rein  äußerlicher  Betrachtung  begnügen  wollen,  nicht  nur 
für  die  romanischen  Sprichwörter,  die  sich  durch  Formensinn 
auszeichnen^),  sondern  auch  für  die  älteste  germanische  Gnomik. 

Von  der  einfachen  Gnome  unterscheidet  sich  das  Priamel 
durch  Inhalt,  Form  und  Kunstcharakter.  Bei  der  Gnome  ist  der 
Inhalt  objektiv  gegeben,  nicht  von  absichtlichem  Nachdenken, 
wie  Uhland^)  sagt,  ist  sie  erzeugt,  sondern  aus  der  Erfahrung 
des  Lebens  springt  sie  stetig  fertig  hervor,  wie  die  reife  Nuß 
aus  der  Schale.  Dem  konfusen  Wander  ^)  und  den  Irrtümern 
Bergmanns^)  gegenüber  ist  immer  wieder  auf  Wilhelm  Grimm 
zurückzugreifen.  „Das  echte  volksmäßige  Sprichwort  enthält  keine 
absichtliche  Lehre.  Es  ist  nicht  der  Ertrag  einsamer  Betrachtung, 
sondern  in  ihm  bricht  eine  längst  empfundene  Wahrheit  blitzartig 


1)  MoDtaiglon  7,  66  ff. 

2)  z.  B.  Göttinger  Beiträge  II,  Nr.  4,  19,  24,  44,  62. 

3)  Schuchardt,  Ritornell  und  Terzine  S.  84. 

*)  Herrigs  Archiv  43,  65.  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprach- 
wissenschaft 9,  213.    Eberts  Jahrbuch  2,  46. 

^)  Schriften  zur  Geschichte  der  Dichtung  und  Sage  2,  524. 

6)  Deutsches  Sprichwörterlexikon,  Band  I,  S.  V. 

')  La  priamele  S.  5.  Fast  jeder  Sammler  von  Sprichwörtern  gibt  in 
der  Einleitung  einige  Allgemeinheiten  über  seinen  Gegenstand  zum  besten, 
in  der  Regel,  ohne  seine  Vorgänger  zu  kennen.  Leute  wie  Krumbacher,  Krauss 
und  Otto,  die  sich  durch  Sachverständnis  auszeichnen,  sind  leider  Ausnahme. 


21 


hervor  und  findet  den  höheren  Ausdruck  von  selbst:  welche 
Kraft  hat  ein  glückliches  Bild,  es  kann  mild  und  ernst  sein, 
zierlich  und  witzig,  aber  es  kann  auch  wie  ein  Schwert  scharf 
einschneiden.  Diese  Erhebung  des  Gedankens  in  eine  reinere 
Luft  sichert  dem  Sprichwort  inneren  Gehalt,  weite  Verbreitung 
und  Geltung  durch  Jahrhunderte:  es  ist,  wenn  man  will,  eine 
freiere  und  kühnere,  dem  ganzen  Volk  verständliche  Sprache, 
deren  Gebrauch  eine  geistige  Belebung  voraussetzt,  es  ist  auch 
die  volksmäßige  Grundlage  des  Lehrgedichts,  das  sich  erst  breit- 
machen konnte,  als  die  Neigung  zu  philosophieren  Einzug  in 
die  Dichtung  fand.  Bei  uns  zeigt  sich  das  Sprichwort  schon  in 
frühster  Zeit,  aber  ich  glaube,  daß  es,  wie  das  poetische  Gleichnis, 
erst  bei  freierer  Beweglichkeit  der  Geister  zur  Ausbildung  ge- 
langte^).'' Was  Wilhelm  Grimm  so  empirisch  feststellte,  fand 
Carl  Prantl  auf  dem  Wege  philosophischen  Nachdenkens  be- 
stätigt^). Das  klassische  Priamel  entspringt  demgegenüber  sub- 
jektiver Beflexion,  die  sich  auf  Grund  volkstümlicher  Improvisations- 
weise mit  künstlerischer  Absicht  an  der  spezifischen  Form  des 
Parallelismus  regelt.  Die  Gnome  steht,  rein  äußerlich  betrachtet, 
am  Anfang,  das  Priamel  am  Ende  der  hier  konstruierten  litera- 
rischen Entwicklung^).  In  diesem  Unterschied  zwischen  Gnome 
und  Priamel  ist  die  Stilwidrigkeit  des  Folzischen  Priamels  be- 
gründet; seine  lockeren  Gnomenreihen  bedeuten  einen  Bückschritt 
in  der  Komposition. 

Nun  hat  man  mehrere  volksmäßige  Spruchformen  mit  dem 
Priamel  in  Verbindung  gebracht,  die  zum  Teil  verwandt  sind, 
aber  nicht  damit  zusammen  fallen.  Wir  haben  sie  kurz  darauf- 
hin durchzumustern.  Leider  fehlen  noch  durchweg  für  die  ver- 
schiedenen Gattungen  der  Kleinpoesie  monographische  Unter- 
suchungen, wie  sie  Petsch  begonnen  hat. 

In  allen,  die  man  verglichen  oder  gar  irrig  als  mit  dem 
Priamel  identisch  betrachtet,  liegt  Eeihenbildung  vor.  Vollstä^ndig 
zusammenhanglos  ist  die  Eeihenbildung  im  ^apwiü;*),   wenn    der 


')  Kleinere  Schriften  4,  22. 

2)  Die  Philosophie  in  den  Sprichwörtern.    München  1858. 
^)  Spätere  Erwägungen  leiten  auf  den  Versuch,  diese  Entwicklungsreihe 
umzukehren. 

*)  Q  P  77,  107. 


22 


unbequeme   Liebhaber    abgetrumpft   werden   soll.     So   antwortet 
das  Mädchen  dem  werbenden  Bitter  in  der  Grasmetze^)  Vers  77  ff.: 

Ich  gab  ain  venden  umb  ain  roch. 
Nun  starb  doch  vert  meins  herren  koch, 
Der  macht  die  allerpesten  suppen. 

Oder  (200  ff.): 

Ich  sprach:   mein  hardt,  nun  ist  entswai, 
Was  ich  von  frHuden  ie  gewan. 
Si  sprach:   was  gauts  den  Tilman  an?'} 
Der  fert  starb,  schenkt  heur  nit  wein! 

Auf  drinjgendere  Werbung  wird  geantwortet  (222  ff.): 

bei  ainem  schweinsmagen 

hett  ich  vor  vasnacht  fräuden  viP). 

Die  Spruchreihen  des  Eampfgesprächs  verraten  neben 
beziehungsvoU  anknüpfenden  und  steigernden^)  Beihen  auch  noch 
bisweilen  diese  ältere  mehr  zusammenhanglose  Bildung.  Oregor 
Hayden  läßt  in  teilweise  losem  Anschluß  an  das  alte  lateinische 
Oespräch  (Vers  1856  ff.)  den  Salomon  (174)  sagen: 

Ein  frume  frawe  wolgetan 
ist  ein  ere  ierem  man. 

Markolf  erwidert: 

Einen  haffen  milich  vol 

sol  man  vor  katzen  hutten  wol. 

Salomon: 

Ein  weise  fraw  stiftet  ir  haus, 
so  die  unweiß  tregt  daraus. 

Markolf: 

Was  zue  nesseln  werden  sol, 

das  prent  frü,  das  sieht  man  wo!  u.  s.  w. 

Ähnlich  wirken  die  parodierenden  Gegensätze  beim  sogenannten 
Seifried  Helbling  15,  98ff.  *).  Auch  in  Sibotes  Frauenzucht 
Vers  104  ff.  trumpft  die  ungebärdige  warnende  Zureden  mit 
ähnlichen  Antworten  ab,  die  keine  logische  Erklärung  verlangen: 


^)  Zur  literarischen  Gattung   ist   z.  B.    der   gegen    1231    entstandene 
Contrasto  ,Bo8a  fresca'  zu  vergleichen. 

*)  Ebenso  im  Quodlibet  L  S.   Nr.  248,  78.    Sterzinger  Spiele  XXIY  609. 
^  Müller-Fraureuth,  Lügendichtungen  S.  20. 
^)  Jantzen,  Geschichte  des  deutschen  Streitgedichts  S.  21,  86. 
>)  Seemüller  z.  Z.  St. 


23 


Ja  dort  gSt  der  man  uf, 
die  rihte  und  die  krumme, 
man  b6t  da  siben  umme, 
ez  were  a1)el  verkoufet'). 

In  derselben  Weise  sucht  sich  noch  heute  der  Jahrmarkts- 
händler, der  auf  dem  Tische  stehend  seine  Waren  versteigert, 
anzüglicher  Witzworte  der  Umstehenden  zu  erwehren,  die  ihn 
meist  nur  aus  Vergnügen  an  seiner  Geistesgegenwart  und  Lnpro- 
visationskunst  umdrängen.  Ein  Zuruf  aus  dem  Publikum  wird 
von  ihm  durch  parodierende  Beimereien  beantwortet,  die  zum 
Angriff  meist  in  keinem  logischen  Zusammenhange  stehen,  sondern 
der  Unterhaltung  seiner  Kunden  dienen. 

Auch  das  aus  dem  Arbeitsgesang  hervorwachsende  Spottlied') 
nimmt  es  mit  dem  Zusammenhang  seiner  Reihen  nicht  genau. 
Die  Paderbomer  Mädchen  singen  beim  Flachsbrechen  dem  Vorüber- 
gehenden die  Verse  nach:  ' 

Hei,  hei,  hei,  hei,  we  is  dat  denn^ 
De  Quinke  de  quank. 
De  Vogel  de  sang, 
Dat  Johr  is  lang. 
Juchhei,  lat  en  gahn')l 

Die  ältesten  Beispiele  improvisierender  Onomik  (vorausgesetzt, 
daß  die  Bevölkerung  der  Moselgegenden  damals  wirklich  ger- 
manisch war),  die  von  Ausonius  370  bezeugten  volkstümlichen 
Spottverse  ^bedürften  einer  Herleitung  aus  den  Festspielen  nicht, 
wie  sie  Müllen  hoff  für  die  eristische  Poesie^)  annimmt,  sondern 
sind  zum  Teil  natürlicher  mit  solchen  Arbeitsliedern  und  den 
altnordischen  Spottversen  aus  reihenbildender  Improvisation  ent- 
standen zu  denken.  Auch  Lachmanns  und  Eoegels  Ansicht, 
daß  solche  Spottverse  anfangs  wesentlich  epischen  Charakters 
gewesen  seien,  erhält  durch  die  Arbeitspoesie  keine  Stütze. 


»)  Vcrgl.  G  A  26,  76  ff.  94  ff. 

•-)  Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus«  S.  80  ff. 

')  Keiff  er  scheid,  Westfälische  Volkslieder  S.  98.  Gesang  der  Mägde 
bei  Flachsbereitung  bezeugt  schon  für  das  fünfzehnte  Jahrhundert  das  nd. 
Beimbüchlein  3322  ff. 

«)  Koegel,  Geschichte  der  d.  Litt.  I  1,  57  f.  208.  2,  164.  Pauls 
Grundriß  H'  49. 


26 
Eindersprucbe  reimen  das  Verschiedenste  zusammen. 

Es  regnet, 

Gott  segnet, 

Die  Sonne  scheint, 

Der  Mond  greint, 

Der  Pfaff  sitzt  auf  dem  Laden, 

Frißt  alle  Pallisaden, 

Die  Nonne  geht  ins  Wirtshaus  * 

Und  trinkt  die  GlSser  all,  all  aus*). 

Auch  beim  Blumenorakel  ist  ofb  nur  äußerlicher  Zusammenhang : 

Edelmann,  Bettelmann, 
Bürger,  Bauer, 
Graf,  Soldat, 
Schulmeister,  Pfarrer'). 

Beim  Begen  wird  in  der  Uckermark  gesungen: 

Ragen  immer  sachter, 
Moijen  kömmt  der  Schlächter, 
Ragen  immer  dUUer, 
Moijen  kömmt  der  Müller'). 

Über  diesen  zusammenhanglosen  Humor  des  Einderreims 
hat  B.  Hildebrand  gehandelt^);  wenn  aber  ein  beim  Auszählen 
üblicher  Kettenspruch  ohne  Weiteres  Priamelform  haben  soll,  so 
ist  diese  Form  verkannt.  Das  Verfahren  des  mit  identischen 
Worten  spielenden  Kettenspruchs*)  ist  nur  Surrogat  einer  Ver- 
bindung, nicht  diese  selbst. 

Zum  Tanzlied  des  Schnaderhüpfels  führt  ein  Kinderreim, 
den  Simrock  so  wiedergibt: 

Drei  Rosen  im  Garten, 
Drei  Lilien  im  Wald, 
Im  Sommer  ist's  lustig. 
Im  Winter  ist's  kalt^). 

>)  Simrock,  Deutsches  Kinderhuch  Nr.  538.    Vgl.  Nr.  170  ff. 

^  Böhme,  Deutsches  Einderlied  und  Kinderspiel  S.  184  f. 

^  Zeitschrift  für  Volkskunde  8,  411. 

*)  Beiträge  zum  deutschen  Unterricht.  Leipzig  1897  S.  435.  53.  Mate- 
rialien zur  Geschichte  des  deutschen  Volksliedes.  Aus  Vorlesungen  von 
R.  Hildehrand  hg.  von  Berlit,  S.  210  f. 

^)  Rochholz,  Alem.  Kinderlied  S.  150.  Bö  ekel,  Volkslieder  aus 
Oherhessen  S.  CXVL 

«)  Kinderbuch  Nr.  537. 


27 


Dasselbe  wird  iD  Oberschwaben  als  Tanz  gesungen^). 
In  Eger  lautet  der  Vierzeiler: 

Drei  Rausn  inn  Gattn, 
Drei  Vüagl  inn  Wold  — 
U  da  Summer  is  warm, 
U  da  Wintar  is  kolt^). 

In  Beichenbach  und  Plauen: 

Drei  Ruesen  in  Garten, 
drei  LiÜing  in  Wald, 
in  Summer  is's  hitzig, 
in  Winter  is's  kalt^). 

Es  ist  dieser   elementaren  Improvisationskunst   eigen,   nach 
Zahlen  und  Buchstaben  zu  greifen,  wenn  sich  kein  Gedanke  einstellt. 

6  X  6  is  36, 

und  die  Fra  is  gar  ze  fleißig. 

6  X  6  is  36, 

Der  Voter  wuUt  ins  Besenreisig. 

2  X  10  dös  is  20, 

ho  ich  Geld,  dös  vertanz  ich. 

Und  a  X  und  a  z, 

und  de  Fuhrleut  senn  nett. 

Und  a  X  und  a  z, 

und  de  Studenten  senn  nett, 

und  a  z  und  a  x, 

addr  taugn  thunne  se  nix^). 

Auch  hier  dasselbe  Vorwalten  des  psychischen  Mechanismus. 

Setrospektive    Betrachtung  ^)    hat    allerdings    in    Beispielen 
des  Natureingangs   beim  Schnaderhüpfel  Entstellung  ursprünglich 


^)  Birllngers  Schwäbische  Volkslieder.    Preiburg  1864,  S.  63. 

^)  Hruschka  und  Toischer,  Deutsche  Volkslieder  aus  Böhmen 
S.  274,  Nr.  9.  Die  Herausgeber  machen  darauf  aufmerksam,  |daß  Schnader- 
hüpfel in  gewissen  Gegenden  Nordhöhmens  als  Kindertanzlieder  oder  Einder- 
reime auftreten;  S.  XII  f.    Strack,  Hessische  Blätter  für  Volkskunde  1,  31 

3)  Dunger,  Rundas  Nr.  1366.  PoUe  in  Drosihns  deutschen  Kinder- 
reimen S.  22  f.    Zeitschrift  für  hochdeutsche  Mundarten  I  34  ff. 

*)  Dunger,  Rundas  Nr.  852  f.,  891  f.,  1026,  1219,  1242.  Auch  im 
Süden  verbreitet:  Birlinger  und  Crecelius^  Wunderhorn  2,  791.  Vgl.  die 
Abzählreime  z.  B.  Wegen  er  S.  147  £f. 

^)  Dunger,  Rundas  S.  XLII  ff.  Gustav  Meyer,  Essays  und  Studien 
1,  377.  Vgl.  Zeitschrift  für  deutsche  Philologie  19,  451,  444  f.  Alemannia  £6, 
97.    Kurt  Bruchmann,  Poetik  S.  114.     E.  H.  Meyer,  Deutsche   Volks- 


26 
Eindersprache  reimen  das  Verschiedenste  zusammen. 

Es  regnet, 

Gott  segnet, 

Die  Sonne  scheint, 

Der  Mond  greint, 

Der  Pfaff  sitzt  auf  dem  Laden, 

Frißt  aUe  PaUisaden, 

Die  Nonne  geht  ins  Wirtshaus  * 

Und  trinkt  die  Gläser  all,  all  aus  ■). 

Auch  beim  Blumenorakel  ist  ofb  nur  äußerlicher  Zusammenhang : 

Edelmann,  Bettelmann, 
Bürger,  Bauer, 
Graf,  Soldat, 
Schulmeister,  Pfarrer'). 

Beim  Begen  wird  in  der  Uckermark  gesungen: 

Ragen  immer  sachter, 
Morjen  kömmt  der  Schlächter, 
Ragen  immer  dUller, 
Morjen  kömmt  der  Müller'). 

Über  diesen  zusammenhanglosen  Humor  des  Einderreims 
hat  B.  Hildebrand  gehandelt^);  wenn  aber  ein  beim  Auszählen 
üblicher  Kettenspruch  ohne  Weiteres  Priamelform  haben  soll,  so 
ist  diese  Form  verkannt.  Das  Verfahren  des  mit  identischen 
Worten  spielenden  Kettenspruchs*)  ist  nur  Surrogat  einer  Ver- 
bindung, nicht  diese  selbst. 

Zum  Tanzlied  des  Schnaderhüpfels  führt  ein  Kinderreim, 
den  Simrock  so  wiedergibt: 

Drei  Rosen  im  Garten, 
Drei  Lilien  im  Wald, 
Im  Sommer  ist's  lustig. 
Im  Winter  ist's  kalt^). 

0  Simrock,  Deutsches  Kinderhuch  Nr.  538.    Vgl.  Nr.  170  fif. 

^  Böhme,  Deutsches  Kinderlied  und  Kinderspiel  S.  184  f. 

3)  Zeitschrift  för  Volkskunde  8,  411. 

*)  Beiträge  zum  deutschen  Unterricht.  Leipzig  1897  S.  435.  53.  Mate- 
rialien zur  Geschichte  des  deutschen  Volksliedes.  Aus  Vorlesungen  von 
R.  Hildehrand  hg.  von  Berlit,  S.  210  f. 

5)  Rochholz,  Alem.  Kinderlied  S.  150.  Böckel,  Volkslieder  aus 
Oberhessen  S.  CXVL 

«)  Kinderbuch  Nr.  537. 


27 


Dasselbe  wird  Id  Oberschwaben  als  Tanz  gesungen^). 
In  Eger  lautet  der  Vierzeiler: 

Drei  Rausn  inn  Gartn, 
Drei  VUagl  inn  Wold  — 
U  da  Summer  is  warm, 
U  da  Wintar  is  kolt»). 

In  Reichenbach  und  Plauen: 

Drei  Ruesen  in  Garten, 
drei  Lilling  in  Wald, 
in  Summer  is's  hitzig, 
in  Winter  is's  kalt  3). 

Es  ist  dieser  elementaren  Improvisationskunst  eigen ,  nach 
Zahlen  und  Buchstaben  zu  greifen,  wenn  sich  kein  Gedanke  einstellt. 

6  X  6  is  36, 

und  die  Fra  is  gar  ze  fleißig. 

6  X  6  is  36, 

Der  Voter  wuUt  ins  Besenreisig. 

2  X  10  dös  is  20, 

ho  ich  Geld,  dös  vertanz  ich. 

Und  a  X  und  a  z, 

und  de  Fuhrleut  senn  nett. 

Und  a  X  und  a  z, 

und  de  Studenten  senn  nett, 

und  a  z  und  a  x, 

addr  taugn  thunne  se  nix^}. 

Auch  hier  dasselbe  Vorwalten  des  psychischen  Mechanismus. 

Retrospektive  Betrachtung  ^)  bat  allerdings  in  Beispielen 
des  Natureingangs   beim  Schnaderhüpfel  Entstellung  ursprünglich 

1)  Birlingers  Schwäbische  Volkslieder.    Freiburg  1864,  S.  63. 

')  Hruschka  und  Toi  scher,  Deutsche  Volkslieder  aus  Böhmen 
S.  274,  Nr.  9.  Die  Herausgeber  machen  darauf  aufmerksam,  [daß  Schnader- 
hüpfel in  gewissen  Gegenden  Nordböhmens  als  Kindertanzlieder  oder  Kinder- 
reime auftreten;  S.  XII  f.    Strack,  Hessische  Blätter  für  Volkskunde  1,  31 

3)  Dunger,  Run  das  Nr.  1366.  Polle  in  Drosihns  deutschen  Kinder- 
reimen S.  22  f.    Zeitschrift  für  hochdeutsche  Mundarten  I  34  ff. 

*)  Dunger,  Rundas  Nr.  852  f.,  891  f.,  1026,  1219,  1242.  Auch  im 
Süden  rerbreitet:  Birlinger  und  Crecelius^  Wunderhom  2,  791.  Vgl.  die 
Abzählreime  z.  B.  Wegen  er  S.  147  ff. 

^)  Dung  er,  Rundas  S.  XLII  ff.  Gustav  Meyer,  Essays  und  Studien 
1,  377.  Vgl.  Zeitschrift  für  deutsche  Philologie  19,  451,  444  f.  Alemannia  £6, 
97.    Kurt  Bruchmann,  Poetik  S.  114.     £.  H.  Meyer,  Deutsche   Volks- 


28 


sinnreicher  Naturvergleiche  gesehen;  aber  das  Elementare  dQrfte 
auch  hier  das  Ursprüngliche  sein.  Einige  Belege  der  Schnader- 
hüpfelpoesie  mögen  diese  Beobachtung  bestätigen. 

Dort  oben  aufn  Eck 
Steht  a  schneeweißer  Schimmel, 
Und  die  lustigen  Leut 
Kommen  alle  in  HimmeP). 

Weiß  is  die  HoUerblU, 
Weiß  is  die  Wurzn, 
Recht   sakrisch  liab  fein 
Sein  die  Leutlan,  die  kurzn'). 

Acht  Tag  is  a  Wochn, 
Zwölf  Monat  a  Jahr, 
Und  hiez  lieb  i  a  Diendl, 
Hat  pechschwarze  Haar^j. 

Wanns  regnet,  gibt's  Wasser; 
Wanns  schneit,  so  gibt's  Eis; 
Zwei  Mädle  zum  Lieben 
Das  kostt  gar  cn  Fleiß  ^). 

Nicht  anders  verhält  es  sich  mit  den  Pantums.  Joest^) 
leugnet  die  grundsätzliche  sinnvolle  Beziehung  der  Eingänge  mit 
aller  Entschiedenheit     Aber  sein  Beispiel  versagt: 

Man  gießt  Öl  auf  die  Lampe, 
Die  zerrissene  Jacke  wird  wieder  geflickt; 
Als  Beweis  unserer  Liebe 
'    Schlafen  wir  Beide  zusammen  auf  einem  Kissen. 

Hier  ist  zweifellos  Zusammenhang;  auch  in  dem  „altbekannten 
deutschen  Vers^,  den  Joest  citiert: 


künde  S.  324.  Reuschel,  Volkskundliche  Streifzüge  S.  140  ff.,  116  ff. 
Strack,  Hessische  Blätter  für  Volkskunde  1,41.  Philip  Sc^huyler  Allen, 
Studies  in  populär  poetry.  Chicago  1902,  S.  3  ff.  des  Sonderabdmcks.  „Nature 
-  introduction  .  . .  the  last  shred  of  the  nature-hymn"  S.  7. 

*)  von  Hörmann,    Schnaderhüpfeln  aus  den  Alpen  ^  S.  335.     Nr.  915. 

^)  Fogatschnigg  und  Herrmann,  Deutsche  Volkslieder  aus  Kärnten 
1^  7.  Nr.  33.  Vgl.  S.  326.  Nr.  1545.  Es  werden  ihrem  Bestände  ent- 
sprechend die  beiden  Auflagen  nebeneinander  citiert. 

3)  a.  a.  0.,  12  18.    Nr.  85. 

*)  Meier,  Schwäbische  Volkslieder  S.  16.   VgLWerle,  Aljnrausch  S.  38, 

^)  Internationales  Archiv  für  Ethnographie  5,  20. 


29 


Der  Bär  lebt  in  Sibirien, 

In  Afrika  das  Gnu, 

Der  Säafer  in  Dilirien, 

In  meinem  Herzen  lebst  nur  du!') 

Auch  folgendes  Schnaderhüpfel  gehört  nicht  hierher: 

Und  die  Innsbrucker  Glocken, 
Die  habn  an  schön  Klang, 
Bald  mei  Schatz  amal  stirbt. 
Leb  i  a  nimmer  lang*). 

Man  wird  hier  vielleicht  einwenden,  der  Glockenklang  sei 
doch  Sterbegeläut;  das  sei  doch  nicht  von  schönem  Klang.  Den 
Zusammenhang  beider  Gedanken  aber  vermittelt  der  verbreitete 
Aberglaube,  daß  bald  jemand  sterbe,  wenn  die  Glocken  ungewöhn- 
lich hell  klingen. 

Das  besondere  Verhältnis  des  Schnaderhüpfels  zum  Priamel 
wird  später  auf  breiterer  Unterlage  zu  behandeln  sein;  zusammen 
fallen  sie  nicht.  Was  man  bisher  zur  Vergleichung  beigebracht 
hat,  beschränkt  sich  auf  den  pointierten  Schluß^). 

Der  Mangel  einer  durchgehenden  innern  logischen  Ver- 
knüpfung, psychologischer  Mechanismus,  kennzeichnet  ebenso  die 
£eihen  des  Gento^)  wie  des  Quodlibets.  Dieses  fällt  mit  jenem 
aber  nicht  zusammen,  weil  der  Cento  in  der  Regel  mit  fremdem, 
meist  bewußt  entlehntem  Dichtungsgut  zu  tun  hat,  das  Quodlibet 
mit  eigenem  oder  wenigstens  herrenlosem.  Vereinzelte  Bemi- 
niscenzen  und  Anleihen  kommen,  wie  in  der  Kunstdichtung,  nicht 
in  Betracht.  Viele  Handschriften  des  14.  und  15.  Jahrhunderts 
enthalten  Freidank-  und  Bennercentonen  in  mehr  oder  weniger 
willkürlicher  Anordnung.  In  der  Bescheidenheit  selbst  zeugt  der 
mangelhafte  Zusammenhang  ebenso  von  ehrwürdigem  Alter  als 
von  Volksmäßigkeit  ^).     Der  Centonenpoesie ,    die  immer  erst  in 

*)  S.  21.  Es  ist  ein  treffliches  Beispiel  zum  Typus  B  des  Priamel- 
yierzeilers. 

3)  Hörmann  »  S.  98.    Nr.  272. 

^)  Hauffen  in  Weinholds  Zeitschrift  für  Volkskunde  4,15.  Meyer, 
Deutsche  Volkskunde  S.  315.  Grasberge r,  Die  Naturgeschichte  des  Schnader- 
hüpfels S.  54.    Man  hat  also  nur  den  Typus  A  in  Betracht  gezogen. 

*)  Verwandt  ist  die  Katalogpoesic.  Skutsch,  Aus  Virgils  Prühzeit 
S.  50  ff.  98,  105. 

^)  W.  Grimm,  Über  Preidank  S.  346.  Seh  er  er,  Deutsche  Studien  I 
^46  f.    Roethe,  Reinmar  von  Zweter  S  245.     Paul,  Über  die  ursprüngliche 


30 

Perioden  des  Verfalls  künstlich,  jedenfalls  nicht  ohne  schriftliche 
Vorlagen  oder  mündliche  Vorbilder  entsteht,  tritt  die  Poesie  der 
altdeutschen  quodlibetischen  Spruchreihen  als  ursprüngliche  volks- 
mäßige  Gattung  zur  Seite.  Das  alte  Quodlibet  ist  aus  der 
Masse  ähnlicher  Gedichte  noch  nicht  mit  Erfolg  ausgesondert. 
Eine  Monographie  fehlt.  Wilhelm  Wackernagel  war  geneigt 
für  Spruchreihen  vorbildlichen  Einfluß  lateinischer  Spruchsamm- 
lungen anzunehmen,  Scherer  vermutete  hohes  Alter ^),  der  Zu- 
sammenhang mit  altfranzösischer  Poesie^)  wurde  überhaupt  noch 
nicht  in  Betracht  gezogen.  Jüngst  ist  das  Quodlibet  mit  dem 
Priamel  zusammengeworfen  und  mit  akademischen  Disputationen 
in  Verbindung  gebracht'). 

Wir  müssen,  wenigstens  in  flüchtigem  Überblick,  sehen,  was 
das  alte  Quodlibet  war.  Der  Keim  liegt  in  der  unerschöpflichen 
Improvisationslust  des  Volkes,  die  wir  in  den  primitivsten  Formen 
der  Beihenbildung,  dem  ^apiotuc,  dem  Arbeitslied,  dem  Schnader- 
hüpfel,  dem  Rinderreim  an  der  Arbeit  trafen.  Wem  war  die 
Geschicklichkeit  in  schlagfertiger  Improvisation  mehr  nötig,  als 
dem  Spielmann  des  Mittelalters?  Ist  er  doch  der  Vorfahr  des 
Jahrmarktskünstlers  unserer  Tage.  In  der  Tat  ist  das  alte  Quodlibet 
hauptsächlich  in  der  Spielmannsdichtung  gepflegt;  derartige  Stücke 
gehörten  in  romanischen  Ländern  ^)  wie  in  Deutschland  zum  Beper- 
toire  der  Fahrenden.  Inhalt  und  Vortragsweise  bezeugen  spiel- 
männischen  Charakter.  An  das  Traugemundslied  knüpfte  der  mit 
dem  Lotterholz  ^)  fahrende  Sprecher  ein  improvisiertes  Quodlibet. 


Anordnung  von  Freidanks  Besch.  I  18  ff.  Pfeiffer,  Freie  Forschung 
S.  167  ff.  Münchener  Sitzungsberichte  1891,  S.  678.  Loewer,  Patristische 
Quellen-Studien  zu  Freidanks  Bescheidenheit  S.  22  f. 

>)  Deutsche  Studien  I  347. 

3)  Gröbers  Grundriß  H  1,  879  f. 

3)  Uhl,  Die  deutsche  Priamel  S.  81,  31,  28.  Vgl.  Ehrismann  im  An- 
zeiger für  deutsches  Altertum  25,  165.  Im  allgemeinen  Uhland  3,  231. 
Mäller-Fraureuth,  Lugendichtungen  S.  20. 

*)  Legrand  d'Aussy,  Fabliaux  et  contes  4^,  17.  Amphigourie,  Reverie. 
Gröber,  a.  a.  0.,  Fatrasie.    Auch  hier  wird  improvisiert:    Gröber  S.  880. 

*)  Wendeler,  Briefwechsel  des  Preiherm  Gregor  von  Meusebach  mit 
Jakob  und  Wilhelm  Grimm  S.  385.  Hertz,  Spielmannsbuch  '  S.  7.  Über 
das  Alter  des  Lotterspruches  vgl.  MSD'  II  310;  er  wird  vor  volle  Ent- 
faltung der  höfischen  Poesie  gesetzt.    Faßt  man  nur  die  vorliegende  lite- 


33 


mit  Wasser  zu  begießen  u.  s.  f.  Nichts  ist  vor  der  Kritik  des 
Quodlibets  sicher  von  der  Kaiserkrone  bis  zum  unscheinbarsten 
Hausgerät  der  Bauernstube,  bis  zu  den  Lieblingsgerichten  des 
kleinen  Mannes.  Wie  der  Fahrende  die  mystische  Beschaulich- 
keit verspottet,  setzt  es  auch  sonst  im  Quodlibet  auf  die  Kirche 
manchen  Hieb.  Den  letzten  Schritt  zur  Vollendung  machte  es  auf 
niederdeutschem  Boden.  Der  Klassiker  der  mittelniederdeutschen 
Literatur  ist  auch  der  Klassiker  des  Quodlibets. 

Es  gibt  vielleicht  keinen  mittelniederdeutschen  Schriftsteller 
von  so  ausgeprägtem  Charakter  als  Hermen  Bote^).  Kämmerer 
der  noch  immer  blühenden  Stadt  Braunschwoig,  die  ein  Chronist 
mit  Stolz  die  Krone  und  den  Spiegel  des  Sachsenlandes  nennt, 
hat  er  in  unruhigen  Tagen  ehrlich  und  furchtlos,  ein  Feind  aller 
ihm  zweifelhaften  Neuerungen  in  Staat  und  Kirche,  ein  Freund 
der  guten  alten  Zeit,  kampflustig  und  schlagfertig,  mit  starker 
Subjektivität  mehr  als  einmal  in  das  öffentliche  Leben  eingegriffen. 
In  den  Onruhen  der  Jahre  1488  bis  91,  deren  Mittelpunkt 
Ludeke  Holland  war,  zeigte  er  sich,  persönlich  arg  mitgenommen, 
als  schonungslosen  Satiriker,  dessen  Spottgedichte  die  Oegner 
zu  wütendem  Hasse  reizten.  Die  wenige  Jahre  darauf  entbrennende 
große  Braunschweiger  Stadtfehde  und  ihre  Erfolge  begeisterten 
ihn  zu  kecken  Liedern.  Trotz  seiner  vorgerückten  Jahre  scheint 
er  noch  mehr  lebhaft  als  gerecht  in  der  ganz  Niedersachsen  be- 
wegenden Hildesh^imer  Stiftsfehdo  Partei  genommen  zu  haben. 
Mit  Sicherheit  hat  man  ihm  das  Quodlibet  zugewiesen,  das  er 
Koker  nennt.  Dieser  Köcher  ist  eins  der  merkwürdigsten  Gedichte 
unserer  Literatur,  in  seiner  Vielseitigkeit  das  wahre  Anagramm 
und  Epigramm  des  Lebens,  wenn  man  einen  von  Friedrich 
Richter  für  das  Quodlibet  gebrauchten  Ausdruck  darauf  anwenden 
darf.  Es  ist  schon  zum  Lesen  bestimmt,  nicht  mehr  Spielmanns- 
dichtung, etwa  2000  durch  Reimbrechung  humorvoll  aneinander 
gereihte  Sprüche  der  glücklichsten  Prägung,  ein  Meisterwerk, 
das,  obgleich  keine  mittelniederdeutschen  Qaodlibets  aus  früherer 
Zeit  erhalten  zu  sein  sciieinen,  doch  ohne  Zweifel  den  Abschluß 
einer   langen  Entwicklung   niederdeutscher   gnomischer  Überliefe- 


')  Brauns chweigisches    Magazin    3,  108  ff.     Eine    Monographie    wäre 
dringendes  Bedürfnis. 

Ealins,  Priamel  3 


35 

Die  Abenteuerliche  Bede»)  zeigt  Vers  56  ff.  64  f.  106  f., 
wie  das  Quodlibet  in  den  verwandten  Lügenspruch  übergeht, 
der  ebenso  wie  die  bisher  besprochenen  Gattungen  des  logischen 
Aufbaues  entbehrt.  Seine  Form  ist  quodlibetisch,  ein  spezifischer 
gelegener  Inhalt  verbindet  die  Reihen.  Die  Gattung  ist  alt^), 
obgleich  sie  zuerst  durch  Beinmar  von  Zweter  in  der  Literatur 
bezeugt  wird^).  Vom  Lügenmärchen  und  von  kunstvolleren 
Lügendichtungen,  die  wie  das  Wachtelmäre  Gruppenbildung  auf- 
weisen, ist  der  einfachere  quodlibetische  Lügenspruch  noch  zu 
sondern.  Man  hat  bisher^)  die  Verwandtschaft  des  Lügenspruches 
mit  dem  Priamel  mehr  betont,  als  die  Verschiedenheit  beider. 
Scherer  hebt  hervor,  daß  die  eigentümlichste  Gestalt  des  Priamel§ 
es  auf  Überraschung  des  Hörers  und  auf  eine  komische  Wirkung 
abgesehen  habe^);  zu  gleichem  Zwecke  bediene  sich  das  Lügen- 
märchen gerne  der  Figur  der  Häufung.  Aber  Häufung  ohne 
logischen  Zusammenhang  macht  noch  kein  Priamel,  und  auf 
komische  Überraschung  haben  es  auch  andere  Gattungen,  z.  B. 
das  Quodlibet  und  die  apologischen  humoristischen  Gnomen  ab- 
gesehen^). Boethe  zeigt,  daß  aus  Beinmars  Lügenstrophen 
bessere  Priameln  hätten  werden  können,  als  jene  Sprüche,  die 
Priamelform  verraten.  „Es  fehlt  abef  nur  die  MoraP,  d.  h.  die 
Beihen  sind  nicht  in  die  einem  Priamel  unerläßliche  innere  Be- 
ziehung gesetzt.  Und  wenn  Beinmars  160.  Strophe  eine  Priamel 
sein  soll,  „die  ihren  Beruf  verfehlt  hat**,  so  genügte  es  die 
Strophe  herzusetzen,  um  zu  erkennen,  wie  sehr  sie  ihren  Beruf  ver- 

')  Vers  59  wird  die  große  Glocke  erwähnt,  ,die  vff  geleyt  wirt  ze 
Speyer'  (ühland  3,  328);  das  geschah  im  August  1453.  Geis  sei,  Der 
Kaiserdom  zu  Speyer  2,  5.  Es  ist  eine  Parodie  auf  wenig  geistreiche  Rätsel- 
sprüche wie  Bescheidenheit  109,  10.  12.  Renner  6353  flf.  In  den  Beispielen 
109,  6.  il8,  23  sind  die  Vorschriften  mit  den  nicht  ernst  gemeinten  Lügen- 
sprüchen verwandt;  121,  12  satirisch;  146,  21  wendet  sich  gegen  den 
Lügenspruch.     Dit  des  aventures  bei  Gröber  S.  881. 

')  Bö  ekel,  Volkslieder  aus  Oberhessen  S.  CLI  f. 

3)  ühland  3,  223.  Roethe,  Reinmar  von  Zweter  S.  248  ff. 
Müller-Frau rcuth,  Die  deutschen  Lügendichtungen  S.  12  ff. 

*)  Scher  er,  Deutsche  Studien  I  346.    Roethe  S.  248. 

5)  Vgl.  Strauch,  Marner  S.  31. 

^)  Im  allgemeinen  Überhorst,  Das  Komische  2,  656  ff.  Haupt,  Opus- 
cula  2,  395  ff.  Weinhold,  Altnordisches  Leben  S.  326.  Koegel  P  181  f. 
Münchener  Sitzungsberichte  1893,  2,  22  ff. 


36 

fehlt  hat^).  Vollkommen  gelingt  es  dagegen  französischer  Volks- 
poesie,  Reihen  der  Lügendichtung  und  unmögliche  Dinge  in 
der  Ballade  zusammenzufassen^).  Der  Bau  solcher  Balladen 
nähert  sich  dem  des  synthetischen  Priamels  bis  zu  täuschender 
Ähnlichkeit  in  dem  Stück  von  der  Loyaultä  des  Femmes^).  Zu 
so  präciser  Strophenform  hat  es  deutsche  Lügenpoesie  nicht 
gebracht;  sie  entbehrt  dafür  aber  auch  der  unerhörten  Monotonie 
dieser  fremden  ^lyrischen  Manufactur."  Wie  vielerlei  Motive 
das  Priamel  der  deutschen  Lügendichtung  verdankt,  wird  sich 
später  mehrfach  zeigen;  hier  kam  es  darauf  an  zu  betonen,  daß 
das  Priamel  als  solches  selbständig  dem  Lügenspruch  gegen- 
über steht. 

Durch  Antwort,  Frage*),  Überschrift  oder  Auflösung 
wird  beim  BätseP),  beim  Epigramm,  Madrigal,  Ikon  Einheit 
in  Spruchreihen  gebracht.  An  den  Schluß  rückt  der  gemeinsame 
Gesichtspunkt,  eine  scherzhafte  Antwort  auf  Fragenreihen,  z.  B. 
in  Holteis  Gedichte  „Su  gärne^)."  Wenn  in  späteren  Rätseln 
wieder  eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  dem  Epigramm,  wie 
Gervinus^)  sagt,  hervortritt,  so  daß  man  aus  Epigrammen  Rätsel 
machen    kann,    so   ist  für  die  ältere  Zeit  ein  Übergang  oder  gar 


»)  Zum  Schluß:  ühland,  Schriften  3,  337.  Böhme,  Kinderlied 
S.  262.  Nr.  1258.  Van  Vloten,  Nederlandsche  Baker -en  Kinderijmen. 
Leiden  1874.    S.  27.    Dunger,  Rundas  S.  253.   Nr.  1350.    S.  211.   Nr.  1136. 

')  Montaiglon,  Recueil  de  poesies  fran(^oises  des  XVe  et  XVIe  siecles 
1,  227.    Gaston  Paris,  Franijois  Villon  S.  103  ff. 

5)  Becueil  2,  35. 

*)  Z.  B.  Bö  ekel  Nr.  104,  S.  88. 

5)  ühland,  Schriften  3,  181  ff.  Scherer,  Deutsche  Studien  I  345. 
Böckel  S.  CXVIII.  Eoethe,  Reinmar  von  Zweter  S.  250  ff.  Meyer, 
Altgermanische  Poesie  S.  160.  Reinhold  Köhler,  Kleinere  Schriften  3,  538 
(vgl.  z.  B.  Göttinger  Beiträge  2,  18).  Koegel,  Literaturgeschichte  I^  64  ff. 
Übrigens  gehört  der  Spruch  vom  Meister  Irregang  nicht  zur  Rätsel-,  sondern 
zur  Lügenpoesie;  tatsächlich  kann  der  Fahrende  nichts  von  den  gerühmten 
Fertigkeiten,  soweit  sie  ernsthaft  gemeint  sind.  Vgl.  Fsp.  1 135  ff .  Q  F  77, 
145  ff.  und  den  mnl.  Buskenblaser.  Kalff,  Het  Lied  S.  482.  Grob  er s 
Grundriß  H  1, 878.  Zu  den  romanischen  Vorbildern  Schneegans,  Geschichte 
der  grotesken  Satire  S.  84  ff. 

«)  Bei  Welcker,  Dialektgedichte  «  S.  160. 

')  Geschichte  der  deutschen  Dichtung  III*  406  f.  Näher  steht  die 
Sentenzenliteratur. 


37 


Zusammenfallen  0  von  Bätsei  und  Priamel  schon  durch  die  Ent» 
stebung  des  Bätsels  aus  religiösem  Bitual  und  eristischer  Poesie  ^) 
ausgeschlossen.  Im  Traugemundsliede  gibt  es  also  keine  anapho- 
riscben  Priameln^j,  sondern  diese  vierzeiligen  Beihen  des  für 
die  Literaturgeschichte  so  unschätzbaren  Gedichtes  haben,  wie 
die  Fragen  der  Geitspeki  Heidreks,  den  merkwürdigen  alten 
indogermanischen  Typus  bewahrt^).  Allerdings  finden  auch  wieder 
Bätselmotive,  wie  sich  später  zeigt,  im  Priamel  Verwendung^). 
Ganz  wie  beim  Bätsei  ist  in  folgendem  Epigramm  Wilhelm 
Müllers  verfahren: 

Adelstolz  sitzt  auf  hölzernem  Pferdci 
Bauernstolz  wälzt  sich  auf  der  Erde, 
Bilrgerstolz  geht  auf  hohen  Hacken, 
Geldstolz  steht  auf  gelben  Schlacken, 
Dichterstolz  fliegt  in  den  Himmel  hinein. 
Wo  mag  der  stolzeste  Stolz  wohl  sein?^). 

Ein  rätselartig  gebautes  Beispiel  aus  der  Madrigaldichtung 
liefert  Heinrich  Bredelou^^.  Oder  beim  galanten  Ikon®)  wird 
der  gemeinschaftliche  Gesichtspunkt,  der  die  Auflösung  enthält, 
an  die  Spitze  gestellt;  z.  B.  bei  Hofmannswaldau  ^).  Die  Ähnlich- 
keit mit  alter  Priameldichtung  spiegelt  sich  auch  in  der  Bichtung 
des  Ikons  auf  das  Genrebild.  So  gibt  Hofmannswald^u  S.  30 
den   „Abriß  Eines   falschen   Freundes.*"     Im   „Abriß   Eines   ge- 

1)  Uhl,  Die  deutsche  Priamel  S.  277. 

»)  Müllenhoff  DAK5,238.  Wilmanns  Z.f.d.A.  20,  252.  Koegel 
a.  a.  0.  Sehr  ad  er,  Reallexikon  der  indogermanischen  Altertumskunde 
S.  (547.    Oldenberg,  Die  Literatur  des  alten  Indien  S.  25. 

»)  ühl,  Die  deutsche  Priamel  S.  277.  280. 

*)  Koegel  a.  a.  0.  Uhland  3,  184.  Detter  und  Heinzel, 
Edda  2,  368.  Auch  mit  dem  Quodlibet  hat  das  Rätsel  an  sich  nichts 
zu  tun. 

5)  Vgl.  Wendel  er  S.  37t  40.  Wenn  sich  Rätsel  der  Form  des  Priamel- 
viorzeilcrs  bedienen,  fallen  die  Gattungen  Rätsel  und  Priamel  darum  noch 
nicht  zusammen. 

«)  W.  Müller,  Gedichte,  hg.  von  Max  Müller,  Teil  2.  Nr.  50.  Die 
Stolze. 

^)  HenrichsBredelou  Von  Königsberg  aus  Preußen  Neue  Madrigalen. 
Uelmstädt  1689.  S.  40.  Nr.  48.  Zur  Charakteristik  der  Kompositionsweise: 
Vossler,  Das  deutsche  Madrigal  S.  75  ff. 

8)  Q  F  56,  53;  88. 

^)  Vermischte  Gedichte  (Breslau  1680)  S.  29. 


38 


meinen  Schulmannes^  (S.  31)  wird  dessen  ganzer  Lebenslauf 
priamelartig  durchgenommen.  Noch  zu  Goethes  Jugendzeit  lebt 
diese  Kunsttradition  des  galanten  Ikons;  er  schreibt  an  seinem 
siebzehnten  Geburtstag  seinem  Freunde  F.  M.  Moors  ins  Stammbuch: 

Dieses  ist  das  Bild  der  Welt, 
Die  man  fUr  die  beste  hält: 
Fast  wie  eine  Mördergrube, 
Fast  wie  eines  Burschen  Stube, 
Fast  so  wie  ein  Opernhaus, 
Fast  wie  ein  Magisterschmaus, 
Fast  wie  Köpfe  von  Poeten, 
Fast  wie  schöne  Raritäten, 
Fast  wie  abgesetztes  Geld 
Sieht  sie  aus,  die  beste  Welt*). 

Halmsche  Ghaselen,  auf  deren  formelle  Verwandtschaft  mit 
dem  Priamel  Wendeler ^)  hinwies,  stehen  solcher  Kunstübung 
jedenfalls  näher  als  volkstümlicher  Improvisation;  an  wirklichen 
Zusammenhang  dachte  wohl  auch  Wendeler  nicht.    Ein  Beispiel: 

Verschlungner  Reihentanz  sich  wendend  hin  und  her; 
Buntfärbger  Federball,  den,  sendend  hin  und  her, 
Gewandter  Schläger  Kunst  nicht  läßt  zum  Boden  mehr; 
Weihrauchgewölke,  wie,  duftspendend  hin  und  her, 
♦      Im  Dom  aufwirbeln  läßt  der  Weihnacht  Wiederkehr; 
Sprühregen,  den  im  Fall,  verschwendend  hin  und  her 
Schaumduftgen  Irisglanz,  der  Springquell  streut  umher; 
Und  WeberschifF,  das  rasch  vollendend  hin  und  her 
Zum  leuchtenden  Geweb  vereint  der  Fäden  Meer: 
So  schweb  Gaselenreim  mir  blendend  hin  und  her! 3). 

Alles  dies,  wie  Bergmanns  im  Eap.  IV  zu  erörternde 
„sonnets-priamäles'^,  ist  kein  echtes  Priamel,  alles  aus  bestimmter, 
meist  manirierter  poetischer  Tradition  hervorgegangen,  „poetische 
Marcipane,"  alles  mehr  Kunst,  als  das  Priamel  verträgt,  und 
ohne  rechten  Zusammenhang  mit  der  V^olkskunst  des  Priamels. 


*)  Bernays,  Der  junge  Goethe  1,  85.  Weißenfels,  Goethe  im 
Sturm  und  Drang  I  38.  Herr  mann,  Jahrmarktsfest  zu  Plundersweilem 
S.  36.  38  bringt  diese  Verse  mit  Guckkastenpoesie  (Kopp  in  Steinhausens 
Archiv  für  Kulturgeschichte  2,  296  ff.)  in  Verbindung  und  ist  geneigt,  sie 
Goethe  abzusprechen. 

^)  De  praeambulis  S.  12. 

3)  Friedrich  Halms  Werke  I  (Wien  1856),  S.  161. 


89 

Wir  habei>  gesehen,  daß  alle  Arten  poetischer  Kleinkunst, 
die  mit  dem  Priamel  in  Zusammenhang  gebracht  sind,  sich  doch 
nicht  damit  decken.  Wenn  auch  die  Gattungen  der  Volkspoesie 
vielfach  in  einander  übergehen,  ergeben  sich  trotzdem  unter« 
scheidbare  Typen,  deren  prinzipielle  Vermischung  eine  wirkliche 
Erkenntnis  dieser  Poesie  unmöglich  macht.  Je  mehr  das  Priamel 
literarischer  Geltung  zustrebt,  um  so  deutlicher  sondert  es  sich 
aus  seiner  Umgebung  ab.  Es  verwendet  allerdings  die  Anaphora, 
die  Klimax,  die  Beihenbildung,  Elemente  der  Gnomen-  und  Lügen- 
dichtung, des  Bätsels  u.  s.  f.;  aber  Anaphora,  Klimax,  Beiben, 
Bätsei  u.  s.  w.  sind  eben  noch  kein  Priamel.  Es  wahrt  in  seiner 
fertigen  Gestalt,  bei  Bosenplüt,  in  der  Priamelrede,  den 
Charakter  einer  literarischen  Gattung,  es  ist  nicht  bloße  stilistische 
oder  syntaktische  Form').  Dieser  Unterschied  wird  für  die 
literaturgeschichtliche  Beurteilung  wichtig.  So  werden  wir  Budolf 
Koegel  teils  beipflichten,  teils  widersprechen  müssen,  wenn  er 
ein  altdeutsches  Priamel  bis  in  das  zwölfte  Jahrhundert  mit 
größter  Bestimmtheit  leugnet:  beipflichten,  wenn  er  es  als  an- 
geblich vorhandene  literarische  Gattung  leugnet;  widersprachen, 
wenn  er  verkennt,  daß  die  volkstümlichen  Grundlagen  auch  schon 
in  älterer  Dichtung  gegeben  sind. 


»)  Ehrismann,  AfdA.  25,  167. 


38 

meinen  Schulmannes"  (8.  31)  wird  dessen  ganzer  Lebenslauf 
piiamelartig  durchgenommen.  Noch  zu  Goethes  Jugendzeit  lebt 
diese  Kunsttradition  des  galanten  Ikons;  er  schreibt  an  seinem 
siebzehnten  Geburtstag  seinem  Freunde  F.  M.  Moors  Ins  Stammbuch: 

Dieses  ist  da;  Bild  der  Welt, 
Die  man  (Ur  die  beste  halt: 
Fisl  wie  eine  Mördergiub«, 
Fast  wie  eines  Burschen  Slube, 
Fast  so  wie  ein  Opernhaus, 
Fast  wie  ein  Magisierschmnus, 
Fast  wie  Köpfe  von  Poeten, 
Fast  wie  schöne  Raritälen. 
Fast  wie  abgesetiies  Geld 
Sieht  sie  aus,  die  beste  Welt'J. 

Ualmsche  Gliaselen,  auf  deren  formelle  Verwandtschaft  mit 
dem  Priamel  Wendeler')  hinwies,  stehen  solcher  Kunstübung 
jedenfalls  näher  als  volkstümlicher  Improvisation;  an  wirklichen 
Zusammenhang  dachte  wohl  auch  Wendeler  nicht.    Ein  Beispiel: 

Versch lungner  ßeihcntani  sich  wendend  hin  und  her; 
Buntfürbger  FederboU.   den,   sendend  hin  und  her, 
Gewandter  .Schläger  Kunst  nicht  UBt  lum  Boden  mchrj 
Weibrauchge wölke,  wie,  du fisp endend  hin  und  her, 
•      Im  Dom  aufwirbeln  laßt  der  Weihnacht  Wiederkehr^ 
SprUhiegeo,  den  im  Fall,  verschwendend  hin  und  her 
Schauuiduftgen  Irisglani,  der  Spiingquell  streut  umher; 
Und  Weberschiff,  das  rasch  vollendend  hin  und  her 
Zum  leuchtenden  Geweb  vereint  der  FHden  Meei: 
So  schweb  Gaselemeim  mir  blendend  hin  und  herl'). 

Alles  dies,  wie  Bergmanns  Im  Kap.  IV  zu  erörternde 
„sonnets-priamMes",  ist  kein  echtes  Friamel,  alles  aus  bestimmter, 
meist  manirierter  poetischer  Tradition  hervorgegangen,  „poetische 
Marcipane,"  alles  mehr  Kunst,  als  das  Priamel  verträgt,  und 
ohne  rechten  Zusammenhang  mit  der  Volkskunst  des  Priamels. 

')  Bernajs,    Der   jnngo   Goütliu    1,  85.     Weißünfuls,    Gootho    im 
Sturm   und  Drang  I  38.     Hcrrmauii, 
S.  36.  38  bringt  dioac  Vursu   mit  Guckk 
Archiv  für  Kulturgcschichto  2,  U'JG  ff.)  ii 
Goethe  abzusprochon. 

')  Do  praoainbulis  S.  12. 

3)  Friedrich  Halms  Werke  I  (W 


Wir  babeß  gesehen,  daß  alle  Arten  poetischer  Kleinkunst, 
die  mit  dem  Priamel  in  Zusammenliang  gebracht  sind,  sich  doch 
nicht  damit  decken.  Wenn  anch  die  Gattungen  der  Volkspoesie 
vielfach  in  einander  übergehen,  ergeben  sich  trotzdem  anter- 
scbeidbare  Typen,  deren  priazipielle  Vermiscbang  eine  wirkliche 
ErkenntniB  dieser  Poesie  unmöglich  macht.  Je  mehr  das  Priamel 
literarischer  Geltung  zustrebt,  am  so  deutlicher  sondert  es  sich 
aas  seiner  Umgebung  ab.  Es  verwendet  allerdings  die  Anaphora, 
die  Klimai,  die  Beihenbildung,  Elemente  der  Gnomen-  und  Lügen- 
dichtuQg,  des  Batsels  a.  s.  f.;  aber  Anaphora,  Klimax,  Reihen, 
Rätsel  n.  s.  w.  sind  eben  noch  kein  Priamel.  Es  wahrt  in  seiner 
fertigen  Gestalt,  bei  Rosen plüt,  in  der  Priamelrede,  den 
Cbarakt«r  einer  literarischen  Gattung,  es  ist  nicht  bloße  stilistische 
oder  syntaktische  Form')-  Dieser  Unterschied  wird  für  die 
literatnrgeacbichtliche  Beurteilung  wichtig.  So  werden  wir  Rudolf 
Koegel  teils  beipflichten,  teils  widersprechen  massen,  wenn  er 
ein  altdeutsches  Priamel  bis  in  das  zwölfte  Jahrhundert  mit 
größter  Bestimmtheit  leugnet:  beipflichten,  wenn  er  es  als  an- 
geblich vorhandene  literarische  Gattung  leugnet;  widersprechen, 
wenn  er  verkennt,  daß  die  volkstümlichen  Grundlagen  auch  schon 
in  älterer  Dichtung  gegeben  sind. 

•)  Ehtismsnn,  A(dA.  25,  167, 


II. 
Name  des  Priamels. 

Wenn  man  je  gegen  Namen  eifern  soll,  so 
müßte  es  gegen  dieses  Wort  geschehen. 

Jakob  Grimm. 

Begrenzter  Umfang  der  Bezeichnung.    Die  musikalische  Bedeutung  bei  Rosen- 
plüt.    Das  Priamel    als   primitive  instrumentale  Improvisation.    Priamel  in 
Predigt   und  Fechtkunst.     Form    des  Wortes,   Anwendung   auf  das  Impro- 
visationsgedicht, Verschwinden  des  Namens. 

Wie  beim  Volkslied  hat  beim  Priamel  der  Uegriflf  das  Wort 
geschaffen^).  Schon  früher  wurde  bemerkt,  daß  der  Frage  nach 
der  Herleitung  des  Namens,  wie  beim  Sonett  und  Madrigal^), 
eine  größere  Wichtigkeit  beigemessen  ist,  als  sie  an  und  für  sich 
haben  muß.  Der  Begriff  des  Literaturobjektes  hätte  an  hin- 
reichendem Material  festgestellt  werden  können,  ohne  daß  die 
Theorien  über  die  Namensfrage  von  entscheidendem  Einfluß  zu 
werden  brauchten.  Der  alte  Name  hat  überhaupt,  insofern  er 
eine  literarische  Gattung   bezeichnet,   kein  Jahrhundert  gelebt'), 


*)  Erwin  Kircher,  Volkslied  und  Volkspoesie  in  der  Sturm-  und 
Drangzeit,  Zeitschrift  für  deutsche  Wortforschung  IV,  S.  2. 

^)  Der  Name  des  Madrigals  hat  ähnliche  Schicksale  gehabt.  Voßler 
S.  10  ff. 

3)  Göttinger  Beiträge  2,  17.  DLZ  1899,  303.  Ehrismann  Anz. 
25,  163  f.  Der  altertümelnde  Johann  Martin  Usteri  benennt  zwei  poetische 
Anekdoten  mit  mißlungener  Erläuterung  Briamel :  Briamel  vom  Schuldenbott 
und  Briamel  vom  Wyn.  Heß  1,  31  ff.  Er  scheint  beabsichtigt  zu  haben, 
die  längst  verschollene  Bezeichnung  wieder  künstlich  aufzufrischen.  Albert 
Bach  mann  bestätigt  mir,  daß  die  Mundart  das  Wort  Priamel  als  Bezeich- 
nung für  ein  Gedicht  in  der  Tat  nicht  kennt.  Die  beste  Inventarisierung 
des  Wortbestandes  liefert  für  ein  engeres  Gebiet  der  inhaltreiche  Artikel 
des  Schweizerischen  Idiotikons  V  301  f. 


41 

und  auch  in  der  kurzen  Zeit  seiner  Geltung  nur  in  recht  engen 
Grenzen  Verständnis  gefunden  *).  Von  all  den  zahlreichen  Priamel- 
handschriften  kennen  ihn  nur  fünf  A,  C,  D,  FG  und  N.  Die 
guten  Handschriften  gebrauchen  ihn  nur  bei  Bosenp lutschen 
Stü<5ken;  vor  Rosenplüt  ist  er  gar  nicht  vorhanden^).  Rosenplüt 
aber  verwendet  ihn  auch  in  dem  Spruch  von  der  fruchtbaren 
Frau  (D  39).  Man  wird  sich  hier  dem  Schlüsse  niclit  entziehen 
können,  daß  der  Name  auf  RosenplQt  zurückzuführen  ist. 

Welche  Bedeutung  hat  das  Wort  bei  Rosenplüt?  Die  ganze, 
bisher  nur  in  Bruchstücken  bekannte,  wichtige  Stelle  der  Hand- 
schrift D  muß  es  lehren;  sie  sei  deshalb  hier  vollständig  wieder- 
gegeben^}. Ist  sie  doch  neben  einer  Stelle  des  Härders  und 
einer  der  Minne  Regel,  die  Jacobsthal  und  Ambros  erläutert 
haben,  sehr  lehrreich  für  die  Musikgeschichte  dieser  Zeit^). 

Fürbaß  kom  ich  durch  stießen  nebel; 
Da  hört  ich  erst  aus  vogel  snebel 
Das  allerlieplichst  sUest  preambel 
Aus  rausica  on  alles  stammeln 
Zwischen  dem  gamaut^)  und  dem  sol, 
Das^)  schickten  sie  da  auf  zu  zol 
Dem  kunig  in  der  eren  vesten, 
Der^)  in  die  sun  ließ  heraber  glesten. 
Dieselb  macht  mit  irm  warmen  glitzern 
Mang  freien  vogel  so  sUeßlich  zwitzern, 


0  Ehrismann  S.  164. 

8)  Göttinger  Beitr.  2,  16. 

^)  S.  39 — 41  der  Handschrift.  41  ist  falsch  für  40  paginiert.  Der 
Text  ist  weder  kritisch  hergestellt  noch  mit  allen  Fehlem  gegeben,  vielmehr 
ein  Mittelweg  eingeschlagen.    Die  kritische  Ausgabe  will  Michels  liefern. 

^  Altere  Stellen  mustert  mit  reichem  Gewinn  Burdach,  Eeinmar 
der  Alte  und  Walther  S.  178  fF.  Romanisches  bei  Lavoix,  Bibliotheque 
Fran<jai8  du  moyen-äge  2,  321.  Statt  Jacobsthals  ,gradibus'  (Z.  f.  d.  A.  20) 
73)  ist  "beim  Härder  ,gravibus'  zu  lesen.    Minne  Regel  428. 

*)  Noch  in  Judenkünigs  Tabulatur  die  tiefste  Saite.  Vgl.  Agricola 
Musica  instioimcntalis  deutsch  S.  62  (des  Neudrucks.)  Ambros,  Geschichte 
der  Musik  2',  151  fP.  Leopold  von  Schröder  führt  in  seiner  Antritts-, 
Vorlesung  zu  Wien  (Beilage  zur  Münchener  Allgemeinen  Zeitung  1899} 
Nr.  151,  S.  2).  Guidos  Gamma  auf  das  indische  grama,  prakritisiert  gäma, 
zurück. 

6)  Hs.  Da. 

^)  Hb.  Dorynn. 


42 


Mit  semitoni  aus  dem  re 

Schöpften  si  aus  der  quinten  sc. 

Mang  stießen  wirbel  aus  iren  snebeln 

Die  donten  si  her  aus  paumes  gebeln 

Mit  halben  noten  on  all  valseten, 

Das  in  rundel  und  in  muteten  ^) 

Nie  wurden  geftirt  so  stieße  priichlein, 

Als  man  sie  notirt  in  die  blichlein, 

Und  sie  de  donet  in  canducten^) 

Die  vallenden  noten  und  die  verzuckten, 

Holnoten  und  slagnoten  furtswangen, 

Gespalten  die  kurzen  Über  die  langen, 

Die  discantirten^)  sie  all  in  irem  cantum, 

Do  sie  frolockten  in  tones  trantrum. 

Die  lerch  so  meisterlichen  traf 

Die  concordanzen  in  der  ottaf. 

Aus  b  fa  be  mi  clang  her  teglich 

Die  droschel  mit  irm  stießen  sieglich. 

Golander  spielt  aus  b  moUis 

Und  ruret  niendert  an  das  solis. 

Die  amscl  der  noten  zal  cannaunet^), 

Die  tenoriret  und  purdaunet^) 

Mit  ut,  mit  terz  und  mit  medium. 

Dartiber  spielt  ad  placitum 

Die  nachtigal  so  stießen  tackt, 

Da  sie  so  mang  grtins  laub  bedackt, 

Mit  ires  wedeis  oberswUnglein^j. 

Darunter  mtinzet  auch  ir  ztinglein 

Mang  stieße  noten  in  einer  minuten. 

Damit  sie  all  schon  lob  erputen 

Mit  manchem  meisterlichem  stUcklein 

Dem,  der  in  zu  speise  schuf  die  mticklein. 

Dem  dankten  sie  mit  sUeßem  gelsen. 

Dem  obersten  schopfer  aus  iren  helsen. 

So  ich  nach  lust  ge  umbswanziren 

Und  hört  der  vogel  stimm  hofiren, 

Do  kom  ich  an  ein  liebe  stat. 


»)  Ambros  2,  236.  237. 

2)  Ambros  2,  336.  339.   Vierteljahrsschrift  für  Musikwissenschaft  2, 280. 

3)  Hs.  discantiren.    Zs.  f.  d.  A.  20,  72. 

^)  Yielleicht  Yon  dem  Kanun  gebildet.  Ambros  1,  114.  2,  198.  Land, 
Recherches  sur  l'histoire  de  lagammeArabe  (Verhandlungen  des  6.  Orientalisten- 
Kongresses)  S.  53  ff.  Ambros  zur  Minne  Regel  S.  245  f.  Übrigens  ist  die 
Lesung  unsicher. 

*)  Z.  f.  d.  A.  20,  73  f. 

«)  Schmeller,  BW  2«,  640.    QF  77,  135. 


43 


Die  Ausführung  beweist,  daß  Bösen plüt  hier  das  Wort  in 
musikalischer  Bedeutung  gebraucht.  Daß  mit  preambel  nicht 
nur  ein  musikalisches  Geräusch  ^)  gemeint  ist,  zeigt  die  unmittel- 
bare Fortsetzung  des  Satzes.  Es  ist  synonym  mit  dem  korre- 
spondierenden späteren  Ausdruck  ,meisterliches  stücklein^^).  Auch 
beim  Härder  führen  die  Vögel  ein  ,trippel"^)  und  im  afr.  Lai 
d'piselet  (91):  lais,  noviax  sons,  rotruhanges  und  chansons^)  aus. 
Rosenplüt  verfügt  überhaupt  über  reichliche  Kenntnisse  der 
musikalischen  Theorie  und  Praxis,  wie  aus  zahlreichen  Stellen 
seiner  Dichtungen  hervorgeht.  Damit  zu  prunken,  war  literarische 
Mode.  Hier  sei  nur  auf  die  größeren  zusammenhängenden  Stellen 
verwiesen.     Im  Spruch  von   dem  Priester  und  der  Frau  sagt  er: 

Die  (Vogel)  hört  ich  nu  so  stieß  ergellen 

Für  lauten,  fidcln  und  rubellen^) 

Und  fUr  der  stießen  harpfen  griff. 

Die  warhcrt  ich  neur  von  in  triff, 

Das  sie  überstimpten  aus  iren  gorgeln, 

Schalmeien,  portatif  und  orgeln 

Und  flöten  und  pfeifen  aus  dem  sack^). 

Dazu  kommt  eine  Stelle  aus  den  Ehefrauen^),  die  Stelle  über 
Conrad  Paumann®)  und  einige  Verse  aus  dem  EinsiedeP). 
Es  tritt  uns  aus  alledem  schon  eine  nicht  gerade  gewöhnliche 
Bekanntschaft  mit  musikalischen  Dingen  entgegen.  Man  kann 
wohl  sagen,  er  kannte  die  gesamte  musikalische  Kunstübung 
Nürnbergs  gründlich.  In  den  oben  zitierten  Versen  nennt  er 
allein  9  verschiedene  Instrumente,  zeigt  sich  bewandert  in  der 
Orgel-  und  Lautentabulatur,  mit  deren  Kunstausdrücken  er 
kokettiert,  ist  vertraut  mit  Theorie,  Vokal-  und  Instrumental- 
musik und  kennt  eine  Anzahl  musikalischer  Kunstformen.     „Das 


0  Uhl,  Die  deutsche  Priamel  S.  112. 

2)  Gerade  so  sagt  HansGerle,  Musica  Teusch  (!)  von  1*537,  Blatt  A  3: 
„etliche  kunstliche  stuck  |  Preambel  |  vn  Tentz." 

3)  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum  20,  73  ff. 
*)  Gröber  im  Grundi-iß  II^  660. 

5)  Schmeller,  BW.  2^  116.    Ambros  1,  79.  2,  29.  243. 

6)  D  30. 

^)  Zeitschr.  für  deutsches  Altertum  32,  445. 

^  8.  unten. 

^)  Kellers  Fastnachtspiele  3,  1125. 


44 


goldene  Zeitalter  des  Instrumentenspiels^  mit  seinen  primitiven 
Anforderungen  ermöglichte  ja  eine  später  nie  wieder  erreichte 
Vielseitigkeit  der  musikalischen  Praxis.  Ohne  Mühe  konnten  die 
Musiker  sich  noch  zu  Virdungs  Zeit  „einer  mannigfaltigen  Tätig- 
keit widmen,  und  wenn  es  jemand  so  weit  gebracht  hatte,  das 
Clavicordium,  die  Laute  und  die  Flöte  zu  spielen,  so  war  er 
imstande,  mit  Leichtigkeit  ziemlich  alle  Instrumente  in  den  Be- 
reich seines  Könnens  zu  ziehen^  ^). 

Es  kann  nicht  wundernehmen,  wenn  auch  ein  ungelehrter  ^) 
Handwerksmeister  in  Nürnberg  zu  solchen  Kenntnissen  gelangt; 
die  Haus-  und  Orchestermusik  jener  Zeit  war  durchgängig  aus- 
gesprochen dilettantenhaft,  und  die  Leistungen  werden  fast  immer, 
wenn  auch  nicht  ganz  mit  Becht,  als  überaus  gering  angeschlagen. 
Nürnberg  ist  auch  in  gewissem  Sinne  die  Wiege  der  deutschen 
Instrumentalmusik,  zu  deren  Anfängen  das  Priamel  gehört. 

Die  Ausbildung  selbständiger  Instrumentalmusik  knüpft; 
sich  an  Orgel-  und  Lautenkunst,  beide  gerade  in  Nürnberg  hoch 
entwickelt.  Nürnberg  ist  bereits  im  fünfzehnten  Jahrhundert  die 
Hauptbezugsquelle  für  Instrumente  aller  Art^).  Nürnberg  hat 
seinen  ältesten  Lautenisten  Heintz  Helt  (1413)^)  und  im  fünf- 
zehnten und   sechzehnten  Jahrhundert   eine  ganze  Reihe  hervor- 


^)  Wasielewski,  Geschieh to  der  Instrumentalrousik  S.  98. 

')  Man  darf  nur  nicht  unterschätzen,  was  auch  die  sog.  volkstümliche 
Kultur  an  gelehrten  Bildungsclementen  enthielt.  Der  Gegensatz  der  Be- 
griffe volkstümlich  und  gelehrt  ist  Ergebnis  der  Abstraktion. 

^)  Hans  Loewenfeld,  Leonhard  Kleber  S.  32.  Jetzt  findet  man 
vieles  bequem  zusammen  in  Oswald  Körtes  Buch  über  Laute  und  Lauten- 
musik bis  zur  Mitte  des  sechzehnten  Jahrhunderts.  Publikationen  der  Inter- 
nationalen Musik-Gesellschaft.  Beihefte  III.  Leipzig  1901.  Leider  ist  sein 
Interesse  mehr  auf  das  sechzehnte  als  auf  das  vorangehende  Jahrhundert 
gerichtet.  Dazu  kommt  die  Publikation  der  spanischen  Lautenmeister  des 
sechzehnten  Jahrhunderts  von  Morphj  und  Gevjaert.  Leipzig  1902.  Die 
Bibliographie  ist  allerdings  lückenhaft:  z.  B.  fehlen  Judenkünig  und  Gerle. 

*)  Ambros  3,  427.  Wenn  Reuß  in  Mones  Anzeiger  1854,  271  einen 
Heinricus  cytharcda  1202  in  Würzburg  nachweist,  so  wird  das  wohl  ein 
Harfenspieler  gewesen  sein.  Wackernagel,  Geschichte  der  deutschen 
Literatur  I'  9,  20.  Deutsche  Lautenisten  des  vierzehnten  Jahrhunderts: 
Beneke,  Von  unehrlichen  Leuten  (2.  Aufl.),  S.  41  (1385).  Germ.  Abh.  1,8, 
122  (1890).  In  den  Niederlanden:  van  der  Straeten,  La  musique  aux  Pays- 
Bas  2,  368  (1363).    In  Frankreich:   Bivista  musicale  Italiana  5,  643  (1396). 


45 

ragender  Eünsiler  dieser  Art  aufzuweisen,  wie  die  berühmte 
Familie  Gerle.  Conrad  Oerle  ist  um  die  Mitte  des  fünfzehnten 
auch  im  Ausland  als  Lautenmacher  bekannt^-  Hans  öerle 
und  Hans  Neusiedler  sind  dort  im  folgenden  Jahrhundert  die 
Verfasser  wiederholt  aufgelegter  Lautenbücher  ^).  In  Nürnberg 
gab  es  auch  tüchtige  Dilettanten;  Hans  Oerle  der  Ältere  nennt 
in  der  Widmung  seines  Neuen  Lautenbuches  von  1552  den  Nürn- 
berger  Hürger  Franz  Ledercr  einen  furnembsten  dieser  Kunst ^). 
Rosenplüts  genaue  Bekanntschaft  mit  der  Tabulatur  kann  auf 
Vertrautheit  mit  dem  Instrument  beruhen,  das  dazumal  jeder 
klimperte^).  Es  war,  wie  heutzutage  das  Klavier,  das  Mode- 
instrument der  Dilettanten^).  Wie  die  volksmäßige  bürgerliche 
Dichtung  vielfach  durch  seßhaft  werdende  Fahrende  Anregung 
empfing,  so  konnte  auch  deren  musikalische  Tätigkeit  nicht  ohne 
Einfluß  auf  die  Musikübung  in  den  Städten  bleiben.  Die  deutschen 
Spielleute  gewannen  bekanntlich  schon  im  dreizehnten  Jahrhundert 
städtische  Organisation  und  verschmolzen  immer  mehr  mit  der 
bürgerlichen  Gesellschaft^).  Der  Stadtmusikant  trat  vielfach  ihr 
Erbe  an  und  förderte  die  Verbreitung  musikalischer  Bildung  in 
den  Städten.  Auch  in  Nürnberg  lag  die  Pflege  der  Instrumental- 
musik zuerst  in   den  Händen  der  Stadtpfeifer  ^).     Der  Fahrende 


')  van  der  Straeten  2,  369.  Ernst  Gottlieb  Baron,  Historisch- 
Theoretisch  und  Practische  Untersuchung  des  Instruments  der  Lauten.  Nürn- 
berg 1727.  S.  56:  „1415  der  Weltberühmte  Lauten-Macher  Lucas  Mahler 
gelobet" ;  vgl.  S.  92. 

')  Yierteljahrsschrift  für  Musikwissenschaft  7,  288  f.  Monatshefte  füi- 
Musikgeschichte  18,  101  ff.  Zuerst  hat  Wasielewski  in  seiner  Geschichte 
der  Instrumentalmusik  im  sechzehnten  Jahrhundert,  Berlin  1878,  den 
Leistungen  der  ältesten  Lautenisten  selbständige  Studien  gewidmet;  seine 
Beurteilung  nimmt  aber  mehrfach  den  modernen  Geschmack,  nicht  ganz  die 
historische  Bedeutung  zum  Maßstab.  Daß  sie  für  den  künstlerischen  Genuß 
unergiebig  sind  (S.  2.),  nimmt  ihnen  nichts  von  ihrer.  Wichtigkeit. 

')  Ein  Newes  sehr  Kunstlichs  Lautenbuch  |  darinnen  etliche  Preambel 
I  vnnd  Welsche  Tentz  |  .  . .  durch  Haussen  Gerle  den  Eiteren.    Blatt  A4*. 

*)  van  der  Straeten  2,  371. 

*)  Wasielewski  S.  116  f.     Fischart,  Kurz  3,  9. 

•)  Wasielewski  S.  4  ff.  S.  11  flf.  Monatshefte  für  Musik- Geschichte 
19,  4  ff.,  Böhme,  Geschichte  des  Tanzes  1,  288  ff.  Hertz,  Spielmanns- 
buch S.  40  flf. 

^)  Jäger   in   der  Festschrift,   dargeboten   den  Mitgliedern   und   Teil- 


46 


mußte  noch  mehr  als  sein  städtischer  Kollege  Dichtung  und 
Musik  verbindeD.  Am  Hofe  Albrecht  II.  von  Niederbayern-Straubing 
erscheint  ein  Singer  der  zugleich  Lautenist  war'). 

Weit  über  Nürnbergs  Grenzen  reicht  der  Ruhm  seiner  Orgel- 
kunst. Der  Erfinder  der  deutschen  Lautentabulatur  ^)  und  Ver- 
fasser des  ersten  deutschen  Orgelbuclies,  ein  blinder  Nürnberger 
Bürger,  Organist  an  St.  Sebald,  wird  von  Kaiser  Friedrich,  den 
Herzögen  von  Mantua  und  Ferrara  ausgezeichnet,  zum  Ritter 
geschlagen  und  von  Albrecht  III.  nach  München  gezogen,  wo  er 
starb  und  am  24.  Januar  1473  beigesetzt  wurde  ^).  und  dieser 
Mann,  dessen  Lebenszeit  fast  ganz  mit  der  Rosenplüts  zusammen- 
fällt, stand  dem  Dichter  nahe.  Er  widmet  dem  Musiker  in 
seinem  Lobsprucli  auf  Nürnberg  begeisterte  Anerkennung^): 

Noch  ist  ein  meister  in  discm  geticht, 

Derselb  hat  mangel  an  seinem  gesicht; 

Der  heißt  Conrat  Pawman. 

Dem  hat  got  sollich  gnad  getan, 

Das  er  ein  meister  ob  allen  meistern  ist. 

Der  tregt  in  seiner  sinnen  list 

Die  musica  mit  irn  sUessen  dönn. 

Solt  man  durch  kunst  ein  meister  krönn, 

Er  trüg  wol  auf  von  goldc  ein  krön. 

Mit  contratenor,  mit  faberdon, 

Mit  primitonus  tenorirt  er. 

Auf  e  la  mi  so  sincopirt  er, 

Mit  resonanzen  in  acutis. 

Ein^)  traurig  herz  wirt  freies  mutes, 


nehmern  der  65.  Versammlung  der  Gesellschaft  deutscher  Naturforscher  und 
Ärzte  vom  Stadtmagistrate  Nürnberg.     1892.     S.  553. 

*)  Helttampts  Rechnungsbuch  69b. 

')  Ansätze  bei  den  Arabern.    Land,  Recherches  S.  69.    Körte  S.  73  flf. 

3)  Chrysanders  Jahrbücher  für  musikalische  Wissenschaft  2,  70  fiF. 
Sandbergcr,  Beiträge  zur  Geschichte  der  bayerischen  Hofkapelle  unter 
Orlando  di  Lasso  (Leipzig  1899)  I,  10 ff.  über  die  Familie  Baumann:  Vicrtel- 
jahrsschrift  für  Musikwissenschaft  10,  251  ff.  Wasielewski  wird  S.  15 
seiner  Bedeutung  wohl  nicht  ganz  gerecht.  Seine  Grabinschrift  haben 
Tappert  in  den  Monatsheften  für  Musik- Geschichte  18,  110  f.  und  Sandberger 
S.  10  berichtigt.  Ein  Gypsabguß  des  Denkmals  ist  den  Besuchern  des 
Germanischen  Museums  bekannt. 

*)  Die  Stelle  ist  bei  Lochner,  dem  Arnold  folgt,  sehr  verdorben,  in 
D  ohne  Schwierigkeit;   deshalb  nach  D  99  f.  noch  einmal  zitiert. 

^)  Hs.  Er. 


47 


Wen  er  aus  octaf  discantirt, 

Und  ^)  quint  und  ut  zusammen  resonirt, 

Und  mit  proporzen  in  gravibus. 

Respons,  antiffen,  introituSi 

Impnus,  Sequenz  und  responsoria, 

Da»  tregt  er  als  in  seiner  memoria'), 

Ad  placitum  oder  gesatzt. 

Und  was  für  musica  wird  geschätzt, 

In  kores  cantum  das  kan  er  außen. 

Rundel,  muteten  kan  er  fluckmaußen  ^). 

Sein  haubt  ist  ein  sollich  gradual 

In  gemessen  cantum  mit  solcher  zai, 

Das  es  got  selbs  hat  genotirt  darein. 

Wo  mocht  dann  ein  weisrer^)  meister  gesein? 

Mag  Bosenplüt  seine  musikalische  Bildung  direkt  dem 
Baumann  danken,  wie  Boethe  vermutet,  oder  andern  Musikern, 
jedenfalls  stand  er  rege  teilnehmend  in  dem  Musikleben  seiner 
Vaterstadt,  so  daß  er  mit  vollem  Verständnis  unter  tausend  andren 
einen  musikalischen  Begriff  wie  Preambel  in  sein  Gedicht  von 
der  fruchtbaren  Frau  übernehmen  konnte.  Fragen  wir  nun,  was 
das  Priamel  war,  so  geben  die  primitiven  Anfänge  der  Instrumental- 
musik Aufschluß,  die  sich,  teils  an  die  Vokalmusik  anknüpfend, 
teils  von  ihr  unabhängig  mit  ziemlicher  Deutlichkeit  vor  unseren 
Augen  entwickeln. 

Bochus  von  Liliencron  hat  dem  Auftreten  selbständiger 
Musik  in  Deutschland  eine  besondere  Abhandlung  gewidmet,  die, 
abgesehen  von  dem  Verhältnis  zum  Lied,  mehr  negative  Besultate 
lieferte.  „Es  ist  nun  so  schwer  sich  aus  dem,  was  wir  über  die 
Musik  bis  zum  fünfzehnten  Jahrhundert  wissen,  einen  Begriff 
von  solchem  Musizieren  der  Spielleute  zu  machen,  daß  dies  der 
Geschichte  der  Musik  in  der  Tat  bisher  überhaupt  noch  nicht 
gelungen  ist**^).  Und  in  seiner  neuesten  Behandlung  des  Themas^) 
ist  das  Ergebnis:    „Eine  selbständige  Form  für  Instrumentalmusik 

»)  Fehlt  in  der  H.  Lochner  272. 

^)  Sandberger  deutet  S.  13  diese  Stelle  auf  die  Kunst  des  Extem- 
porierens. 

3)  Schmeller,  B  WP  787.     Wochen  (Herrigs  Archiv  99,  20)  184. 

*)  Hs.  weiser. 

5)  Münchener  Sitzungsberichte  1873  S.  664.  Zeitschrift  für  vergl. 
Literaturgeschichte.    N.  F.  1,  129.  131. 

•)  Pauls  Grundriß  II 2,  322  (HP  550). 


48 


gab  es,  vom  Tanz  abgesehen,  noch  nicht.  Auch  was  man  auf 
der  Orgel  und  der  als  Virtuoseninstrument  beliebten  Laute  spielte, 
waren  übertragene  Oesangsmusiken  ^),  nur  nach  Beschaffenheit  des 
Instrumentes  eingerichtet  und  verziert." 

Dagegen  hat  Schönbach ^)  schon  für  das  zwölfte  Jahrhundert 
Frankreich  Tonstücke  ohne  Texte,  also  Instrumentalmusik,  zu- 
geschrieben, indem  er  sich  auf  Oröber^j  beruft.  Aber  zunächst 
ist  das  beweisende  Zitat  irrig,  und  was  alsdann  Gröber^)  daiüber 
sagt,  beweist  noch  nicht  die  Existenz  von  wirklichen  Tonstücken, 
Er  meint:  „Tonstücke  ohne  Text  bestanden  in  der  Tat;  z.  B.  da, 
wo  Instrumente  beim  Tanz  gebraucht  wurden,  die,  eintönig  wie 
die  Trommel,  die  bei  den  seit  der  ersten  Hälfte  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  bezeugten  öffentlichen  sonntaglichen  Tanzbelusti- 
gungen verwendet  wurde,  nur  den  Takt  anzugeben  dienten.^ 
Solche  Musik  fehlte,  wie  selbst  bei  Naturvölkern^),  auch  in 
Deutschland  nicht.  Im  allgemeinen  wird  Instrumentalmusik  doch 
beträchtlich  älter  sein,  als  man  gewöhnlich  annimmt.  Auf  alt- 
indische Lautenkompositionen  und  ihren  Zusammenhang  mit  der 
Zigeunermusik  hat  nachdrücklich  Paul  Bunge  hingewiesen^). 
Bei  der  von  Böhme  für  die  nordische  Vorzeit  angenommenen 
selbständigen  Instrumentalmusik  käme  es  darauf  an  zu  untersuchen, 
welcher  Art  sie  gewesen^).  Genauere  Untersuchungen  fehlen 
auch  über  die  unzweifelhaft  bei  den  Kelten^)  vorhandenen  An- 
sätze zu  Folyphonie^)  und  Instrumentalmusik.    Für  Deutschland 


^)  Was  für  das  Priamel   nicht  zutrifft.     Loewenfeld,   Kleber   S.  42. 

')  Die  Anfänge  des  deutschen  Minnesanges  S.  116. 

3)  Grundriß  der  romanischen  Philologie  II 1,  664. 

*)  S.  660. 

^)  Böhme,  Geschichte  des  Tanzes  1,  245.  Bücher,  Arbeit  und 
Ehythmus«  S.  42ff.  251  ff. 

^)  Die  Notation  des  Somanätha  in  Eitnors  Monatsheften  36,  56  ff.  Wie 
im  Mittelalter  ist  weltliche  Musik  Instrumental-,  geistliche  Vokalmusik.    S.  58. 

7)  Geschichte  des  Tanzes  1,  12.    Für  das  Mittelalter  1,  28.  248. 

8)  Lavoix  a.  a.  0.  S.  284.  Hertz,  Spielmannsbuch  S.  45.  Walter, 
Das  alte  Wales  S.  290  erwähnt  als  bardische  Musikübung  ein  Präludium, 
gosteg.  Für  Frankreich:  Restori  bei  Petit  de  Julleville,  Histoire  de 
la  langue  et  de  la  litterature  Fran^aise  1,  403. 

^)  W.  Meyer,  Der  Ursprung  des  Motetts.  Nachrichten  der  Gottinger 
Gesellschaft  der  Wissenschaften  1898,  S.  113  ff.  Biemann,  Geschichte  der 
Musiktheorie.    Leipzig  1898.    S.  IX  und  passim.    Wallaschek,  Anfänge 


49 


siud  durch  die  Verdienste  von  Koller,  Bieniann  und  Runge 
instrumentale  Einlagen  im  Minnesang,  Vor-  und  Nachspiele  beim 
Mönch  von  Salzburg,  bei  Oswald  von  Wolkenstein  erwiesen  *).  Auch 
die  poetische  Ausmalung  Gottfrieds  (Tristan  3545  ff.)  zeugt  wie 
einige  Stellen  der  Minnesänger^)  von  solcher  Eunstübung.  Das 
Ende  de«  vierzehnten  Jahrhunderts  hat,  so  eng  sie  sonst  zusammen- 
hängen, die  Scheidung  von  Vokal-  und  Instrumentalmusik  voll- 
zogen. Der  fruchtbarste  französische  Dichter  des  Jahrhunderts 
schrieb  eine  vom  Jahre  1392  datierte  Poetik,  Lart  de  dictier,  in 
der  er  zwei  Arten  von  Musik  unterscheidet,  eine  künstliche  und 
eine  natürliche  ^).  Wenn  sich  nun  auch  diese  Begriffe  bei  Deschamps 
nicht  so  sehr  mit  heutiger  Instrumental-  und  Vokalmusik  als  mit 
musikalischer  Komposition  und  unkomponierter  Poesie  decken, 
und  die  vorgetragenen  Kriterien  der  Unterscheidung  sich  gegen- 
seitig nicht  immer  ausschließen,  so  redet  er  doch  deutlich  genug 
von  ihrer  Verbindung  und  Trennung*).  Die  natürliche  und  die 
künstliche  Musik  sind  so  nahe  mit  einander  verwandt,  daß  man 
von  einer  Ehe  sprechen  kann,  in  der  sie  leben  müssen.  Trotzdem 
hört  man  jede  für  sich.  Der  natürlichen  Musik  kann  einsame 
Lektüre  oder  Vortrag  eines  Rezitators  gelten;  und  die  andere 
Musik  kann  auch  der  Worte  entbehren:  ,et  se  puot  l'une  chantcr 
par  voix  et  par  art,  sanz  parole'*). 

Wie  sich  die  Entwicklung  vollzog,  zeigen  die  ersten  Denk- 
mäler deutscher  InstiTimentalmusik,  das  Bux heimer  Orgelbuch 
und  der  Anhang  des  Lochheimer  Liederbuchs.  Die  Ent- 
wicklung der  Instrumentalmusik  nimmt  nicht  nur  von  der  Vokal- 
musik  und   vom  Tanze,   sondern  auch  von  dem- Vorspiel  des  Ge- 

der  Tonkunst.  Leipzig  1903.  S.  156  ff.  Davey,  History  of  English  music 
S.  74  ff.  Saran,  Der  Rhythmus  des  französischen  Verses.  Halle  1904.  S.  47  ff. 
Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane  35,  291. 

1)  Eitners  Monatshefte  35,  84. 

3)  Der  Unverzagte  HMS  3,  44a,  i.  Meißner  3,  99b,  1.  Roethe, 
Reinmar  von  Zweter  S.  189. 

^)  Societe  des  anciens  textes  fran^ais:  Oeuvres  completes  d^Eustache 
Deschamps  7,  269  ff.  Hoepffner,  Eustache  Deschamps.  Straßburg  1904. 
S.  126.  Raynaud,  Oeuvres  11,  155  f.  Im  allgemeinen  Thode,  Michelangelo 
2,  47  ff. 

*)  7,  271  f. 

*)  7,  272. 
Ealing,  Priamel  4 


50 

sanges  ihren  Ausgang.  Schon  der  breix)nische  Spielmann  macht 
als  Präludium  für  den  Gesang  aufsteigende  Läufe  (prent  sun 
amunter),  zum  Nachspiel  wiederholt  er  auf  der  Harfe  die  gesungene 
Melodie  ^).  Allmählich  hat  sich  die  nur  begleitende  Instrumental- 
musik vom  Gesänge  los  gemacht,  indem  sie  entweder  vorher 
improvisierte  ^)  oder  Gesangssätze  paraphrasierte.  Diese  Pamphrasen 
gelten  als  vornehmere  Erzeugnisse  und  scheinen  früher  der  Auf- 
zeichnung würdig;  jene,  die  Präambula,  schrieb  man  zunächst 
noch  lange  nicht  auf^).  Ob  diese  Improvisationen  auf  der  Orgel 
oder  auf  der  Laute  gespielt  wurden,  machte  dabei  im  allgemeinen 
keinen  unterschied.  Es  waren  im  wesentlichen  die  gleichen 
Kompositionen,  nur  in  verschiedener  Ausführung,  die  von  der  Technik 
des  Instrumentes  gefordert  waren*).  Für  Orgel  besitzen  wir 
schon  Präambula  im  Buxheimer  Orgelbuch,  mehrere  von  un- 
genannten Komponisten  in  Paumanns  Fundamentbuch ^)  und 
zahlreiche  der  Folgezeit^). 

,Die  Königin  der  Instrumente',  die  Laute  verbreitete  diese 
anspruchslose  Gattung  noch  wirksamer.  Seitdem  Paumann  die 
Lautentabulaturschrift  erfunden,  werden  sie  aufgezeichnet  und 
bilden,  je  nach  ihrer  Bestimmung   modifiziert^)   fast   zwei  Jahr- 


^)  Hertz,  Spielmannsbuch  S.  45.  Bibliotheque  Fran^aise  du  Moyen- 
äge  II.  Recueil  des  motets  fran^ais  des  Xlle  et  Xllle  siecles  p.  p.  Gas  ton 
Raynaud,  sums  d'une  etude  sur  la  musique  au  siecle  de  Saint  Louis  par 
Henry  Lavoix  Fils  2,  303. 

')  Vierteljahrsschrift  für  Musikwissenschaft  5,  84.  Wasielewski 
S.  93.  Ambros  3,  35  f.  Davey,  History  of  English  music  S.  74:  „Before 
1400  .  . .  nearly  all  harmonising  had  been  extempore,  and  only  quite  casually 
was  any  work  ever  written  down  at  all." 

3)  Ambros  3,  425.    Anders  Loewenfeld,  Kleber  S.  42. 

*)  Ambros  3,  430.    Wasielewski  S.  102  f. 

5)  Chrysanders  Jahrbücher  2,  223  f.    Ambros  3,  437. 

ß)  Vierteljahrsschrift  5.  64.  97.  Wasielewski,  Geschichte  der  In- 
strumentalmusik, Beilagen,  S.  4.  5.  12 — 17.  Ritter,  zur  Geschichte  des  Orgel- 
spiels II  98.  Nr.  60.  118.  Nr.  76.  77.  164.  Nr.  98.  171.  Nr.  102.  Einund- 
dreißig Preambel  sind  in  Hans  Gerles  Neuem  Lautenbuch  von  1552  ent- 
halten, meist  italienischer  Komponisten.  32  hat  Eitner  aus  dem  Buxheimer 
und  Klebers  Orgelbuch  veröffentlicht,  leider  nicht  die  Nr.  240 — 246; 
Nr.  205—210  fehlen  im  Inhaltsverzeichnis,  S.  16,  darunter  zwei  Praeambula. 
Auch  Körte  hat  im  Anhang  seiner  Monographie  Preambel  mitgeteilt. 

^)  Oskar  Fleischer  in  der  Vierteljahrsschrift  2,  97. 


51 


hunderte  den  eisernen  Bestand  der  Lautenbücher.  Als  älteste 
kommen  hier,  wenn  man  von  den  schon  1507  und  1508  in 
Venedig  gedruckten  Lautenbüchem  von  Ottaviano  dei  Pettrucci*) 
absieht,  die  Priamel  Judenkünigs  in  Betracht.  Sie  können  als 
Ersatz  für  Paumanns  nicht  erhaltene  Lauten-Kompositionen  dienen. 
Wenn  Judenkünig  nach  der  gleichzeitigen,  schon  von  Ambros 
mitgeteilten  Eintragung  im  Jahre  1526^)  senex  admodum,  also 
doch  wohl  mindestens  achtzig  Jahre  alt,  gestorben  ist,  muß  er 
geboren  sein,  als  Paumann  undßosenplüt  berühmt  zu  werden 
begannen;  ihre  Blüte  fällt  mit  seiner  Jugend  zusammen.  Er 
erwähnt  auch  als  Erlebnis  die  Erfindung  der  Tabulatur,  freilich 
nicht  Paumanns  Namen;  doch  schon  Wasielewski  hat  Juden- 
künigs Mitteilung  unbedenklich  auf  Paumann  bezogen^).  So 
wird  Judenkünig  neben  der  Musik-Handschrift  3725  der  Kgl.  Hof- 
und  Staatsbibliothek  in  München  und  Paumanns  Orgelbuch  zum 
ältesten  und  wichtigsten  Zeugen  liir  das  Priamel. 

Hans  Judenkünig^)  stammte  aus  Schwäbisch  Gmünd  und 
starb  in  Wien;  vielleicht  ein  Israelit  wie  der  Besitzer  des 
Lochheimer  Liederbuches^).  Seine  heut  überaus  kostbaren 
Bücher,  welche  die  K.  K.  Hof  bibliothek  zu  Wien  besitzt,  sind 
jetzt  zu  einem  Band  vereinigt^).  Das  erste  Büchlein  gehörte 
früher  der  K.  K.  Lyceal- Bibliothek  in  Linz.  Es  ist  eine  ütilis 
et  compendiaria  ^)  introductio,  qua  ut  fundamento  iacto  quam 
faciliime  musicum  exercitium  instrumentorum  et  Lutine  et  quod 
vulgo    Geygen    nominant,    addiscitur   labore   studio    et   impensis 


*)  Sie  erregten  Lessings  Aufmerksamkeit.  Muncker  15,  338  f. 
Oscar  Chilesotti,  Lautenspieler  des  sechzehnten  Jahrhunderts.  Liutisti 
del  Cinquecento.  Ein  Beitrag  zur  Kenntnis  des  Ursprungs  der  modernen 
Tonkunst.    Leipzig  1891    kennt   als  ältesten  Lautenisten  nur  Neusiedler. 

^)  Man  liest  heute  etwa:  Obiit  Viennae  relictis  uxore  et  filia  vnica  supcr- 
stitibus  mense  Martio  Anni  1526  senex  admodum.  Aber  der  Rand  ist  stark 
beschnitten  und  mehrere  Buchstaben  zerstört. 

^  Blatt  8b  der  neuen  Paginierung:  Es  ist  menigclich  wissen,  das  in 
kürtzen  jaren  bey  manß  gedcchtnüß  erfunden  worden  ist  die  Tabalatur  auff 
die  Lautten.    Wasielewski  S.  36  f. 

*)  Über  den  Namen  Hertz,  Spielmannsbuch  S.  338,  206. 

^)  Über  Beteiligung  der  Juden  an  der  Kunst  Germ.  Abh.  18,  103. 

6)  K.  K.  Hof  bibliothek  Wien.    SA.  75.   F.  67. 

^  Körte  will  S.  6  ^compendiata"  gelesen  haben. 

4* 


52 


Joannis  Judenkunig  de  Schbebischen  Gmundt  in  communcm 
omnium  usum  et  utilitatem  typis  excudendum  primum  exhibitum. 
Yiennae  Austriae.  Nun  folgt  eine  lateinische  eigne  Einleitung 
über  den  Nntzen  der  Musik,  wie  in  vielen  Lautenbüchern  des 
sechzehnten  Jahrhunderts,  und  über  den  Nutzen  des  Büchleins 
für  Autodidakten,  alles  in  gewähltem  Stil,  mit  gelehrten  Zitaten 
gespickt.  Den  Inhalt  bilden  die  Harmonie  super  odis  Horatianis 
secundum  omnia  Horatii  genera,  etiam  doctis  auribus  haudquaquam 
aspernandae,  sowie  Liederbearbeitungen  und  Hoffdäntze.  Das 
angeschlossene  deutsche  Lautenbuch  heißt:  Ain  schon  kunstlich 
vnderweisnng  in  disem  büechlein,  leychtlich  zu  begreyffen  den 
rechten  grund  zu  lernen  auf  der  Lautten  und  geygen  mit  vleiß 
gemacht  durch  Hans  Judenkunig,  pirtig  von  Schwebischen  Gmünd 
Lutenist,  yetzt  zu  Wienn  in  Osterreich.  Er  hat  jenem  Buche 
fünf  Priamel  einverleibt,  die  schon  nicht  mehr  den  primitiven 
Charakter  der  alten  Orgelpriamel  des  fünfzehnten  Jahrhunderts 
tragen,  sondern  ctüdenhafte  Schwierigkeit  besitzen.  Er  sagt 
darüber  ausdrücklich^):  Auch  welicher  vor  ain  vebung  hat  auff 
der  Lautten  von  jm  selber  ainer  pessernn  applicatz  gewondt  hat, 
denen  hab  ich,  auß  jeder  hanndt  ain  pryamel  gesatzt,  das  er 
die  fynger,  in  ainen  gueten  geprauch  bring,  dardurch  er  fertig 
müg  werden,  durch  den  gantzen  kragen  auß. ^  ünd^):  „Es  kumbt 
gar  selten  des  ain  stuck  mit  dreyen  stymen  aus  ayner  hand 
alain  geschlagen  wierdt,  du  müst  zu  zeiten  ruckhen  in  die  andern 
hend,  darumb  hab  ich  auß  yeder  hand  ayn  pryamel  gesetzt,  das  du 
des  gantzen  lawttenhals  bericht  werdest.^  Wasielewski  beurteilt 
sie  so:  ^Diese  letzteren  (die  Priamel),  originale  Instrumentalsätze 
Judenkünigs,  geben  vor  allen  andern  Musikstücken  Aufschluß  über  das 
Gestaltungsvermögen  des  Verfassers,  der  sich  nicht  wie  Dalza 
damit  begnügt,  ebenso  einfache  als  unbedeutende  Tonfolgen  nieder- 
zuschreiben, sondern  bemüht  ist,  seine  Arbeiten  durch  den  Versuch 
einer  contrapunktischen  Gestaltungsweise  gehaltvoller  zu  machen  ^),^ 
Den  Beschluß    macht   im  Wiener  Exemplar^):   „Item    das   ander 


»)  Blatt  9  a. 

9)  Blatt  23. 

^)  Geschichte  der  Instrumentalmusik  S.  111. 

*)  Blatt  47. 


53 


puechlein  zuaernemen,  darinnen  du  vnderrichtt  wierdest,  den  gesang 
zu  versteen  was  eyn  yedliche  noten  oder  pawß  bedeüt."  »Vnd 
wann  ich  vemym,^  sagt  der  unermüdliche  Autor  ^),  „das  disses 
büechlein  angenem  ynd  lieb  gehalten  wirdt,  so  will  ich  bald  ain 
größers  auslassen  geen,  das  künstlicher  vnd  scherpffer  wirdt  sein, 
für  die,  die  vor  ain  vebung  haben  auff  der  Lautten*)." 

Der  Name  der  Priamel-Kompositionen  lautet  in  der  Hand- 
schrift des  Bnxheimer  Orgelbuches^  Preambulum^),  in  Pau- 
manns  Orgelbuch  Praeambülum^),  bei  Judenkünig  stets  ,das 
PriameP,  bei  Kleber  Preambalum,  Preambulum  oder  Pream- 
balon^),  bei  Kotter  Präambel  (Präludium,  Anabole,  Fantasie)^),  bei 
Hans  Oerle  Preambul  oder  Preambel^),  in  der  Musica  Teusch  von 
1532  und  in  der  Musica  vnd  Tabulatur  1546:  Priambel^),  in 
der  Musica  Teusch  vom  Jahre  1537:  Preambel*®),  bei  Newsidler 
Preambel  oder  Preamel^^),   in  dem  handschriftlichen  Lautenbuch 


1)  Blatt  56. 

*)  Vollendet  vnd  getrückht  zu  Wienn  yn  Osterreich  darch  Hans  Singrycner 
im  1523.  Jar.    S.  jetzt  Sammelbände  der  Int.  Mus.-Ges.  6,  237  ff. 

')  Bnxheimer  Orgelbuch  als  Beilage  zu  den  Monatsheften  für  Musik- 
Geschichte  Jg.  19  f.  Musikhandschrift  3725  der  Kgl.  Hof-  und  Staatsbiblio- 
thek zu  München. 

^)  Eitner  S.  78.  85  ff.  Zwei  Bezeichnungen  Eitners  sind  auszu- 
scheiden: Praeambelum  (Nr.  112,  EitnerS.  13)  und  Preamblin  (Eitner 
S.  86);  beides  verlesen  aus:  Pamblm,  das  heißt  ,Praeambulum.'  Zu  Eitner 
S.  16—18  und  S.  85  ff.  ist  zu  bemerken,  daß  auch  Nr.  206,  210,  216,  224, 
235,  240,  241  als  Preambulum,  Nr.  242 — 46  gar  nicht  bezeichnet  sind.  Eitners 
Lesung  (S.  4)  „Cartusianoner  in  Buxheim'^  lautet  natürlich  „Cartusianorum 
in  B.« 

«)  Chrysanders  Jahrbücher  2,  223  f. 

^  Eitner  im  Anhang  zum  Bnxheimer  Orgelbuch  a.  a.  0.  S.  96  ff. 
Yierteljahrsschrift  für  Musikwissenschaft  5,  64.    Loewenfeld  S.  73  ff. 

')  Vierteljahrsschrift  7,  288  ff. 

»)  Ambros  3,  428.    Wasielewski  S.  46,  1. 

9)  Mnilb.  Linb.    Wasielewski  S.  111,  1. 

»o)A«.  A4a.    A4b.    A5b.    A6a.    A6b.    B. 

")  ,Ein  Newgeordnet  Künstlich  Lautenbuch  .  .  .  durch  mich  Hansen 
Newsidler  Lutinisten  und  Bürger  zu  Nürnberg,  offenlich  außgangen.' 
Am  Ende  des  2.  Teils:  ,Getruckt  beym  Petreio,  durch  Verlegung  Hansen 
Newsidlers  Lutinisten.  Anno  1536S  Teil  1  Bl.  sllla:  „hie  folgen  etlich 
Preameln,^  slllb:  „Preambel'',  ebenso  s Ulla;  sllllb:  „Preamel'';  xllla: 
„Ein  gut  Preambel,^    Im  Register  des  1.  Teils:    „Preambel  viererlej.    Ein 


44 


goldene  Zeitalter  des  InstrumenteDspiels^  mit  seiDen  primitiven 
Anforderungen  ermöglichte  ja  eine  später  nie  wieder  erreichte 
Vielseitigkeit  der  musikalischen  Praxis.  Ohne  Mühe  konnten  die 
Musiker  sich  noch  zu  Virdungs  Zeit  „einer  mannigfaltigen  Tätig- 
keit widmen,  und  wenn  es  jemand  so  weit  gebracht  hatte,  das 
Clavicordium,  die  Laute  und  die  Flöte  zu  spielen,  so  war  er 
imstande,  mit  Leichtigkeit  ziemlich  alle  Instrumente  in  den  Ue- 
reich  seines  Könnens  zu  ziehen^  ^). 

Es  kann  nicht  wundernehmen,  wenn  auch  ein  ungelehrter  *^) 
Handwerksmeister  in  Nürnberg  zu  solchen  Kenntnissen  gelangt; 
die  Haus-  und  Orchestermusik  jener  Zeit  war  durchgängig  aus- 
gesprochen dilettantenhaft,  und  die  Leistungen  werden  fast  immer, 
wenn  auch  nicht  ganz  mit  Becht,  als  überaus  gering  angeschlagen. 
Nürnberg  ist  auch  in  gewissem  Sinne  die  Wiege  der  deutschen 
Instrumentalmusik,  zu  deren  Anfängen  das  Priamel  gehört. 

Die  Ausbildung  selbständiger  Instrumentalmusik  knüpft 
sich  an  Orgel-  und  Lautenkunst,  beide  gerade  in  Nürnberg  hoch 
entwickelt.  Nürnberg  ist  bereits  im  fünfzehnten  Jahrhundert  die 
Hauptbezugsquelle  für  Instrumente  aller  Art^).  Nürnberg  hat 
seinen  ältesten  Lautenisten  Heintz  Holt  (1413)^)  und  im  fünf- 
zehnten und   sechzehnten  Jahrhundert   eine  ganze  Beihe  hervor- 


*)  Wasielewski,  Geschichte  der  Instrumentalmusik  S.  98. 

')  Man  darf  nur  nicht  unterschätzen,  was  auch  die  sog.  volkstümliche 
Kultur  an  gelehrten  Bildungselementen  enthielt.  Der  Gegensatz  der  Be- 
griffe volkstümlich  und  gelehrt  ist  Ergebnis  der  Abstraktion. 

*)  Hans  Loewenfeld,  Leonhard  Kleber  S.  32.  Jetzt  findet  man 
vieles  bequem  zusammen  in  Oswald  Kört  es  Buch  über  Laute  und  Lauten- 
musik bis  zur  Mitte  des  sechzehnten  Jahrhunderts.  Publikationen  der  Inter- 
nationalen Musik-Gesellschaft.  Beihefte  IIL  Leipzig  1901.  Leider  ist  sein 
Interesse  mehr  auf  das  sechzehnte  als  auf  das  vorangehende  Jahrhundort 
gerichtet.  Dazu  kommt  die  Publikation  der  spanischen  Lautenmeister  des 
sechzehnten  Jahrhunderts  von  Morphy  und  Gev|aert.  Leipzig  1902.  Die 
Bibliographie  ist  allerdings  lückenhaft:  z.  B.  fehlen  Judenkünig  und  Gerlc. 

*)  Ambros  3,  427.  Wenn  Rcuß  in  Mones  Anzeiger  1854,  271  einen 
Heinricus  cytharcda  1202  in  Würzburg  nachweist,  so  wird  das  wohl  ein 
Harfenspieler  gewesen  sein.  W^ackernagcl,  Geschichte  der  deutschen 
Literatur  P  9,  20.  Deutsche  Lautenisten  des  vierzehnten  Jahrhunderts: 
Beneke,  Von  unehrlichen  Leuten  (2.  Aufl.),  S.  41  (1385).  Germ.  Abh.  1,8, 
122  (1390).  In  den  Niederlanden:  van  der  Straeten,  La  musique  aux  Pays- 
Bas  2,  368  (1363).    In  Frankreich:   Bivista  musicale  Italiana  5,  643  (1396). 


45 

ragender  Künstler  dieser  Art  aufzuweisen,  wie  die  berühmte 
Familie  Oerle.  Conrad  Oerle  ist  um  die  Mitte  des  fünfzehnten 
auch  im  Ausland  als  Lautenmacher  bekannt').  Hans  öerle 
und  Hans  Neusiedler  sind  dort  im  folgenden  Jahrhundert  die 
Verfasser  wiederholt  aufgelegter  Lautenbücher  ^).  In  Nürnberg 
gab  es  auch  tüchtige  Dilettanten;  Hans  Gerle  der  Ältere  nennt 
in  der  Widmung  seines  Neuen  Lautenbuches  von  1562  den  Nürn- 
berger  Bürger  Franz  Ledercr  einen  fnrnembsten  dieser  Kunst^). 
Bosenplüts  genaue  Bekanntschaft  mit  der  Tabulatur  kann  auf 
Vertrautheit  mit  dem  Instrument  beruhen,  das  dazumal  jeder 
klimperte^).  Es  war,  wie  heutzutage  das  Klavier,  das  Mode- 
instrument der  Dilettanten^).  Wie  die  volksmäßige  bürgerliche 
Dichtung  vielfach  durch  seßhaft  werdende  Fahrende  Aoregung 
empfing,  so  konnte  auch  deren  musikalische  Tätigkeit  nicht  ohne 
Einfluß  auf  die  Musikübung  in  den  Städten  bleiben.  Die  deutschen 
Spielleute  gewannen  bekanntlich  schon  im  dreizehnten  Jahrhundert 
städtische  Organisation  und  verschmolzen  immer  mehr  mit  der 
bürgerlichen  Gesellschaft^).  Der  Stadtmusikant  trat  vielfach  ihr 
Erbe  an  und  förderte  die  Verbreitung  musikalischer  Bildung  in 
den  Städten.  Auch  in  Nürnberg  lag  die  Pflege  der  Instrumental- 
musik zuerst  in  den  Händen  der  Stadtpfeifer  ^).     Der  Fahrende 


')  van  der  Straeten  2,  369.  Ernst  Gottlieb  Baron,  Historisch- 
Theoretisch  und  Practische  Untersuchung  des  Instruments  der  Lauten.  Nürn- 
berg 1727.  S.  56:  „1415  der  Weltberühmte  Lauten -Macher  Lucas  Mahler 
gelobet« ;  vgl.  S.  92. 

')  Vierteljahrsschrift  für  Musikwissenschaft  7,  288  f.  Monatshefte  für 
Musikgeschichte  18,  101  ff.  Zuerst  hat  Wasielewski  in  seiner  Geschichte 
der  Instrumentalmusik  im  sechzehnten  Jahrhundert,  Berlin  1878,  den 
Leistungen  der  ältesten  Lautenisten  selbständige  Studien  gewidmet;  seine 
Beurteilung  nimmt  aber  mehrfach  den  modernen  Geschmack,  nicht  ganz  die 
historische  Bedeutung  zum  Maßstab.  Daß  sie  für  den  künstlerischen  Genuß 
unergiebig  sind  (S.  2.),  nimmt  ihnen  nichts  von  ihrer  Wichtigkeit. 

3)  Ein  Newes  sehr  Kunstlichs  Lautenbuch  |  darinnen  etliche  Preambel 
I  vnnd  Welsche  Tentz  |  .  .  .  durch  Haussen  Gerle  den  Eiteren.    Blatt  A4'. 

*)  van  der  Straeten  2,  371. 

*)  Wasielewski  S.  116  f.    Fischart,  Kurz  3,  9. 

•)  Wasielewski  S.  4  fF.  S.  11  ff.  Monatshefte  für  Musik- Geschichte 
19,  4?.,  Böhme,  Geschichte  des  Tanzes  1,  288  ff.  Hertz,  Spielmanns- 
buch S.  40  ff. 

^)  Jäger   in   der  Festschrift,   dargeboten   den  Mitgliedern   und   Teil- 


48 

gab    es,    vom  Tanz    abgesehen,    noch    nicht.     Auch  was  man  auf 
der  Orgel  und  der  als  Virtuoseninstrument  beliebten  Laute  spielte, 
waren  übertragene  Gesangsmusiken  ^),  nur  nach  BeschaflFenheit  des 
Instrumentes  eingerichtet  und  verziert.^ 

Dagegen  hat  Schönbach ^)  schon  für  das  zwölfte  Jahrhundert 
Prankreich    Tonstücke    ohne   Texte,   also   Instrumentalmusik,    zu- 
geschrieben,  indem  er  sich  auf  Gröber^)  beruft.     Aber   zunächst 
ist  das  beweisende  Zitat  irrig,  und  was  alsdann  Gröber^)  daiüber 
sagt,  beweist  noch  nicht  die  Existenz  von  wirklichen  Tonstücken, 
Er  meint:   „Tonstücke  ohne  Text  bestanden  in  der  Tat;   z.  B.  da, 
wo  Instrumente  beim  Tanz  gebraucht  wurden,   die,   eintönig  wie 
die  Trommel,    die  bei  den  seit  der  ersten  Hälfte  des  dreizehnten 
Jahrhunderts    bezeugten    öffentlichen    sonntaglichen    Tanzbelusti- 
gungen   verwendet   wurde,    nur   den    Takt   anzugeben   dienten.^ 
Solche    Musik   fehlte,    wie    selbst   bei   Naturvölkern^),    auch   in 
Deutschland  nicht.    Im  allgemeinen  wird  Instrumentalmusik  doch 
beträchtlich   älter   sein,   als  man  gewöhnlich  annimmt.     Auf  alt- 
indische Lautenkompositionen  und  ihren  Zusammenhang  mit  der 
Zigeunermusik    hat   nachdrücklich   Paul   Sunge   hingewiesen^). 
Bei    der  von  Böhme   für   die  nordische  Vorzeit  angenommenen 
selbständigen  Instrumentalmusik  käme  es  darauf  an  zu  untersuchen, 
welcher   Art    sie    gewesen^).     Genauere   Untersuchungen    fehlen 
auch   über  die  unzweifelhaft  bei  den  Kelten^)  vorhandenen  An- 
sätze zu  Polyphonie^)  und  Instrumentalmusik.    Für  Deutschland 

')  Was  for  das  Priamel   nicht  zutrifft.     Loewenfeld,   Kleber   S.  42. 

*)  Die  Anfänge  des  deutschen  Minnesanges  S.  116. 

^  Grundriß  der  romanischen  Philologie  II 1,  664. 

*)  8.  660. 

^)  Böhme,  Geschichte  des  Tanzes  1,  245.  Bücher,  Arbeit  und 
Rhythmus'  S.  42  ff.  251  ff. 

^)  Die  Notation  des  Somanätha  in  Eitncrs  Monatsheften  36,  56  ff.  Wie 
im  Mittelalter  ist  weltliche  Musik  Instrumental-,  geistliche  Vokalmusik.    8. 58. 

^  Geschichte  des  Tanzes  1,  12.    Für  das  Mittelalter  1,  28.  248. 

^)  Lavoix  a.  a.  0.  8.284.  Hertz,  8pielmannsbuch  8.  45.  Walter, 
Das  alte  Wales  8.  290  erwähnt  als  bardische  Musikübung  ein  Präludium, 
gosteg.  Für  Frankreich:  Restori  bei  Petit  de  Julleville,  Histoire  de 
la  langue  et  de  la  litteraturc  Fran(;aise  1,  403. 

*)  W.  Meyer,  Der  Ursprung  des  Motetts.  Nachrichten  der  Göttinger 
Gesellschaft  der  Wissenschaften  1898,  8.  113  ff.  Riemann,  Geschichte  der 
Musiktheorie.    Leipzig  1898.    8.  IX  und   passim.    Wallaschek,  Anf&nge 


49 


siud  durch  die  Verdienste  von  Koller,  Biemann  und  Bunge 
instrumentale  Einlagen  im  Minnesang,  Vor-  und  Nachspiele  beim 
Mönch  von  Salzburg,  bei  Oswald  von  Wolkenstoin  erwiesen  ^).  Auch 
die  poetische  Ausmalung  Gottfrieds  (Tristan  3545  ff.)  zeugt  wie 
einige  Stellen  der  Minnesänger^)  von  solcher  Kunstübung.  Das 
Ende  de«  vierzehnten  Jahrhunderts  hat,  so  eng  sie  sonst  zusammen- 
hängen, die  Scheidung  von  Vokal-  und  Instrumentalmusik  voll- 
zogen. Der  fruchtbarste  französische  Dichter  des  Jahrhunderts 
schrieb  eine  vom  Jahre  1392  datierte  Poetik,  Lart  de  dictier,  in 
der  er  zwei  Arten  von  Musik  unterscheidet,  eine  künstliche  und 
eine  natürliche  ^).  Wenn  sich  nun  auch  diese  Begriffe  bei  Deschamps 
nicht  so  sehr  mit  heutiger  Instrumental-  und  Vokalmusik  als  mit 
musikalischer  Komposition  und  unkomponierter  Poesie  decken, 
und  die  vorgetragenen  Kriterien  der  Unterscheidung  sich  gegen- 
seitig nicht  immer  ausschließen,  so  redet  er  doch  deutlich  genug 
von  ihrer  Verbindung  und  Trennung^).  Die  natürliche  und  die 
künstliche  Musik  sind  so  nahe  mit  einander  verwandt,  daß  man 
von  einer  Ehe  sprechen  kann,  in  der  sie  leben  müssen.  Trotzdem 
hört  man  jede  für  sich.  Der  natürlichen  Musik  kann  einsame 
Lektüre  oder  Vortrag  eines  Bezitators  gelten;  und  die  andere 
Musik  kann  auch  der  Worte  entbehren:  ,et  se  puet  Tune  chantcr 
par  voix  et  par  art,  sanz  parole**). 

Wie  sich  die  Entwicklung  vollzog,  zeigen  die  ersten  Denk- 
mäler deutscher  Instrumentalmusik,  das  Buxheimer  Orgelbuch 
und  der  Anhang  des  Lochheimer  Liederbuchs.  Die  Ent- 
wicklung der  Instrumentalmusik  nimmt  nicht  nur  von  der  Vokal- 
musik  und   vom  Tanze,   sondern  auch  von  dem-  Vorspiel  des  Oe- 


der  Tonkunst.  Leipzig  1903.  S.  156  ff.  Davey,  History  of  English  music 
S.  74  ff.  Saran,  Der  Rhythmus  des  französischen  Verses.  Halle  1904.  S.  47  ff. 
Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane  35,  291. 

0  Eitners  Monatshefte  35,  84. 

8)  Der  Unverzagte  HMS  3,  44a,  1.  Meißner  3,  99b,  1.  Roethe, 
Reinmar  von  Zweter  S.  189. 

^)  Societe  des  anciens  textes  fran^ais:  Oeuvres  completes  d'Eustache 
Deschamps  7,  269  ff.  Hoepffner,  Eustache  Deschamps.  Straßburg  1904. 
S.  126.  Raynaud,  Oeuvres  11,  155  f.  Im  allgemeinen  Thode,  Michelangelo 
2,  47  ff. 

*)  7,  271  f. 

*)  7,  272. 
Enling,  Priamel  4 


50 

ganges  ihren  Ausgang.  Schon  der  bretonische  Spielmann  macht 
als  Präindium  für  den  Oesang  anfsteigende  Läufe  (prent  sun 
amnnter);  zum  Nachspiel  wiederholt  er  auf  der  Harfe  die  gesungene 
Melodie  ^).  Allmählich  hat  sich  die  nur  begleitende  Instrumental- 
musik vom  Gesänge  los  gemacht,  indem  sie  entweder  vorher 
improvisierte ')  oder  Gesangssätze  paraphrasierte.  Diese  Pamphrasen 
gelten  als  vornehmere  Erzeugnisse  und  scheinen  früher  der  Auf- 
zeichnung würdig;  jene,  die  Präambula,  schrieb  man  zunächst 
noch  lange  nicht  auf^).  Ob  diese  Improvisationen  auf  der  Orgel 
oder  auf  der  Laute  gespielt  wurden,  machte  dabei  im  allgemeinen 
keinen  Unterschied.  Es  waren  im  wesentlichen  die  gleichen 
Kompositionen,  nur  in  verschiedener  Ausführung,  die  von  der  Technik 
des  Instrumentes  gefordert  waren  ^).  Für  Orgel  besitzen  wir 
schon  Präambula  im  Buxheimer  Orgelbuch,  mehrere  von  un- 
genannten Komponisten  in  Paumanns  Fundamentbuch ^)  und 
zahlreiche  der  Folgezeit^). 

,Die  Königin  der  Instrumente^  die  Laute  verbreitete  diese 
anspruchslose  Gattung  noch  wirksamer.  Seitdem  Paumann  die 
Lautentabulaturschrift  erfunden,  werden  sie  aufgezeichnet  und 
bilden,  je  nach  ihrer  Bestimmung  modifiziert^)   fast   zwei  Jahr- 


')  Hertz,  Spielmannsbuch  S.  45.  Bibliotheqne  Fran<;aise  da  Moyeii' 
agü  IL  Kücueil  des  motets  fran^ais  des  Xlle  et  XIII^  siecles  p.  p.  Gas  ton 
Raynaud,  snivis  d'une  etudo  sur  la  mnsique  au  siecle  de  Saint  Louis  par 
Henry  Lavoix  Fils  2,  303. 

*)  Yicrteljahrsschrift  für  Musikwissenschaft  5,  84.  Wasielewski 
S.  93.  Ambro 8  3,  35  f.  Davey,  History  of  English  music  S.  74:  „Before 
1400  .  .  .  nearly  all  harmonising  had  been  extempore,  and  only  quite  casuaHy 
was  any  work  ever  written  down  at  all." 

^)  Ambros  3,  425.    Anders  Loewenfeld,  Kleber  S.  42. 

*)  Ambros  3,  430.    Wasielewski  S.  102  f. 

*)  Chrysanders  Jahrbücher  2,  223  f.    Ambros  3,  437. 

^)  Vierteljahrsschrift  5,  64.  97.  Wasielewski,  Geschichte  der  In- 
strumentalmusik, Beüagcn,  S.  4.  5.  12 — 17.  Ritter,  zur  Geschichte  des  Orgel- 
Spiels  II  98.  Nr.  60.  118.  Nr.  76.  77.  104.  Nr.  98.  171.  Nr.  102.  Einund- 
droißig  Preambel  sind  in  Hans  Gerles  Neuem  Lautenbuch  von  1552  ent- 
halten, meist  italienischer  Komponisten.  32  hat  Eitner  aus  dem  Buxheimer 
und  Klebers  Orgclbuch  veröffentlicht,  leider  nicht  die  Nr.  240 — 246; 
Nr.  205—210  fehlen  im  Inhaltsverzeichnis,  S.  16,  darunter  zwei  Praeambula. 
Auch  Kort  e  hat  im  Anhang  seiner  Monographie  Preambel  mitgeteilt. 

V  Oskar  Fleischer  in  der  Vierteljahrsschrift  2,  97. 


51 


hunderte  den  eisernen  Bestand  der  Lautenbücber.  Als  älteste 
kommen  hier,  wenn  man  von  den  schon  1507  und  1508  in 
Venedig  gedruckten  Lautenbüchem  von  Ottaviano  dei  Pettrucci*) 
absieht,  die  Priamel  Judenkünigs  in  Betracht.  Sie  können  als 
Ersatz  für  Paumanns  nicht  erhaltene  Lauten-Kompositionen  dienen. 
Wenn  Judenkünig  nach  der  gleichzeitigen,  schon  von  Ambros 
mitgeteilten  Eintragung  im  Jahre  1526^)  senex  admodum,  also 
doch  wohl  mindestens  achtzig  Jahre  alt,  gestorben  ist,  muß  er 
geboren  sein,  als  Paumann  undBosenplüt  berühmt  zu  werden 
begannen;  ihre  Blüte  fällt  mit  seiner  Jugend  zusammen.  Er 
erwähnt  auch  als  Erlebnis  die  Erfindung  der  Tabulatur,  freilich 
nicht  Paumanns  Namen;  doch  schon  Wasielewski  hat  Juden- 
künigs Mitteilung  unbedenklich  auf  Paumann  bezogen^).  So 
wird  Judenkünig  neben  der  Musik-Handschrift  3725  der  Kgl.  Hof- 
und  Staatsbibliothek  in  München  und  Paumanns  Orgelbuch  zum 
ältesten  und  wichtigsten  Zeugen  für  das  Priamel. 

Hans  Judenkünig^)  stammte  ans  Schwäbisch  Gmünd  und 
starb  in  Wien;  vielleicht  ein  Israelit  wie  der  Besitzer  des 
Loch  heimer  Liederbuches^).  Seine  heut  überaus  kostbaren 
Bücher,  welche  die  E.  E.  Hof  bibliothek  zu  Wien  besitzt,  sind 
jetzt  zu  einem  Band  vereinigt^).  Das  erste  Büchlein  gehörte 
früher  der  E.  E.  Lyceal- Bibliothek  in  Linz.  Es  ist  eine  ütilis 
et  compendiaria  ^)  introductio,  qua  ut  fundamento  iacto  quam 
facillime  musicum  exercitium  instrumentorum  et  Lutine  et  quod 
vulgo    Oeygen    nominant,    addiscitur   labore    studio    et   impensis 


^)  Sie  erregten  Lessings  Aufmerksamkeit.  Muncker  15,  338  f. 
Oscar  Chilesotti,  Lautenspieler  des  sechzehnten  Jahrhunderts.  Liutisti 
del  Cinquecento.  Ein  Beitrag  zur  Kenntnis  des  Ursprungs  der  modernen 
Tonkunst.    Leipzig  1891    kennt   als  ältesten  Lautenisten  nur  Neusiedler. 

2)  Man  liest  heute  etwa:  Obiit  Viennae  relictis  uxore  et  filia  vnica  super- 
stitibus  mense  Martio  Anni  1526  senex  admodum.  Aber  der  Rand  ist  stark 
beschnitten  und  mehrere  Buchstaben  zerstört. 

3)  Blatt  8b  der  neuen  Paginierung:  Es  ist  menigclich  wissen,  das  in 
kürtzen  jaren  bey  manß  gedcchtnüß  erfunden  worden  ist  die  Tabalatur  auff 
die  Lautten.    Wasielewski  S.  36  f. 

*)  über  den  Namen  Hertz,  Spielmannsbuch  S.  338,  206. 

^)  über  Beteiligung  der  Juden  an  der  Kunst  Germ.  Abb.  18,  103. 

6)  K.  K.  Hof  bibliothek  Wien.    SA.  75.   F.  67. 

^  Körte  will  S.  6  „compcndiata"  gelesen  haben. 

4* 


52 

fV^uoi^  ./iV>dk«kttoig  de  Sehbebischen  Gmandt  in  communcm 
v^Uauvww  i^mß  ^  ntilitatem  typis  excadenduni  primum  exhibitum. 
V,4ivUi^«^  A*i4fiM,  Nun  folgt  eine  lateinische  eigne  Einleitung 
VA'<^  4^  Huizm  der  Mosik,  wie  in  vielen  Lautenbüchern  des 
6^l/^ili«i)U«  ifltirbtiulderts,  and  über  den  Nutzen  des  Büchleins 
}\^  ^^\/Ai4Mkim^  alles  in  gewähltem  Stil,  mit  gelehrten  Zitaten 
^.v^t^J^it^  iMm  Inhalt  bilden  die  Harmonie  super  odis  Horatianis 
u/  •v.vJ  \jm  omuu  Horatii  genera,  etiam  doctis  auribus  haudquaquam 
^.r^ytfi^jtsAii^^  fowie  Liederbearbeitangen  und  HofTdäntze.  Das 
''i^K*^i^:ll//h^m  deutsche  Lautenbuch  heißt:  Ain  schon  kunstlich 
>  uc^,i  v^^oog  in  disem  büechlein,  leychtlich  zu  bcgreyffen  den 
rftxirUi»  ^mind  zu  lernen  auf  der  Lautten  und  geygen  mit  vleiß 
^xMiAU^M  durch  Hans  Judenkünig,  pirtig  von  Schwebischen  Omfind 
iA\i*>^jU%  yet2t  zu  Wienn  in  Osterreich.  Er  hat  jenem  Buche 
1v..!jf  Frumel  einverleibt,  die  schon  nicht  mehr  den  primitiven 
^:l.kitiikier  der  alten  Orgelpriamel  des  fünfzehnten  Jahrhunderts 
U'4i^^Uf  sondern  elüdenhafte  Schwierigkeit  besitzen.  Er  sagt 
^«rti.U;r  ausdrücklich^):  Auch  welicher  vor  ain  vebung  hat  auff 
<l^r  Lautten  von  jm  selber  ainer  pessernn  applicatz  gewondt  hat, 
<>^fMrn  hab  ich,  auß  jeder  hanndt  ain  pryamel  gesatzt,  das  er 
4i^  fynger,  in  ainen  gueten  geprauch  bring,  dardurch  er  fertig 
Utüg  werden,  durch  den  gantzen  kragen  auß."  Cnd^):  „Es  kumbt 
^r  selten  des  ain  stuck  mit  dreyen  stymen  aus  ayner  hand 
;tüiin  geschlagen  wierdt,  du  müst  zu  zeiten  ruckhen  in  die  andern 
kend,  darumb  hab  ich  auß  yeder  hand  ayn  pryamel  gesetzt,  das  du 
des  gantzen  lawttenhals  bericht  werdest. "  Wasielewski  beurteilt 
sie  so:  ^Diese  letzteren  (die  Priamel),  originale  Instrumentalsätze 
Judenkünigs,  geben  vor  allen  andern  Musikstücken  Aufschluß  über  das 
Gestaltungsvermögen  des  Verfassers,  der  sich  nicht  wie  Dalza 
damit  begnügt,  ebenso  einfache  als  unbedeutende  Tonfolgen  nieder- 
zuschreiben, sondern  bemüht  ist,  seine  Arbeiten  durch  den  Versuch 
einer  contrapunktischen  Oestaltungswcise  gehaltvoller  zu  machen ')." 
Den  Beschluß   macht   im  Wiener  Exemplar^):   „Item   das   ander 


')  Blatt  9*. 

9)  Blatt  23. 

^  Geschichte  der  Instrumentalmusik  S.  111. 

*)  Blatt  47. 


53 

puechlein  zuuernemen,  darinnen  du  vnderrichtt  wierdest,  den  gesang 
zu  versteen  was  eyn  yedliche  noten  oder  pawß  bedeüt.^  »Vnd 
wann  ich  vemym,*'  sagt  der  unermüdliche  Autor  ^),  „das  disses 
büechlein  angenem  ynd  lieb  gehalten  wirdt,  so  will  ich  bald  ain 
größers  auslassen  geen,  das  künstlicher  ynd  scherpffer  wirdt  sein, 
für  die,  die  vor  ain  vebung  haben  auff  der  Lautten')." 

Der  Name  der  Priamel-Kompositionen  lautet  in  der  Hand- 
schrift des  Bnxheimer  Orgelbuches^  Preambulum^),  in  Pau- 
manns  Orgelbuch  Praeambülum  ^) ,  bei  Judenkünig  stets  ,das 
PriameP,  bei  Kleber  Preambalum,  Preambulum  oder  Pream- 
balon^),  bei  Kotter  Präambel  (Präludium,  Anabole,  Fantasie)'),  bei 
Hans  Oerle  Preambul  oder  PreambeP),  in  der  Musica  Teusch  von 
1532  und  in  der  Musica  vnd  Tabulatur  1546:  PriambeP),  in 
der  Musica  Teusch  vom  Jahre  1537:  Preambel'®),  bei  Newsidler 
Preambel  oder  Preamel^^),   in  dem  handschriftlichen  Lautenbuch 


1)  Blatt  56. 

*)  Vollendet  vnd  gctrückht  zu  Wienn  yn  Osterreich  durch  Hans  Singryener 
im  1523.  Jar.    S.  jetzt  Sammelbände  der  Int.  Mus.-Ges.  6,  237  ff. 

3)  Buxheimer  Orgelbuch  als  Beilage  zu  den  Monatsheften  für  Musik- 
Geschichte  Jg.  19  f.  Musikhandschrift  3725  der  Kgl.  Hof-  und  Staatsbiblio- 
thek zu  München. 

*)  Eitner  S.  78.  85  ff.  Zwei  Bezeichnungen  Eitners  sind  auszu- 
scheiden: Praeambelum  (Nr.  112,  Eitner  S.  13)  und  Preamblin  (Eitner 
S.  86);  beides  verlesen  aus:  Pamblm,  das  heißt  ,Praeambulum.^  Zu  Eitner 
S.  16—18  und  S.  85  ff.  ist  zu  bemerken,  daß  auch  Nr.  206,  210,  216,  224, 
235,  240,  241  als  Preambulum,  Nr.  242 — 46  gar  nicht  bezeichnet  sind.  Eitners 
Lesung  (S.  4)  „Cartusianoner  in  Buxheim''  lautet  natürlich  „Cartusianorum 
in  B.« 

5)  Chrysanders  Jahrbücher  2,  223  f. 

^)  Eitner  im  Anhang  zum  Buxheimer  Orgelbuch  a.  a.  0.  S.  96  ff. 
Vierteljahrsschrift  für  Musikwissenschaft  5,  64.    Loewenfeld  S.  73  ff. 

7)  Vierteljahrsschrift  7,  288  ff. 

8)  Ambros  3,  428.    Wasielewski  S.  46,  1. 

9)  MHIIb.  Llllb.    Wasielewski  S.  111,  1. 
«o)A8.  A4a.    A4b.    A5b.    A6a.    A6b.    B. 

'^)  ,Ein  Newgeordnet  Künstlich  Lautenbuch  .  .  .  durch  mich  Hansen 
Newsidler  Lutinisten  und  Bürger  zu  Nürnberg,  offenlich  außgangen.' 
Am  Ende  des  2.  Teils:  ,Getruckt  beym  Petreio,  durch  Verlegung  Hansen 
Newsidlers  Lutinisten.  Anno  1536^  Teil!  Bl.  sllla:  „hie  folgen  etlich 
Preameln,"  slllb:  „Preambel",  ebenso  s  Ulla;  sllllb:  „Preamel";  xllla: 
„Ein  ^t  Preambel/    Im  Register  des  1.  Teils:    „Preambel  viererley.    Ein 


54 

der  Kgl.  Hof-  und  Staatsbibliothek  zu  München  Ms.  Mus.  1512: 
PreambeP),  in  einem  italienischen  Lautenbuch  daselbst  Ms.  Mus. 
266:  Priambolo  ^J,  in  den  handschriftlichen  Münchener  Orgelbüchern 
Cod.  265  und  270  PraeambeP),  in  einer  deutschen  Laute ntabulatur 
der  Wiener  Hofbibliothek  Nr.  18688  neben  Preambulum  auch 
Priambulum^j,  bei  Wolff  Heckel:  Preambulum^),  in  den  Novae 
Tabulae  musicae  testudinariae  .  .  .  Neu  Lautenbuch  .  .  .  Durch 
JuliumCaesaremBarbettumvonPadua.  Straßburg,  Jobin,  1582: 
Prearabulo^),  bei  Philipp  Hainbofer  Praeambuli')  („Preludi 
Praeambuli  Phantasiae"  sind  im  Titel  zusammengestellt),  bei 
Waisselius  (Bartensteinensis)  und  Daniel  Präambul  (Praeam- 
bulum)^).  Man  ging  also  nait  Lautbestand,  Flexion  und  Geschlecht 
des  Wprtes,   wie  in  der  Wolfenbütteler  Handschrift  FG^),   nicht 


gut  Preambel."  —  Teil  2:  Alllb  Nr.  1:  „Ein  seer  guter  Organistischer 
Prcambel."  Aalb  Nr.  41:  „Hie  volget  ein  sehr  kunstreicher  Preambel  oder 
Fantasey,  darinn  sind  begriffen,  vil  mancherley  art,  von  zwifachcn  vnd  dri- 
fachen  doppel  laiffen,  auch  sincupationes,  vnd  vil  schöner  fugen."  Ebenso 
im  Register:  „Ein  kunstreicher  Preambel  oder  Fantasey."  Vierteljahrs- 
schrift 7,288.  Wasielewski  Beilage  Nr.  6  und  S.  113.  Eine  Auflage 
von  1544  in  der  Hof-  und  Landesbibliothek  zu  Karlsruhe.  Daselbst  ,das 
ander  Buch'  Job  ins  vom  Jahre  1573  mit  handschriftlichen  Nachträgen. 

1)  Vierteljahrsschrift  7,  291.    J.  J.  Maiers  Catalogus  Villi,  63. 

^)  Vierteljahrsschrift  7,  291.  ,Priambolo  de  magistro  Marco  da  Laguila' 
Blatt  43  a. 

3)  Catalogus  Vmi,  163. 

*)  Sechzehntes  Jahrhundert.  Tabulae  codicum  10,  177.  178.  Nr.  4,  14, 
35,  36. 

^)  Discant.  Lautten  Buch  von  mancherley  schönen  vnd  lieblichen  stucken. 
Straßburg  1550  S.  191. 

^)  primo  bis  scxto.  Donaueschingen.  Diese  Komposition  heißt  noch 
in  einem  dortigen  handschriftlichen  Lautenbuch  von  1735  Preambulum,  nicht 
so  in  dem  Lautenbuch  viler  New  erleßner  fleisiger  schoener  Lautenstück  .  .  . 
Durch  Sixtum  Kargel.    Straßburg,  Jobin  1586. 

7)  Vierteljahrsschrift  7,  292. 

s)  Tabulatura  AUerley  künstlicher  Präambulen.  Frankfurt  a.  d.  0. 
1592.  (Schlobitten.)  Becker,  Die  Tonwerke  dos  sechzehnten  und  siebzehnten 
Jahrhunderts.  Leipzig  1847.  Sp.  276.  Daniel,  Thesaurus  Gratiarum,  das 
ist  Schatzkästlein,  darinnen  allerhand  Stücklein,  Präambuln,  Toccaden, 
Fugen  u.  s.  w.  zur  Lauten-Tabulatur  gebracht.    Hanaw  1625.    Bei  Becker  280. 

9)  Daß  ,priamcllu8*  aus  ,priamel'  enstanden  ist,  unterliegt  wohl  keinem 
Zweifel. 


55 

sorgfältig  um.  Ähnlich  sagt  Judenkünig  ,Tabalatur^  und  Martin 
Agricola  gebraucht  in  seiner  Musica  instrumentalis  deutsch^) 
unter  andern  auch  die  Form  ,Tabelthur/  Übrigens  begegnete 
Ambros^)  mit  dem  Preambel  das  (selbst  in  seiner  dritten  Auf- 
lage^) noch  nicht  berichtigte)  Mißverständnis,  eine  Stelle  des 
guten  Johann  Leonbard  Frisch  Sebastian  Brant  zuzu« 
schreiben  und  ins  Narrenschiff  zu  versetzen.  Andere  haben  ihm 
das  gläubig  nachgeschrieben^). 

In  Italien  sind  solche  Kompositionen  als  Intonazioni  (Präludien) 
die  Vorläufer  der  Toccata*).  Es  läßt  sich  verfolgen  wie  der 
volksnlSßige  Modename  Priamel  allmählich  veraltet  und  von  ähn- 
lichen abgelöst  wird;  es  erscheinen  gelehrtere,  wie  vor  allem 
Praeludium,  Pr^lude,  dann  Fantasie,  auTOfAata^),  Bicercate,  Bicercari^), 
Capricci^),  Intrade  u.  s.  f.  Als  altmodische  Beminiscenz  wird 
Praeambulum  (Präambul)  von  J.  £.  Kindermann,  Organisten  in 
Nürnberg  (1616—1655),  F.  A.  H.  Murschhauger,  Kapellmeister 
in  München  (gest.  1737),  und  J.  Christoph  Bach  (1643—1703) 
festgehalten^).  Aber  auch  noch  Johann  Sebastian  Bach  hatte 
seine  zweistimmigen  Inventionen  ursprünglich  Praeambula  genannt 
und  gebraucht  das  Wort  sonst  gelegentlich*®).  Die  Gattung 
entwickelt  sich  dabei  in  immer  kunstvollerer  Durchbildung,  es 
differenzieren  sich  Unterabteilungen  mit  besonderer  Bestimmung**); 
endlich  wird  das  neben  dem  Tanz  älteste  Instrumentalstück,  wie 


*)  Publikation  älterer  Musikwerke  herausgegeben  von  der  Gesellschaft 
für  Musikforschung,  Jahrgang  24,  Band  20  S.  67.  69.    Vgl.  den  Titel. 

»)  3,  520. 

»)  S.  536. 

*)  z.  B.  Eümmerle,  Encyklopädie  der  evangelischen  Kirchenmusik 
2,  717. 

^)  Ambro 8,  3,  520.    Spanisch:   Tientos.    Englisch:  Interludcs  u.  ä. 

6)  Ambro 8  3,  429. 

^  Wasielewski  S.  117. 

»)  Ambros  4,  433. 

9)  Ritter  1 146,  158,  163.  II 118,  164,  171.  Commers  Sammlungen 
zeigen  den  alten  Titel. 

'^)  Spitta  II  665  ff.  Schumanns  Carnaval  op.  9  beginnt  mit  einem 
Freambule.  Von  dem  Musiklehrer  der  Kaiserin  Maria  Theresia  Georg 
Christoph  Wagenseil  bewahrt  die  K.  K.  Ilofbibliothek  zu  Wien  ein  Heft 
Praeambula.    Tabulae  codicum  10,  207.    Nr.  18771. 

»)  Vierteljahrsschrift  7,  97. 


56 

bei   dem  unsterblichen  Johann  Sebastian  Bach  mit  der  Fuge 
verbunden  und  von  Chopin  und  Liszt  zur  Höhe  einer  universalen  * 
Form  emporgehoben. 

Wir  haben  es  hier  nur  mit  dem  Charakter  des  ältesten 
Preambel  zu  tun.  Man  hat  einen  Unterschied  zu  machen  zwischen 
dem  unselbständigeren  Tonstück,  das  wirklich  noch  zum  Gesang 
überleitet,  wie  Nr.  30  des  Paumann sehen  Orgelbuches*),  und 
dem  selbständigen  in  sich  abgeschlossenen  Preambel,  wie  Nr.  31 
des  Orgelbuchs,  die  Stücke  des  Buxheimer  Orgelbuchs  und 
die  fünf  Priamel  Judenkünigs^).  Von  Paumann  selbst  rühren 
die  letzten  Stücke  der  Handschrift  des  Fundamentbuches  nicht 
her ;  er  wird  es  noch  verschmäht  haben,  für  diese  kleinen  Sachen 
Literaturfähigkeit  zu  beanspruchen.  Dennoch  stammen  sie  mindestens 
aus  der  Mitte  des  fünfzehnten  Jahrhunderts^).  Es  ergibt  sich 
für  das  Preambel  zunächst  der  Charakter  eines  selbständigen^) 
Improvisationsstückes  ohne  literarische  Ansprüche  ^),  kurz  und  ein- 
fach, bald  ungemein  beliebt  und  verbreitet,  abgeschrieben  und 
gedruckt.    Regelmäßig  wird  nur  ein  musikalischer  Hauptgedanke 


*)  Loewenfeld,  Leonhard  Kleber  S.  63  macht  auf  die  plagalcn 
Schlüsse  aufmerksam. 

*)  Vergleiche  noch  Prätorius,  Syntagma  III  1,  21.  „Das  8.  Capitel. 
Von  den  Praeludiis  vor  sich  selbst:  Als  da  sind  Phantasien,  Fugen,  Simphonien 
und  Sonaten.  III  1,  25:  „Das  10.  Capitel.  Von  den  Praeludiis  zur  Motetten 
oder  Madrigalia:  als  die  Toccaten.  Toccata  ist  als  ein  Praeambulum  oder 
Praeludium,  welches  ein  Organist,  wenn  er  erstlich  vff  die  Orgel  oder 
Clayicjmbalum  greifft,  ehe  er  ein  Mutet  oder  Fugen  anfehet,  aus  seinem 
Kopf  vorher  fantasirt,  mit  schlechten  entzellen  griffen,  vnd  Coloraturen  etc. 
Einer  aber  hat  diese,  der  ander  ein  andere  Art,  davon  weitläuffig  zu  tractiren 
allhier  vnnotig,  und  erachte  mich  auch  zu  gering,  einem  oder  dem  andern 
hicrinnen  etwas  fürzuschreiben."  Wasielewski  verwischt  den  Unterschied, 
weil  er  in  erster  Linie  die  Entwickelung  der  späteren  Kontrapunktik  über- 
all zu  sehen  bemüht  ist. 

3)  Chrysanders  Jahrbücher  2,  80.  88.  177. 

*)  Diese  Kompositionsgattung  hat  immer  die  Tendenz  gehabt,  sich 
selbständig  zu  entwickeln,  auch  wenn  sie  wirklich  als  Einleitung  gedacht 
waren.  Noch  die  Präludien  Joh.  Seb.  Bachs  zeugen  davon;  sie  sind  eben- 
falls durchaus  selbständig.  Spittal  110,  772.  Vgl.  Mendelssohn  op.  35 
und  37  und  Judenkünigs  Priamel-Etuden. 

^)  Mit  der  Autorschaft  nahm  maus  nicht  genau;  Hans  Gerle  hat 
ein  Priamel  Judenkünigs  ohne  Angabe  des  Komponisten  in  seine  Musica 
TeusQh  1532  übernommen.    Wasielewski  S.  111,  l. 


57 


mit  primitiver,  aber  um  so  deutlicherer,  meist  ganz  äußerlicher 
musikalischer  Logik  in  parallelen,  gleichartigen  Kolen  durch- 
geführt. Darin  kommt  der  Hauptcharakter  der  ganzen  melodischen 
Kunst  jener  Zeit  zur  Erscheinung^).  Sehr  richtig  hat  Müllen- 
hoff^)  erkannt,  daß  auch  das  poetische  Priamel  eigentlich  aus 
einem  Satz  mit  nur  einer  Parenthese  bestehe  sollte.  Wasie- 
lewski  sah  in  den  musikalischen  Priameln  nur  Unterhaltungs- 
musik und  charakterisiert  sie  als  leicht  skizzierte  Gebilde  von 
äußerst  losem  Gewebe  ^).  Wenn  darin  konsonante  Klänge,  Konkor- 
danzen einfach  aneinandergereiht  werden^),  so  dürfte  der  letzte 
Grund  dieses  Parallelismus  für  die  Musik  wie  für  die  Poesie  der 
notorische  Improvisationscharakter  dieser  Stücke  sein.  „Das  charak- 
teristische aller  dieser  Kompositionen",  sagt  Körte ^),  „liegt  in 
dem  Portspinnen  eines  Motivs  durch  verschiedene  Stimmen  hin- 
durch ohne  eigentliche  straffe  Gliederung  und  ohne  periodischen 
Bau.  Logische  Entwickelung  ist  fast  nie  zu  spüren  .  .  .  Oft  wird 
Geist  durch  konventionelle  Formeln  ersetzt,  und  Tonalitätsgefühl 
ist  selten  sicher  ausgeprägt,  Nachahmung  das  beliebteste  Mittel." 
Paumanns  musikalisches  Vermögen  war  ebenso  schöpferisch^) 
als  virtuos.  Bosenplüt  würde  seine  Preambel  wohl  im  Lobspruch 
erwähnt  haben,  wenn  die  Gattung  für  vornehm  genug  gegolten 
hätte;  sie  mußten  jedoch  hinter  den  gelehrten  Bundellen,  Muteten, 
Antiphonen,  Sequenzen  u.  s  w.  offenbar  weit  zurückstehen.  Wohl 
aber  konnte  er  passend  den  anspruchslosen  Vogelgesang  ^)  mit 
dem  Preambel  vergleichen.  Dieselbe  Bezeichnung  erscheint  wieder- 
holt in  guten  Handschriften  vor  Bosenplütschen  Gedichtchen ^), 


»)  Chrysanders  Jb.  2,  23. 

a)  DAK  5,  262. 

3)  Geschichte   der   Instrumentalmusik    S.  129.  115.    Vgl.  Eitner  8.3. 

*)  Loewenfeld,  Kleber  S.  68.  53  f. 

»)  S.  119. 

«)  Loewenfeld,  Kleber  S.  42. 

')  Später  sind  Kompositionen  nicht  selten  wie  La  canzon  de  li  uccclli 
von  Francesco  da  Milano  bei  Chilesotti  S.  44.  Körte  S.  121.  Budolf 
Wyssenbach,  Ein  schön  Tabulaturbuch  auif  die  Lauten,  von  mancherlei 
Lieplichen  Italianischen  Dantzliedem,  mit  sampt  dem  Yogelgesang  u.  s.  w. 
Handschriften  der  Herzoglichen  Bibliothek  zu  Wolfenbüttel  8,  258. 

^)  Wenn  Zescn  (Welti,  Geschichte  des  Sonettes  S.  92)  ein  Gedicht 
auch  Crusmaticum,  Crusma  nennt,  so  ist  hier  derselbe  Vorgang  zu  beobachten 


58 

die  eine  unverkennbare  Ähnlichkeit  mit  musikalischen  Preambeln 
haben :  sind  wir  berechtigt,  hier  eine  andere  Dedeutung  anzunehmen, 
als  dort?  Ich  glaube,  nein.  Ohiie  Not  eine  neue  Bedeutung  des 
Terminus  dem  Dichter  aufzuzwingen,  widerspräche  einem  be- 
rechtigten Orundsatze  der  Interpretation. 

Während  für  alle  andern  Bedeutungen  des  Wortes,  hypothe- 
tische und  wirkliche,  entweder  gar  keine,  oder  äußerst  spärliche 
lielege  vorhanden  sind,  die  zum  Teil  weit  hergeholt  wurden^), 
ist  man  an  der  kaum  übersehbaren  Masse  der  Belege  für  die 
musikalische  Bedeutung  achtlos  vorübergegangen.  Wahrscheinlich 
hätte  die  Feststellung  des  Tatbestandes  doch  das  Schweifen 
wissenschaftlicher  Kombinationen  verhindert. 

Es  erübrigen  ein  paar  Worte  über  die  Herleitung  des 
Priamels  aud  der  Fechtkunst  und  der  Predigt^).  Khrismanns 
Erklärung  i^Ut  mit  der  Unmöglichkeit  des  Herderschen  Stand- 
punktes; sie  paßt  nur  für  Herders  irrtümliche  Definition,  nicht 
für  ^as  gesamte  Material.  Der  im  sechzehnten  Jahrhundert  für 
Weitläufigkeiten  der  Prediger  bezeugte  Ausdruck  Preambulum 
ist  auch  erst,  doch  wohl  aus  der  Musik,  auf  die  Predigt  Über- 
tragen. „Präambulieren"  und  Abschließen,  Erwartung  und  Auf- 
schluß sind  Begriffe,  die  mit  dem  Priamel  an  und  für  sich  nichts 
zu  tun  haben;  es  gibt  eben  auch  analytische  Priamel.  Man  darf 
hier  wohl  nicht  einwenden,  selbst  bei  analytischen  Priameln  gäbe 
es  gewissermaßen  Erwartung  und  Aufschluß,  sondern  man  erwäge 
lieber  den  auch  für  das  antike  Epigramm  nachgewiesenen  Unwert 
dieser  Begriffe.  Wenn  das  Priamel  mit  der  Predigt  verwandt 
wäre,  wo  müßte  dies  mehr  zu  Tage  treten  als  in  den  geistlichen 
Priameln?  Und  doch  entfernen  gerade  diese  sich  regelmäßig  am 
meisten  von  dem  Charakter,  den  man  den  präambulierenden  und 
Erwartung  erregenden  Reihen  zuschreiben  möchte.  So  muß  man 
auch  diesem,  von  den  vorgetragenen  noch  immer  wahrscheinlichsten, 
Erklärungsversuche  die  Zustimmung  versagen. 


wie  boim  Priamel;  xpoüufia  nie  praoambulum  sind  uigcntlicb  TonstSckc. 
Iröber,  Grundriß  II  1,  659  ff. 

')  Lexikographen  seien  auch  auf  Buch  Weinsberg  2,  245,  die 
raeambula  fidei  der  mittelalterlichen  Theologie  und  Soldan -Heppe, 
[eienprozesso  2,  124  verwiesen. 

*)  Literarisches  Centralblatt  1898, 1491.    Ehrismaun  a.a.O.  S.  165ff. 


59 

Auf  den  unsicher  vermuteten^)  Zusammenhang  des  Bosen- 
plütschen  Priamels  mit  der  Fechtkunst  einzugehen,  lohnt  sich 
wohl  nicht.  Die  Belege  gehören  dem  Ende  des  sechzehnten 
Jahrhunderts  an^). 

Was  die  Lautform,  die  Flexion  und  das  Geschlecht  des 
Priamels  betrifft,  so  sahen  wir  oben  bereits,  welchen  Veränderungen 
das  lateinische  Praeambulum  unterlag.  Mit  Ausnahme  von  Pria- 
melius,  das  mit  Preamblin  und  andern  Wortmonstra  auf  eine 
Stufe  zu  stellen  war,  sind  die  zur  Bezeichnung  poetischer  Stücke 
überlieferten  Wortformen  Preambel  und  Priamel  aus  der  Musik- 
literatur reichlich  nachgewiesen:  und  zwar,  wenn  man  von  New- 
si edlers  und  Hainhofe rs  Masculinum')  absieht,  in  sämtlichen 
handschriftlichen  und  gedruckten  Belegen  durchweg  als  Neutrum, 
der  korrekten  Ableitung  und  sonstigem  Gebrauch^)  entsprechend. 
Wie  aus  Triplum*)  des  Härders  trippel,  so  entstand  aus  praeam- 
bulum preambel.  Wo  das  zuerst  geschehen,  ist  ziemlich  belanglos; 
schon  ein  Blick  in  das  erstaunlich  reicheMaterial ,  das  van  der 
Straeten  aufgespeichert  hat)  lehrt,  daß  die  Musikübung  des  aus- 
gehenden Mittelalters  vollkommen  international  gewesen  ist.  Selbst 
wenn   man,    wie    billig,    Daveys  Übertreibungen  abzieht,    bleibt 


1)  Der  Becensent  ühls  im  Lit.  Centralblatt  (1898),  Albert  Leitzmann 
sagt  S.  1491:  „Daß  der  Verf.  (S.  19)  den  etwaigen  Zusammenhang  der 
Priamel  als  Trutzlied  mit  der  im  DWB  VU  belegten,  der  Fechtkunst  ent- 
stammenden Bedeutung  von  preambel  =»  Scharmützel,  Wortgefecht,  a  limine 
zurückweist,  scheint  nicht  berechtigt,  wie  denn  die  vorliegende  Unter- 
suchung weiterer  Forschung  yöUig  freien  Spielraum  läßt/' 

^  Nichts  ergibt  denn  auch  die  Zusammenstellung  von  Schaer,  Die 
altdeutschen  Fechter  und  Spielleute.  Straßburg  1901.  S.  128.  Vgl.  137. 
Auch  das  Fechterpreambel  entstammt  wohl  der  Musik.  Schaer  bringt 
das  Priamel  wieder  mit  dem  Meistergesang  in  Verbindung. 

^  Auch  das  Schweizerische  Idiotikon  verzeichnet  einmal  das  Masc. 
y  301  aus  Maaler. 

^)  Hertz,  Spielmannsbuch  S.  343. 

*)  Treble,  Trebulus:  Denkmäler  der  Tonkunst  in  Osterreich  VII  1. 
Sechs  Trienter  Codices  hg.  von  Adler  und  Koller.  Wien  1900.  S.  XXVII. 
Man  bildete  außer  Preamble,  Treble  auch  die  Wörter  Quadrible,  Quinible. 
Davej,  History  of  English  music.  London  1895.  S.  48.  Albert  Folzin, 
Geschlechtswandel  der  Substantiva  im  Deutschen.  Hildesheim  1903.  S.  39 
läßt  ^diu  preambel,  priamel  <  preambulum  wohl  unter  Einfluß  von  Priemel  < 
primnla^  entstehen,  trotzdem  diese  Entlehnung  300  Jahre  später  stattfand^ 


60 


die  Tatsache  bestehen,  daß  die  englische  Musik  und  englische  Musiker 
um  die  Wende  des  vierzehnten  bis  fünfzehnten  Jahrhunderts  in 
Europa  maßgebenden  Einfluß  ausgeübt  haben  ^).  Die  deutsche 
musikalische  Kunstsprache  wie  die  meisten  Instrumente  haben 
den  Umweg  über  die  romanischen  Länder  gemacht,  und  Leute 
wie  Paumann  und  Lucas  Mahler  waren  mit  romanischen  Ländern 
und  ihrer  Eunstübung  völlig  bekannt.  Wilhelm  Hertz  hat  in  ähn- 
licher Frage  über  das  Lais  sich  ebenfalls  dem  alten  Gebrauch  des 
Neutrums  angeschlossen,  und  Joseph  B6dier  mußte  den  berechtigten 
Tadel  seines  Lehrers  Gasten  Paris  über  sich  ergehen  lassen, 
als  er  die  populäre  Form  Fabliaux  in  wissenschaftlicher  Behandlung 
verwendete.  Es  wäre  nicht  wirkliche  Ehrfurcht  den  großen  Männern 
gegenüber,  die  das  irrige  Femininum  ,die  Priamel'  gebrauchten, 
wollte  man  aus  Bücksicht  auf  sie  die  Bezeichnung  beibehalten. 
Denn  L  es  sing  wie  Jakob  Grimm  wären  die  ersten  gewesen, 
die  das  Femininum  verworfen  hätten,  wenn  ihnen  die  Sachlage 
bekannt  *  gewesen  wäre.  Wie  Lessing  zu  dem  Femininum  ge- 
kommen ist,  darüber  lassen  sich  nur  Vermutungen  aufstellen. 
Das  Französische,  Uainhofers  Fantasiae  und  die  Mundart-) 
können  ihn  dazu  verführt  haben.  Sobald  in  der  Lauten-Musik 
der  Name  Praeambulum  veraltete  und  zahlreiche  andere  an  seine 
Stelle  zu  treten  begannen,  waren  auch  die  Tage  des  poetischen 
Terminus  gezählt,  zahlreiche  andere  treten  an  seine  Stelle  wie 
Spruch,  Sprichwörter,  Schwank.  Der  fahrende  Sprecher  nannte 
im  fünfzehnten  Jahrhundert  sein  Büchlein  noch  Priamelred.  Man 
hat  priamel  als  Entstellung  von  preambel  bezeichnet^).  Die 
Entwicklung  ist  vollkommen  lautgesetzlich.  Bosenplüts  Mund- 
art stieß  das  b  ab^),  wie  sein  Beim  preambel:  stammeln^),  beweist; 
und  das  unbestimmte  e  ward  zu  i  erhöht.  Schon  in  das  lateinische 
Wort  war  das  i  eingedrungen*). 

>)  Davey  S.  75  f. 

^)  Es  gibt  bis  jetzt  kein  lehrreicheres  Bild  von  mundartlichem  Ver- 
fahren als  den  schon  gerühmten  Artikel  des  Schweizerischen  Idiotikons; 
die  Mundart  nimmt  sich  nicht  weniger  Freiheit  als  die  musikalische  Mode. 

3)  Schade,  s.  v. 

*)  Weinhold,  Bairische  Grammatik  S.  130.  Gebhardt,  Grammatik 
der  Nürnberger  Mundart.    Leipzig  1901.     S.  31. 

5)  Zur  Differenz  des  n:  QF  77,  119. 

«)  Vgl.  oben.   S.  54. 


-i 


61 

Halten  die  eben  entwickelten  Tatsachen  und  Erwägungen 
gründlicher  Prüfung  stand,  so  haben  wir  bei  der  Bezeichnung 
des  Priamels  denselben  Vorgang  wie  bei  der  Taufe  des  Sonettes 
zu  beobachten.  Auch  beim  Sonett  geht  die  Bezeichnung  von 
der  Musik  aus  und  wird  auf  ein  kleines  Gedicht  übertragen'). 
Der  Charakter  des  Sonettes  hat  mit  der  ursprünglichen,  ganz 
allgemeinen  Bedeutung  des  musikalischen  sonet,  so  weit  bis  jetzt 
festgestellt  ist,  kaum  etwas  zu  tun^).  Anders  bei  dem  Priamel. 
Die. Bezeichnung  des  bisher  namenlosen,  von  Bosenplüt  klassisch 
vervollkommneten  Volksreimes  mit  dem  Namen  Preambel  ist  so 
zutreffend,  daß  man  sie  am  ehesten  ihrem  Klassiker  zutrauen 
möchte.  Hier  wie  dort  selbständige,  die  Formgebung  entscheidend 
beeinflussende  Improvisation,  in  beiden  Fällen  eine  Mittelstellung 
zwischen  halb  automatischer  Abfolge  und  höchster  Eunstlogik,  in 
jedem  Falle  die  Fähigkeit,  sich  zu  universeller  Form  zu  ent- 
wickeln, auf  beiden  Gebieten  ähnliche  Geschichte  der  Benennung 
und  Überlieferung.  Besonnene  Überlegung  wird  darauf  verzichten, 
aus  Einzelheiten  der  vorliegenden  musikalischen  Sätzchen,  wie 
dem  akkordlichen  Parallelismus  oder  dem  Moment  der  letzten 
Spannung  kurz  vor  dem  Schluß  Ähnlichkeiten  mit  dem  Bau 
einzelner  Priameln  herauszuklauben.  Ohne  Spielerei^)  und  Will- 
kürlichkeit kann  das  nicht  abgehen.  Aber  der  allgemeine  Charakter 
der  kurzen^)  Improvisation,  Festhalten  eines  Hauptgedankens, 
der  mehr  äußerlich  als  mit  frei  schaffender  logischer  Entwicklung 
durch  parallele  Kola  durchgeführt  wird ,  das  ist  dem  musi- 
kalischen und  poetischen  Priamel  gemein.  Beide  werden  zu  fast 
gleicher  Zeit  literaturfähig,  beide  müssen  sich  gefallen  lassen,  in 
der   späteren   Entwicklung    an    ihrem    ursprünglichen    Charakter 


»)  Welti ,  Geschichte  des  Sonettes  S.  19.    Gröber,  Grundriß  II 1, 659  ff. 

^)  Man  kann  auch  hier  einen  Zusammenhang  vermuten;  hloße  Willkür 
wird  auch  hier  nicht  gewaltet  hahen.  Leider  scheinen  die  Quellen  der 
Musikwissenschaft  über  diese  Fragen  zu  versiegen. 

^)  Auch  vor  Kombinationen  über  Verwandtschaft  des  praeambulum  mit 
tropi  und  modi  (Gerbert,  De  cantu  et  musica  sacra  1,  370.  Scriptores 
ecclesiastici  de  musica  sacra  potissimum  2,  83a.  Judenkünig  knüpft  an  das 
fünfte  Priamel  einen  Tropolus  secretus)  ist  zu  warnen.  Ehrismanns  neuer 
Versuch,  Ähnlichkeiten  mit  der  Predigt  nachzuweisen,  fordert  zur  Ver- 
doppelung der  Vorsicht  auf. 

^)  Vergleiche  die  ,kurzen  preambeP  in  D. 


62 

einzubüßen:  das  musikalische  Priamel  wird  die  Mutter  hoch- 
entwickelter Eunstformen,  das  poetische  verkümmert  unter  der 
Hand  geistloser  und  unbegabter  Nachahmer,  um  endlich,  in  seinen 
Grundformen  freilich  unverwüstlich,  nur  noch  ein  Ferment  späterer 
Kunst  zu  bleiben.  Und  noch  am  Schluß  einer  langen  Geschic}ite 
dieser  Eunstformen  knüpft  Intuition  gottbegnadeter  Genies  i(in- 
bewußt  wieder  an  die  Urformen  an:  wenn  Chopin  in  seinem 
herrlichen  Prölude  Op.  28,  Nr.  15  in  parallelen  Umformungen 
den  einen  Hauptgedanken  ausprägt,  den  er  durch  die  stets  fest- 
gehaltene Dominante  auch  äußerlich  kenntlich  macht,  und  wenn 
Goethe  noch  das  Priamel  dichtet: 

Weite  Welt  und  breites  Leben, 
Langer  Jahre  redlich  Streben, 
Stets  geforscht  und  stets  gegründet, 
Nie  geschlossen,  oft  gerUndet, 
Ältestes  bewahrt  mit  Treue, 
Freundlich  aufgefaßtes  Neue, 
Heitern  Sinn  und  reine  Zwecke: 
Nun  1   man  kommt  wohl  eine  Strecke. 


III. 

Zur  Oberlieferung  des  Priamels. 

,vil  verdirbet 
des  man  nicht  en  wirb  et.' 

Walther. 

1.  Schriftliche  Üherlieferung.  Angehliche  Priamelhandschriften.  Vor- 
ßosenplütsche  Üherlieferung  Die  Priamelrede.  Reste  des  Trierer  Spruch- 
huches.  Spuren  kleinerer  Sammlungen.    Die  Hauptmasse  der  Überlieferung. 

2.  Mündliche  Üherlieferung.  .  Volkspoesie  und  Kunstdichtung  ein  Zirkel. 
Beispiele. 

Die  vielgestaltigen  Formen  der  Überlieferung  mit  systema- 
tischer Vollständigkeit  zu  erschöpfen,  ist  heute  unmöglich;  auch 
Einzelfragen,  z.  B.  die  handschriftliche  Überlieferung  Bosenplüts, 
scheiden  aus.  Es  sollen  hier  nur  außer  den  nötigsten  Nach- 
weisungen von  neuem  Material  einige  allgemeine  Gesichtspunkte 
angedeutet  werden,  unter  denen  sich  die  Überlieferung  des  Priamels 
betrachten  läßt.  Dabei  wird  im  ganzen  von  dem  Vierzeiler  ab- 
gesehen, der  später  besonders  behandelt  ist.  Wenn  das  große 
Unternehmen  der  Berliner  Akademie,  alle  deutschen  Handschriften 
des  In-  und  Auslandes  bis  zum  siebzehnten  Jahrhundert  zu 
inventarisieren,  vollendet  ist,  wird  es  leicht  sein,  das  Material  zu 
ergänzen.    Des  Einzelnen  Kräfte  versagen  bei  solchen  Aufgaben. 

1. 

Die  Überlieferung  im  engeren  Sinne,  die  literarische 
Überlieferung  beschränkt  sich  im  fünfzehnten  Jahrhundert  beim 
klassischen  Priamel  auf  Handschriften,  vom  sechzehnten  bis  ins 
siebzehnte  Jahrhundert  liegen  Handschriften  und  Drucke  vor, 
mündliche  Überlieferung  geht  ununterbrochen  vorher  und  nebenher. 


64 

Etwa  hundertfunfzig  Jahre  nach  dem  Erscheinen  der  letzten  alten 
Sammlung  setzt  die  moderne  wissenschaftliche  Beschäftigung  mit 
dem  Priamel  ein.  Die  Vorgeschichte  der  Gattung  und  ihr  Nach- 
leben bleiben  hier  im  allgemeinen  außer  Betracht;  ihre  Quellen 
müssen  meist  für  sich  betrachtet  werden.  Außerdem  kann  hier 
auf  die  literarhistorische  Entwicklung  noch  nicht  eingegangen 
werden,  es  muß  an  dieser  Stelle  eine  Art  catalogue  raisonnä  genügen. 
Nach  dem  sogenannten  großen,  nicht  gedruckten  üand- 
schriftenkataloge  der  üof-  und  Staats -Bibliothek  zu  München 
gäbe  es  freilich  schon  eine  Priamelhandschrift  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  auf  Pergament,  und  damit  würden  alle  aus  andern 
Quellen  gewonnenen  Ansichten  von  der  Literaturgeschichte  des 
Priamels  über  den  Haufen  geworfen.  Aber  die  Sache  verhält 
sich  anders.  Schmeller  hatte  unter  Abteilung  XIV,  Nummer  361 
des  Index  auf  eine  Priamelhandschrift  seines  Bepertoriums  mit 
folgenden  Worten  verwiesen:  „Deutsche  Priameln  mit  den  ent- 
sprechenden lateinischen  seculi  XlII  siehe  das  Bepertorium  Blatt 
üguitio."  Unter  liebenswürdiger  Hilfe  des  Herrn  Dr.  Petzet 
konnte  ich  nun  aus  Schmellers  Papieren  feststellen,  daß  Schmeller 
und  die  Hof-  und  Staatsbibliothek  diese  Handschrift  nie  besessen 
haben  und  daß,  was  sie  enthielt,  keine  Priamel  gewesen  sind. 
Schmeller  bemerkt  nämlich  im  Bepertorium  unter  Hugutio  (!): 
„In  der  schönen  Pergament-Handschrift  in  Folio:  Mag.  üguizonis') 
liber  derivationum.  118  Bl.  sec.  XIII.,  die  Antiquar  Butsch 
am  10.  November  1848  vorzeigt,  steht  hinten  von  dos  früheren 
Besitzers  Weriand,  plebani  in  Seldenhoven,  ordinati  anno  1282, 
invcstiti  1286  Hand: 

Ich  schilt  nicht  daz  iemen  tuet 

machet  er  daz  ende  guet. 

tc  non  pro  factis  sperno  si  sit  bona  finis  « 

Das  ist  aber  nichts  als  der  Freidankspruch  63,  20,  und  die 
drei  anderen,  welche  Schmeller  noch  mit  ihren  lateinischen 
Entsprechungen  abgeschrieben  hat,  sind  ebensowenig  Priamel  wie 
der  erste  ^J. 


1)  Über  Huguitio:   Pabricius,  Bibliotheca  (Florenz,  1858)  III  283. 

')  Die  Handschrift  ist  ins  Britische  Museum  gekommen.  Priebsch, 
Deutsche  Handschriften  in  England  2,  157;  Priebsch  druckt  die  fünf  Frei dank- 
zweizeiler  der  Hs.  ab. 


65 

Nicht  minder  in  die  Irre  führt  Mone  mit  einer  Notiz  ifbef 
Priamel,  die  in  einer  Papier-Handschrift  zu  Wien  vom  Jahre  1501 
sich  befunden  haben  sollen^). 

In  lateinischen  und  deutschen  Handschriften  sind  einzelne  vor- 
Bosenplütsche  Stücke  überliefert.  So  wichtig  sie  für  die  Ge- 
schichte des  Priamels  sind,  stehen  sie  trotzdem  an  Bedeutung  den 
größeren  Sammlungen  nach  und  sind  deshalb  später  unter  kleinen  Buch- 
staben des  Alphabets  aufgeführt.  Ebenso  erscheinen  vom  sechzehnten 
Jahrhundert  an  Priamel  zahlreich,  aber  vereinzelt  in  Handschriften 
des  verschiedensten  Inhalts,  in  Stammbüchern,  als  Einträge  auf 
Buchdeckeln,  in  Drucken,  in  volkstümlicher  Literatur  aller  Art. 
Diese  Überlieferung  ist  nie  unterbrochen  und  leitet  auch  vom 
Dreißigjährigen  Krieg  zum  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  über. 

Eigentliche  Priamelhandschriften  stammen  erst  aus  dem 
fünfzehnten  Jahrhundert;  sie  konnten  erst  entstehen,  nachdem 
Bosenplüt  die  Gattung  literaturfähig  gemacht,  das  Priamel  sich 
zu  einem  selbständigen  Kunsl  zweig  der  Sprecher  ausgewachsen 
und  die  Produktion  rasch  sich  gemehrt  hatte.  Unter  den  zahlreich 
erhaltenen  sind  wirkliche  Priamelbüchlein  der  umherziehenden 
Sprecher,  Liebhabersammlungen,  Lesebücher  und  große  Sammel- 
handschriften zu  unterscheiden. 

Für  die  erste  Kategorie  liefert  eine  Donaueschinger  Hand- 
schrift den  Beleg,  den  einzigen  und  wertvollsten.  Selten  sind 
solche  meist  ganz  verbrauchte  Exemplare,  wie  dies  Spruchbüchlein 
oder  das  des  Jacob  Kebitz,  bis  heute  erhalten.  Der  besondere 
Wert  des  Donaueschinger  Büchleins  besteht  darin,  daß  nicht 
nur  der  Name  Priamel  in  neuer  Komposition  als  Titel  für  die 
ganze  kleine  Sammlung  erscheint,  sondern  auch  erst  aus  diesem 
Exemplar  eines  Priamelsprechers  eine  anschauliche  Vorstellung 
von  solchen  Büchlein  und  dem  Vortrag  der  Priamel-Rede 
gewonnen  wird.  Es  ist  ein  selbständiges  Heft,  das  den  Titel 
jPriamelred'  auf  dem  ersten  freigelassenen  Blatte  führt,  in  sehr 
handlichem  Oktavformat,  zum  Einstecken  geeignet,  von  eine 
Hand  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  geschrieben;    im   ganzen   nur 


*)  Mones  Anzeiger  8,  209.  Papierhs.  Sedez.  v.  J.  1501.  Bl.  3 — 4: 
„Drei  Priameln.  Nu  höre  liber  sun  myn  etc."  Da  es  kein  Priamel  gibt, 
das  mit  den  citierten  (an  den  Cato  erinnernden)  Worten  beginnt,  so  hat 
man  wohl  auch  einen  Irrtum  Mones  anzunehmen. 

Eni  ins,  Priamel  ^ 


66 

sechs,  zum  Teil  defekte,  aber  zusammeDhängende  Blätter  mit 
neunzehn  Nummern.  Der  Antiquar  Butseh  aus  Augsburg  hat 
es  im  November  1868  der  Fürstlich  von  Fürstenbergischen  Biblio- 
thek zu  Donaueschingen  geschenkt,  in  der  es  unter  den  neuen 
Erwerbungen  mit  der  Signatur  A  III  19  bezeichnet  ist.  Auf 
Blatt  1  und  am  Ende  hat  eine  Hand  des  siebzehnten  bis  achtzehnten 
Jahrhunderts  sich  in  Federproben  und  Sprüchen^),  lateinisch  und 
deutsch,  versucht.     Die  Stücke  sind  folgende: 

1.  Blatt  2  a.     Ein  schreyber  der  lieber  tanczt  vnd  springt. 

2.  Wer  gern  spilt  vnd  vngem  gillt. 

3.  Blatt  2  b.     Ein  vater  der  sein  kindt  gern  lern  wollt. 

4.  Welch  man  seim  eelichen  weib  ist  veindt. 

5.  Blatt  3  a.     Weißhait  von  truncken  leuten. 
6*  Ein  junge  mayt  on  lieb. 

7.  Blatt  3  b.     Die  geyer  vnd  die  htinerarn. 

8.  Mein  lieb  liebt  mir  so  fast. 

9.  Blatt  4  a.     Mein  firaw  liebet  mir  so  ser. 

10.  Ewer  lieb  ist  niemer  nit  gleich. 

11.  Blatt  4b.     Mein  lieb  liebet  mir  fUr  Schnecken. 

12.  Es  ist  ein  gemeiner  sit. 

13.  Kein  größer  narr  mag  nit  werden. 

14.  Blatt  5  a.     Ein  schweigender  schUler. 
15*  Poßheit  vnd  grindig  pader. 

16.  Wann  man  ein  einfelligen  betreugt. 

17.  Blatt  5  b.     Wann  das  ein  weiser  eins  narren  spott. 

18.  Ein  man  dem  er  vnd  gut  zu  fieust. 

19.  Wenn  ein  reycher  ein  armen  verschmecht. 

Auf  die  einzelnen  Stücke  wird  später  einzugehen  sein; 
den  Beschluß  machen  zwei  Priapea.  Den  Überrest  eines  ähnlichen, 
wenn  auch  nicht  durchweg  priamelhaften  niederrheinischen  Spruch- 
büchleins stellt  das  von  Nolte  beschriebene  Trierer  Folioblatt 
des  fünfzehnten  Jahrhunderts  dar^).  Es  enthält  priamelhafte 
und  nicht  priamelhafte  Vierzeiler,  Preidankverse,  zwei  größere 
Priamel  von  zehn  Zeilen  und  einen  scherzhaften  Schluß. 

Dem  letzten  alten  Priameldruck  von  1631  scheint  noch  ein 
solches  Spruchbuch  zu  Grunde  zu  liegen.  Aber  als  Gattung 
kennt   z.  B.    Happelius    das   Priamel   nicht   mehr^).     Übrigens 


*)  Diese  sind  hier  übergegangen. 

3)  Pfeiffers  Germania  19,  303  ff. 

^)  E.  G.  Happelii    größester   Denkwürdigkeiten    der    Welt     oder    so 


67 


hat  Moscherosch  noch  1650  sehr  gute  Priamelquellen,  die  auf 
selbständige  Überlieferung  zurückgehen.  Mit  den  Drucken  des 
sechzehnten  Jahrhunderts  deckt  sich  die  Becensio  nicht. 

Aus  solchen  kleineren  Sammlungen,  deren  Grundstock  Bosen- 
p lutsche  Priamel  bilden,  sind  dann  alle  größeren  Handschriften 
hervorgegangen.  In  der  von  Sigmund  Hurrer  in  Passau  an- 
gelegten Handschrift  läßt  sich  das  noch  deutlich  verfolgen^). 
Er  wird  aus  Liebhaberei  gesammelt  haben.  Die  Handschriften 
A,  B,  C^D,  H,  J^),  K,  L,  M  scheinen  Lesebücher;  so  wie  sie  vor- 
liegen, auch  schon  nicht  mehr  einheitlicher  Art.  Die  größte  Sammel- 
handschrift, voll  der  verschiedenartigsten  Bestandteile,  ist  FG'). 
Die  anderen  mir  bekannten  Handschriften  gibt  eiue  unten  folgende 
Liste  an.  Was  ihr  Alter  betrifft,  so  lehrt  die  Untersuchung, 
was  früher  nicht  genau  zum  Ausdruck  gekommen  ist^),  daß  die 
versprengten  Stücke  der  älteren  Handschriften  nicht  von  dem 
Nürnberger  Dichter  herrühren.  Die  Eintragungen  auf  Vorsetz- 
blättern oder  am  Schluß  von  Handschriften,  wie  bei  Handschrift 
c  ^)  datieren  meist  aus  späterer  Zeit.     Die  Handschriften  A  bis  H 


genandte  Eelationes  Curiosae  U.    Hamburg  1685  S.  436:   „Man   pfleget   im 
gemeinen  Sprichwort  zu  sagen:  Ein  Jungfrau  ohne  Liebe  etc.** 

1)  Göttinger  Beiträge  2,  39.  42.  17. 

2)  Die  Handschrift  ist  Nr.  952,  nicht  592;  die  Priamel  stehn  Blatt 
17a  bis  19a;    31b  und  34b. 

3)  Uhl  S.  90  ff.  Ehrismann  S.  162  ff.  Wie  solche  Sammlungen  durch 
„irgend  einen  Knaben"  angelegt  werden  können,  ersieht  man  aus  Luthers 
Brief  an  W.  Link  vom  20.  Mäi-z  1536  (bei  De  Wette  4,  680  ff;  vgl.  6,  542): 
„Tu  qui  ibi  es  inter  flumina  aurea  et  argentca,  quaeso  mihi  mitte  non 
somnia  ea,  sed  semina  poetica,  quae  mihi  vehementer  placent.  Non  intelligis? 
Ich  will  deutsch  reden,  mein  gnädiger  Herr  Wenzel.  Wo  es  euch  nicht 
zu  schwer,  noch  zu  viel,  oder  zu  lang,  oder  zu  weit,  oder  zu  hoch,  oder 
zu  tief  und  dergleichen  etc.  wäre,  so  bitte  ich  euch,  ihr  wollet  irgend  einen 
Knaben  lassen  sammeln  alle  deutsche  Bilder,  Eeimen,  Lieder,  Bücher, 
Meistergesang,  so  bey  euch  dieß  Jahr  sind  gemalet,  gedichtet,  gemacht, 
gedruckt  durch  eure  teutsche  Poeten  und  Formschneider  oder  Drucker; 
denn  ich  ürsach  habe,  warumb  ich  sie  gerne  hätte." 

*)  Göttinger  Beiträge  2,  11  ff. 

*)  a.  a.  0.  11  Nr.  XXXIX.  Jetzt  Längins  Katalog  No.  183.  Die 
Eintragung  ist  nicht  von  Ottners  Hand.  Das  ähnliche  Verhältnis  war 
bei  der  Handschrift  2225  der  (xroßherzoglichen  Hofbibliothek  zu  Darmstadt 
festzustellen. 

5* 


68 


and  a  bis  d  sind  bereits  in  den  Göttinger  Beiträgen  2,  7  ff.  ver- 
zeichnet').    Hier  sind. mehrere  hinzuzufügen. 

N«  Die  oben  beschriebene  Papierhandschrift  der  Fürstlichen 
Bibliothek  zu  Donaueschingen  A  III  19. 

0.  Handschrift  Nr.  94  des  Barack  sehen  Katalogs  derselben 
Bibliothek.  Es  kommt  nur  der  erste  Teil  der  Handschrift  in 
Betracht,  der  ein  Spruchbuch  für  sich  darstellt.  Barack  hat 
nur  fünf  Nummern  (1.  2.  3.  13.  18.)  daraus  verzeichnet.  Ich 
ergänze  ihn  durch  folgende  Übersicht  des  Bestandes: 

I.  Blatt  1  a  10  Gebote.  Saligia  ^).  Mensch  wiltu  werden  gotes  kind  So 
merck  di  siben  todsUnd.     8  Verse. 

3*  Blatt  Ib.     Vagot.     Mensch  got  hat  dir  fUnff  synn  geben.     10  Verse. 

4.  Du  solt  stätiglich  nach  gottes  huld  werben.     6  Verse. 

5.  Nu  cristen  mensch  volg  meinem  rat.   Ermahnung  zum  Tischgebet.  24  Verse. 

6.  Blatt  2  a.     Sälig  ist  der  nymer  übel  spricht. 

7.  Mellifluus  Jesus.     Wiltu  wirdig  sein  der  speis.     14  Verse. 

8.  Blatt  2  b.     Sälig  ist  der  man  den  sein  hannd  nsrt. 

9.  Nu  merckent  hie  die  lere  mein.     Drei  Räte  Augustins.     16  Verse. 

10.  Blatt  3  a.     Halt  die  pot  gots  in  deinem  müt. 

II.  Quitquid  agas.     Kürzere  Sprüche,  Vierzeiler,  Aphtzeiler,  Zehnzeiler. 

12.  Blatt  3  b.     Mensch  du  solt  dich  bedencken  lang.     10  Verse. 

13.  Spricht  Catho.     Wiltu  mit  ern  werden  alt. 

14.  Blatt  4  a.     Essen  vnd  trincken  on  danckperkait. 

15.  Spricht  Catho.     Purgschaft  domit  man  manchen  verderbt. 

16.  Blatt  4  b.     Wenn  man  ain  ainialtigen  betreugt. 

17.  Zwei  nicht  priamelhafte  Vierzeiler. 

18.  Ysopus.     Welich  man  seinem  weib  ist  veindt. 

19.  Orglogg  vnd  ein  wollpogen. 

20.  Blatt  5  a.     Es  ward  auf  erden  kain  mensch  nie  so  reich.     10  Verse. 

21.  Wer  ee  halten  dinget  vmb  großen  Ion. 

22.  Die  knaben  in  den  hochen  hUeten. 

23.  Blatt  5  b.     Drew  ding  nyemant  ersatten  kan. 

Deo  gracias. 

In  dieser  Überlieferung  ist  bei  Nummer  15  und  18  der 
Nürnberger  Büchsenmeister  zum  Catho   und  Ysopus  geworden^). 


V  Über  einige  von  diesen  Handschriften  ist  dann  QF  77  passim  und 
in  Uhls  Buche  über  die  deutsche  Priamel  besonders  S.  90  ff.  gehandelt. 
Zu  H  vgl.  Germania  1888,  159.    Ehrismann  Anz.  25,  162. 

2)  Merkwort  für  die  sieben  Totsünden.  Geffcken,  Bildercatechismus 
S.  22.    Beilagen  S.  194. 

^)  Zum  Ysopus  wird  Eosenplüt  als  Verfasser  des  18.  Spruchs  auch 
in  der  Wiener  Handschrift  Nr.  4117,  Blatt  28  b. 


69 

P,  die  Handschrift  3027  der  K.  K.  Hof-Bibliothek  zu  Wien »), 
erregt  dadurch  besonderes  Interesse^  daß  sie  in  ihrem  älteren 
Teil  wie  die  Erbauungsliteratur  eine  Art  von  geistlichen  Priameln 
aufweist,  die  eine  direkte  Vorstufe  für  Bosenplüts  ähnliche 
Gedichte  bedeuten,  und  daß  sie  in  ihrem  jüngeren  Bestand  eine 
wahrscheinlich  ins  sechzehnte  Jahrhundert  fallende  Spruchsammlung 
erhallen  hat.  Sie  beginnt  Blatt  329b  mit  der  Überschrift:  Das 
sind  guet  reym.  Es  ist  wenig  mehr  von  Eosenplüt  dabei,  haupt- 
sächlich recht  volkstümlich  gewordene  Stücke  wie  das  Dienstboten- 
Priamel:  „Wer  ehalten  dingt  um  großen  Ion,*  mit  allerlei  Verderb- 
nissen und  Kürzungen.  Im  allgemeinen  aber  war  die  Hand- 
schrifb  noch  zu  den  größeren  zusammengehörenden  Sammlungen  zu 
rechnen. 

Dem  Katalog  der  Wiener  Akademie^)  gegenüber,  der  dieses 
verbreitetste  Priamel  Bosenplüts  nur  als  ein  ,carmen  germanicum 
de  servis  domesticis'  (2,  183,  34)  bezeichnet,  während  er  sonst 
die  Praeambula  immer  als  solche  heraushebt,  ist  stete  Nach- 
prüfung erforderlich.  Wie  mir  Herr  Scriptor  Menöik  mitteilte, 
gehen  die  Angaben  auf  Th.  von  Karajan  und  J.  Haupt  zurück. 
Bisweilen  sind  falsche  Angaben  Hoffmanns^)  berichtigt,  aber 
auch  vielfach  Irrtümliches  verzeichnet.  Hier  mag  berichtigt 
werden:   Nr.  2880  (Tabulae  2,  149),  10.  Blatt  146a: 

,Wie  mocht  ich  mich  wol  gehaben. 
Wenn  ich  einen  sich  begraben, 
Das  fch  auch  dahin  muß  nisten. 
Das  mich  nyemant  kann  gefristen^ 

ist  kein  Priamel.  Über  die  angeblichen  mittelniederdeutschen 
Priamel  Hoffmanns  (S.  191)  siehe  die  letzte  Anmerkung.  Die 
in  den  Tabulae  2,  179  aus  Nr.  3017  Blatt  112b  flf.  vermerkten 
Praeambula   sind   prosaische  Sprüche,   wie   die  in   der  Oermania 


»)  Tabulae  2,  182. 

*)  Tabulae  codicum  manu  scriptorum  in  bibliotheca  Palatina  Vindo- 
bonensi  asservatorum  edidit  Academia  Caesarea  Yindobonensis :  ein  bei  der 
Masse  des  handschriftlichen  Besitzes  unschätzbares  Verzeichnis. 

3)  Z.  B.  Tabulae  2,  158  zu  Hoffmann  S.  191.  Dann  ist  Blatt  36a 
(der  neuen,  132  a  der  alten  Paginierung)  ein  Priamel  nicht  erkannt  und 
der  Inhalt  f&lschlich  auf  eine  ,optima  amasia^  bezogen.  Vgl.  zur  Sache 
Sandvoss  in  den  Preußischen  Jahrbüchern  86,  560  f. 


70 


1888,  164  veröffentlichten*).  Aus  den  Tabulae  2,  183,  31  ver- 
merkten Sprüchen  ist  mehreres  auszuscheiden.  Das  Tabulae 
2,  174,  32  ,Praeambulum  spyritale'  genannte  Stück  ist  eine 
Frosasentenz  der  Form:  Du  bist  schuldig:  den  Engeln  das  du 
volgest  irem  rate,  den  heiligen,  das  irme  leben  nachvolgst,  der 
werlt  das  sie  verschmachest  u.  s.  w. 

Außer  den  vier  in  den  Qöttinger  Beiträgen  2,  10  angegebenen 
Handschriften  a  bis  d,  welche  vereinzelte  Stücke  enthalten,  sind 
folgende  zu  vermerken:  e*  Handschrift  33a  der  Dresdener  Hof- 
bibliothek 2).  f.  Nr.  1847  der  Hofbibliothek  zu  Darmstadt  3). 
g.  Nr.  2225  der  Darmstädter  Hofbibliothek*).  Das  vorgeklebte 
Pergamentblatt  ist  von  1410  datiert,  h.  Nr.  2775  derselben 
Bibliothek*),  i.  Nr.  60  der  Großherzoglichen  Universitäts-Biblio- 
thek zu  Heidelberg  5).  k.  Nr.  293«),  1.  Nr.  294^),  m.  Nr.  325 ») 
derselben  Bibliothek,  n.  Cgm.  523,  o.  Cgm.  851,  p.  Clm.  4394, 
q.  Clm.  4408  der  Münchener  Hof-  und  Staatsbibliothek  %  r.  Nr  2880, 
8.  Nr.  2940,  t.  Nr.  3009,  u.  Nr.  3026,  y.  Nr.  3192,  w.  Nr.  3650, 
X.  Nr.  4117,  y.  Nr.4118,  z.  Nr.  4120,  aa.  Nr.  4142,  bb.  Nr.  4501 
cc.  Nr.  8852  dd.  Nr.  15090  der  K.  K.  Hofbibliothek  in  Wien^^). 

Außerdem  gibt  es  zahlreiche  Handschriften  dieser  Gruppe, 
deren  veröffentlichte  Stücke  angeführt  werden,  ohne  daß  es  hier 
eines  Nachweises  der  einzelnen  Handschriften  bedarf^^).  Voll- 
ständigkeit auf  dem  Gebiete  dieser  Gattung  von  Überlieferung 
zu  erreichen,   ist  dem  Einzelnen  unmöglich.     Dazu  kommt  eine 


»)  Vergleiche  Tabulae  2,  174,  22. 

^)  Katalog  2,  439.    Die  Sprüche  sind  nicht  mnd.,  sondern  mnl. 

3)  Germania  1887,  342. 

*)  A.  a.  0. 

*)  Bartsch,  Die  Altdeutschen  Handschriften  S.  24.  Schon  im  Jahre 
1887  stellte  mir  Ehrismanns  Freundlichkeit  zwei  Priamel  vom  Alter 
(Blatt  198d)  zur  Verfügung.  Handschriften,  deren  Inhalt  schon,  wie  bei 
Nr.  348.  377.  379  veröffentlicht  ist,  werden  hier  nicht  mehr  aufgezählt. 
Ebenso  ist  in  allen  anderen  Fällen  verfahren. 

6)  Bartsch  S.  158. 

7)  Bartsch  S.  159. 

8)  Bartsch  S.  177. 

9)  Catalogus  III.  V.  VIII.  2,  158. 

'«)  Tabulae  codicum  n.  III.  V.  VIII. 

*')  Darunter  z.  B.  die  wichtige  Hs.  des  Britischen  Museums  Add.  16581. 
Trieb  seh,  Deutsche  Handschriften  in  England  2,  147.    Nr.  175. 


71 


vom  sechzehnten  Jahrhundert  ab  zu  verfolgende  Menge  von 
Stammbüchern,  die  hin  und  wieder  älteres  Dichtungsgut  oder 
häufiger  eigene  Improvisationen  fortpflanzen.  Besonders  wertvolle 
besitzen  die  Bibliotheken  zu  Darmstadt,  Karlsruhe  und  das 
Faulusmuseum  zu  Worms.    Sie  einzeln  aufzuführen,  erübrigt  sich. 

Während  dieser  ganze  Zweig  der  nur  einzelne  Stücke  bietenden 
Überlieferung  in  älterer  Zeit  nirgends  zu  einer  Sammlung  gedieh, 
pflanzte  sich  die  Überlieferung  der  Handschriften  A  bis  P  alsbald 
im  sechzehnten  Jahrhundert  in  Drucken  fort,  die  von  1510  bis  zur 
Mitte  des  Dreißigjährigen  Krieges  wiederholt  aufgelegt  und  um- 
gearbeitet wurden.  Für  die  fast  in  jeder  Beziehung  geringeren 
Erzeugnisse  der  späteren  Nürnberger  Schule  (FG),  hat  sich,  wie 
es  scheint,  auch  nie  ein  Drucker  gefunden.  Wenn  später,  wie 
in  dem  Beisebüchlein  (Druck  i)  ähnliche  heterogene  Sprüche  folgen, 
so  erscheinen  sie  selbständig,  und  ihre  Auswahl  ist  doch  ver* 
nünftiger  und  einheitlicher  als  in  F3.  Die  fahrenden  Sprecher, 
Freiharte  und  Pritschmeister  wandeln  meist  in  den  Bahnen 
Bosenplüts^).  Der  sinnreiche  Herr  Hanns  Steinberger, 
Britschmeister  und  Spruchsprecher,  der  wie  Abraham  a  Santa 
Clara  schon  auf  dem  Titel  in  Makamen  redet,  ließ  1631  zuletzt 
ein  Spruchbüchlein  abdrucken,  das  genau  den  Umfang  von  N  hatte. 
Der  Pritschmeister  übte  das  Priamel  noch  im  achtzehnten  Jahr- 
hundert. Ein  gutes  Priamel  ist  als  Pritschmeisterreim  vom  Jahre 
1724  überliefert»). 

Was  sich  im  Einzelnen  aus  der  Überlieferung  für  die 
Geschichte  des  Priamels  ergibt,  muß  sich  später  zeigen.  Charakter, 
Entstehung  und  Geschichte  jeder  einzelnen  handschriftlichen 
Sammlung  mit  Bezug  auf  Bosenplüt  feststellen,  hieße  dem 
künftigen  Herausgeber  vorgreifen. 

2. 

Am  wichtigsten  aber  für  die  Entwicklung  des  Priamels  wie 
aller   volkstümlichen   Poesie   ist   die   mündliche  Überlieferung. 


*)  Die  Drucke  sind  bei  Wendel  er  S.  47  f.  in  Kollers  2.  Auflage  der 
Alten  guten  Schwanke,  Göt tinger  Beiträge  2,  11,  Goedeke,  Grundriß  IP8 
verzeichnet.  Insbesondere  ygl.  Herman  Brandes,  Die  jüngere  Glosse 
zum  Reinke  de  Vos.    Halle  1891.    S.  LIII  f. 

3)  Frischbier,  Preußische  Sprichwörter  I  211,  12. 


72 

Es  ist  freilich  ein  wenig  Übertreibung  mit  Paul  Heyse*)  zu 
sagen,  daß  ein  Volk  aufhöre  zu  improvisieren,  wenn  es  lesen 
und  schreiben  könne,  und  der  Unterschied  zwischen  geschriebener 
und  ungeschriebener  Dichtung  läßt  sich  kaum  zur  Grundlage 
einer  erschöpfenden  Erörterung  über  das  Wesen  der  Volkspoesie 
machen^).  Bei  Kulturvölkern  ist  es  ein  ewiger  Zirkel,  in  dem 
geschriebene  und  ungeschriebene  Überlieferung  sich  begegnen. 
Der  Gegensatz  zwischen  Volks-  und  Kunstdichtung  ist  durchaus 
kein  absoluter');  Übergänge  aller  Schattierungen  finden  statt*). 
Burdach  hat  auf  ein  Hinuntersteigen  der  höfischen  Poesie 
in  das  Leben  des  Volkes  und  ein  Aufstreben  der  volks- 
mäßigen Lyrik  nach  oben  hingewiesen^).  VTie  das  Volk  die 
Poesie  gebildeter  Klassen  aufnimmt,  so  regen  wieder  volkstümliche 
Poesien  selbst  den  gebildetsten  Dichter  an.  Die  entstehenden 
Arten  der  Kontamination  sind  theoretisch  nicht  zu  erschöpfen. 
Bisweilen  scheint  es,  als  ob  sich  einmal  beide  Einflüsse  das 
Gleichgewicht  halten,  z.  B.  bei  dem  Fleisch-  und  Backwaren- 
händler in  Italien,  der  am  Dreikönigstag  auf  ausgehängten  Reklame- 
zetteln seiner  Bude  witzig  und  pathetisch  Würste  und  Frittüren 


*)  Edouard  Schoure  überbietet  Paul  Heyse  und  datiert  sogar  den 
Verfall  des  Volksliedes  von  der  Erfindung  der  Buchdruckerkunst.  Geschichte 
des  deutschen  Liedes  S.  252  der  deutschen  (dritten)  Auflage. 

^  JohnMoier,  Volkslied  und  Kunstlied  in  Deutschland  I,  3.  Petsch, 
Ergebnisse  der  germanistischen  Wissenschaft  im  letzten  Vierteljahrhundert 
S.  485.  Gummere  wählt  in  seinen  Beginnings  of  Poetry  (New  York  1901) 
die  Formel:  communal  —  individual;  Wackerneil  stellt  in  Herrigs  Archiv 
111,  445  Produktion  und  Reproduktion  einander  gegenüber.  Steig  hat  in 
der  Nation  21,  314  ff.  aus  ungedruckten  Briefen  J.  Grimms  und  Arnims 
sehr  interessante  Auseinandersetzungen  über  Natur-  und  Eunstpoesie  ver« 
offen tlicht.  Vgl.  jetzt  Achim  von  Arnim  und  Jacob  und  Wilhelm  Grimm. 
Bearbeitet  von  R.  Steig.     Stuttgart  und  Berlin  1904.     S.  115  ff. 

^)  Paul  Heyse  in  der  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprach- 
wissenschaft 1,  182.     Gustav  Meyer,    Essays  2,  155. 

*)John  Meier,  Volkstümliche  und  kunstmäßige  Elemente  in  der 
Schnaderhüpfelpoesie.  Beilage  zur  Münchener  Allg.  Zeitung  1898.  Nr.  226. 
Meier  hat  weniger  erörtert,  inwieweit  die  sogenannten  Kunstdichter  doch 
wieder  von  der  volksmäßigen  Tradition  abhängen  und  welche  Grenzen  dem 
Austausch  gezogen  sind.  Strack  in  den  Hessischen  Blättern  für  Volkskunde 
l,  58  ff 

»)  Reinmar  und  Walther  S.  1?8,    Walther  S.  99. 


73 


in  selbstgemachten  Sonetten  besingt^).  Der  Versuch  B ruinierst), 
den  Chorgesang  als  Charakteristikum  des  Volksliedes  aufzufassen, 
scheitert  daran,  daß  er  vom  Volkslied  die  Arbeitsgesänge  bei 
Einzelarbeit  und  das  einzeln  gesungene  Improvisationslied  des 
Vierzeilers  ausschlösse,  das  trotz  aller  Über-  und  ünterschätzung 
immerhin  eine  der  Urzellen  der  Volkspoesie  bleibt.  Das  Arbeits- 
lied ist  dem  Kultlied,  wovon  B ruinier  ausgeht,  an  Alter  über- 
legen^). Dagegen  scheint  das  Übergewicht  des  Gemeinsamen 
über  die  Anrechte  des  einzelnen,  die  autoritäre  Beteiligung  des 
Volkes  ein  notwendiger,  fruchtbarer  Gesichtspunkt.  Schon  Uhland 
hatte  das  hervorgehoben;  John  Meier  stellt  es  in  den  Vordergrund. 
Ein  wesentliches  Merkmal  der  Volkspoesie  ist  die  „Verneinung 
jedes  individuellen  Bechtes  an  dem  in  den  Volksmund  gedrungenen 
Produkt  des  Einzelnen  und  die  durchaus  autoritäre  Stellung  des 
Volkes  gegenüber  Worten  und  Melodie.  Dies  Herrenverhältnis 
des  Volkes  zum  Stoff  ist  eine  notwendige  Voraussetzung  der 
Volkspoesie*),*  auch  für  die  Volkspoesie  des  Priamels.  „Vortrag 
verwandelt  sich  jeden  Augenblick  in  Produktion^)".  Frei  schaltet 
der  Einzelne  mit  dem  volkstümlichen  Priamel,  während  Eosen- 
plüts  künstlerische  Gebilde  oft  sich  bis  auf  die  Gegenwart  un- 
versehrt erhalten  haben,  die  nicht  zu  vermeidende  Verballhornung 
alter  Sprachformen  ausgenommen.  Was  echt  volkstümlich  bei 
Rosenplüt  war,  ging  wieder  am  leichtesten  ins  Volk  über,  wie 
andrerseits  Bosenplüt  der  älteren  volksmäßigen  Gnomik  die 
meisten  Motive  verdankt.  Wo  bestimmte  Verfasser  dichten,  liegt 
die  Sache  am  einfachsten.  Folz  und  die  späteren  Nürnberger 
nähern  sich  wieder  der  Freiheit  volkstümlicher  Poesie. 


*)  Paul  Heyse  a.  a.  0.    S.  184. 

«)  Das  deutsche  Volkslied  S.  28.  35.  36. 

3)  Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus^  S.  315.  Wundt,  Völkerpsychologie  I, 
265.  Daur,  das  deutsche  Volkslied  besonders  des  sechzehnten  Jahrhunderts 
nach  seinen  formelhaften  Elementen  betra^chtet.  Heidelberger  Dissertation 
1902.    S.  30  ff. 

*)John  Meier  II  1.  Dungers  Einwendungen  (Sächsische  Volks- 
kunde S.  233)  schlagen  nicht  durch. 

*)  Vgl.  Heyse  a.  a.  0.  S.  188.  Das  Gleiche  berichtet  u.  vielen 
andern  Max  Buch  von  den  Wotjäken.  Acta  societatis  scientiarum  Fennicae 
12,  548.  554.  Ähnlich  verfährt  lebendige  Sagen tradition.  Jiriczek, 
Deutsche  Heldensagen  1,  17. 


74 

Die  Behandlung  der  Überlieferung:  hat  sich  also  zwischen 
zwei  Extremen  zu  bewegen:  einerseits  sind  die  priamelartigen 
Sprüche  und  Priamel  des  sogenannten  Seifried  Helbling, 
Hugos  von  Trimberg,  Bosenplüts,  Folzens  u.  s.  w.  wie 
alle  Erzeugnisse  der  Individual-Poesie  anzusehen,  andrerseits  ist 
bei  den  Varianten  des  volkstümlichen  Friamels  jedes  Exemplar 
principiell  echt,  und  eine  Erschließung  der  ersten  Form  wird 
stets  etwas  problematisch  bleiben^).  Dennoch  entbindet  uns 
diese  Sachlage  keineswegs  von  der  Pflicht,  historische  Ent- 
wicklungen zu  scheiden  und  womöglich  bis  zu  einer  Urform  vor- 
zudringen^); sie  lehrt  uns  nur  die  Tatsachen  der  Volksdichtung 
in  anderm  Lichte  sehn.  Zwischen  jenen  beiden  Extremen  liegen 
unzählige  Nuancierungen  gegenseitiger  Beeinflussung  von  Individual- 
poesie  und  volkstümlicher  Weiterdichtung. 

Zunächst  ein  Beispiel  dafür,  wie  auch  hier  Volkspoesie  zur 
Individualpoesie  hinstrebt  und  wie  Verfasserfragen  in  der  Über- 
lieferung dieser  Art  behandelt  werden. 

Alte  Sprüche  geißeln  klerikale  Habsucht  und  Bauerntücke; 
nicht  etwa  erst  seit  dem  Beginn  reformatorischer  Bewegungen 
und  seit  dem  Bauernkrieg,  sondern  schon  im  zwölften  Jahrhundert 
beim  ersten  Auftauchen  kunstvollerer  Onomik  in  der  deutschen 
Literatur  erscheint  in  der  Erinnerung  Heinrichs  von  Melk 
ein  Verschen,   in   dem  jene   beiden  Vorwürfe  verbunden  werden. 

Die  phaffen  die  sint  gitic, 
die  gebour  die  sint  nidic^). 

Mit  dem  Verfall  der  Kirche  und  der  Vergrößerung  der  Kluft 
zwischen  Herrn,  Bauer  und  Städter  mehren  sich  die  Stimmen^), 
die  im  Sprichwort  nachklingen^).  Ein  Eendsburger  Sprichwort 
sagt  sogar: 


')  John  Meyer  II  1. 

2)  B  ran  dl  in  den  Forschungen  zur  neueren  Literaturgeschichte.  Fest- 
gabe für  R.  Heinzel.  Weimar  1898  S.  54  fF.  Gummere,  Primitive  poetry 
and  the  bailad.  Modern  Philology  I  1.  Chicago  1903  S.  193  ff.  Brandl, 
Deutsche  Literaturzeitung  24,  3031  f. 

3)  Vers  423  ff. 

*)  Renner  831.  21404.    Florilegium  Gottingense   Nr.  27;    Cum   mare 
siccatur  et  demon  ad  astra  leuatur,  Tunc  primo  laycus  clero  nascetur  amicus. 
*)  Wand  er,  Sprichwörterlexikon  s.  v.  Bauer  und  Pfaffe. 


75 

De  Bur,  de  Osse  ud  de  Preester 
sünd  de  dree  grödsten  Beester*). 

Den  vollkommensten  Ausdruck  findet  diese  Abneigung  gegen 
kirchliche  Habsucht  und  bäuerliche  Unzuverlässigkeit  in  einer  Form 
des  Priamels,  die  sich  äußerlich  des  beliebten  und  sehr  alten 
Mittels  durchgeführten  Reims  bedient  und  die  wirkungsvolle  innere 
Verbindung  aus  dem  biblischen  Satz  von  der  ewigen  Barmherzig- 
keit Oottes  herübernimmt.  Es  ist  bitterste  Satire,  mit  jenen 
beiden  unheiligen  Eigenschaften  Gottes  Barmherzigkeit  zu  ver- 
binden. So  mag  im  vierzehnten  Jahrhundert  das  synthetische 
Friamel  entstanden  sein: 

Gottes  barmherzikeit, 
der  pfaffen  gitekeit, 
und  der  buren  bosheit: 
wert  in  aUe  ewikeit. 

Die  bekannteste  Variante  dieser  Fassung  war  mit  der  Jahres- 
zahl 1418  am  alten  Weißturm tor  in  Straßburg  eingemeißelt,  der 
nach  1870  abgebrochen  ist.     Die  Inschrift  lautete: 

Gottes  bannhertzigkeit, 
Der  pfaffen  grytikeit, 
Und  der  bauren  bosheit : 
DurchgrUndet  niemans  uf  minen  eit'). 

Diese  Fassung  entstand  wahrscheinlich  dadurch,  daß  formale 
Analogie  der  geläufigen  Vorstellung  von  der  unergründlichen 
Barmherzigkeit  einwirkte  ^).    Ohne  Füllsel  gehts  am  Schluß  nicht  ab. 

Es  klingt  ganz  wie  eine  ätiologische  Sage,  wenn  dazu  ein 
Chronist  des  siebzehnten  Jahrhunderts,  Schadens  (1586—1626) 
in  seiner  1870  verbrannten  Chronik  ,ex  relatione  cujusdam 
senioris'  erzählt:  Die  Stiftsherrn  von  St.  Thomä  hätten  den 
Gärtnern  und  Eönigshofer  Bauern  1418  die  übliche  gemeine 
Zech  von  Brot  und  Wein  entziehen  wollen,  obgleich  die  Ernte 
reichlich  ausgefallen.  Darüber  seien  die  Bauern  ergrimmt  und 
hätten  den  Zehnten  auf  dem  Felde  verbrannt.  „Nachdem  aber 
die  Pfaffen  sich  zu  dieser  Zeit  geweigert,  ohngeacht  durch  Gottes 
Barmheitzigkeit  eine   reiche  Ernd  und  Zehent   gefallen,    hat   die 


')  Wander  1,  257,  62;   weit  verbreitet. 

^)  Stob  er,  Sagen  des  Elsasses  IP212.  ,durchgranden'  zu  Kistencr  1217. 

3)  John  Meier  n  2  ff. 


76 


Bosheit  der  Bauern  verursacht,  daß  durch  böse  Buben  der  Zehent, 
so  noch  auf  dem  Felde  lag,  mit  Feuer  angesteckt  und  verderbt 
worden^)." 

Zarncke  gab  den  Spruch  als  von  Sebastian  Brant  ver- 
faßt unter  den  Epigrammata  et  Satyrica  faceta  atque  acuta  ex 
Avtographo  authoris  descripta  in  der  Einleitung  zum  Narrenschiflf 
1854,  mit  dem  Zusatz  J.  Qlasers:  Stehet  zu  Straßburg  unter 
der  weisszen  thurn  Portten  In  einen  stein  gehawen  So  zu 
Dr.  Brandti  Sei.  lebens  Zyt  auff  gerichtt  vnd  von  Im  Dieser 
Eymen  gemacht  worden.  Zarncke  hatte  diese  Abschrift  von 
Glasers  Manuscript  durch  Crecelius  erhalten  (NarrenschifF, 
Einleitung  S.  XXXV).  Dann  wiederholte  den  Spruch  im  Jahre 
1857  Mone  in  seinem  Anzeiger  (1857  S.  397),  August  Stöber 
in  der  Alemannia  1879  (7,  235),  und  Crecelius  in  derselben 
Zeitschrift  im  Jahr  1880  (8,  77).  An  Brants  Verfasserschaft  hatte 
selbst  Crecelius  hier  noch  keinen  Zweifel  ausgesprochen.  Jetzt 
fand  Birlinger,  nachdem  Stöber  wieder  darüber  gehandelt, 
denselben  Spruch  ohne  Brants  Namen  bei  Philipp  Hainhofer 
1613  erwähnt  (Alemannia  10,  166)  und  ließ  dann  durch  Crecelius 
feststellen,    daß    nur   J.  Glaser  Brant   als    Verfasser   angibt^). 


»)  Stöber  S.  213.  Ähnliche  Ätiologie  bei  Zincgräf:  Wander, 
Sprichwörterlexikon  3,  1239. 

')  von  Zincgräfs,  Lehmanns,  Wanders  und  v.  Padb er gs  Fassungen 
kann  hier  abgesehen  werden.  Eine  bemerkenswerte  Variante  Henischs  ist 
in  Mones  Anzeiger  (N.  F.)  14,  273  wieder  abgedruckt:  , Weiber  list,  Gottes 
gnad,  und  der  Bawren  schalkheit  hat  nimmer  kein  ende.'  In  der  Über- 
lieferung Hainhofers  hat  sich  das  spezifische  Straßburgische  ,grit'  ver- 
loren, der  angebliche  Autor  ist  nicht  angegeben:  „Gottes  Barmherzigkait, 
Der  Pfaffen  geitzigkait,  Der  Bawem  Boßhait:  Spricht  niemand  aus,  bei 
meinem  aydt."  Alemannia  10,  166.  Der  Priamelvierzeiler  ist  übrigens  bis 
heute  lebendig,  man  dichtet  ihn  noch  jetzt  improvisierend  fort.  In  einem 
modernen  niederdeutschen  Eoman,  Frans  Essink  von  H.  Landois  F  192, 
läßt  der  Verfasser  einen  Kaplan,  der  eine  Gewerbe-Ausstellung  veranstaltet 
hat,  alles  durch  die  Ausstellung  eingekommene  Geld  selbst  einstreichen  und 
mit  Bezug  darauf  seinen  Helden  sagen: 

Guotts  Barmherzigkeit, 
Buuren  Unbeschuftigkeit, 
Rüen  Riecklichkeit 
ün  Papen  Begierlichkeit: 
Währt  in  alle  Ewigkeit. 


77 


Schon  die  Jahreszahl  sprach  von  vornherein  dagegen.  Daß  der 
Stein  zu  Brants  Zeiten  aufgerichtet  sei,  war  ein  andrer  Irrtum 
Glasers.  Und  aus  der  Beihe  Brantscher  Epigramme  ist  unser 
Vierzeiler  sicher  zu  streichen. 

So  hascht  die  Überlieferung  nach  bedeutenden  Namen,  um 
ihren  Erzeugnissen  eine  Autorität  zu  geben,  deren  sie  nicht  be- 
dürfen. Eine  andre  Art  der  Fiktion  schiebt  ältere  Sprüche 
Luther,  Melanchthon  und  Andren  unter,  weil  diese  sich 
einmal  oder  mit  Vorliebe  ihrer  bedienten.  Oft  stehen  diese 
Fiktionen  in  dem  allerlosesten  Zusammenhange  mit  der  Sache; 
im  Maximilianszimmer  des  Schlosses  Tratzberg  steht  mit  Kreide 
ein  namenloser  Spruch  an  der  Wand  geschrieben,  den  man  darauf 
von  Kaiser  Maximilian  verfaßt  sein  läßt  0*  Im  einzelnen  vollzieht 
sich  auch  hier,  wie  im  Volkslied  und  in  der  Sprache,  die  Ent- 
wicklung durch  Wechselwirkung  von  Analogie  und  Isolierung^). 
Von  der  Entwicklung  des  Volksliedes  unterscheidet  sich  die  des 
meist  nicht  mehr  gesungenen  Priamels  dadurch,  daß  Einwirkung 
der  Melodie  dann  in  Wegfall  kommt.  Trümmer  alter  Priamel 
füllen  einerseits  die  ganze  spätere  gnomische  Literatur,  andrerseits 
bleiben  Motive  bis  auf  die  Gegenwart  lebendig.  Wo  lokale  Über- 
lieferung eine  gewisse  Kontinuität  verbürgt,  läßt  sich  das  Ver- 
fahren am  besten  beobachten,  z.  B.  für  den  Mittelpunkt  Bayerns 
bei  Henisch.  Er  bezeugt  Vierzeiler,  die,  im  fünfzehnten  Jahr- 
hundert Motive  Bosenplütscher  Priamel,  auch  noch  heute  dort 
als  Schnaderhüpfel  gesungen  werden,  wie:  „Wer  hat*ein  frech  Pferd, 
Jung  vnd  wacker^)."    Motivgleichheit  verbindet  folgende  Sprüche. 

Henisch:   Ein  gesunder  starcker  Leib, 
Ein  sch6n  Gottselig  Weib, 
Gut  geschrey  vnd  bar  Gelt: 
Ist  das  best  inn  diser  Welt^). 

Schnaderhüpfel  aus  Unterkärnten : 

An  aufrichtiger  Freund^ 
Und  a  Liedle  zan  sing, 
Und  an  recht  a  treus  Diendle: 
Sein  die  drei  besten  Ding. 

0  Germania  33,  322. 

3)  John  Meier  II  2. 

^  Uhl  S.  830.    Birlingor,  Schwäbische  Volkslieder  S.  107.    Nr.  238. 

*)  Uhl  S.  363. 


78 


Schneid  in  Leib,  Geld  in  Sack, 
Und  a  Sehens  Diandl  af  d'  Nacht, 
Dö  drei  guetn  Ding 
Kann  man  selten  zsammbring  ^). 

Das  frische  Naturkind  der  Alpen  ist  in  die  Stadt  verpflanzt, 
wo  Schulmeister  und  Spießbürger  es  trübselig  ehrbar  zugestutzt 
haben. 

Besser  hat  sich  ein  andrer  Improvisations- Vierzeiler  in  der 
Überlieferung  des  siebzehnten  Jahrhunderts  seines  Leben$  gewehrt: 

Wer  an  Apfel  schält  und  er  ißt  ihn  nit, 
Wer  a  Diendle  Habt  und  er  kußt  se  nit, 
Wer  ins  Wirtshaus  geht  und  trinkt  kan  Wein: 
Mueß  a  rechter  Batzenlippel  sein'). 

Den  Typus  dieses  Schnaderhüpfels  erläutern   die  Varianten: 

Wer  Epfel  kaft  und  kost  se  net: 
wer  a  Madel  freit,  und  probiert  se  net: 
dös  muß  a  rechter  Dummer  sein, 
der  sieht  dös  Ding  net  ein  3). 

Im  Lechtal  bei  Brixlegg  lautet  ein  Kinderreim: 

Wer  an  Äpfel  stiehlt  und  frißtn  nit. 

Wer  a  Dianl  liebt  und  küßt  sie  nit, 

Wer  ins  Wirtshaus  geht  und  trinkt  koan  Wein: 

Mueß  a  rechter  PatzenlUppel  sein*). 

Verkürzt  wird  der  Vierzeiler  in  Westpreußen. 

.     Wer  Äpfel  schält  und  sie  nicht  ißt, 
Wer  Mädchen  liebt  und  sie  nicht   küßt: 
Der  muß  ein  wahrer  Schafskopf  sein^). 

Schon  im  Liber  Vagatorum  Kap.  13  ist  diese  Verkürzung 
des  Motivs  belegbar. 

Welcher  Breger  kein  Erlatin  hat, 
Die  nicht  foppen  und  ferben  gat, 
Eundem  erchlagen  Sie  mit  ein  schuch^). 


>)  Pogatschnigg  und  Herrmann  P,  384  f.    Nr.  1799.  1800. 

2)  Pogatschnigg  und  Herrmann  P,  386.  Nr.  1806. 

3)  Dunger,   Run  das    S.  76.   Nr.  411.     Marriage,   Volkslieder    aus 
der  badischen  Pfalz  S.  333.   Nr.  237.    Nachweise  S.  334. 

*)  Zeitschrift  für  österreichische  Volkskunde  2,  104.    Nr.  145. 
5)  Treichel,  Volkslieder  und  Volksreime  S.  142.    Nr.  18. 
ß)  Av6-Lallemant,  Das  deutsche  Gaunertum  1,  208. 


79 


Verwandt  ist  die  Fassung: 

Der  Bua,  der  sei  Diendle 
Ban  Tanzn  nit  halst, 
Kimmt  mer  vor,  wie  die  Bäurin, 
Dö  die  Nudel  nit  schmalzt^). 

Auch  dies  Motiv  kehrt  als  Schlager  im  Fastnachtsspiel  wieder^); 
die  Überlieferung  des  siebzehnten  Jahrhunderts  kennt  es  in  den 
Varianten :  ^ 

Wer  ein  appfel  schalet  vnd  den  nicht  ysset, 
bey  jungfrawn  sitzt  vnd  die  nicht  küsset, 
ist  beim  wein,  vnd  nicht  schenckt  ein: 
der  mus  ein  ein  faltiger  tropff  sayn. 

Wer  einen  Apfel  schält  und  ihn  darnach  nicht  isset. 

Auch  bei  der  Jungfer  sitzt  und  sie  nicht  kecklich  küsset. 

Hat  bei  sich  eine  Kann  voll  guten  süßen  Wein, 

Und  schenkt  nicht,  wann  ihn  dürst,  von  selben  tapfer  ein. 

Der  mag  mir  wohl  ein  Tropf  und  fauler  Kerle  sein'). 

Er  müßte  sein  ein  rechter  Schelm, 

Und  war  er  auch  von  Schild  und  Helm, 

Der  war  bei  schönen  Jumpfem  und  gutem  Wein, 

Und  wollt  dann  noch  sehr  traurig  sein^). 

Bei  Zincgräf  heißt   der  Verspottete  ein  schlechter  Joseph, 
oder  der  Sammler  gibt  dem  Vierzeiler  die  Überschrift  , Schlecht 
vnd  einfältige   leute^    Lehmann   nennt    den  Toren  einen   faulen 
Esel^).     Die    drei   letzten    Fassungen    folgen    sonst    der    Über- 
lieferung Gruters. 

Henisch  arbeitet  stark  mit  Bosenplütschem  Dichtungs- 
gut, ohne  älteres  und  jüngeres  volkstümliches  Material  zu  ver- 
schmähen,  wie  es  die  Überlieferung  bot.    Ein  Beispiel  für  viele. 

Beichten  ohne  rew, 

liebhaben  ohne  trew, 

Almosen  geben  zum  gesicht : 

Die  werck  taugen  aUe  nicht. 

Vnd  sind  ftir  Gott  so  angenem, 

Als  wenn  ein  Saw  ins  Juden  Hauß  kem^). 

^)  von  Hörmann  Schnaderhüpfeln  aus  den  Alpen^    S.  292.    Nr.  811. 
^  Vgl.  unten;    Göttinger  Beiträge  2,  60.    Nr  27. 
^  Die  erste  Fassung  aus  Gruterus,  die  zweite  aus  einem  Stammbuch 
von  1647  bei  Sandvoß  85,  581. 
*)  Germania  19,  83. 
*)  ühl  S.  384.  392.  428. 
6)  Uhl  S.  330.    Reimbüchlein  S.  XVin.    Nr.  36. 


80 

Es  beruht  auf  Zerfaserung  alter  Priamel  und  Verfitzung*) 
heterogener  Bestandteile;  auch  hier  bestätigt  sich,  daß  Anfänge 
sich  am  längsten  erhalten;  individuelle  Situation  wird  verwischt, 
feinere  Pointierung  aufgehoben;  der  Verwässerung  dient  ein  ganz 
allgemein  gehaltener  Abschluß.  Der  Anfang  ist  ein  Priamel  des 
vierzehnten  Jahrhunderts:  ,Minne  ane  trüwe  und  bihte  ane  rüwe^^j, 
aber  in  der  ümkehrung,  die  ihm  Varianten  des  fünfzehnten  Jahr- 
hunderts, mnd.  und  mnl.  Fassungen  geben  ^).  Vers  3,  5,  6  hat 
Hans  Bosenplüt  beigesteuert  aus  einem  12  zeiligen  Priamel^). 
Die  trefflich  humoristische  Pointe  fiel.  An  die  Stelle  der  be- 
schorenen  Sau,  die  sicher  manchmal  schlechter  Witz  in  die  bis 
zur  Mitte  des  vierzehnten  Jahrhunderts  zu  allgemeinem  Ärger 
mitten  am  Markt  stehende  Synagoge^),  die  , Judenschule',  getrieben 
hatte,  tritt  die  Sau  im  Judenhaus.  Der  Vierzeiler  erhält  einen 
lahmen  Schluß,  ohne  daß  man  auf  den  Witz  verzichtete,  der 
konsequent  hätte  fallen  müssen. 

Über  solche  allgemeine,  nur  der  vorläufigen  Orientierung 
dienende  Andeutungen  lassen  sich  diese  Bemerkungen  hier  nicht 
gut  hinausführen. 


»)  John  Meier  II  3. 

2)  Graf f 8  Diutisca  1,  325.     Mones  Anz.  8,  54.5. 

3)  Wander    1,  297.    Ebenso  Zincgräf  und  Schottel:    ühl  S.  393. 
434.     Die  älteren  Fassungen  siehe  unten. 

*)  Keller,  Schwanke  Nr.  36. 

^)  Reicke,  Geschichte  der  Stadt  Nürnberg  S.  225  f. 


IV. 

Weltliteratur  und  Priamel. 

Das  über  die  Klaft  der  Nationen  hinweg- 
gerichtete  Ange  erfaßt  nur  allznleiclit  der 
Schwindel,  und  man  vergißt  den  wahren  und 
hauptsächlichsten  Grandsatz  aller  historischen 
Kritik,  daß  die  einzelne  historische  Erscheinung 
zunächst  im  Kreise  der  Nation,  der  sie  angehört, 
geprüft  und  erklärt  werden  soll  und  erst  das 
Resultat  dieser  Forschung  als  Grandlage  der 
internationalen  dienen  darf.  Mommsen. 

1.  Allgemeine  Bedenken  gegen  bisher  geübte  Vergleichung.    2.  Ein  Beispiel. 
3.  Indisches.      4.  Biblisches.     5.  Mittellateinisches.      6.  Finnisches.    7.  Ro- 
manisches.   8.  Folgerungen. 

1. 

Nicht  nur  in  der  sogenannten  Stoflfgeschichte,  auch  bei  der 
Untersuchung  der  poetischen  Formen  widmet  man  den  inter- 
nationalen Zusammenhängen  besondere  Aufmerksamkeit.  Beim 
Ohasel,  beim  Sonett,  beim  Madrigal,  bei  gelehrten  Entlehnungen 
versteht  sich  das  von  selbst,  und  der  Initiative  des  Einzelnen 
pflegt  überhaupt  vorsichtige  Überlegung  in  der  Spruchdichtung 
und  in  der  Improvisation  möglichst  wenig  zuzutrauen^).  Die 
Beleuchtung  von  Beceptionen  und  Benaissancen  ist  eine  Haupt- 
aufgabe der  geschichtlichen  Wissenschaft  geworden;  je  mehr  man 
die  Geschichte  der  Menschheit  studiert  und  vertieft,  meint 
Bergmann^),  desto  mehr  läßt  sich  erkennen,  daß  darin  Nach- 
ahmung   häufiger    ist    als    Erfindung    oder    originale    Initiative. 


*)  Roethe,  Reinmar  von  Zweter  S.  247.  von  Waldberg,  Die  deutsche 
Renaissance-Lyrik  S.  2.  S  o  c  i  n ,  Diwan  aus  Central- Arabien  3, 48.  G  u m  m  e  r  e , 
Beginnings  of  Poetry  S.  352. 

*)  lia  priamele  S.  8. 
Euling,  Priamel  6 


82 


Aber  es  gibt  auch  Fälle,  in  denen  Goethe  recht  behält,  wenn  er 
von  den  Deutschen  einmal  sagt,  keine  Nation  sei  geeigneter, 
sich  aus  .sich  selbst  zu  entwickeln. 

Der  erste  Geschichtsschreiber  des  Priamels  hat  bereits  eine 
bis  in  alle  Einzelheiten  wohlausgebaute  Theorie  aufgestellt,  die 
an  Zuversichtlichkeit  in  der  Tat  nichts  zu  wünschen  übrig  läßt. 
Höien  wir  Bergmanns  Deduktionen. 

Was  er  ,1a  priamfele'  nennt,  ist,  wie  das  Sonett,  die  Canzone, 
das  Bondeau  von  einem  bestimmten  Volke  erfunden  und  von 
andern  nachgeahmt.  Die  Inder  erfanden  sie,  wie  nach  Zesens 
Meinung  die  Ebräer  das  Madrigal,  Indien  vermittelte  sie  Tibet  und 
China,  die  Chaldäer  entlehnten  und  überlieferten  die  Gattung 
den  Hebräern,  diese  gaben  sie  durch  die  Bibel  den  Deutschen, 
die  deutsche  Literatur  verpflanzte  sie  nach  Dänemark,  Italien 
und  Frankreich,  die  Dänen  brachten  sie  auch  nach  Island;  nur 
die  Gelten  können  die  Triaden  erfunden  haben  ^). 

Schade,  daß  von  diesem  luftigen  Hypothesengebäude  bei 
näherer  Prüfung  nichts  Stand  hält  und  alles  vor  genauerer  Be- 
trachtung sich  in  farbigen  Nebel  auflöst.  Bergmann  hat  den 
Namen  Priamel  in  der  Literatur  flüchtig  aufgelesen,  sich  ein 
willkürliches  Bild  des  Gegenstandes  gemacht,  natürlich  ohne 
bloße  Stilformen  und  selbständige  poetische  Gattung  zu  unter- 
scheiden, und  dann  diese  seine  Vorstellungen  von  ,der  Priamel' 
der  Weltliteratur  aufgezwungen.  Nicht  einmal  die  nötigste 
Orientierung  kann  man  Dem  zugestehen,  der  sich  nicht  ver- 
gegenwärtigt hat,  in  welcher  Epoche  überhaupt  diese  Bezeichnung 
entstanden  ist^),  und  was  sie  in  dem  bestimmten  einzelnen  Fall 
bezeichnet:  der  unter  anderem  meint,  die  Meistersänger  hätten 
,die  Priamel'  in  die  italienische  Literatur  verpflanzt^).  Die 
Wichtigkeit  des  Zusammenhangs  deutscher  Dichtung  mit  Italien 
ist  sicher  nicht  zu  unterschätzen,  aber  er  war  ganz  andrer  Art*). 
Die  in  Italien  schon  zu  Anfang  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
auftretenden    Meister    volkstümlicher    Satire    und    volkstümlichen 


)  Bergmann  S.  8.  16.  25.  27.  32.  34     Des  Hehren  Sprüche  S.  197  ff. 

2)  Bergmann  S.  28. 

3)  Bergmann  S.  32. 

*)  Wackernagels    Versuch,    Formen    der    italienischen    Lyrik    aus 
der  deutschen  abzuleiten,  halte  ich  für  widerlegt. 


83 

Humors  hätten,  theoretisch  wenigstens,  viel  eher  anf  deutsche 
Dichtung  einwirken  können.  Für  eine  Behauptung,  die  Deutschen 
hätten  das  Priamel  oder  die  Prianiel  durch  die  Bibel  von  den 
Hebräern  empfangen,  citiert  Bergmann  Wilhelm  Grimm^)  als 
Zeugen,  der  das  nie  gesagt  hat,  sondern  nur  zwei  hier  in  Betracht 
kommende  Freidankstellen  aus  der  Bibel  belegt  Bergmanns 
Quelle  für  seine  Kenntnis  des  deutschen  Priamels  in  jener  Unter- 
suchung war  eine  alte  Auflage  der  Literaturgeschichte  von  Kurz. 
Für  alle  übrigen  Behauptungen  ist  er  den  Beweis  schuldig  ge- 
blieben und  mußte  ihn  schuldig  bleiben.  Er  wirft  aller  Art 
Sentenzenliteratur  mit  dem  Priamel  zusammen;  ihm  genügt  jeder 
leise  Anklang  an  die  Anaphora,  jede  prosaische  Aufzählung,  um 
alsbald  die  Gattung  des  Priamels  als  vorhanden  zu  konstatieren. 

Folgerichtig  müßten  dann  aber  Bergmann  und  die  in  seinen 
Spuren  Wandelnden  das  Priamel  aus  dem  ßigveda  herleiten. 
,  Priameln^  nach  Bergmanns  Begriff  finden  sich  auch  da  genug;  z.  B. 

Wer  auf  Erwerb  gereist  war,  kehret  wieder, 
und  aller  Wandrer  Sehnen  strebt  nach  Hause, 
Man  läßt,  was  halb  getan,  um  heim  zu  gehen: 
Das  ist  des  himmlischen  Bewegers  Ordnung^). 


Oder: 


Die  Pflugschar  schafft  das  Brot,  wenn  man  sie  ziehet, 
wer  seine  Füße  regt,  der  'kommt  zum  Ziele; 
Dem  Brahman  bringt  das  Reden  mehr  als  Schweigen, 
ein  Freund,  der  gibt,  ist  besser  als  ein  karger^). 

Der  Einfuß  schreitet  schneller  als  der  Zweifuß, 
der  Zweifuß  überholt  im  Lauf  den  Dreifuß, 
Der  Vierfuß  läuft  dem  Zweifuß  auf  der  Ferse, 
er  schaut  und  steht,  wo  fünfe  sich  versammeln^}. 

Zwei  gleiche  Hände  schaffen  nicht  das  gleiche, 
und  Schwesterkühe  melken  nicht  das  gleiche, 
Ein  Zwilling  gleicht  dem  andern  nicht  an  Stärke, 
und  zwei  Geschwister  schenken  nicht  das  gleiche  ^). 


*)  Bergmann  S.  27.  Grimm  hat  Freidank  S.  CXXII  im  Gegenteil 
,die  PriameP  für  alt  und  volksmäßig  erklärt  (Kap.  14.  Äußere  Form). 
Gegen  Bergmann  Wendeler  S.  35. 

'-*)  Geldner  und  Kaegi,  Siebenzig  Lieder  des  Rigveda  S.  47;  vgl. 
Typus  A  des  Priamelvierzeilers. 

»)  A.  a.  0.  S.  156,  7;        *)  S.  156,  8.        ß)  S.  156,  9. 

6* 


84 

Mit  etwas  literarhistorischer  Fantasie  und  hinreichender 
Fähigkeit  ausgestattet,  alle  literarischen  Gattungen  durcheinander 
zu  wirbeln,  könnte  man  von  solchen  Voraussetzungen  aus  das 
Priamel  als  hieratischen  Ursprungs  erklären;  denn  mehrere 
hieratische  Lieder  des  Bigveda  sind  durchgehends  in  ,priamel4)aften 
Strophen  gebaut;  z.  B.  das  Lied  an  Indra,  das  nach  Art  der 
Definitionspoesie  *)  die  Eigenschaften  des  Gottes  aufzählt  und  jede 
Strophe  zusammenfassend  mit  den  Worten:  „das  ist,  ihr  Völker, 
Indra"  schließt^).  Ähnlich  ist  der  zweite  Teil  des  Liedes  an 
Soma^)  und  das  Lied  an  die  Gewässer*)  angelegt.  Aber  mit 
dem  Priamel  sind  solche  Strophen  ebenso  verwandt,  wie  die 
sogenannte  Nürnberger  Madonna  mit  der  Göttin  der  Schönheit 
aus  der  Pagode  zu  Bangalor. 

Tatsächlich  haben  wir  in  den  Liedern  an  Indra  und  Soma 
Ausläufer  der  alten  Chorpoesie,  in  der  ein  Urelement  poetischer 
Technik,  Wiederholung,  die  wichtigste  Bolle  spielte^).  Hier 
liegen  auch  die  Wurzeln  der  kirchlichen  Litanei.  Und  jene  oben 
aus  dem  Bigveda  ausgelesenen  Vierzeiler  beweisen  nichts  anderes, 
als  daß  auch  die  älteste  indische  Poesie  ebenso  wie  alle  ver- 
wandten Literaturen  schon  die  einer  jeden  entwickelten  Sprache 
unentbehrlichen  Formen  der  Aufzählung,  der  Anapher,  des 
Parallelismus,  der  Klimax  u.  s.  w.  gekannt  hat^),  da  jedes  Volk 
Analyse  und  Synthese  des  Urteils  übt.  Selbst  rhetorische  Figuren, 
die  man  stilistischem  Baffinement  zuzuschreiben  pflegt,  finden 
sich  in  der  primitivsten  Literatur  von  Naturvölkern,  z.  B.  die 
Epiphora.     Im   samojedischen  Märchen    heißt    es:    Er    sinkt    auf 


^)  Meyer,  Altgermanische  Poesie  S.  369. 

2)  Geldner  und  Kaegi  S.  58. 

3)  A.  a.  0.  S.  111. 
*)  A.  a.  0.  S.  125. 

^)  von  Biedermann,  Goethe-Forschungen  3,  239  ff.  255  ff.  Böckel, 
Deutsche  Volkslieder  aus  Oberhessen  S.  CX  f.  Bücher,  Arbeit  und  Rhyth- 
mus^i  S.  44ff.  141.  303  ff.  Bruchmann,  Poetik  S.  17  ff.  Meyer,  Die  alt- 
germanische Poesie  S.  345.  354  f.  Zu  syrischen  ,Priameln'  (Uhl,  Die 
deutsche  Priamel  S.  173):  Grimme  in  den  OoUectanea  Priburgensia  2,  12  f. 
10,  62.    (Häufung). 

6)  Kaegi,  Der  Rigveda  (Leipzig  18812)  g.  33,  153  ff. 


85 


den  Schnee;   dort  liegt  er,    liegt  er  lange,    lange;    er  steht   auf, 
fängt  an  zu  gehen,  geht,  geht  u.  s.  w.  ^). 

Dem  ganzen  Wust  der  sogenannten  Priameln  des  Auslands 
liegt  meist  nur  diese  allgemeine  Ähnlichkeit  zu  Qrunde.  Daß 
solche  Verwandtschaft  zwischen  fast  allen  sprachlichen  Erzeugnissen 
des  Erdkreises  besteht,  hat  man  immer  gewußt;  der  Vierzeiler 
der  unliterarisch -volksmäßigen  Improvisation  liefert  auch  ein 
Beispiel  weitverbreiteter  gemeinsamer  Formen;  aber  was  sich 
auf  solchen  Grundlagen  Literarisches  bei  einzelnen  Völkern  ent- 
wickelte, bedarf  stets  zunächst  gesonderter  Untersuchung,  und 
dabei  gibt  die  innere  Form,  nicht  allein  die  äußere  den  Ausschlag. 
Scherer  meinte^),  nur  die  Form  der  Häufung  im  Sprichwort 
und  der  Gnome  lasse  sich  auch  sonst  außerhalb  der  germanischen 
Poesie  nachweisen.  Wir  können  den  fremden  Literaturen  viel 
mehr  zugestehen,  und  sind  doch  noch  weit  von  der  Konstatierung 
eines  Priamels  als  Gattung  entfernt.  Von  einer  Kombination  jener 
Stilformen  in  selbständiger  Form  und  Verwendung  dieser  Form 
in  einer  Gattung  epigrammatischer  Improvisations-Dichtung  zu 
besonderem  künstlerischen  Zweck,  also  von  Vorhandensein  des 
Priamels,  ist  kein  Beweis  erbracht.  Wenn  durch  absichtliche 
Zusammenstellungen  ähnlich  gebauter  Sprüche  in  der  Über- 
setzung^) der  trügerische  Eindruck  hervorgerufen  wird,  als  habe 
man  es  mit  einer  wirklich  bewußt  ausgebildeten  Gattung  zu  tun, 
so  genügt  meist  ein  Blick  in  die  Quellen  solcher  Centonen,  um 
zu  erkennen,  daß  dieser  Eindruck  künstlich  gemacht  und  in  dem 
ursprünglichen  Zusammenhange  nicht  begründet  ist.  Notorisch 
ist  die  ungeheure  üngleichartigkeit  in  Herkunft,  Zeit  und  Charak- 
ter der  von  Böhtlingk  gesammelten  Sprüche.  Die  indischen 
Sentenzen  nützen  der  Priamelforschung  methodisch  vor  der  Hand 
so  wenig,  wie  die  indischen  Dramen  der  Untersuchung  über 
Nürnberger  Fastnachtspiele.     Ein  zu  bestimmendes  Objekt  durch 


')  Bruchmann,  Poetik  S.  73.  Zur  Beurteilung  der  Wiederholungen: 
V.  Biedermann  a.  a.  0.     Comparetti,  Der  Kalewala  S.  38. 

^)  Deutsche  Studien  1,  346.  Besonnen  Meyer,  Die  altgerm.  Poesie 
S.  526. 

^)  Zur  Kritik  von  Übersetzungen  vergleiche  den  von  Biedermann 
3,245  f.  mitgeteilten  Fall.  Traduttore  traditore.  Leopold  vonSchröder, 
Indiens  Literatur  und  Cultur  S.  396  ff.  667  ff.    Kaegi,  Der  Rigveda  S.  113  ff. 


86 


ein  Unbekanntes  zu  erläutern,  mehrt  die  Schwierigkeiten,  anstatt 
sie  zu  heben. 

Ohne  Kenntnis  der  deutschen  Priameldichtung  ist  noch 
Niemand  auf  den  Gedanken  gekommen,  in  außerdeutschen  Spruch- 
formen die  angeblich  gleichen  als  besondere  Gattung  auszuscheiden ; 
also  ist  diese  Klassifikation  nicht  aus  der  Natur  und  dem  Charakter 
der  betreffenden  ausländischen  Literaturerzeugnisse  erwachsen, 
sondern  künstlich  von  außen  her  an  sie  herangebracht.  Sie  mit 
dem  deutschen  Priamel  zu  vergleichen,  ist  höchstens  zu  Gunsten 
der  literaturhistorischen  Analogie  erlaubt,  ebenso,  wie  wenn  man 
etwa  Christian  Bouter  den  deutschen  Cervantes  nennen  wollte. 
Auf  etwas  wirklich  dem  deutschen  Priamel  recht  Ähnliches,  z.  B. 
die  indischen  Vierzeiler  des  Häla,  hinzuweisen,  haben  andrerseits 
wieder  die  Vergleicher  zu  ihrem  Unglück  völlig  vergessen. 

Werfen  wir  auf  den  ungefügen  Schutt  beigebrachter  Parallelen 
nur  einen  flüchtigen  Blick,  so  ergibt  sich,  daß  die  Technik  der 
zum  Beweis  gegebenen  Beispiele  auf  entwicklungsgeschichtlich 
verschiedener  Stufe  steht,  ohne  daß  die  Vergleicher  es  bemerken. 
Wir  wollen  davon  absehen,  daß  zum  Teil  Prosa  und  Poesie, 
Gnome,  Sentenz,  Bätsei,  Quodlibet  und  Priamel  zusammengeworfen 
werden,  und  nur  hervorheben,  wie  Parallelismus  an  und  für 
sich  entwicklungsgeschichtlich  grundverschiedene  Formen  hat. 
Zum  Parallelismus  führt  in  Arbeitsgesängen  die  Wiederholung 
des  Arbeitsprozesses,  beim  Tanzlied  das  Musikalische,  die  Wieder- 
holung der  Tanzfiguren,  bei  den  Finnen  der  improvisierende 
Vortrag  durch  zwei  verschiedene  Sänger,  in  den  litauischen  Dainos 
und  der  Volkspoesie  anderer  Nationen  die  Wiederholung  des 
Chores  oder  der  Mitsänger,  bei  der  alten  romanischen  Ballade 
der  Befrain,  bei  manchen  Formen  der  Volksdichtung  Differenzierung, 
bei  andern  psychologischer  Mechanismus.  Unter  diesen  Formen 
des  Parallelismus  nimmt  der  des  Priamels,  wie  Kapitel  VI  ergibt, 
als  durch  Improvisation  entstanden,  eine  eigene  Stellung  ein. 
Der  oft  hervorgehobene  Parallelismus  in  germanischer^)  und 
westasiatischer  Dichtung^)  ist  nicht  ein  und  dasselbe;  dort  führt 


')  Meyer,  Die  altgermanische  Poesie  S.  328. 

*)  Bruchmann,  Poetik  S.  35  ff.  38.  von  Biedermann  3,  244  ff. 
D.  H.  Müller,  Die  Propheten.  Wien  1896.  S.  191  ff.  Döller,  Rhythmus, 
Metrik   und  Strophik   in   der  bihlisch-hehräischen  Poesie.    Paderborn  1899. 


87 


er  zur  Strophenbildung,  hier  ersetzt  er  sie,  wenn  auch  Spuren 
der  Strophenbildung  nicht  ausgeschlossen  sind.  Ebenso  sind 
nicht  alle  Formen  der  Wiederholung  und  Häufung  identisch. 
Es  ist  doch  nur  Spiel  mit  Worten  und  Begriffen,  Formen  der 
Wiederholung  aus  slavischer  Literatur,  über  die  Miklosich^) 
meisterhaft  gehandelt  hat,  als  Beispiele  anaphorischer  Priamel  auszu- 
geben^). Aus  unklar  gemengtem  Material  läßt  sich  nimmermehr 
eine  klare  Erkenntnis  gewinnen^). 

Selbst  wenn  man  behaupten  wollte,  das  deutsche  Priamel 
hätte  nur  seine  Grundform  der  indischen  Gnomik  entlehnt,  so 
widerspricht  dem  die  Beobachtung  der  Ubiquität  jener  Elemente 
in  fast  allen  Sprachen  und  Literaturen. 

Eine  andere  Frage  bleibt  es,  ob  auch  auf  dem  Gebiet  der 
Gnomik  wandernde  Stoffe  anzunehmen  sind.  Bisher  schwebt 
die  These  vom  Übergang  indischer  Sprüche  ins  Ghaldäische  noch 
völlig  in  der  Luft.  An  und  für  sich  ist  der  Übergang  ja  möglich, 
aber  um  eine  ganze  Theorie  darauf  zu  stützen,  müßte  man  doch 
ein  einigermaßen  genügendes  Material  haben.  Das  eine  oder  andre 
Beispiel  genügte  noch  nicht.  Daß  biblische  Sprüche  mit  der 
christlichen  Lehre  in  die  Literaturen  des  Abendlandes  übergingen, 
ist  selbstverständlich;  Priamel  aber  nicht,  weil  die  biblische 
Literatur,  wie  sich  zeigen  wird,  eben  selbst  die  Gattung  nicht 
gekannt.  Natürlich  muß  man  unter  Priamel  nicht  jede  witzige 
Sentenz  von  ein  paar  Worten  oder  jeden  beliebigen  Satz  ver- 
stehen, der  ein  paar  parallele  Bestimmungen  besitzt.  Ge- 
legentliche Aufzählungen,  Triaden,  Vergleiche  u.  s.  w.  können 
auch  noch  keine  selbständige  Priamel- Gattung  ausmachen;  Herder, 
auf  den  man  sich  unvorsichtig  berufen  hat,  behauptete  mit  Becht 
nur,  daß  in  den  Sprüchen  Salomons  und  im  Sirach  schon  der 
Keim  der  Priamel  sei^).    Man  kann  sich   dafür  ebenso   gut  auf 


S.  97.    Zum  Unterschied   des  Parallclismus    der  Form  und  des  Gedankens: 
Norden,  Kunstprosa  2,  816  ff. 

*)  in  den  Denkschriften  der  Wiener  Akademie  Bd.  38. 

«)  Uhl,  Die  deutsche  Priamel  S.  186  f. 

^)  Grosse,  Die  Anfänge  der  Kunst  S.  42. 

*)  Suphan  16,  228.  Wenn  Herder  hinzusetzt;  , woher  ihre  Form 
auch  genommen  scheint',  so  irrt  er  hier,  wie  überhaupt  in  der  Frage  der 
Priamelform. 


88 


den  Bigveda  als  auf  das  Chinesische  berufen.  Von  einer  wissen- 
schaftlichen vergleichenden  Behandlung  der  Gnomik  verschiedener 
Literaturen  sind  wir  trotz  der  gelegentlichen  Beiträge  von  Zell, 
Imanuel  Bekker,  B.  Köhler,  Kaegi,  Suringar,  Zacher, 
u.  A.  noch  weit  entfernt;  die  meisten  bisherigen  Versuche  bewegen 
sich  innerhalb  der  Grenzen  eines  bösen  Dilettantismus^).  „Noch 
liegt  nicht  einmal  das  zureichende  Material  sicher  und  gesichtet 
vor,  soviel  Versuche  zu  Sammlungen,  bisweilen  von  kolossalem 
Umfange  wie  W anders  gigantische  Arbeit  für  Deutschland,  wir 
auch  weiterhin  bei  den  einzelnen  Nationalliteraturen  zu  ver- 
zeichnen haben  werden^)."  Das  gilt  noch  jetzt.  Die  heutige 
Überschätzung^)  Wanders  zeigt,  wie  weit  wir  noch  von  frucht- 
bringender Arbeit  entfernt  sind*).  Es  ist  traurig,  daß  diese 
,gigantische',  aber  kritiklose  Lebensarbeit  des  rastlosen  Mannes 
mehr  Schaden  als  Nutzen  zu  stiften  scheint;  ein  ungeheurer 
Teil  der  vermeintlichen  Sprichwörter  entpuppt  sich  als  heterogenes 
Material:  da  stehen  neben  wirklichen  Sprichwörtern  selbstgemachte, 
Worterklärungen ,  Bätsei,  Schnaderhüpfel,  Zaubersprüche,  Segen, 
Inschriften,  Kindersprüche,  Kettensprüche,  alliterierende  Formeln, 
Citate,  Kalenderverse,  Auszüge  aus  Witzblättern,  Kalauer,  Stamm- 
bucheinträge, Liederverse,  Anekdoten,  ündeutsches  u.  s.  w.  u.  s.  w. 


*)  Nicht  alle  so  schlimm  wie  die  Histoire  generale  des  proverbes, 
adages,  sentences,  apophtegmes,  derives  des  moeurs,  des  usages,  de  Fesprit 
et  de  la  morale  des  peuples  anciens  et  modernes,  accompagnee  de  remarques 
critiques,  d'anecdotes,  et  suivie  d'une  notice  biographic  sur  les  poetes  usw. 
von  dem  Chevalier  de  la  legion-d'honneur  M.  C.  de  Mery,  Paris  1828,  in 
3  Bänden.  Im  2.  werden  auch  die  deutschen  Sprichwörter  behandelt.  Einige 
Kost-Proben:  Nr.  13:  „Eichen  Lob  stinkt;"  oder  Nr.  11:  „Müßigang  ist 
des  Tunfels  Euhebank;"  oder,  um  die  Höhe  der  hier  geübten  Völker- 
psychologie zu  chai-akterisieren :  S.  151  über  Deutschland  und  Wien:  „Le 
combat  du  taureau  est  le  spectacle  favori  du  peuple."  Erst  seit  1831  wird 
deutsche  Literatur  gründlicher  in  Frankreich  bekannt.  Rössel,  Histoire 
des  relations  literaires  entre  la  France  et  l'Allemagne.    Paris  1897  S.  1G9  ff. 

«)  Gosche,  Archiv  II  277  ff. 

^)  Von  andern  zu  schweigen,  nennt  Maaß  in  einer  Abhandlung  über 
Allegorie  und  Metapher  im  deutschen  Sprichwort  (Dresdener  Gymnasial- 
programm 1891)  S.  2  W anders  Buch  eine  nationale  Edeltruhe. 

*)  „Wenn  irgendwo  in  der  Volkskunde,  so  ist  in  der  Parömiologie  die 
monographische  Behandlung  die  Voraussetzung  für  jeden  Fortschritt," 
Friedrich  S.  Krauss,  Romanische  Forschungen  16,  1,    S.  232, 


89 

alles  in  wirrem  DurcheinaDder.  Übertroifen  werden  wird  Wand  er 
wahrscheinlich  nur  noch  von  Franz  Freiherrn  von  Lipper- 
heide^j. 

So  wäre  es  verfrüht,  zu  vergleichen,  was  man  noch  nicht 
kennt.  Für  das  Deutsche  ist  liier  wahrlich  noch  kein  Bedürfnis 
nach  Erweiterung  der  wissenschaftlichen  Ziele  vorhanden,  da  die 
nächsten,  die  Erkenntnis  der  Grundlagen  und  der  einzelnen  Zweige 
der  Gnomik,  noch  nicht  erreicht  sind.  Nur  Arbeit  von  innen 
heraus  kann  fördern.  Wenn  es  gelingt,  das  Wesen  des  Priamels 
aus  seiner  Entstehung  und  die  Entwicklung  seiner  Form  aus 
seinem  Wesen  zu  erklären,  dann  braucht  man  zunächst  Fremdes 
nicht  heranzuziehen.  Das  allen  Literaturen  Gemeinsame  liegt 
ofb  zu  weit  zurück,  um  im  einzelnen  Ergebnisse  zu  liefern. 

Dazu  kommen  besondere  Eigenschaften  der  gnomiscben  Lite- 
ratur^ welche  die  vergleichende  Untersuchung  erschweren.  Die 
volksmäßige  Gnome  ist  zu  sehr  das  Erzeugnis  ganz  bestimmter 
Bedingungen,  als  daß  sie  in  der  Begel  international  werden 
könnte.  Sie  prägt  häufig  am  besten  den  nationalen  Charakter 
in  kürzester  Form  aus.  Deshalb  zitiert  man  ein  fremdes  Sprich- 
wort als  fremdes,  aber  modelt  es  im  allgemeinen  nicht  um. 
Habent  hoc  peculiare  pleraque  proverbia,  ut  in  ea  lingua  sonare 
postulent,  in  qua  nata  sunt:  quod  si  in  alienum  sermonem 
demigrarint,  multum  gratiae  decedat:  meint  Erasmus  und  ver- 
gleicht sie  mit  den  Weinen,  die  an  der  Quelle  getrunken  werden 
müssen^).  In  der  Volkspoesie  kommt  nach  Hegel  die  mannig- 
faltige Besonderheit  der  Nationalitäten  zum  Vorschein*).  Die 
germanische  Gnomik  beruht  auf  einer  Gegenständlichkeit  des 
Denkens*),  wie  sie  in  gleicher  Vollkommenheit  nur  in  Goethes 
Vorstellungsart  zur  Erscheinung  gelangt  ist:    der  kürzeste  Weg 


*)  Deutsche  Literatur zeitung  24,  654. 

3)  Vgl.  Pitre,  Proverbi  Siciliani  1  S.  CLVIII  f.  Gervinus  2»,  24. 
von  Hör  mann,  Volkstümliche  Sprichwörter  und  Redensarten  aus  den 
Alpenlanden.    Leipzig  189L    S.  XII  f. 

3)  Aesthetik  3,  435. 

*;  Koegel  P,  173.  Daß  auch  andere  Nationen  im  Sprichwort  diese 
Abneigung  gegen  das  Abstrakte  teilen,  wird  nicht  auffallen.  Zs.  für  Völker- 
psychologie 9,  214.  Neue  Heidelberger  Jahrbücher  8,  160.  Aber  zwischen 
der  Auffassung  der  Wirklichkeit  durch  eine  jugendfrische  und  eine  yer- 
lebte  Sprache  besteht  doch  ein  Unterschied. 


90 


führt  vom  Wort  zum  Begriff,  sie  scheinen  innig  verschmolzen. 
Nur  wo  Art  und  Gegenstände  dieses  Denkens,  die  umgebende 
Natur  und  das  Leben,  dieselben  wären,  könnte  man  die  regel- 
mäßige Entlehnung  begreiflich  finden.  Aber  gerade  diese  Faktoren 
wechseln  von  Land  zu  Land,  von  Volk  zu  Volk.  Das  scheint 
also  gegen  eine  Theorie  der  Entlehnungen  zu  sprechen.  Bei 
weitem  größer  war  bis  jetzt  der  Gewinn,  den  man  für  die  Ver- 
schiedenheit nationalen  Denkens  und  Empfindens  aus  den  Zeug- 
nissen der  Gnomik  ziehen  kann.  Ein  treffendes  Beispiel  gibt 
die  Studie  über  italienisches  und  deutsches  Sprichwort  von 
Kradolfer^),  der  zeigt,  wie  sich  die  beiden  Völker  das  Ideal 
des  Mannes  gebildet  haben:  das  deutsche  Ideal  ist  der  recht- 
schaffene Mann,  das  italienische  der  galantuomo.  Er  bezeichnet 
galantuomo  als  das  italienische  Sprichwort  in  nuce.  Den  Unter- 
schied nnsrer  Gnomik  von  der  hebräischen,  griechischen  und 
römischen  hat  Gervinus  erörtert^).  Die  alte  indische  Spruch- 
dichtung ist  von  der  germanischen  recht  verschieden.  Während 
die  deutsche  Literatur  eine  ziemlich  unverfälschte  altvolkstümliche 
Gnomik  besitzt,  gerät  die  indische  Lehrdichtung  in  den  Bann 
theologischer  Dogmatik  und  gespreizter  Hofpoesie  ^).  Das  Gebundene 
herrscht  auch  in  den  glänzenden  Sprüchen  Bhartriharis  aus  einer 
Epoche  später  Renaissance*).  Der  Orientale  reflektiert,  der  Germane 
beobachtet;  hier  gedrungene  Kürze,  dort  zerfließende  Weit- 
schweifigkeit; hier  konkretes  Beispiel,  dort  trotz  aller  stilisierter 
Bealistik  Lehre;  hier  Formmangel ^^  >doi;i'-veinH^}ckelt  künstlicher 
Formen  Überfluß;  hier  die  Gnomik  noch  reich  an  Zügen  primitiver 
Zustände,  dort  das  Erzeugnis  bereits  fortgeschrittener  Kultur^). 
Das  sind  einige  Züge,  die  sich  gleich  aufdrängen.  „Der  höchste 
Charakter  orientalischer  Dichtkunst,"  sagt  Goethe  in  den  Noten 
und   Abhandlungen    zum   West  -  östlichen   Divan ,    „ist   was    wir 

')  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft  9,  185  ff. 
249  f.    Vgl.  Bellis  Sonett  ,Er  galantuomo'. 

3)  1X5  23  ff. 

3)  Gustav  Meyer,  Essays  1,  290  fif. 

*)  Max  Müller,  India  what  can  it  teach  us?  S.  90.  Oldenberg, 
Die  Literatur  des  alten  Indien  S.  221  if.  286  f.. 

*)  Man  yergleiche,  was  Rohde,  Der  griechische  Roman  S.  154  über 
die  pedantische  Zierlichkeit  und  ausschweifende  Üppigkeit  orientalischer 
Poesie  sagt. 


91 


Deutsche  Geist  nennen,  das  Vorwaltende  des  oberen  Leitenden; 
hier  sind  alle  übrigen  Eigenschaften  vereinigt,  ohne  daß  irgend 
eine,  das  eigentümliche  Recht  behauptend,  hervorträte.  Der  Oeist 
gehört  vorzüglich   dem  Alter,   oder  einer  alternden  Weltepoche." 

Wie  verschieden  nationaler  Geschmack  vollends  das  Kolorit 
der  Gnome,  Witz,  Humor,  Satire,  Laune,  bestimmt,  bedarf  nur 
des  Hinweises.  „Nirgends  reizt  diese  Idiotistische  Schreibart  mehr, 
ja  nirgends  ist  sie  unentbehrlicher,  als  bei  Schriftstellern  der 
Laune,  bei  Dichtem  von  eigner  Manier,  und  in  dem  Vortrage 
für  den  gemeinen  Mann,  der  auch  in  Schriften  leben  soll.  Nimmt 
man  diesen  das  Idiotistische  ihrer  Sprache,  als  einer  lebendigen, 
als  einer  angcbohrenen,  als  einer  Nationalsprache:  so  nimmt  man 
ihnen  Geist  und  Kraft*)."  Allerdings  verdient  hervorgehoben 
zu  werden,  daß  die  indische  Spruchliteratur  fast  alle  Motive  der 
Gnomik  mit  einer  ganz  staunenswerten  Reichhaltigkeit  ausge- 
bildet hat.  Da  finden  sich  die  Motive  von  der  Wirkung  des 
Alters,  von  Personen  und  Dingen,  wovor  man  sich  zu  hüten  hat, 
von  irdischen  Genüssen,  von  Zierden  der  verschiedenen  Stände, 
die  Motive:  der  Brave,  der  Ehrenwerte,  der  würdige  und  der 
unwürdige  Genosse,  das  gute  und  das  böse  Weib,  Passendes  und 
Unpassendes,  Zusammengehöriges  und  Gegenteil,  Unmögliches, 
vergebliche  Arbeit,  ideale  Zustände,  Ursachen,  Wirkungen  u.  s.  f.  ^) : 
alles  wie  in  der  älteren  deutschen  Gnomik.  Teilweise  sind  auch 
sie  Improvisationen,  wie  die  Sprüche  Buddhas  und  seiner  Jünger^). 
Aber  eins  aus  dem  andern  abzuleiten,  hat  ernstlich  noch  niemand 
versucht  und  wird  auch  wohl  nicht  möglich  sein.  Gemeinsamer 
Vorstellungsgehalt  liegt  ohne  Zweifel  zu  Grunde,  parallele  Ent- 
wicklungen, deren  verschiedener  Charakter  immer  noch  so  groß 
ist,  um  die  Selbständigkeit  völlig  zu  entscheiden,  haben  die  indische 
wie  die  deutsche  Gnomik  bereichert. 

Die  wissenschaftliche  Vergleichung  indogermanischer  Gnomik 
hat  sich  regelmäßig  auf  den  Inhalt  der  Sprüche  beschränkt. 
Spezifische  Formen   scheinen,   von  gelehrten  Entlehnungen  abge- 


>)  Herder  2,  45  Suphan. 

*)  Abhandlungen  für  die  Kunde  des  Morgenlandes,  herausgegeben  von 
der  deutschen  Morgenländischen  Gesellschaft.  IX.  4.  Inde^^  %\\  y.  3öhtlin^ks 
Indischen  Sprüchen  von  August  Blau. 

3)  Oldenberg,  Buddha  S.  197, 


92 

sehen,  wie  bei  den  internationalen  Erzählungen  die  Einkleidung, 
in  der  Eegel  nicht  zu  wandern.  Ein  gemeinschaftlicher  indo- 
germanischer Spruchschatz  ist  eine  ebenso  sichere  Tatsache^), 
als  gemeinsame  Grundlagen  der  Sprache.  Aber  die  Art  dieser 
Beziehungen,  der  Grad  der  Verwandtschaft,  Entlehnung  und  Einfluß, 
die  Schlüsse,  die  daraus  zu  ziehen  sind,  das  alles  zu  untersuchen, 
ist  leider  noch  nicht  in  Angriff  genommen^).  Dazu  bedürfte  es 
mindestens  einer  reinlichen  Scheidung  der  Elemente,  der  Zuriick- 
führung  der  Gnome  auf  ihr  Motiv,  der  Verfolgung  dieses  Motivs 
in  seiner  Entstehung  und  Ausbildung  und  der  Vergleichung  seiner 
verschiedensten  Einkleidungen.  Mit  einfacher  Anwendung  lingu- 
istisch comparativer  Methode  auf  Probleme  der  Stoff-  und  Literatur- 
geschichte wäre  es  sicher  nicht  getan  ^).  Hoffentlich  befreit  uns 
der  Fall  der  orientalischen  Hypothese  in  der  Ethnographie  und 
Linguistik  auch  von  den  orientalisierenden  Theorien  in  der  Poesie 
und  vergleichenden  Literaturgeschichte. 

2. 

Ein  Beispiel  möge  erläutern,  wie  im  einzelnen  Fall  durch 
äußerliche  Vergleichung  nichts  gewonnen  wird.  Es  gibt  auf 
unserm  Gebiete  Entsprechungen,  die  der  Konstatierung  jedes 
direkten  Zusammenhanges  spotten.  Die  Tatsache  ist  nicht  neu. 
W.  Grimm  hatte  mit  feinem  Takt  im  Hinblick  darauf  eine  all- 
gemein vergleichende  Behandlung  der  Freidanksprüche  unterlassen: 
„Wollte  man  den  Blick  weiter  bis  zu  den  Sentenzen  liebenden 
Arabern  und  dem  Oriente  überhaupt  ausdehnen,  so  würden  An- 
klänge ähnlicher,  selbst  Beispiele  völlig  übereinstimmender  Sprich-' 
Wörter  kaum  fehlen.  Warum  sollte  der  wunderbare  Zusammenhang 
in  der  Entwicklung  des  Geistes,  den  wir  zwischen  edlen  Völkern 
auch  da,  wo  wir  ihn  nicht  äußerlich  erklären  können,  bemerken, 
hier  gerade   sich   verleugnen?"^).     So   gefällt  sich   indische   wie 


*)  Meyer,  Die  altgermanische  Poesie  S.  454.  457  ff. 

^)  Am  wenigsten,  wo  man  es  suchte,  bei  Rem y,  The  influence  of  India 
and  Persia  on  the  poetry  of  Germany.    New  York  1901. 

3)  Vergl.  was  Schönbach,  Die  Anfänge  des  Minnesanges  S.  4  gegen 
R.  M.  Meyers  Sammlungen  einwendet. 

*)  Freidank  S.  CXI. 


93 


deutsche  Dichtung  in  ähnlichen  Definitionen  weiblicher  Schönheit, 
wenn  es  dort  heißt: 

Ein  Gesicht,  wie  Vollmond  klar, 
Augen,  wie  die  Lilie  schmachtend, 
Schwarz  wie  Bienenschwarm  das  Haar, 
Farbe,  die  das  vGold  verachtet; 
Sanft  gehügelt  Brust  und  Hüfte, 
Gleich  des  Elefanten  Stirne, 
Und  die  Rede  zart  wie  Düfte 
Sind  die  Zierden  einer  Dirne*). 

und  deutsch: 

Ein  haupt  von  Beheimer  land, 

Zwei  weisse  ermlein  von  Prafant 

Und  ein  prust  von  Swaben  her, 

Von  Kernten  zwei  tuttlein  ragcnt  als  ein  speer, 

Und  ein  pauch  von  Osterreich, 

Der  do  wer  siecht  unde  gleich, 

Und  ein  ars  von  Polan 

Und  ein  peierische  fut  doran 

Und  zwei  fuszlein  von  dem  Rein: 

Das  mocht  wol  eine  schone  frawe  sein'). 

Bei  individueller  Durchführung,  gleichen  sich  Motiv  und 
Anlage;  und  doch  können  wir  in  der  deutschen  Literatur  eine 
selbständige   Entwicklung   dieser    „Definitionspoesie"    nachweisen. 

Ausgezeichnet  hat  Beschreibungen  der  Schönheit  im  griechi- 
schen Boman  Erwin  Rohde^)  behandelt.  Es  lockte  ihn  zu  erfahren, 
wann  und  woher  diese  Auspinselungen  der  Gestalten  ihren  Ursprung 
genommen  haben,  und  war  geneigt  neben  Einfluß  physiognomischer 
Lehrbücher  an  Einwirkung  orientalischer  Neigungen  zu  denken. 
Freilich  unterschäzte  er  dabei  die  allgemein  volkstümlichen  Motive. 
Das  orientalische  Beschreibungslied,  wie  es  heute  noch  z.  B.  in 
Palästina  gedichtet  wird*),  bewahrt  die  Züge  echter  Ursprünglich- 
keit.    Ein  Bauer  in  Endur  in  der  Höhle  der  Zauberin  sang: 


^)  Bohlen  1,  5.  Es  ist  der  von  Bergmann  S.  6  wiedergegebene 
Sprach  Bhartriharis. 

2)  Cgm  713,  47a.  Umgearbeitet  in  PG  41b  1;  Pfeiffers  Text 
(Futilitates  S.  7)  gibt  ein  unrichtiges  Bild  vom  Alter  dieses  Priamels. 
Rohere  Formen  und  stoffgeschichtliches  Material  bei  Reinhold  Köhler, 
Kleinere  Schriften  3,  31  ff. 

3)  Der  griechische  Roman  S.  150  ff.  530.  Dazu  Erich  Schmidt, 
Lessing  P  528  ff. 

*)  Dalman,  Palästinischer  Diwan  S.  XIL 


94 

Ich  frage  dich  bei  Gott,  dem  Allerhöchsten, 

o  Garstiger^),  willst  du  nicht  von  meinem  Herzen  wegnehmen  den  Rost? 
Ich  verzichtete  auf  die  Rinder  und  die  Pferde,  auch  Kamele, 

selbst  das  Geld  vor  euch  verleugnete  ich  nicht. 
Wolltest  du  den  Besitz,  kam  zu  dir  mein  Eigentum 

von  dem  Weideplatz,  nicht  fand  man  es  morgen. 
Ich  bitte  von  Gott,  daß  du  werdest  mein  Besitz, 

und  ich  rufe  mit  lauter  Stimme:    ich  bin  der  glücklichste! 
Ich  küsse  dich,  und  du  mehrst  meine  Liebkosung. 

Das  Gesicht  ist  hell  wie  ein  Vollmond,  wenn  er  anfängt, 
und  ich  setze  dir  auf  den  Scheitel  meinen  Neumond, 

ein  Werk  von  Abu  Hanna,  von  Gold  und  zwar  baarem. 
Das  Haar  auf  den  beiden  Schultern  ist  wie  die  Seile, 

es  gleicht  den  Federn  des  Unwetters  in  der  Nacht  der  Finsternis, 
seine  Augenbrauen  die  Linie  der  Feder  in  Künsten, 

die  Tätowierung  des  Siebengestims  ist  darüber  mit  Absicht  angebracht, 
und  das  Auge  schwarz,  nicht  bedeckte  es  Schielen, 

und  ein  Nasenring  in  dem  Nasenflügel  —  darin  ist  Smiiragd, 
und  Zähne  wie  Perlen,  ihre  Aufreihung  ist  mir  süß, 

und  du  sagst  von  ihnen:    Hagelkörner. 
O  ihr  Hals  —  der  Hals  der  Antilope,  die  aufgeschreckt  wurde, 

wenn  sie  den  Jäger  des  Morgens  sah,  welcher  jagt, 
die  Schultern  sind  feist,  die  Hände  ein  Werk  des  Schöpfers, 

und  die  blaue  Tätowierung  ist  auf  ihnen  zerstreut. 
Auf  die  Brust  schreibt  er  He  und  Mim  und  Däl, 

ihre  Gazellen  weiden  und  auch  die  jungen  Kamele. 
Der  Nabel  ist  eine  Büchse  mit  Zibet  in  Künsten, 

der  Moschus  und  der  Kampfer  strömt  von  ihm  aus, 
und  der  Leib  wie  Falten  von  Seide  in  Strähnen, 

weicher  als  Seidenstoff  oder  gekardete  Baumwolle,  I 

die  Schenkel,  die  Stützen  des  Mutterleibs,  sind  mir  Gefangenschaft, 

die  Liebe  zur  Heiterkeit  oberhalb  seiner  Fersen  erschreckt, 
und  Füße  vorn,  ein  Werk  des  Schöpfers, 

wer  wohl  sieht  (wie)  sie  auf  der  Wüste  —   einen, 
vom  Osten  bis  zum  Westen,  zum  Norden 

bis  zum  Süden,  welcher  sammelt  bei  Muhammed. 
Dies  ist  die  Beschreibung  des  Schönen,  nicht  ist  darin  ein  Fehl  — 

o  ihr,  die  ihr  die  Stimme  hört,  benedeiet  Muhammed!')  j 

Die    leblose    Manier    byzantinischer    Autoren,    die    einzelne 
Stücke  nacheinander  aufzählen,   ist   in  orientalischen  Geschichts- 


')  Die  Geliebte   wird   unter   dem  Bild   einer  männlichen  Person   vor- 
gestellt.   DalmanS.  Xin. 

«)  Dalman  S.  111.    Vergl.  S.  133  f. 


95 

werken  vorgebildet^).  Der  orientalischen  Schönheitsmalerei  gegen- 
über, die  in  Gedichten  aus  den  galanten  Perioden  europäischer 
Literaturen  ihr  Seitenstück  findet  ^j,  übt  die  hellenistische  Poesie 
noch  bewußte  Beschränkung;  und  sie  durfte  es,  weil  ihr  ein 
Mittel  der  Veranschaulichung  zu  Gebote  stand,  das  Bohde  ein 
echt  griechisclies  nennt:  man  greift  auf  die  Typen  der  Plastik 
zurück.  So  läßt  Anakreon  den  Bathyllos  entstehen ;.  den  Hals 
nimmt  er  von  einem  Adoüis,  Brust  und  Hände  von  einem  Merkur, 
die  Hüfte  von  einem  PoUux,  den  Bauch  von  einem  Bachus,  wie 
Lessing  im  XX.  Abschnitt  seines  Laokoon  ausführt. 

In  ähnlicher  Weise  verfährt  das  oben  gegebene  deutsche 
Priamel,  indem  es  auf  die  Typen  ethnographischer  Poesie  ^)  zurück- 
greift, die  sich  in  Stammes-  und  Ortsneckereien*)  und  ver- 
wandten Erscheinungen^)  bei  uns  wie  anderwärts  bis  auf  die 
Gegenwart  fortpflanzt.  Überhorst  stellt  unser  Priamel  in  später 
Fassung  (als  Stammbuchhumor!)  unter  die  Kategorie  des  Scherzes 
zum  Zeigen  von  Wissen  und  meint:  „Das  Bewußt-Komische  be- 
steht in  der  Schamlosigkeit  der  letzten  Verse;  daß  aber  der, 
welcher  diesen  Spruch  verfertigte,  damit  seine  durch  eigene 
Beobachtung  (?)  erworbene  genaue  Kenntnis  des  Körpers  der 
Frauen  der  allerverschiedensten  Gegenden  hat  zeigen  wollen, 
darüber  dürfte  wohl  Niemand  im  Zweifel  sein"  ^).  Der  alte  Spruch 
vermeidet  das  leere  Benommieren  mit  entfernten  Ländern  und 
beschränkt  sich  auf  deutsche  Landschaften  und  Polen.  Ob  das 
Mittelalter  etwas  Bewußt-Komisches  in  den  letzten  Versen  ge- 
funden   hat   oder   hat   ausdrücken   wollen,   ist   im    Hinblick   auf 


1)  Auf  die  orientalische  Poesie  ist  Eohde  nicht  eingegangen. 

3)  QF  56,  73  ff.    Erich  Schmidt  S.  531. 

^)  Ethnographische  Zusammensetzung  des  Unnenschen  im  Babylonischen 
Talmud  (hg.  von  Goldschmidt)  7,  155. 

*)Elard  Hugo  Meyer,  Deutsche  Volkskunde  S.  336  f.  Hessische 
Blätter  für  Volkskunde  1,  54.  Marriage,  Volkslieder  aus  der  badischen 
Pfalz  S.  379.  Nr.  285.  Handel  mann,  Topographischer  Volkshumor  aus 
Schleswig-Holstein.  Kiel  1866.  Grenzboten  58,  325  f.  Fast  jede  Sammlung 
von  Volkspoesie  hat  entsprechende  Beispiele.  Bei  Naturvölkern:  Talvj, 
Versuch  S.  71.  Cats,  Spiegel  der  alten  und  neuen  Zeit.  Hamburg  1711. 
S.  132  ff. 

»)  Göt tinger  Beiträge  2,  70.    Nr.  XLVni.    KpuirtdSi«  3,  260.  4,  121. 

^)  Überhorst,  Das  Komische  2,  544. 


96 


Tannbäasers  Freiheiten  derart^)  recht  zweifelhaft.  Natürlich  hat 
auch  kein  weitgereister  Stammbnchpoet  dieses  Priamel  verfertigt, 
sondern  es  ist  aus  ethnographischer  volkstümlicher  Poesie  hervor- 
gewachsen. Im  Faustbuch  buhlt  der  Held  mit  sieben  ^Teuffelischen 
Weibern^  verschiedener  Nationalität,  „wie  man  wohl  in  Schemper- 
liedein  die  besonderen  Vorzöge  der  Frauen  hier  und  dort  rühmte 
und  zu  einem  Idealgebild  vereinigtet^).  Schönheitsbeschreibung 
mit  Ausscheidung  des  Geographischen  wird  im  heutigen  Impro* 
visationsvierzeiler  mit"  Vorliebe  gepflegt. 

Aage  wie  Kersche, 

£d  Hals  wie  Schnee, 

£  purpurrot  Mäulche: 

Was  will  e  schöns  Mädche  meh^)? 

Zwoa  blUaweißi  Zanla, 

Zwoa  brinroate  Wangla, 

Zwoa  Äugla  wia  Kühl: 

A  scheans  Schatzerl  wars  wul^). 

Schö  molat  und  fein 

Muaß  mei  Schatz  a  mal  sein; 

Und  halt  goar  so  schean  eng  um  die  Mitt, 

Sist  möcht  is  nit. 

Schö  hoach  auf  da  Brust, 

Daß  i  an  iar  hab  a  Lust, 

Und  net  z'  groß  und  net  z'  kloan, 

Muaß  mi  ken  ganz  alloan. 

A  suaßs  Göscherl  muaßs  habn, 
Zan  Schmatzerl  vagrabn, 
Und  di  Augn  schea  braun: 
Wir  i  allewal  eini  schaun. 

Was  geaht  iar  no  o : 
Als  a  Kiterl  blitzbloo, 
Und  a  Spenserl  a  neigs. 
Und  a  Herzerl  a  treus. 

Das  Deandl  is  kloa, 
Aba  aufrichti  schoa; 
Was  is  mit  da  Läng, 
Wans  net  aufrichti  sent^)? 

1)  HMS  2,  84b.    86b.   87a.    93a.     Vergleiche    das    unten    angeführte 
Beispiel  der  Kolmarer  Handschrift. 

3)  Erich  Schmidt,  Charakteristiken  1,  28. 

3)  Gl  eck,   Lieder  und  Sprüche  aus  dem  Elsenzthale  S.  60.  Nr.  127. 

*)  Werle,  Almrausch  S.  112. 

5)  Werle,  Almrausch  S.  446. 


97 


Mit  volkstümlichen  unliterarischen  Ornndlagen  dieser  Art 
trafen  Einwirkungen  mittellateinischer  Literatur  zusammen,  die 
ihrerseits  vielleicht  durch  das  Hohelied  und  theologische  Literatur 
mit  orientalischer  Schönheitsmalerei  Bekanntschaft  gemacht  haben 
konnte.  Die  altgermanische  Dichtung  scheint  hier  allerdings  über 
typische  Anfange  nicht  hinausgekommen  zu  sein^).  Aber  die 
lateinische  Vagantenpoesie  kennt  schon  Schönheitsbeschreibung: 

Nature  studio 
longe  venustata 
contendit  lilio 
rugis  non  crispata 
frons  nivea; 
arcus  supercilia 
discriminant  gemelli. 
Omnes  amantium 
trahit  in  se  visus, 
pandens  remedium 
verecundi  risus, 
lascivia  simplicis 
siderea  luce  micant  oceUi. 

Ab  utriusque  liiminis 

confinio 

moderati  libraminis 

indicio 

naris  eminentia 

producitur  venuste 

quadam  temperantia, 

nee  nimis  erigitur, 

nee  premitur  iniuste. 

AUicit  duleibus 

verbis  et  oseulis, 

labellulis 

eastigate  tumentibus 

roseo  neetareus 

odor  infusus  ori; 

pariter  eburneus 

sedet  ordo  dentium 

par  niveo  candori. 
Certant  nivi,  mieant  lene 
pectus,  mentum,  eolla,  gene^. 


*)  Meyer,  Die  altgermanischc  Poesie  S.  112. 

3)  Carmina   Burana   S.  130.    Vgl.  Mones  Anzeiger  7,  287,  Nr.  23. 
Seh  er  er,  D.  St.  II  445.    Zeitschr.  f.  d.  Altert.  18,  127.    Germ.  Abb.  13,  12. 
Enling,  Priamel  7 


98 

Leib,  Mund,  Zähne,  Augen,  Kinn,  Kehle  der  Geliebten  preist 
Heinrich  von  Morungen^).     Wolfram  singt: 

sus  künden  si  do  vlehten 

ir  munde,  ir  brüste,  ir  arm,  ir  blankiu  bein^). 

In  höfischer  Lyrik  spielen  solche  Beschreibungen  eine  Eolle^). 
Neidhart  und  Tannhäuser  steht  Walther  gegenüber.  Ver- 
geistigtes Empfinden  redet  aus  seinem  Lied  (53,  25): 

Si  wundervoll  gemachet  wip, 
daz  mir  noch  werde  ir  habedancl 
ich  setze  ir  minneclichen  lip 
vil  werde  in  minen  h6hen  sanc*). 

Er  hat  die  Geliebte  im  Bade  gesehen. 

Neuen*  Parbenvorrat  lieferte  der  späteren  Katalogpöesie  die 
fein  stilisierte  Kunst  der  höfischen  Erzähler.  Berühmt  ist  die 
Schilderung  Engeltrauts  ^),  die  allerdings  schon  nicht  mehr  naiv 
bleibt^).  Lange  hat  die  Nachahmung  solcher  Schilderungen 
nachgewirkt.  Suchen wirt  liefert  ein  Paradestück,  das  sogar  in 
einen  späten  Wigamurtext  aufgenommen  wird^)  und  als  Muster 
einem  andern  Spruchgedicht  vorgeschwebt  zu  haben  scheint^). 
Mutwillig  und  humoristisch  gerät  eine  ähnliche  Beschreibung  im 
Mynnen  KlefiFerer^).  In  den  Meisterliedern  der  Kolmarer  Hand- 
schrift wirkt  intime  Schönheitsbeschreibung  unbewußt  komisch, 
üesegnen  sollen  da  heute  den  Dichter,  wie  er  singt ^"),  zwei 
blanke,    runde  Arme,    ihre    zarten  Brüstlein,    ihr    schöner  Gang, 


»)  MF  122,  14  ff.  141,  1  f. 

2)  Lieder  4,  1  f.  „Man  sieht  Wolfram  von  Eschenbach  Beschreibung 
in  Handlung  auflösen."     Erich  Schmidt,  Lessing  P  530. 

3)  Weinhold,  Die  deutschen  Frauen  IP  220  ff.  Anzeiger  7,  134  ff. 
Werner,  Lyrik  und  Lyriker  S.  522  ff.  QF  56,  78.  Grazer  Studien  zur 
deutschen  Philologie  5,  107  ff. 

'*)  Burdach,  Reinmar  und  Walther  S.  153.  Schönbach,  Bei- 
träge 2,  55  ff. 

5)  Engelhardt  2966  f. 

6)  Wolf f  zur  Birne  XV. 

7)  QF  35,  29  ff.  Germania  34,  438.  Das  Unrichtige  wieder  ADB. 
37,  779. 

®)  Meyer  und  Mooyer,  Altdeutsche  Dichtimgcn  S.  44.  Aber  die 
Hände  sind  schön  weiß  wie  Semmelmehl. 

^)  Keller,  Erzählungen  aus  altdeutschen  Handschriften  S.  123. 
1»)  Bartsch  S.  347.    Nr.  59,  11. 


99 

und  sogar  ihr  Büschlein,  danach  sein  Herz  gerungen  hat.  Im 
Liederbuch  der  Hätzlerin  ist  der  übliche  minnigliche  Überschwang 
dieser  Richtung  schon  konventionell  geworden,  wie  er  dann  in 
Görres'  Volks-  und  Meisterlieder  übergingt),  und  in  volksmäßiger 
Dichtung  klingen  diese  Töne  lange  nach.  In  einem  der  von 
Hoffmann  sogenannten  Gesellschaftslieder  lautet  die  2.  Strophe: 

Dein  goldgelbs  Haar, 
Dein  Äuglein  klar, 
Dein  Stirne  rund, 
Dein  roter  Mund, 
Fala  la  lal 

Dein  Zähnlein  weiß, 
Dein  Wänglein  heiß. 
Dein  Hälslein  zart. 
Dein  Brüstlein  hart, 
Gebn  mir  groß  Freud 
Zu  aller  Zeit. 
Fala,  la  la^)! 

Zu  verknöcherter  Katalogisierung  gelangen  die  Schönheits- 
stücke seit  dem  14.  Jahrhundert,  wobei  die  Zahlen  zwischen 
7  und  72  schwanken  -j.  Gegen  minniglichen  Überschwang  reagierte 
früh  bewußt  und  ebenso  übertreibend  der  Naturalismus  der  bürgere 
liehen  Dichtung  mit  Parodie  und  Ausdehnung  dieser  Definitions- 
poesie auf  ein  Gebiet,  dem  sich  literarische  Kunst  mit  Bewußtsein 
fern  hält*). 


1)  Hätzlerin  S.  37.  55. 

2)  I-  (1860)  29.  Nr.  15.  Vergleiche  Stammbuchverse  im  Anzeiger  f. 
K.  d.  d.  V.  1881,  48;  zurückzuführen  auf  ein  Priamel  des  15.  Jahrhunderts. 
Auch  das  Lied  ,Lieblich  hat  sich  gesellet'.  Bergreihen  hg.  von  John  Meier 
S.  16.  38.  40.  108.  G er V in  US  IP  495.  Liebeslieder  bestehen  ganz  aus  Be- 
schreibungen:  Talvj,  Versuch  S.  67.  69.  —  Eustache  Deschamps, 
Oeuvres  11,  272  f.    Vgl.  die  angeführten  Vierzeiler  aus  Steiermark. 

3)  Reinhold  Köhler,  Kleinere  Schriften  3,  22  flp.  Hans  Sachs- 
Forschungen  S.  34  ff.    Kurz  zu  Fischart  3,  99,  14. 

*)  Voßler  sagt  im  Anschluß  an  Bellis  Sonette:  „Der  Transteveriner 
ist  arm  an  Ausdrücken  und  Wendungen.  Die  wenigen,  die  er  hat,  sind 
dafür  um  so  gesalzener.  Eine  große  Zahl  von  Begriffen  werden  durch  Termini 
aus  dem  sexuellen  Gebiet  metaphorisch  bezeichnet.  In  jedem  Satz  kann 
man  sagen  sind  ca.  zwei  oder  drei  schmutzige  Worte.**  Neue  Heidelberger 
Jahrbücher  8,166.  Kpu7rca'8w  2,  289  ff.  Vgl.  volkstümliche  Rätsel :  KpuTirciSta 
1,  360  ff.  2,  228  ff.    Köhler,  Kleinere  Schriften  3,  535  ff. 


100 

Parodie  der  LiebesdichtuDg  ist  volksmäßig.  Schnaderhüpfel 
und  Fastnachtspiel  üben  sie^).  Auch  parodierende  Beschreibung 
liefert  der  alpine  Vierzeiler: 

Schön  kurz  und  schön  dick, 
Schön  rot  untan  Gsicht, 
Schön  hoch  uman  Magn: 
A  solchs  Deandl  muasz  i  habn'\ 

Die  hier  angedeutete  Entwicklung  hat  man  sich  zu  ver- 
gegenwärtigen, wenn  man  die  Derbheit  des  oben  mit  einem 
indischen  Spruch  verglichenen  Priamels  als  anstößig  empfindet; 
sie  ist  verhältnismäßig  ehrbar. 

So  ergibt  sich  denn,  selbst  wenn  man  Einflüsse  der  alt« 
testamentlichen  und  französischen  Dichtung  auf  die  Vagantenpoesie 
einschließt,  doch  für  das  Deutsche  eine  vom  Indischen  jedenfalls 
direkt  unabhängige  Entwicklung  des  Priamels  von  weiblicher 
Schönheit.  Gegen  Entlehnung  spricht  der  Zusammenhang  mit 
nationalen  Stammes-  und  Ortsneckereien,  die  wie  das  Spottlied 
uralt  und  wohl  überall  vorhanden  sind^). 

Was  eigentlich  der  literarhistorischen  Erklärung  dient,  das 
wäre  nicht  einmal  „die  nackte  Tatsache  der  Entlehnung  fremder 
Kulturelemente,  sondern  die  Disposition  des  Volksgeistes,  welche 
diesen  in  bestimmten  Zeitpunkten  zur  fruchtbringenden  Aufnahme 
solcher  ausländischen  Einwirkungen  geneigt  und  fähig  machte"^). 
„India  and  Persia  were  magic  names  to  conjuie  with;  their  languages 
and  litteratures  were  a  book  with  seven  seals  to  mediaeval  Europe"  % 
Die  tatsächlichen  Mittelglieder  einer  (etwa  von  Indien  aus  an- 
genommenen) Entwicklung  des  literarischen  Motivs  sind  in  unserm 
Falle  wichtiger  und  anders  geartet,  als  jenes  fingierte  Ausgangs- 
motiv. So  bleibt  eine  orientalische  Hypothese  hier  völlig  unfrucht- 
bar, und  nur  die  fruchtbare  Theorie  ist  wahr.    Die  Annahme  von 

^)  Vcrgl.  vorläufig  Grasb erger  S.  60,  das  33.  Fastnachtspiel  der 
Kellerschen  Sammlung,  Lorenzos  de  Medici  Nencia  da  Barberino. 

3)  KpuTTTaSw  4,  97.    Nr.  88.     Vgl.  Nr.  218. 

^)  Spott  schon  im  Arbeitslied :  Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus  S.  81  flf. 
Vgl.  Meyer,  Deutsche  Volkskunde  S.  129.  239.  314.  318.  337;  bei  Natur- 
völkern z.  B.  Waitz-Gerland  5,  2,  93.     Talvj,  Versuch  S.  71  (203). 

*)  Rohde,  Der  griechische  Roman  S.  4.  Vgl.  R.  von  Liliencron, 
Über   den  Inhalt   der   allgemeinen  Bildung  in  der  Zeit  der  Scholastik  S.  4. 

^j  Remy,  The  influence  of  India  S.  8. 

•••/:  ••:  •••  •  •• 

•  •  •     ••.••.  •• 


101 


Receptionen  sollte  nicht  so  weit  gehn,  einheimische  Ansätze  zu 
literarischen  Entwicklungen  zu  ignorieren.  Der  König  vom 
Odenwald  ist  von  der  antiken  Gattung  der  a6o$oi  GKoöeaeic  ebenso 
unabhängig,  wie  die  Bätselfragen  der  f]dda  von  der  Kunstübung 
der  Sophisten').  Beim  Aufwerfen  der  Vermutung,  daß  Hans 
Bosenplüt  ein  Schüler  des  Humanismus  gewesen  sei^),  vermisst 
man  die  Berücksichtigung  des  älteren  Lobgedichts  auf  Lübeck^) 
und  des  Panegyricus  Meister  Ulrichs  auf  Wien*),  bei  Behandlung 
der  katalogartigen  Listen  in  der  grotesken  Satire  Erwägung 
früherer  Erscheinungen  wie  bei  Eustache  Deschamps^). 

Selbst  überraschende  Übereinstimmungen  verschiedener  Lite- 
raturen zeugen  oft  nicht  von  Zusammenhang.  Auf  die  Überein- 
stimmung des  Goetheschen  Spruchs: 

Kleid  eine  Säule, 

Sie  sieht  wie  ein  Präule, 

der  dem  Italienischen  nachgebildet  ist,  mit  Havamal  49  hat  R.  M. 
Meyer  hingewiesen^).  Mit  umsichtiger  Belesenheit  zeigt  derselbe 
Gelehrte,  wie  nicht  nur  sehnsüchtige  Klage,  sondern  auch  gleicher 
antithetischer  Aufbau  in  ähnlichen  Erzeugnissen  der  altnordischen 
und  arabischen  Dichtung  waltet,  zum  Leidwesen  „ableitungsfroher 
Analogienjäger"  ^).  Zufällige  Analogien,  die  sich  in  Schillers 
Kampf  mit  dem  Drachen  und  einem  Spruch  Walthers,  im 
Wolfdietrich   und  Schillers  Bürgschaft   finden,    hat  Müllen  ho  ff 


»)  Rohde,  Der  griechische  Roman  S.  308.  335.  309.  Hauff en  in 
Seufferts  Vierteljahrschrift  6,  161  ff. 

^  Herr  mann,  Die  Reception  des  Humanismus  in  Nürnberg  S.  16  ff. 
Dagegen  Hintze  in  Sybels  historischer  Zeitschrift  84,  364  f. 

3)  Mones  Anz.  20,  71. 

*)  Nagl-Zeidler,  Deutsch-Österreichische  Literaturgeschichte  1,  395. 
Burdach,  Bericht  über  Forschungen  zum  Ursprung  der  neuhochdeutschen 
Schriftsprache  und  des  deutschen  Humanismus.    Rerlin  1903.    S.  26. 

*)  Schneegans,  Geschichte  der  grotesken  Satire  S.  261.  Deschamps, 
Oeuvres  2,  2.    Vergl.  Gaston  Paris,  Villon  S.  103  f. 

ö)  Altgermanische  Poesie  S.  69. 

^)  A.  a.  0.  S.  465.  Vergleiche  S.  522  f.  524  f.  Ein  Vers  Bhartriharis 
(Oldenberg,  Die  Litteratur  des  alten  Indien  S.  224:  „Wenn  von  der 
Güsse  Macht  gebannt"  u.  s.  w.)  entspricht  Vierzeilern  aus  Kärnten 
(Pogatschnigg  und  Herrmann  l^  153.   Nr.  751.  752). 


102 

Bugge   entgegen  gehalten^).     Alles  zeugt  für  Kontinuität,   nicht 
Identität  der  geistigen  Entwicklung  2). 

3. 

Die  allgemeinen  Behauptungen  und  Erwägungen,  welche  in  dem 
Eoman  einer  Wanderung  ,der  Priamel'  von  den  Ufern  des  Ganges 
an  die  der  Pegnitz  gipfeln,  nützen  herzlich  wenig,  und  um  die 
tatsächliche  Einwirkung  orientalischer  Gnomik  auf  die  deutsche 
Literatur  haben  sich  die  eifrigsten  Vergleicher  eben  am  wenigsten 
bekümmert.  Gnomik  des  Orients  hat  aber  wirklich  schon  in 
älterer  Zeit  Eingang  in  die  deutsche  Literatur  gefunden:  einmal 
in  der  Blütezeit  mittelhochdeutscher  Didaktik,  dann  wieder  am 
Ausgang  des  Mittelalters  und  endlich  im  17.  Jahrhundert.  Alle 
diese  Fälle  beweisen  gegen  Einfluß  indischer  Gnomik  in  Sachen 
des  Priamels.  Es  sind  das  ja  freilich  immer  nur  grobe  Züge, 
die  zur  Feststellung  von  Verwandtschaft  herangezogen  werden; 
den  leiseren  Wellenschlag  der  Kulturbewegung  wahrzunehmen, 
wo  das  bloße  Auge  nichts  Bewegtes  zu  entdecken  glaubt,  das 
vermag  nur,   wer  gleichmäßig  in  allen  Kulturen  zu  Hause   wäre. 

Zum  ersten  Mal  scheint  orientalische  Gnomik  im  12.  Jahr- 
hundert ihren  Weg  in  die  deutsche  Literatur  gefunden  zu  haben, 
und  zwar  durch  die  Disciplina  clericalis  des  Petrus  Alphonsi. 
Die  benutzte  Vorlage  war  seiner  Angabe  nach  arabisch^).  Den 
Wert  dieses  Werkes  für  die  Novellistik  hat  nach  Dunlop,  Valentin 
Schmidt,  Benfey,  Max  Müller  zuletzt  am  ausführlichsten 
Landau*)  erörtert.  Die  Quellen  des  arabischen  Originals  sind 
allerdings  noch  nicht  aufgewiesen,  aber  die  Erwägungen  inbetreff 
einer  hebräischen  Quelle  verlieren  doch  durch  die  präcise  Angabe 
eines  arabischen  Originals  in  der  Hauptsache  ihren  Stützpunkt^). 


»)  DAK  5,  46  f.  Über  Ubiquität  der  Motive  Böckel,  Volkslieder  aus 
Oberhessen  S.  LXXXVI.    Vgl.  auch  Comparetti,   Der  Kalewala  S.  249  ff. 

2)  Meyer,  Die  altgermanische  Poesie  S.  537. 

3)  Patrologia  ed.  Migne  157,  705  D. 

*)  Die  Quellen  des  Dekamerone.    Zweite  Auflage,  S.  258  ff. 

5)  Außer  der  oben  angeführten  Stelle  ist  Patrologia  p.  672  B  zu  be- 
achten, wo  Petrus  sagt:  Propterea  libellum  compegi,  partim  ex  proverbiis 
philosophorum  et  suis  castigationibus  Arabicis  et  fabulis  et  versibus,  partim 
ex  animalium  et  volucrum  siinilitudinibus. 


103 


Nachwirkungen  der  Disciplina  clericalis  zeigen  sich  in  der 
Bescheidenheit.  Nun  lehnte  freilich  Wilhelm  Grimm  die  Ansicht 
ab,  daß  Freidank  den  Petrus  gekannt  habe').  Aber  Bezzen- 
berger  hat  ihm  mit  Recht  widersprochen^);  nur  seine  Belege 
sind  unglücklich  und  unzureichend^).  Es  mag  hier  von  all  den 
andern  zahlreichen  Stellen  der  Disciplina,  die  Bezzenbergers 
Kommentar  enthält,  abgesehen  werden;  es  kommen  besonders 
folgende  in  Betracht.  Freidank  1,19 '^^ Petrus  p.  672  D.  2,14<v> 
673  B.  22,16-^,705  0.  31,10'x.702  A.  58,1-^703  B.  81,27^  676  B. 
141,1- 677  D.  145,11  ^  675  B.*)  178,9  -  705  B.  In  diesen 
Fällen  steht  Petrus  Alphonsi  der  Bescheidenheit  näher  als  alle 
andern  verglichenen  Autoren  oder  bietet  die  einzige  Parallele; 
ein  Zusammenhang,  der  ja  immerhin  kein  unmittelbarer  zu  sein 
braucht,  wird  damit  wahrscheinlich.  Die  Möglichkeit,  für  die 
Grimm  sich  aussprach.  Freidank  habe  in  Syrien  aus  mündlicher 
morgenländischer  Überlieferung  geschöpft,  tritt  hinter  der  Wahr- 
scheinlichkeit eines  literarischen  Zusammenhangs  zurück.  Wenn 
Bezzenb erger  (S.  42)  leugnet,  daß  Freidank  außer  dem,  was 
das  alte  Testament  bietet,  ettvas  aus  dem  Orient  entlehnt  habe, 
vergißt  er  eben,  was  er  zwei  Seiten  vorher  richtig  bemerkt  hatte. 
Er  lehnt  übrigens  besonders  direkte  Abhängigkeit  von  Böhtlingks 
Indischen  Sprüchen  und  Freitags  Arabum  proverbia  ab. 

Unter  den  Stellen,  für  welche  die  Disciplina  clericalis  als 
Quelle  in  Betracht  kommen  kann,  ist  zunächst  keine  einzige 
priamelhafte;  und  dann  von  den  priamelhafteu  arabischen  Sprüchen 
kein  einziger  benutzt.  Es  fehlt  an  solchen  nicht,  z.  B.  Tribus 
modis  unus  indiget  alio.  Ouicunque  benefeceris,  in  eo  major  eo 
eris;  quo  non  indigueris,  par  ipsius  eris;  quo  vero  indigueris, 
minor  (p.  676  D).  Sequere  scorpionem,  leonem,  draconem,  sed 
malam  feminam  non  sequeris  (p.  681  A)^). 


1)  Bescheidenheit  S.  LXXIX  ff. 

2)  S.  40. 

3)  Die    zuerst    citierte    Stelle    22,  12  ff.    ist   irrig;    er  meint  22,  4.  5. 
22,  16;   und  statt  131,  9.  10   hätte  er  besser  Beweisendes  anführen  können. 

*)  Eoethe  zu  Reinmar  von  Zweter  104  und  Anmerkung  291. 
^)  Ecclesiasticus    25,  23:     Commorari    leoni    et    draconi    placebit, 
quam  habitare  cum  muliere  nequam. 


104 


Erscheint  demnach  die  Einwirkung  orientalischer  Gnomik 
auf  das  Friamel  als  solches  durch  Vermittelung  der  Disciplina 
clericalis  ausgeschlossen,  so  sei  dennoch  auf  die  Spur  einer  Ver- 
wandtschaft einer  priamelhaften  ^)  Stelle  der  Bescheidenheit  mit 
einer  Sentenz  des  Conde  Lucanor  hingewiesen,  unter  Freidanks 
Sprüchen  behandelt  einer  den  vierfachen  Nutzen  des  Almosens 
(39,10),  weder  klar  noch  treffend,  halbfertig,  patristischer  Herkunft; 
Grimm  schied  ihn  aus. 

Dieser  Spruch  zeigt  Verwandtschaft  mit  zwei  Fassungen,  die 
Landau^)  als  sehr  schön  hervorgehoben  hat.  Die  eine  Fassung 
ist  die  des  Hitopadesa,  die  andre  aus  DonJuanManuels  Conde 
Lucanor.  „Die  Gabe,  die  im  Bewußtsein,  daß  man  geben  soll, 
am  rechten  Orte,  zur  rechten  Zeit  und  zum  rechten  Zwecke  dem 
gegeben  wird,  der  sie  nicht  vergelten  kann,  die  heißt  eine  gute 
Gabe.^  „Ein  rechtes  Almosen  muß  fünf  Eigenschaften  haben: 
Erstens:  es  soll  von  ehrlich  erworbenem  Gut  sein.  Zweitens:  es 
soll  mit  bußfertigem  Gemüt  gegeben  werden.  Drittens:  es  soll 
von  Wert  und  dessen  Abgang  dem  Geber  empfindlich  sein. 
Viertens:  es  soll  bei  Lebzeiten  und  Fünftens:  um  Golteswillen 
und  nicht  aus  Prahlerei  gegeben  werden."  Der  Hitopadesa  aber 
blieb  auf  Indien  beschränkt,  der  Conde  Lucanor  kann  der  Ent- 
stehungszeit nach  nicht  mit  Freidank  in  Zusammenhang  gebracht 
werden.  Die  Ähnlichkeit  der  drei  Fassungen  ist  aber  auch  eine 
nur  ungefähre,  weder  Form  noch  Inhalt  decken  sich,  außerdem 
gibt  es  eine  näher  stehende  patristische  Parallele^);  es  wäre 
wohl  abenteuerlich  darauf  hin  die  Behauptung  zu  gründen,  die 
Form  des  Priamels  könne  durch  ein  solches  Beispiel  den  Weg 
in  die  deutsche  Gnomik  gefunden  haben. 

Ein  zweites  Mal  ward  der  deutschen  Literatur  Gelegenheit 
geboten,  sich  Asiens  Gnomik  anzueignen,  als  gegen  Ende  des 
13.  Jahrhunderts   die   lateinische  Übersetzung  des  Pantschatantra 


*)  Man  kann  den  Ausdruck  hier  nur  mit  Vorsicht  gebrauchen;  denn 
gerade  die  Beispiele  von  Aufzählungen  sind  die  unsichersten  Priamel  und 
lassen  sich  größtenteils  auf  die  Predigt  zurückführen.  Loewer,  Patristische 
Quellenstudien  zu  Freidanks  Bescheidenheit  S.  6. 

^)  Die  Quellen  des  Dekamerone  S.  270. 

^  Loewer,  Patristische  Quellenstudien  S.  36, 


N 


105 


durch  JohaDnes  von  Capua  erschien^).  Doch  Einwirkung  des 
Directorium  vitae  auf  deutsche  priamelartige  Dichtung  ist  da 
wieder  nicht  wahrzunehmen.  Anders  dagegen,  als  ein  Wiegendruck 
und  die  deutsche  Bearbeitung  des  Antonius  von  Pforr  das  alte 
Werk  noch  allgemeiner  bekannt  machte.  Freilich  hat  die  Nürn- 
berger Priameldichterschule  des  ausgehenden  15.  Jahrhunderts 
wieder  darauf  verzichtet,  bei  indischer  Gnomik  Anleihen  zu  machen. 
Aber  Hans  Sachs  bietet  ein  sehr  merkwürdiges  Beispiel  für  die 
Art  und  Weise,  wie  indische  Sprüche  in  deutscher  Einkleidung 
auftreten. 

Bekanntlich  benutzte  der  vielbelesene  Nürnberger  Poet  mehr- 
fach auch  das  Buch  der  Beispiele,  von  Antonius  von  Pforr 
ins  Deutsche  übersetzt.  An  der  lateinischen  Vorlage  dieser  Über- 
setzung hätte  man,  wie  noch  jetzt  meist  geschieht^),  nicht  zu 
zweifeln  brauchen.  Was  man  als  Spuren  des  Italienischen  ansah, 
erklärt  sich  einfach  aus  mangelhafter  Übersetzung.  So  ist  der 
Ablativ  Billero  zum  Nominativ  geworden  und  der  judex  potestatis 
mit  Anlehnung  an  das  Mittellatein  zum  Potestat^).  Das  uralte 
Buch  erzählt  im  10.  Kapitel  De  Sedera  rege,  wie  der  kluge  und 
treue  Beled  die  Königin  Helebat  vor  dem  Zorn  des  Gatten  rettet 
und  ihn  versöhnt.  Gerade  dieses  Kapitel  ist  an  Sentenzen  am 
reichsten.  Der  König  hatte  dem  Beled  befohlen,  Helebat  zu 
töten;  dieser  rettet  sie  und  wartet  auf  Sinnesänderung  des  Zornigen. 
Sie  tritt  bald  ein.  Sederas  wünscht  reuig  seine  Gemahlin  zurück. 
Aber  der  Getreue  will  sich  erst  von  der  Aufrichtigkeit  seiner 
Reue  überzeugen  und  hält  den  König  ausweichend  durch  Eecitation 
von  Sprüchen  hin. 

Dixit  rex:    Magnus  est  meus  dolor  et  tristicia,  quia  interfeci  Helebat. 

Alt  Beled :  Duo  sunt,  quorum  magna  est  tristicia  in  hoc  mundo  et  parvum 
gaudium:  qui  dicit  non  esse  post  diem  mortis  nee  iudicium  nee  meritum  nee 
afflictionem,  et  qui  nunquam  egit  miscricordiam  cum  inope. 


*)Johannis  de  Capua  Directorium  vitae  humane  alias  parabola 
antiquorum  sapientum.  Version  latine  du  livre  de  Kalilah  et  Dimnah  publice 
et  annotee  par  J.  Derenbourg.  Paris  1889.  Bibliotheque  de  l'ecole  des 
hautes  etudcs,  Sciences  philologiques  et  historiques  72e  fasc. 

3)  Goedeke,  Grundriß  P  366.  Holland  S.  257  f.  Bcnfey  hatte 
zuerst  darauf  aufmerksam  gemacht. 

3)  Vergl.  Derenbourg  S.  241  Anmerkung  3,  S.  91.  Holland  a,  a.  0, 
Anmerkung  3.    Im  allgemeinen  Derenbourg  S.  II  t 


106 


Dixit  rex:    Si  vidercm  Hclebat,  nunquam  de  aliquo  in  mundo  tristarer. 
Ait  Belcd:     Duo    sunt,    qui    non  debcnt  tristari  de  aliquo:     qui  egit  mise< 
ricordiam  et  omni  die  addit  ad  i]lara,  et  qui  nunquam  peccavit  *). 

Dixit  rex:    Factus  sum  per  Helebat  desolatus. 

Ait  Beled:  Tria  sunt  que  fiunt  desolata,  flumen  «cilicet  in  quo  non  est 
aqua,  terra  non  babens  regem  et  mulier  non  hnbens  virum. 

Dixit  rex:   Unde  corrigis  me  hodie? 

Ait  Beled:  Tres  corrigendi  sunt:  qui  malum  agit  contra  suum  regem,  et 
vir  sciens  mandata  et  ea  non  observat,  et  qui  agit  misericordiam  et  beneficia 
ea  non  cognoscenti. 

Es  ist  ein  geistiges  Turnier.  Je  deutlicher  und  dringender 
die  Wünsche  des  Königs  werden,  desto  länger  werden  oft  die 
Sprüche  Beleds,  ohne  ein  Eingehen  auf  die  Äußerungen  des 
Königs  erkennen  zu  lassen.  In  der  Begel  ruft  ein  Stichwort  in 
des  Königs  Bede  einen  Spruch  Beleds  hervor. 

Dixit  rex:    Si  vere  et  iuste  egisses,  non  interfecisses  äelebat. 

Dixit  Beled:  Quatuor  sunt,  qui  agunt  iuste  et  verc:  servus  qui  parans  sibi 
cibum  Optimum  et  illum  appetcns  proponit  non  sibi  sed  domino  suo,  et  vir  qui 
una  muliere  est  contcntus,  et  rex  qui  querit  pro  suis  factis  a  suis  viris  consiliuro, 
et  qui  suam  iram  compescit  violenter. 

Dixit  rex:    Non  amplius  decet  nos  tibi  adherere. 

Dixit  Beled:  Decem  sunt,  qui  nunquam  sibi  invicem  adhcrent,  scilicet  nox 
et  dies,  iustus  et  impius,  tenebre  et  lux,  bonum  et  malum,  vita  et  mors. 

Dixit  rex:  Jam  orta  est  in  corde  meo  inimicicia  adversus  te,  quia  inter- 
fecisti  Helebat. 

Ait  Beled:  Octo  sunt,  que  sibi  inimicantur:  lupus  et  canis,  murilegus  et  mus, 
nisus  et  columba,  corvus  et  bubo. 

Dixit  rex:    Sufficere  tibi  debet  quia  probasti  et  temptasti  me. 

Dixit  Beled:  In  decem  probafur  res:  vir  fortis  in  bello,  bos  in  aratro, 
servus  in  sua  dilectione  erga  homines,  intellectus  vero  et  discrecio  regis  probatur 
in  eius  ire  prorogatione,  mercator  vero  in  suis  negociationibus,  socii  vero  quando 
sociorum  suorum  remittunt  offensas,  fidelis  amicus  probatur  in  temporibus  ad- 
versitatum  amicorum  suorum,  vir  autem  religios'is  suis  elemosinis  et  eius  perse- 
verantia  in  hac  vita  in  maceratione  sui  corporis  et  su3  persone  afflictione,  vir 
vero  nobilis  natura  probatur  in  sue  manus  largitate  omnibus  petentibus,  pauper 
vero  probatur  recedendo  a  peccatis  et  querendo  tamen  suum  victum  iuste  et 
temperate.« 

Endlich  entdeckt  der  Fürst  dem  Sederas  die  Bettung  seiner 
.  Gemahlin  und  führt  sie  ihm  wieder  zu. 

Hans  Sachs  hat  daraus  ,ein  comedi  gemacht,  mit  27  personen 
zu  agieren:    König  Sedras   mit  der  Königin  Helebat  und  Pillero, 

0  S.  259  ff. 


107 


dem  fürsten  etc.,  hat  7  actus.'  (Keller-Goetze  16,  144),  und 
wenn  er  auch  frei  mit  seiner  Vorlage  umging,  so  hat  er  doch 
eine  ganze  Anzahl  indischer  Sprüche  mit  aufgenommen.  Alle 
sind  gleich  gebaut:  Aufzählung  bestimmter  Dinge  ist  ihr  Thema. 
Um  einen  Vierzeiler  zu  erhalten,  erweitert  Hans  Sachs  auch 
wohl  seine  Vorlage  z.  B. 

Pillero    spricht: 
Umb  drey  ding  soll  man  trawren  nicht: 
Wer  gar  ist  keiner  sünd  verpflicht, 
Auch  der  stets  übt  barmhertzigkeit, 
Und  der  ni  kein  lug  hat  geseyt '). 

Der  lateinische  Text  des  Directorium  ist  oben  angegeben; 
die  deutsche  Vorlage  sagt: 

,Es  sind  zwey,  die  umb  nicht  truren  söUen:  wer  all  tag  barmhertzigkeit 
erzeugt  hat  und  der  nie  gesundet^).' 

Was  Hans  Sachs  hinzusetzt,  ist  am  wenigsten  priamelartig 
abgerundet  z.  B. 

Pillero  der  fürst  spricht: 
Vier  ding  sind  aller  hilffe  ohn: 
Der  obren  hat,  nicht  hören  kon; 
Der  äugen  hat,  und  kan  nicht  sehen; 
Ein  mund  hat,  kan  kein  wort  nicht  jehen; 
Wer  sterben  muß  und  ist  allein 3). 

Dagegen  hat  die  Vorlage: 

,Drü  ding  sind,  die  helffloß  heißen:  ein  riins  ohn  wasser,  ein  land  on 
ein  herren  vnd  ein  weyb  on  einen  man*).' 

Bemerkenswert  sind  Änderungen,  durch  die  der  deutsche 
Dichter  seine  Vorlage  nationalisiert.  Der  Mörder,  der  sich  dem 
Brahmas  Antlitz  schauenden  Einsiedler  gleichsetzen  will,  wird 
zum  Armen,  der  einem  Mächtigen,  Eeichen  zu  gleichen  begehrt^). 
An  einer  andern  Stelle  läßt  er  aus^j:  „ein  jungfrouw,  die  ein 
wyb  verspottet,  die  einen  eelichen  man  nam  (dann  niemans  weißt, 
ob  sy  vsserhalb  der  ee  einen  man  hat  oder  nemen  mag^)."  Mit 
Ausnahme  des  dritten  Verses  gehören  folgende  Worte  Pilleros 
ganz  dem  deutschen  Dichter: 

Vier  ding  bewaren  sich  gar  hart: 
Wer  in  seim  zom  ist  unbehut; 


0  178,  5.     2)  154^  19.      3)  179^  i.      4)  154^  37.      5)  179^  27.  155,  19. 
6)  188,  11  ff.    ^)  155,  32. 


108 


Ein  fraß,  der  doch  kein  arbeit  thut; 
Der  Schwert,  doch  man  sein  lug  versteht; 
Wer  mit  eim  beltz  an  regen  geht. 

Auch  ohne  die  Vorlage  zu  vergleichen,  würde  man  in  dem 
schalkhaften  letzten  Bild  den  Nürnberger  Humor  hervorblicken 
sehen. 

Solche  Züge  abgerechnet,  erinnert  diese  Sentenzen-Manufaktur 
wie  die  meisten  Triaden  etwas  an  die  trüben  Wasser  selbst- 
gemachter Weisheit,  von  denen  ein  Herausgeber  des  Frei  dank 
einmal  redet.  Selbst  wo  Hans  Sachs  frei  sich  gehen  läßt,  bleibt 
der  Ton  unbelebt  abstrakt,  ohne  einen  Schimmer  der  drastischen 
Lebensfülle  des  alten  Priamels^)  z.  B. 

Nicmatkdt  kein  glauben  setzen  sol 

AufT  ein  tückisch,  schleichenden  hund, 

Und  an  ein  vil  geschwätzing  round, 

Und  an  ein  ungetrewen  herm, 

Und  ein,  der  heymlich  wil  erfehm, 

Ein,  der  in  todtes-nöten  leit; 

Der  keinr  helt  glaubn,  trew  und  Wahrheit^). 

In  allen  Beispielen  war  die  Struktur  des  Priamels  undeutlich, 
immer  Aufzählungen.  Diese  kommen  ja  nun  auch  besonders  im 
späteren  Priamel  vor,  aber  aus  einheimischer  traditioneller  Kunst- 
übung entwickelt.  Noch  mehr;  Hans  Sachs,  der  durchlauchtigste 
deutsche  Poet,  kennt,  das  heißt  übt  das  einheimische  vulgäre 
Improvisationsgedicht  des  Priamels  gar  nicht  mehr;  sondern  bei 
ihm  ist  das  Priamel,  wie  auch  sonst,  wieder  bloße  Einleitung. 
So  22,  533: 

Ein  kurz  priamel  zw  einem  gaistlichen  spruech. 

Hail  und  genad  wünsch  ich  euch  allen! 
Aus  sunder  gunst  und  wolge fallen 
Pin  ich  zw  euch  kumen  herein. 
Pit,  wölt  ein  klaines  stiller  sein 
Und  hören  ain  kurzes  gedieht. 
Aus  heilliger  schrift  zw-gericht, 
Der  sol  zw  ainer  gaistling  speis. 
Nun  hört  und  mercket  auf  mit  fleis ! 


*)  Vergleiche  das  Verhältnis  des  Hans  Sachs  zum  alten  Volkslied, 
worüber  Kopp  in  Lyons  Zeitschrift  f.  d.  d.  Unterricht  14,  433  ff.  ge- 
handelt hat. 

2)  184,  9  ff. 


109 


Dieselbe  Bedeutung  hat  das  Wort*)  17,  237,  24:  im  Schwanck: 
Fatzwerck  auif  etliche  handwerck.  Er  erzählt  da  voq  einem 
Sprecher  im  Wirtshaus,  der  vor  seiner  Bede  ein  ,gut  new  jar* 
>yünscht 

Und  machet  ein  seltzam  preammeln ; 
Und  darnach  er  ohn  alles  stammeln 
Fieng  an. 

Die  dritte  Stelle,  an  der  Hans  Sachs  das  Wort  gebraucht, 
steht  schon  bei  Wendeler^)  (Keller-Goetze  7,  208,  385). 

Wieder  kann  von  Einwirkung  indischer  Gnomik  auf  das 
Priamel  im  Sinne  der  vergleichenden  Theorie  keine  Bede  sein. 
Weder  die  Sprüche  Beleds  noch  Sachsens  Übertragungen  sind 
als  Priamel  im  Sinne  der  Kunstübung  des  15.  Jahrhunderts 
anzusprechen.  Dem  volksmäßigen  deutschen  Improvisationsgedicht, 
dem  Priamel,  stehen  sie  ganz  fremd  gegenüber  und  haben  deshalb 
auch  gar  keine  Einwirkung  auf  einheimische  Kunstübung  gewinnen 
können.  Die  öden  Aufzählungen  aber  werden  zu  einer  trübseligen 
Mode,  die  in  Baschs  270  vierteiligen  Lehrpunkten  den  Höhepunkt 
erreicht. 

Noch  mehr  tritt  diese  Fremdartigkeit  indischer  Gnomik  in 
dem  letzten  hier  anzuführenden  Fall  zu  Tage.  Arnold  hatte 
in  der  ,OfiFenen  Thür  zu  dem  verborgenen  Heidenthum'  Nürnberg 
1663  bereits  200  Sprüche  des  Bhartrihari  nach  Abraham  Bogers 
holländischer  Vorlage  übersetzt.  Der  ,weltberühmte^  Adam 
Olearius  ließ  die  Sprüche  S.  92  ff.  im  Anhang  seiner  Beise- 
beschreibung  (Hamburg  1696)  wieder  abdrupken.  Nun  verstehen 
die  Teilnehmer  der  Moscowitischen  Beise  ganz  gut  eigne  Priamel 
zu  machen  (S.  106),  die  sogar  noch  Schillers  Aufmerksamkeit  auf 
sich  gezogen  haben;  aber  in  den  Sprüchen  Bhartriharis  erkennen 
sie  nichts  dem  Ähnliches.  Auch  hier  keine  Spur  des  Zusammen- 
hanges. 

Am  nächsten  kommt  deutscher  volkstümlicher  Priamelliteratur 
das  Sapta9atakam  des  Uäla^).  Obwohl  Feinheiten  dieser 
indischen   Vierzeiler  darauf  hinweisen,   daß   die  Verfasser  nichts 


*)  Es  wird  doch  wohl  Infinitiv  des  Verbums  sein. 

^)  De  praeambulis  S.  23,  dessen  Schlüssen  gegen  Uhl  S.  111  bei- 
zustimmen sein  dürfte. 

^)  Abhandlungen  für  die  Kunde  des  Morgenlandes  Y3  und  VII 4. 
Gustav  Meyer,  Essays  1,  292  ff. 


120 


zwei,  drei,  ja  noch  mehr  dergleichen  Verse  entstehen  können. 
Indessen  läßt  sich,  abgesehen  hiervon,  auch  sehr  wohl  annehmen, 
daß  der  zweite  Sänger,  der  unter  Umständen  dem  ersten  an 
Begabung  ebenbürtig  sein  konnte,  bei  der  Wiederholung  des 
Verses  aus  eigenem  Antriebe,  um  dem  ersten  Sänger  nicht  nach- 
zustehen, die  Worte  und  Bilder  seines  Kameraden  änderte,  und 
hieraus  ließe  sich  auf  eine  künstlerische  und  noch  natürlichere 
Weise  der  Reichtum  an  Bildern  in  den  Parallelversen  erklären.** 
So  Paul  in  der  Einleitung  der  Kanteletar,  S.  VIII*). 

Uralt  sind  diese  Improvisationen ,  älter  jedenfalls  als  die 
im  12.  Jahrhundert  erfolgte  Einführung  des  Christentums  in 
Finnland,  geschmückt  mit  ,unglaublich  reicher'  Alliteration  ^j,  die 
ihnen  freilich  nicht  erst  die  Germanen  vermittelten^),  noch  eng 
verknüpft  mit  der  musikalischen  Grundlage,  der  sie  entwachsen. 
Der  musikalische  Charakter  überwiegt  in  dieser  Poesie,  wie  im 
Leben  des  Kindes  das  Vegetative.  Die  Kanteletar  zeigen  „ein 
wenig  kompliziertes  und  von  keinem  Zwiespalt  zerrissenes  Seelen- 
leben, .  .  .  ernst  und  still  wie  die  Urwälder  und  Landseen 
Finnlands*)".     Ich  wähle  zwei  Beispiele  edelster  Volkspoesie: 

Die   Verratene. 

Einst,  als  ich  des  Wegs  gewandelt, 
Jener  UnglUcksstelle  nahte, 
Da  erzählte  schon  die  Insel, 
Rauschten  schon  am  Strand  die  Wellen, 
Weinten  die  besonnten  Wiesen, 
Klagten  schon  die  schönen  Fluren, 
Flüsterten  die  Frühlingsblumen, 
Jammerte  der  junge  Rasen 
Um  das  dort  gefallne  Mädchen, 
Um  des  armen  Kindes  Elend  5). 


allein.**     Comparetti,    S.  66  Anmerkung.     Vgl.    Zeitschrift   für    deutsches 
Altertum.  27,  346.    Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus  S.  276  f. 

*)  Dazu  Comparetti  S.  65  f. 
3)  Paul  S.  IX. 

3)  Gegen   J.  Grimra,   Kleinere  Schriften  2,  80 ff.  erklärte    sich  Com- 
paretti S.  30ff.  265  ff.  272. 

*)  G.  Meyer,  Essays  2,  170.    Comparetti  S.  15, 
5)  Paul  S.  103. 


121 


Beim  Abschied   der  Braut. 
Deine  Spur  wird  bald  verschwinden, 
Auf  dem  Eise  leicht  vergehen, 
Sturm  und  Wind  wird  deine  Schritte, 
Schnee  des  Kleides  Spur  verwehen ; 
Nicht  die  Mutter  hört  dein  Rufen, 
Nicht  der  Vater  deine  Seufzer, 
Nicht  die  Schwester  deine  Klagen, 
Nicht  der  Bruder  sieht  dein  Leiden; 
In  der  neuen  Heimat  wirst  du 
Fremdling  unter  Fremden  bleiben*). 

Parallelismus  der  Glieder  und  Streben  nach  Einheit  des 
Gedankens  wie  der  syntaktischen  Konstruktion  sind  unverkennbar; 
deutlicher  noch  in  den  Mädchenliedern: 

Andre  Zeiten. 
Ach,  da  kamen  andre  Zeiten: 
Meine  Kinderjahre  gingen, 
Mit  den  Schwänen  schwand  die  Schönheit, 
Mit  den  Lerchen  floh  der  Liebreiz, 
Mit  den  Finken  zog  mein  Frohsinn, 
Mit  den  Vöglein  meine  Freude*). 

Die  Verstoßene. 
Eins  nur  werd  ich  nie  erfahren: 
Einer  Mutter  sanfte  Pflege, 
Eines  Bruders  treue  Sorgfalt 
Und  die  Liebe  einer  Schwester. 

Hier  sehen  wir  vor  unsern  Augen  die  sogenannte  analytische 
Priamelform  ganz  äußerlich  entstehen.  Die  synthetische  ist 
meist  ausgeschlossen^),  weil  der  erste  Sänger  das  zusammen- 
fassende Thema  immer  schon  angibt.  Die  analytische  Form  ist 
überaus  reich  entwickelt;  auch  hier  stellt  sich  natürlich  die  Auf- 
zählung ein.  An  gnomischem  Inhalt  fehlt  es  nicht:  agunt  partim 
de  argumentis  severioribus  maxime  moralibus*).  Der  traditionelle 
Charakter   der   Gnomik  hat  hier,   wie   sonst,    der  Improvisation 


«)  a.  a.  0.  130. 

«)  S.  27. 

3)  In  Altmanns  Runen  finnischer  Volkspöesic  (Leipzig  1856)  erscheint 
sie  einigemal:  S.  27.  72.  107.  140.  131.  Über  andre  den  deutschen  analoge 
Formen  wird  unten  bei  Erörterung  der  Priamelform  die  Rede  sein. '] 

*)  Porthan  bei  Burdach  27,  346.    Comparetti  S.  2, 


112 


hat,  stellte  vor  allem  den  ganz  bedeutenden  Einfluß  der  Bibel 
auf  Freidanks  Sammelwerk  ans  Licht.  Er  hat  hier  eher  noch 
zu  wenig  als  zu  viel  getan;  manches  ließe  sich  nachtragen, 
z.  B.  das  zu  Vers  92,  17  vergessene  Vorbild  der  Salomonischen 
Proverbia  12,  16.  Aber  was  die  gnomische  Poesie  der  Hebräer 
bietet,  reicht  einerseits  nicht  aus,  um  daraus  die  Gattung  des 
Priamels  abzuleiten,  und  andrerseits  wird  eine  Prüfung  des  hier 
in  Betracht  kommenden  Materials  zeigen,  daß  die  entsprechenden 
Vorbilder  der  Bibel,  schon  weil  man  die  Form  nicht  verstand, 
formell  fast  gar  nicht  eingewirkt  haben.  Am  meisten  widersprechen 
die  Tatsachen  der  Entstehung  des  Priamels  seiner  Herleitung  aas 
hebräischer  Poesie. 

Die  Gesetzesvorschriften  Hesekiels  18,  5  ff.  sind,  wenn  man 
sie  mit  germanischen  ßechtsformeln  vergleicht,  von  ärmlicher 
Trockenheit.  Sehr  treffend  sind  im  Anfang  des  12.  Kapitels 
von  dem  Ecclesiastes  die  bösen  Tage  in  kunstvoller  Periode 
ausgemalt.  Wer  Gewicht  darauf  legt,  mag  sie  mit"  der  Periode 
eines  analytischen  Priamels  vergleichen. 

Memento  Creatoris  tui  in  diebus  iuventutis  tuae, 

antequam  veniat  tempus  afHictionis ,  et  appropinquent  anni,  de  quibus 
dicas:   Non  mihi  placent, 

antequam  tenebrescat  sol,  et  lumen,  et  luna,  et  stellae,  et  revertantur 
nubes  post  pluviam: 

quando  commovebuntur  custodes  domus,  et  nutabunt  viri  fortissimi> 

et  otiosae  erunt  molentes  in  minuto  numero, 

et  tenebrescent  videntes   per  foramina: 

et  claudent  ostia  in  platea,  in  humilitate  vocis  molentis, 

et  consurgent  ad  vocem  volucris,  et  obsurdescent  omnes  filiae  carmi- 
nis  u.  s.  w. 

Aber  meines  Wissens  hat  das  Niemand  in  deutscher  Priamel- 
dichtung  nachgeahmt.  Die  Ausführungen  Freidanks  über  das 
Ende  der  Dinge  (46,  5.  60,  9.  133,  27).  kann  man  doch  wohl 
hiermit  nicht  in  Zusammenhang  bringen.  Auch  die  hebräische 
Spruchpoesie  behandelt  Zusammengehöriges  (wie  Proverbia  26,  3), 
Passendes  (wie  Ecclesiastes  3,  1  ff.),  warnt  vor  dem  Weibe  ohne 
Zucht  (fatua,  Proverb.  11,  22.),  vor  Bürgschaft  (daselbst  11,  15), 
vor  zänkischen  Frauen  (21,  9.  25,  24),  vor  Geiz  (Ecclesiastes  6,  1  ff), 
und  gefällt  sich  in  Aufzählungen  wie  Proverbia  6,  16  flf.  30,  15  ff. 


113 

Liber  Sapientiae  7,  17  ff.  14,  25  ff.  17,  17fi'.^);  aber  in  der 
deutschen  priamelhaften  Gnomik  sind  diese  Stellen  entweder  gar 
nicht  benutzt,  oder,  wenn  es  geschehen,  die  Form  bis  auf  einen 
Fall  geändert.  Dieser  eine  Fall  aber  bietet  nur  geringe  Gewähr 
für  den  wirklich  priamelhaften  Charakter  des  deutschen  Spruches. 

Auch  die  spätere  jüdisch-arabische  Literatur  scheint  ohne 
Einfluß  auf  deutsche  Dichtung  gewesen  zu  sein^). 

Prüfen  wir,  anstatt  uns  in  Allgemeinheiten  zu  ergehen,  die 
deutsche  priamelhafte  Gnomik  bis  auf  Freidank,  indem  wir  dabei 
die  Abhängigkeit  von  der  Bibel  feststellen.  Eine  Untersuchung 
hat  nämlich  nur  dann  einige  Aussicht  auf  Erfolg,  wenn  die 
Gnomik  der  älteren  Zeit  ins  Auge  gefaßt  wird.  Gegen  Ende 
des  Mittelalters  schieben  sich  zwischen  die  Bibel  und  deutsche 
Gnomik  so  unberechenbar  viele  Zwischenglieder,  daß  der  Schluß 
auf  wirkliche  Benutzung  der  heiligen  Schrift  meist  alle  Sicherheit 
verliert.  Von  Wahrung  der  metrischen  und  strophischen  Form 
hebräischer  Poesie  kann  schon  in  der  Vulgata  eigentlich  gar  keine 
Bede  mehr  sein;  die  Bibel  hat  immer  inhaltlich,  nicht  formell 
die  mittelalterliche  Dichtung  befruchtet.  Gelegentliche  stilistische 
Einwirkung  ist  bei  tatsächlicher  Übertragung  und  Verarbeitung 
natürlich  nicht  ausgeschlossen,  ühland  sagt  mit  Becht,  Luther 
habe  selbst  die  Psalmen  zu  Volksliedern  gestimmt^);  dabei  ver- 
flüchtigt sich  alle  orientalische  Poetik.  Es  läßt  sich  nicht  vermeiden, 
hier  zum  Beweis  gleich  einiges  vorwegzunehmen,  was  später 
ausführlicher  zu  begründen  ist. 

Wo  Notker,  Wernher  von  Elmendorf,  Heinrich  von 
Melk  priamelartige  Form  verwenden,  tun  sie  es  im  Widerspruch 
mit  ihren  theologisch-biblischen  Vorlagen,  das  heißt  bei  Wernher 


*)  Vergl.  die  oben    aus    indischer  Gnomik    angeführten  Beispiele    des 
Directorium  vitae  humanae. 

')  Aufzählungen  liebt  wie  der  Talmud  auch  Santob  de  Carrion  (um 
1350)  Stein  S.  84:  Mischle  Cachamim  Nr.  96. 

Drei  hat  mein  Mitleid  sich  auserkoren: 
Den  Edlen,  der  sein  Ansehen  verloren, 
Den  Armen,  der  in  Reichtum  geboren, 
Den  Weisen  in  Gesellschaft  der  Thoren. 
Vergl.  S.  82.  81.  79   und   zu  S.  84   Fritze,   Indische    Sprüche    S.  G6. 
Nr.  305. 

3)  Schriften  3,  10. 
Enling,  Prlamel  8 


114 


und  Heinrich  versagt  überhaupt  die  Vorlage  für  diese  Stellen. 
Ebensowenig  sind  diejenigen  gnomischen  Strophen  auf  die  Bibel 
zurückzuführen,  welche  in  der  priamelhaften  Spruchdichtung  des 
ältesten  Minnesanges  erscheinen.  Dagegen  hat  Freidanks  gelehrte 
Bildung  auch  in  priamelhafter  Dichtung  wiederholt  auf  die  Bibel 
zurückgegriffen.  Vers  94,  1  und  128,  6  benutzt  er  nur  den 
Inhalt,  nicht  die  Form;  selbständig  verfährt  er  auch  22,  12; 
65,  5;  66,  13;  78,  17;  107,  2  und  127,  22;  nur  69,  5  über- 
setzt er  genauer.  Aber  von  allen  ist  dieser  Spruch  am  wenigsten 
priamelhaft  und  begegnet  sich  in  der  Form,  wie  später  zu  zeigen, 
mit  volksmäßiger  Gepflogenheit  bei  Aufzählungen.  Für  die 
meisten  Priamelsprüche  der  Bescheidenheit  kommt  die  Bibel  gar 
nicht  in  Frage.  Das  Verfahren  Hugos  von  Trimberg  bestätigt 
dieses  Resultat.  Zur  Unmöglichkeit  wird  die  angenommene  Her- 
leitung des  Friamels  aus  der  Bibel  durch  die  Tatsache  ihres 
volksmäßigen  Ursprungs.  Die  Priamelform  wird  sich  als  typische 
volksmäßige  Improvisationsform  ausweisen,  die  in  den  verschie- 
densten Erscheinungen  primitiver  und  halbprimitiver  Poesie  vor- 
kommt, nicht  nur  in  Deutschland  oder  im  Orient,  sondern  fast 
überall.  Auf  die  priamelhafte  deutsche  Gnomik  hat  die  hebräisch- 
biblische Spruchdichtung  keinen  größerer  Einfluß  ausgeübt,  als 
auf  deutsche  Gnomik  überhaupt.  So  muß  die  Annahme,  daß 
insbesondere  aus  lateinischen  Bibelsprüchen  der  Vulgata  das 
deutsche  Priamel  entstanden  sei,  abgelehnt  werden. 

5. 

Die  entstehende  volkssprachliche  Literatur  der  Lyrik  und 
Didaktik  konnte  sich  von  der  gleichzeitig  im  12.  Jahrhundert 
blühenden  und  angesehenen  mittellateinischen  Dichtung  eigent- 
lich nichts  aneignen.  Die  Gelegenheitsdichtung  zum  Beispiel  des 
Hildebert  von  Tours ^)  oder  des  Marbod  ist  durchweg  reine 
Formsache,  greisenhaft  abgelebt,  spitzfindig  spielerisch,  rhetorisch- 
klügelnd,  in  oft   halsbrecherischen   metrischen  Kunststücken   sich 


*)  Histoire  litteraire  de  la  France  11,  387.  Grob  er s  Grundriß  der 
romanischen  Philologie  II*  381  ff.  Heinzel,  Heinrich  von  Melk  S.  49. 
Vgl.  aus  mittelgriechischer  Literatur  etwa  die  Gedichte  des  Christophoros 
Mitjlenaios  hg.  von  Kurtz.    Leipzig  1903. 


115 

übende  BeflexioDspoesie  schlimmster  Art:  Gedichte  auf  einen 
Hermaphroditen*),  auf  Ammon  und  Thamar,  über  Geld,  Weiber, 
Glücksrad,  auf  eine  Geißel,  auf  Tiere,  auf  Gegenstände  der  Bibel 
und  der  scholastischen  Literatur,  Inschriften,  Grabschriften, 
Epigran^me,  Sentenzen,  Gebete,  Briefe,  Bätsei,  Hymnen:  ohne 
originalen  Geist,  ohne  Freiheit,  ohne  Natürlichkeit.  Was  dem- 
gegenüber an  Gnomik  im  Volke  umlief,  war  ganz  anders  geartet. 
Gewiß  ist  in  der  Bescheidenheit  wie  im  Benner  und  Narrenschifl' 
viel  Gelehrt- scholastisches,  viel  der  kirchlichen  Kultur  des  Völker- 
chaos Entlehntes,  viel  Schablonenhaftes  und  Trockenes:  aber  der 
Grundton  ist  von  volkstümlicher,  wenn  auch  oft  barocker  Origi- 
nalität, derb  anschaulich,  deutsch.  Wäre  das  Priamel  bloße  Form, 
dann  hätten  wir  auch  mittellateinische  ,Praeambulisten'  genug. 
Es  mag  an  einigen  Beispielen  deutlich  gemacht  werden,  daß  das 
nicht  der  Fall  ist.  Ein  wortspielender  Vierzeiler  Marbods 
empfiehlt  die  doctrina: 

Doctrinae  commendatio. 
Cum  sine  doctrina  nil  proficiat  medicina, 
Nee  sine  doctrina  tendantur  in  aequora  lina, 
Nee  sine  doctrina  portum  petat  ulla  carina: 
Audi  doctrinam,  si  vis  vitare  ruinam^). 

Nun  gibt  es  z.  B.  zahllose  Schnaderhüpfel  des  Typus  A,  die 
zu  der  Annahme  verführen  könnten,  es  läge  hier  dieselbe  Form 
vor;  aber  das  Unterscheidende  besteht  darin,  daß  der  gelehrte 
Marbod  eben  nur  nach  dem  Becept  der  Bepetitio  gearbeitet  hat, 
das  er  De  ornamentis  verborum  §  1  gegeben:  Bepetitio  est,  cum 
continentur  atque  eodem  verbo  in  rebus  similibus  et  diversi 
principia  sumuntur;  hoc  modo  .... 

Femina  justitiam  produxit,  femina  culpam. 
Femina  vitalem  dedit  ortum,  femina  mortem. 
Femina  peccavit,  peccatum  femina  lavil'). 

Ahnlich  ist  folgender  Vierzeiler  Hildeberts  gebaut: 

Quod  bono  male  et  malo  bene  proveniat. 
Est  aliquando  bene,  bene  ne  gravibus  superetur. 


^)  Lessing  nennt  es  in  den  Zerstreuten  Anmerkungen  über  das 
Epigramm  ein  sehr  berühmtes,  bewundertes  Werk,  dessen  Verfasserschaft 
vielumstritten  (!). 

3)  Patrologia  (Migne)  171,  1684.    Nr.  XLIX. 

3)  Patrologia  171,  i687. 

8* 


116 


Est  male  quod  maculas  lavet  adversisquc  probctur. 

Est  aliquando  malo  bene  quo  gravius  feriatur. 

Est  male  quo  redeat  velut  hie,  quoque  jam  patialur^). 

Nur  ist  durch  gleichzeitige  Anwenduag  der  Gontentio  die 
Künstelei  noch  gesteigert.  Gontentio  est,  erklärt  Marbod  De 
ornamentis  verborum  §5,  cum  ex  contrariis  rebus  oratio  conficitur^); 
ein  Spiel  des  witzigen  Scharfsinnes,  das  proven9alische  und  fran- 
zösische Dichter  vom  12.  Jahrhundert  bis  ins  15.  mit  Vorliebe 
übten.  Noch  Gharles  d'Orleäns  stellte  selbst  ein  Thema  dazu: 
Je  meurs  de  soif  aupres  de  la  fontaine,  ließ  viele  Dichter 
konkurrieren  und  ihre  Lösungen  1456  in  einem  Bande  vereinigen. 
Fran9ois  Villen  war  unter  den  Beisteuernden').  Als  rhetorische 
Schulübung,  nicht  als  Priamel  sind  demnach  Vierzeiler  zu  be- 
urteilen wie  der  Hildeberts  De  oppositis: 

Turbat  hiems  florem,  nox  lucem,  larva  decorem, 
Ariditas  rorem,  mors  vitam,  corvus  olorem, 
Tristities  risum,  labor  otia,  Styx  paradisum, 
Noctua  pavonem,  lupus  agnum,  Davus  Adonem^J. 

Aufzählung,  Repetitio  und  Gontentio  verbindet  Hildebert  in 
dem  Vierzeiler  De  quatuor  bonis  et  quatuor  malis: 

Spernere  mundum,  spernere  scse,  spernere  nuUum, 
Spernere  sc  sperni:    quatuor  haec  bona  sunt. 
Quaerere  fraudem,  quaerere  pompam,  quaerere  laudem, 
Quaerere  se  quaeri:    quatuor  haec  mala  sunt^). 

Auch  bloße  Aufzählungen  sind  beliebt^).  Fast  sinnlose 
Spielereien,  wie  sie  Minne-  und  Meistergesang,  später  die  galante 
Lyrik  übten,  pflegt  Marbod: 

Nugae   poeticae. 
Altus  mons.  firmus  pons.  libera  frons.  vitreus  fons. 
Arbor  nux.  sacra  crux.  leo  trux.  bona  lux.  vigilans  dux. 
Candida  nix.  nigra  pix.  homo  frix.  aqua  Styx.  volucris  strix. 
Fertile  rus.  corruptio  pus.  et  amica  luto  sus. 
Longum  crus.  curvat  grus.  rodit  mus.  redolet  thus. 


»)  Fatrologia  171,  1436.    Nr.  CXXI. 

')  171,  1689. 

3)  Gaston  Paris  S.  59  f. 

*)  Fatrologia  171,  1446.    Nr.  XII. 

5)  1437.  Nr.  CXXIV. 

6)  z.  B.  1280.    Nr.  III,  VII.  1436.   Nr.  CXXII. 


117 


Est  mordax  dens,  estque  memor  mens,  est  patriae  gens, 
Urbis  plebs,  virtus  spes,  omnia  res.  graditur  pes. 
Cogit  vis.  turbat  lis,  in  tribus  aequivocat  glis. 
Ditat  dos,  vernat  flos.  stillat  ros,  acuit  cos. 
Uxor  fratris  glos,  mugit  bos,  cuncta  trahit  mos. 
Dat  sors,  aufert  mors,  resonat  vox,  furta  tegit  nox. 
Jus  carnis,  vis  rectoris,  et  est  jus  juris  utrumque  *). 

Jakob  Gats  läßt  im  Spiegel  der  alten  und  neuen  Zeit  den 
zurückkehrenden  Jüngling  seine  Landsleute  mit  Sprüchen  be- 
schenken, Sinnsprüchen  von  zwei  Silben,  von  zwei  Wörtern,  von 
drei  und  vier  Wörtern;   z.  B.^). 

Sinn-Sprtiche   von  zwei  Silben. 


List 

mist. 

Zanck 

Stanck. 

Leidt 

Neid. 

Neid 

Streit. 

Meidt 

Neid. 

Raht 

Staat. 

Thut 

gut. 

Sinn-Sprüche   von  zwei  Wörtern. 

Zucht  Frucht 

Morgen  Sorgen 

Metzen  verletzen. 

Herren  versperren  u.  s.  w. 

In  einer  mittellateinischen  Handschrift  des  13.  Jahrhunderts 
von  St.  Omer  findet  sich  der  Vierzeiler: 

Eva        \  /       pietate       \  /      fert  tristia 

Virgo   >^\  / ^^  non  prole  v.  \  /^   dat  gaudia  -^ 

«.        ^yparensCC        ,  >)carens\<C  ,    ,. 

Frima       /  \       sed  amore       /  \      mortem  deditv.       l-sn 

Sancta    /  \      sed  feile      /  \   tulit  abditam 

Trotz  alledem  darf  man  auch  diese  Literatur  nicht  ganz  aus 
den  Augen  lassen;  hat  doch  z.  B.  Hildebert  von  Tours  in  einem  an 
seinen  Enkel  gerichteten  Poem  das  Motiv  zu  einem  vom  14.  Jahr- 
hundert an  vielvariierten  Priamel  erhalten. 


»)  1685.    Nr.  LVIII. 

^)  S.  137  der  Hamburger  Bearbeitung  von  1711  (Sinnreicher  Wercke 
und  Gedichte  Dritter  Theil). 

^)  Notices  et  extraits  des  manuscrits  de  la  bibliotheque  nationale  et 
»utres  bibliotheques  (Paris  1884)  31,  1,  53.  vgl.  S.  91. 


118 


Ad  nepotem. 
Forma  vivcDdi  praesto  est  tibi:    Pauca  loquaris» 
Plurimam  fac  sit  utrisque  comes  modus,  utile,  rectum; 
Sobrius  a  mensis,  a  lecto  surge  pudicus. 
Obsequiis  instes,  eo  pro  te  praemia  poscant.  % 
Ut  decet  et  prodest  et  amabis  et  oderis  idem. 
Stans  casum  timeas,  speres  prostratus,  et  illum. 
Quem  colis  insignem,  miserum,  abjectumque  tuere  *). 

Wenn  bald  in  der  Priamelüberliefening  Lateinisches  und 
Deutsches  ununterbrochen  neben  einander  hergehen,  so  wird 
dabei  die  deutsche  Produktion  am  wichtigsten ;  die  mittellateinische 
liefert  ab  und  zu  einen  sentenziösen  Einschlags  entbehrt  aber 
sonst  meist  der  Originalität. 

6. 

Es  ist  wunderlich,  daß  die  auf  principiell  vergleichendem 
Standpunkt  stehenden  Gelehrten  so  achtlos  an  der  finnischen 
Poesie  vorübergegangen  sind,  trotzdem  fast  jedes  Gedicht  der 
Eanteletar  im  Sinne  jener  Methode  bessere  Beispiele  „der  PriameP 
geboten  hätte,  als  das  anderswo  sonst  aufgera£fte  Material.  Die 
Poesie  des  begabten  finnischen  Volkes  fordert  in  der  Tat  auch 
vom  Standpunkt  der  Entwicklungsgeschichte  poetischer  Formen 
ungewöhnliches  Interesse  heraus.  Was  sich  aus  finnischer  Dichtung 
für  den  viel  umstrittenen  Ursprung  der  großen  nationalen 
Epopöen  ergibt,  hat  Domenico  Comparetti  zusammenzufassen 
gesucht^).  Die  Entstehung  poetischer  Formen,  auch  solcher,  die 
dem  Priamel  täuschend  ähnlich  sehen,  und  doch  nichts  mit  ihm 
als  solchem  zu  tun  haben,  läßt  sich  nirgends  so  wie  hier  so- 
zusagen mit  Händen  greifen.  Der  vielbewanderte  B.  M.  Meyer 
hat  auch  diesen  Wert  der  Eanteletar  erkannt  und  sie  in  origineller 
Weise  für  die  Geschichte  ,der  altgermanischen  Priamel'  zu  ver- 
wenden versucht. 


>)  1407.  Nr.  LIX.  Vgl.  HMS  3,  419a  XL  Kolm.  Hs.  Nr.  40.  Keller 
Schwanke  Nr.  54.  Hätzlerin  2,  61.  Germania  1888,  162.  Benner  18064  ff. 
Dem  Gedicht  über  Tageseinteilung  Patrologia  171,  1724.  Nr.  XXX  ent- 
sprechen Vorschriften  wie  Kellers  Schwanke  Nr.  53. 

*)  Der  Kalewala  oder  die  traditionelle  Poesie  der  Finnen.  Deutsche 
Yom  Verf.  autorisierte  und  durchgesehene  Ausgabe.  Halle  1892.  Anz.  f. 
d.  A.  19,  132  ff. 


119 

Wenn  wir  unser  Lied  beginnen, 
Uns  zum  Singen  vorbereiten. 
Setzen  wir  uns  auf  den  Stein  dort, 
Nehmen  Platz  zu  beiden  Seiten, 
Oder  setzen  uns  im  Schatten 
Auf  die  weichen  Rasenmatten, 
Prüfen  leise  unsre  Stimmen, 
Bis  der  rechte  Ton  gefunden. 
Lösen  unsern  Liederknäuel, 
Wenn  der  Knoten  aufgebunden; 
Legen  dann  nach  alter  Sitte 
Unsre  Hände  in  einander, 
Wiegen  singend  auf  und  nieder. 
Singen  unsre  besten  Lieder, 
Uns  den  Abend  zu  verkürzen. 
Uns  am  Tage  zu  zerstreuen. 
Um  das  Mittagsmahl  zu  würzen. 
Uns  am  Morgen  zu  erfreuen. 

So  beschreiben  die  ßunensänger  selbst  ihr  Lied^):  „Nach 
Lönnrots  und  Ahlqvists  übereinstimmenden  Mitteilungen  werden 
die  Runen  von  zwei  Sängern  vorgetragen;  sie  sitzen  einander 
gegenüber,  reichen  sich  die  Hände,  und  unter  stetem  Vor-  und 
Rückwärtsbeugen  des  Oberkörpers  beginnt  der  Gesang  so,  daß 
der  Hauptsänger,  der  begabteste,  nach  einer  einfachen,  her- 
kömmlichen Melodie  den  ersten  Vers  singt,  der  vom  zweiten 
Sänger  wiederholt  wird,  vielleicht  um  dem  Kameraden  Zeit  für  den 
nächsten  Gedanken  zu  lassen;  findet  der  Hauptsänger  während  der 
Wiederholung  die  Fortsetzung  nicht,  oder  will  er  auf  den  Gedanken 
mehr  Nachdruck  legen,  so  gibt  er  denselben  im  nächsten  Verse 
in  einer  andern  Wendung  oder  in  einem  neuen,  und  so  entsteht 
der  Parallelvers  ^) ;    es   liegt  auf  der  Hand,   daß  auf  diese  Weise 


*)  Paul,  Kanteletar,  die  Volkslyrik  der  Finnen,  Helsingfors  1882.  S.  12. 

^)  Auch  beim  Arbeitsgesang  ließ  sich  die  Entstehung  paralleler  Reihen 
beobachten,  und  zwar  aus  der  Wiederkehr  und  Abfolge  des  Arbeitsprocesses. 
Einen  ähnlichen  Brauch  wie  bei  den  Finnen  erwähnt  Comparetti  bei  den 
Samojeden.  „Dem  samojedischen  Schamanen  (Tadibe)  assistirt  bei  seiner 
Verrichtung  ein  anderer  minderwertiger  Zauberer;  der  erste  beginnt  mit 
dem  Schlagen  der  Zaubertrommel  und  singt  einige  Worte  mit  ängstlicher 
düsterer  Melodie,  dann  fällt  plötzlich  der  andere  ein,  und  es  singen  beide, 
gleich  den  finnischen  Runensängern  gemeinsam  die  gleichen  Worte;  dann 
schweigt   der   erste,   und  der  zweite  wiederholt  das  vom  ersten  Gesungene 


120 


zwei,  drei,  ja  noch  mehr  dergleichen  Verse  entstehen  können. 
Indessen  läßt  sich,  abgesehen  hiervon,  auch  sehr  wohl  annehmen, 
daß  der  zweite  Sänger,  der  unter  Umständen  dem  ersten  an 
Begabung  ebenbürtig  sein  konnte,  bei  der  Wiederholung  des 
Verses  aus  eigenem  Antriebe,  um  dem  ersten  Sänger  nicht  nach- 
zustehen, die  Worte  und  Bilder  seines  Kameraden  änderte,  und 
hieraus  ließe  sich  auf  eine  künstlerische  und  noch  natürlichere 
Weise  der  Reichtum  an  Bildern  in  den  Parallelversen  erklären.** 
So  Paul  in  der  Einleitung  der  Kanteletar,  S.  Vin^). 

Uralt  sind  diese  Improvisationen ,  älter  jedenfalls  als  die 
im  12.  Jahrhundert  erfolgte  Einführung  des  Christentums  in 
Finnland,  geschmückt  mit  ,unglaublich  reicher'  Alliteration^),  die 
ihnen  freilich  nicht  erst  die  Germanen  vermittelten^),  noch  eng 
verknüpft  mit  der  musikalischen  Grundlage,  der  sie  entwachsen. 
Der  musikalische  Charakter  überwiegt  in  dieser  Poesie,  wie  im 
Leben  des  Kindes  das  Vegetative.  Die  Kanteletar  zeigen  „ein 
wenig  kompliziertes  und  von  keinem  Zwiespalt  zerrissenes  Seelen- 
leben, .  .  .  ernst  und  still  wie  die  Urwälder  und  Landseen 
Finnlands*)".    Ich  wähle  zwei  Beispiele  edelster  Volkspoesie: 

Die   Verratene. 

Einst,  als  ich  des  Wegs  gewandelt, 
Jener  UnglUcksstelle  nahte, 
Da  erzählte  schon  die  Insel, 
Rauschten  schon  am  Strand  die  Wellen, 
Weinten  die  besonnten  Wiesen, 
Klagten  schon  die  schönen  Fluren, 
Flüsterten  die  Frühlingsblumen, 
Jammerte  der  junge  Rasen 
Um  das  dort  gefallne  Mädchen, 
Um  des  armen  Kindes  Elend  ^). 


allein."     Comparetti,    S.  66  Anmerkung.     Vgl.    Zeitschrift   für    deutsches 
Altertum.  27,  346.    Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus  S.  276  f. 

*)  Dazu  Comparetti  S.  65  f. 
3)  Paul  S.  IX. 

3)  Gegen   J.  Grimm,   Kleinere  Schriften  2,  80 ff.  erklärte   sich  Com- 
paretti S.  30ff.  265  ff.  272. 

*)  G.  Meyer,  Essays  2,  170.    Comparetti  S.  15, 
5)  Paul  S.  103, 


121 


Beim  Abschied   der  Braut. 
Deine  Spur  wird  bald  verschwinden, 
Auf  dem  Eise  leicht  vergehen, 
Sturm  und  Wind  wird  deine  Schritte, 
Schnee  des  Kleides  Spur  verwehen ; 
Nicht  die  Mutter  hört  dein  Rufen, 
Nicht  der  Vater  deine  Seufzer, 
Nicht  die  Schwester  deine  Klagen, 
Nicht  der  Bruder  sieht  dein  Leiden; 
In  der  neuen  Heimat  wirst  du 
Fremdling  unter  Fremden  bleiben*). 

Parallelismus  der  Glieder  und  Streben  nach  Einheit  des 
Gedankens  wie  der  syntaktischen  Konstruktion  sind  unverkennbar; 
deutlicher  noch  in  den  Mädchenliedern: 

Andre  Zeiten. 
Ach,  da  kamen  andre  Zeiten: 
Meine  Kinderjahre  gingen, 
Mit  den  Schwänen  schwand  die  Schönheit, 
Mit  den  Lerchen  floh  der  Liebreiz, 
Mit  den  Finken  zog  mein  Frohsinn, 
Mit  den  Vöglein  meine  Freude "). 

Die  Verstoßene. 
Eins  nur  werd  ich  nie  erfahren: 
Einer  Mutter  sanfte  Pflege, 
Eines  Bruders  treue  Sorgfalt 
Und  die  Liebe  einer  Schwester. 

Hier  sehen  wir  vor  unsern  Augen  die  sogenannte  analytische 
Priamelforra  ganz  äußerlich  entstehen.  Die  synthetische  ist 
meist  ausgeschlossen^),  weil  der  erste  Sänger  das  zusammen- 
fassende Thema  immer  schon  angibt.  Die  analytische  Form  ist 
überaus  reich  entwickelt;  auch  hier  stellt  sich  natürlich  die  Auf- 
zählung ein.  An  gnomischem  Inhalt  fehlt  es  nicht:  agunt  partim 
de  argumentis  severioribus  maxime  moralibus*).  Der  traditionelle 
Charakter   der   Gnomik  hat  hier,   wie   sonst,    der  Improvisation 


»)  a.  a.  0.  130. 

»)  S.  27. 

3)  In  Altmanns  Runen  finnischer  Volkspöesie  (Leipzig  1856)  erscheint 
sie  einigemal:  S.  27.  72.  107.  140.  131.  Über  andre  den  deutschen  analoge 
Formen  wird  unten  bei  Erörterung  der  Priamelform  die  Rede  sein,  ^ 

*)  Porthan  bei  Burdach  27,  346.     Comparetti  S.  2. 


122 


die   wesentlichste  Hilfe   und   bald   einen   eisernen  Bestand  allzeit 
bereiten  Materials  gesichert'). 

Der  Erfahrene. 
Habe  alles  schon  vor  Jahren 
Reichlich  in  der  Welt  erfahren, 
Nur  drei  Dinge  ausgenommen  3) : 
Zweimal  auf  die  Welt  zu  kommen, 
Um  ein  junges  Weib  zu  werben, 
Und  als  Schwiegersohn  zu  sterben^). 

Drei  böse  Dinge. 
Männern  dröhn  drei  böse  Dinge, 
Drei  sinds,  die  den  Tod  ihm  bringen: 
Erst  ein  Boot  mit  leckem  Boden, 
Dann  ein  widerspenstig  Füllen, 
Drittens  eine  böse  Hausfrau^). 

Auch  die  Klimax^ stellt  sich  ein: 

Zum  Abschied  an  den  Bräutigam. 
Nur  ein  Wort  noch  laßt  mich  sprechen. 
Gönnt  ein  Wörtchen  mir  noch  heute 
An  den  Bräutgam  mir  zur  Seite: 
Freu  dich  nicht  zu  deiner  Jungfrau, 
Nicht  zu  sehr,  ich  will  dich  bitten. 
Freu  dich  nicht  am  ersten  Tage, 
Nicht  am  zweiten;  noch  am  dritten; 
Ruhm  dein  neues  Roß  erst  morgen. 
Deine  Frau  im  zweiten  Jahre, 
Erst  im  dritten  deinen  Schwager, 
Und  dich  selber  nie  im  Leben  ^). 

Ich  füge  gleich  bei  der  für  unsere  späteren  Erörterungen 
sich  ergebenden  Wichtigkeit  der  Stelle,  die  Wiederholung  in 
einem  Wiegenliede ®)  hinzu: 

Ach,  so  manche  arme  Mutter 
Sprach  vor  Zeiten  schon  und  dachte: 


«)  Vgl.  Bücher  S.  304. 

3)  Man  ersieht  aus  diesem  Beispiel^  das  sich  mit  Prov.  30,  15.  16.  18.  19. 
Freidank  69,  5  ff.  128,  6  ff.  berührt,  wieder,  wie  dieselben  Formen  unab- 
hängig von  einander  entstehen. 

3)  Paul  S.  293. 

*)  a.  a.  0.  S.  307.    Vgl.  S.  50.  112.  121. 

6)  a.  a.  0.  S.  143. 

«)  a.  a.  0.  S.  165. 


oder: 


123 

Rühm  dein  Roß  nicht  vor  dem  Morgen, 
Nicht  den  Sohn,  bevor  er  Mann  ist, 
Nicht  die  Tochter  vor  der  Ehe, 
Und  dich  selbst  nicht  vor  dem  Tode. 

An  herrlichen  Bildern  steigert  sich  der  Ausdruck;   z.  B. 

Stimmungen. 
So  ist  des  Bedrückten  Stimmung, 
So  des  Traurigen  Gedanke: 
Wie  die  Herbstnacht  trüb  und  finster, 
Wie  des  Winters  düstre  Tage. 
Trüber  noch  ist  meine  Seele, 
Düstrer  noch  als  Nacht  und  Winter. 

Düster  schleicht  der  Wolf  im  Dickicht, 
Düstrer  noch  Schleich  ich  im  Walde; 
Dunkel  ist  des  Fuchses  Fährte, 
Dunkler  noch  sind  meine  Pfade  u.  s.  w.  *). 

Auch  in  andern  Zügen  hat  die  finnische  Poesie  Entwicklungen 
aufzuweisen,  wie  sie  selbständig  in  der  deutschen  Priameldichtung 
herausgebildet  sind.  Dahin  gehört  die  Häufung  paralleler  Gegen- 
sätze^), die  Beihen  mit  ,ohne'3),  Motive  der  Lügendichtung*),  des 
Wunsches^),  der  Definitionspoesie ^). 

Auch  diese  Improvisationsdichtung  wächst  sich  zu  kleinen 
Bildchen  aus,  die  eine  Welt  für  sich  ausmachen.  Schon  die  oben 
zitierten  Stellen  und  Überschriften  zeigen  das,  und  der  typische 
Trunkenbold  erscheint  hier  wie  im  Bigveda.  Sie  bietet  gelegent- 
lich wie  das  griechische  Skolion  oder  das  Epigramm^)  Ausführung 
einer  Gnome.    Freilich  fehlt  strophische  Gliederung®).    Aber  trotz 


»)  a.  a.  0.  S.  265.    Vergl.  S.  285. 

3)  a.  a.  0.  S.  129.  32. 

3)  „Einen  Hof,  der  ohne  Hunde, 

Eine  Hütte  ohne  Katze, 

Eine  Wohnung  ohne  Krähen, 

Und  ein  Fenster  ohne  Kinder!"   a.  a.  0.  S.  255.  256. 
*)  a.  a.  0.  S.  22.  37.  83.  95.  180. 
*)  a.  a.  0.  S.  185. 
»)  a.  a.  0.  S.  61.  62. 

^)  Beitzenstein,  Epigramm  und  Skolion  S.  21.  105. 
®)  Sogar   ein  Seitenstück   zu   den  Weingrüßen   und   die  Warnung   vor 
Bürgermeistern,  Richtern,  Advokaten,  Schreibern  und  Pfaffen  ist  vorhanden. 
S.  275.  342. 


124 

aller  dieser  Berührungspunkte  sind  Kanteletar  und  deutsche 
Priamel  in  ihrem  Charakter,  ihrer  individuellen  Entstehung  und 
Ausbildung  himmelweit  von  einander  verschiedene  Dinge.  Jedes 
Literaturobjekt  trägt  doch  in  sich  selbst  die  Bedingungen  seiner 
Existenz:  der  indische  Vierzeiler,  das  griechische  Epigramm,  das 
Skolion,  die  Bune. 

Es  wurde  bereits  erwähnt,  daß  man  die  Kanteletar  für  die 
Geschichte  einer  angenommenen  altgermanischen  Priamel 
zu  verwerten  versucht  hat.  Daß  es  schon  ein  indogermanisches 
Priamel  gegeben  habe,  diese  Ansicht  müssen  wir  ablehnen,  wenn 
wir  den  historischen  Begriff  des  Priamels  festhalten.  Dagegen 
zeugt  der  Mangel  fast  aller  Voraussetzungen  und  das  Fehlen 
des  Priamels  als  Gattung  bis  gegen  Efide  des  Mittelalters.  Dagegen 
entscheidet  der  Umstand,  daß  in  den  verschiedenen  Abzweigungen 
der  indogermanischen  Sprachen  und  Literaturen,  mit  Ausnahme 
der  deutschen,  das  Priamel  fehlt.  Wäre  es  indogermanisch,  so 
müßten  es  alle  haben.  Auch  in  der  deutschen  Literatur  hat  es 
sich  erst  entwickelt,  gegeben  ist  es  auch  da  nicht  von  Anfang 
an.  Oegen  das  Hinausschieben  des  Priamels  als  Kunstgattung 
in  vorgeschichtliche  und  urgeschichtliche  Zeiten  spricht  endlich 
folgende  Erwägung.  Priamel  und  Epigramm  sind  Erzeugnisse 
einer  Subjektivität,  die  überall  erst  sehr  spät  literarischen  Aus- 
druck gewinnt.  Überall  ist  epigrammatische  Kunstdichtung  an 
die  Ausbildung  einer  individuell-subjektiven  Denkweise  und  an 
verhältnismäßig  hoch  gesteigerte,  reife  Geisteskultur  geknüpft. 
Das  lehren  Simonides,  Martial,  Bhartrihari,  Bosenplüt, 
Marot,    Owen*).      Ein    indogermanisches    Priamel    wäre    ohne 


*)  Dasselbe  Resultat  gewinnt  auch  die  philosophische  Deduktion,  die 
das  (in  jenen  Dichtungsgattungen  meist  enthaltene)  Witzige  und  Komische 
als  die  subjektivste  Form  des  Schönen  erweist.  Vis  eher,  Ästhetik  I  346. 
Indem  Valentin  das  Drama  als  Gattung  ausscheidet,  sucht  er  (Zs.  f.  vgl. 
Lg.  N.  F.  5,  45)  festzustellen,  daß  zuerst  als  besondere  Gattung  die  epische 
erscheint,  daß  allmählich  die  lyrische  neben  sie  tritt,  daß  endlich  die 
reflektierende  Gattung  einen  ebenbürtigen  Platz  erobert.  Dabei  ist  dann 
allerdings  daran  zu  erinnern,  daß  es  auch  nicht-differenzierte,  primitive  vor- 
literarische und  unliterarische  Dichtung  gibt.  Im  allgemeinen  Bücher 
S.  299  ff.  Wallaschek,  Anfänge  der  Tonkunst  S.  242.  Elster,  Über 
die  Elemente  der  Poesie  und  den  Begriff  des  Dramatischen.    Marburg  1903. 


125 


Beispiel  und  historisch  unbegreiflich.    Ein  indogermanisches  Prianiel 
gab  es  also  nicht.     Vielleicht  aber  schon  ein  urgermanisches? 

E.  M.  Meyer  hat  den  Versuch  gemacht,  das  Alter  ,einer  ger- 
manischen PriameP  zu  bestimmen.  Er  will  sie  in  die  ersten 
Jahrhunderte  unserer  Zeitrechnung  setzen,  als  die  Germanen  mit 
den  Finnen  in  Berührung  traten^).  Zwei  oben  mitgeteilte  Lieder 
der  Kanteletar  nämlich,  der  Abschied  von  dem  Bräutigam  und 
das  Wiegenlied  gleichen  teilweise  einer  Strophe  der  Uavamal, 
die  vielfach  als  Priamel  betrachtet  ist.  Untersuchen  wir  die 
Ähnlichkeit.     Gemeint  sind  die  Verse: 

Ruhm  dein  neues  Roß  erst  morgen, 
Deine  Frau  im  zweiten  Jahre, 
Erst  im  dritten  deinen  Schwager 
Und  dich  selber  nie  im  Leben'}. 

Ruhm  dein  Roß  nicht  vor  dem  Morgen, 
Nicht  den  Sohn,  bevor  er  Mann  ist, 
Nicht  die  Tochter  vor  der  Ehe, 
Und  dich  selbst  nie  vor  dem  Tode^). 

Die  verglichene  Strophe  der  Havamal  79  lautet: 

At  kueldi  skal  dag  leyfa, 
kono,  er  brend  er, 
mdeki,  er  reyndr  er, 
mey,  er  gefin  er, 
is,  er  yfir  k/e^mr, 
Ql  er  drukkit  er. 
(Detter  und  Heinrel  1,   16.  2,   113  f.) 

Es  deckt  sich  zunächst  das  Motiv:  Man  lobe  nichts,  bis  es 
die  Probe  bestanden  hat.  Daß  Motive  sich  gleichen  können, 
ohne  Abhängigkeit  zu  begründen,  ist  Tatsache^).  Im  Altnordischen 
wird  ohne,  im  Finnischen  mit  Steigerung  aufgezählt.  Dann  ent- 
sprechen sich  im  zweiten  Vers^)  der  Kanteletar  Zeile  3  und 
Havamel  79,  4  genau,  Zeile  3  entfernt  79,  2. 


*)  Die  altgermanische  Poesie  S.  434.  517. 

3)  Paul  S.  143. 

8)  Paul  S.  165. 

*)  QP  10,  30.    Meyer  S.  533. 

*)  Wenn  man,  wie  Meyer,  aus  dem  Liede  einen  strophischen  Vierzeiler 
aushebt;  einen  solchen  gab  es  freilich  im  Finnischen  kaum.  Gustay 
Meyer,  Essays  1,  384.     Comparetti  S.  33  ff.  272. 


126 


Beicht  das  aus,  um  eine  so  wichtige  Tatsache  festzustelleu  ? 
Kann  man  schließen,  das  Priamel  sei  in  urgermanischer  Zeit  zu 
den  Finnen  gelangt? 

Ich  möchte,  wie  Comparetti,  diese  Fragen  aus  folgenden 
Gründen  verneinen.  Eine  urgermanische  Gnome  des  Inhalts,  man  solle 
das  Mädchen  nicht  vor  der  Ehe  loben,  ist  unbedenklich  zuzugeben. 
Daß  sie  den  Finnen  mit  manchem  Anderen,  was  sie  den  Germanen 
verdanken,  in  vorhistorischer  Zeit  zugekommen  sein  könnte,  der 
Nachweis  dieser  Möglichkeit  ist  Meyers  Verdienst^).  Ob  aber 
die  Häufung  der  Fälle  in  jener  Gnome  schon  urgermanische  feste 
Formel  war,  läßt  die  völlige  Verschiedenheit  der  im  Finnischen 
und  Altnordischen  gewählten  Beispiele  mindestens  zweifelhaft 
erscheinen.  Dagegen  spricht  der  Wechsel  der  Form;  im  Alt- 
nordischen Aufzählung,  im  Finnischen  Klimax.  Auch  im  Mhd. 
hat  der  betreffende  Spruch  keine  Priamelform  ^).  Selbständige 
Erweiterung  der  alten  Gnome  ist  doch  ebenso  gut  möglich.  Den 
weiteren  Schluß,  die  Germanen  hätten  den  Finnen  in  ältester 
Zeit  die  Gattung  des  Priamels  überliefert,  muß  man  ablehnen; 
die  Existenz  der  Gattung  kann  durch  ein  mehr  oder  minder 
zufälliges  Beispiel  der  Klimax  im  Finnischen  nicht  bewiesen  werden, 
die  priamelhaften  Formen  der  altgermauischen  Poesie  konstituieren, 
wie  wir  bald  sehen  werden,  keine  poetische  Gattung,  und  die 
allgemeinen  historischen  Voraussetzungen  für  das  Vorhandensein 
einer  epigrammatischen  Dichtung  xaV  i^o/i^v  fehlen  gänzlich. 
Endlich  ist  zu  beachten,  daß  das  gleiche  Motiv  international  zu 
sein  scheint.  Auch  indisch  ist  es,  was  Meyer  entgangen,  vorhanden. 
Böhtlingk  3,  127:  Man  lobt  eine  Speise,  wenn  sie  verdaut  ist, 
eine  Frau,  wenn  ihre  Jugend  dahin  ist,  einen  Helden,  wenn  er 
eine  Schlacht  gewonnen  hat,  einen  Büßer,  wenn  er  sein  Gelübde 
zu  Ende  geführt  hat.  Der  Schluß  auf  Abhängigkeit  der  genannten 
Fassungen  von  der  indischen  wäre  verfehlt;  die  Gemeinsamkeit 
des  Motivs  ist  unzweifelhaft 


*)  Freilich  warnt  Comparetti  S.  291  davor,  diese  Ähnlichkeiten  auf 
prähistorisehe  Berührungen  beider  Völker  zurückzuführen:  „auf  welchem 
Wege  die  gnomische  Formel  durch  mündliche  Überlieferung  zu  den  Finnen 
gelangte,  und  zu  welcher  Zeit  es  geschah,  läßt  sich  nicht  bestimmen.'^ 
Der  Kalewala  S.  292. 

3)  Freidank  95,  18—19. 


127 


7. 


Mit  der  größten  Sicherheit  ist  über  den  Zusammenhang 
romanischer  Literatur  und  deutscher  Priameldichtung  geurteilt. 
Daß  es  auch  ,eine  italienische,  französische,  normannische  u.  s.  w. 
Priamel'  gegeben,  galt  als  eben  so  unumstößliche  Wahrheit,  wie 
die  fabelhafte  Existenz  einer  keltischen,  arabischen  oder  chinesischen 
Priamel.  Man  wußte  ganz  genau,  daß  ,die  Priamel*  im  15.  Jah- 
hundert  aus  Italien  nach  Frankreich  gelangte;'  nach  Italien  hatten 
sie  die  deutschen  Meistersänger  verpflanzt.  Vor  dem  15.  Jahr- 
hundert gab  es  keine  Spur  einer  Priamel  in  Frankreich;  wenn 
einmal  in  dem  Arundel-Manuscript  Nr.  220  die  Form  auftaucht, 
so  kam  sie  natürlich  aus  dem  Dänischen.  Die  Dänen  hatten  sie 
den  Deutschen  nachgeahmt,  die  Deutschen  der  Hibel  und  so  fort. 

Es  ist  der  Boman  der  Priamel,  den  Bergmann  geschrieben 
hat.  Die  Geschichte  des  Priamels  ist  weit  weniger  interessant, 
sie  wandelt  nicht  unter  Palmen,  nicht  unter  den  Gestirnen  Ara- 
biens, Syriens,  Chinas  hat  aber  dafür  einen  Vorzug,  der  Wahrheit 
näher  zu  kommen. 

Von  den  romanischen  Literaturen  konnte  in  älterer  Zeit  wohl 
fast  nur  die  Frankreichs  von  Einfluß  auf  deutsche  Gnomik 
sein,  weniger  die  Italiens,  noch  weniger  die  spanische.  Frankreichs 
ältere  Literatur  ist  reich  an  Entwicklungen,  welche  der  unseres 
Priamels  in  Deutschland  parallel  laufen,  ohne  damit  identisch 
zu  sein. 

Man  hat  auch  hier  zwischen  unliterarischer  volkstümlicher 
Gnomik  und  wirklicher  Literatur  einen  unterschied  zu  machen. 
In  dieser  hat  die  hier  in  Betracht  kommende  Entwicklung  eine 
von  der  deutschen  ganz  abweichende  Gestalt  angenommen;  in 
jener  sind  ähnliche  Ansätze,  wie  fast  überall,  reichlich  vorhanden. 
Die  einfachen  volkstümlichen  Improvisationsformen,  aus  denen 
sich  das  Priamel  entwickelt,  fehlen  auch  im  Französischen  nicht. 
Wer  nur  eine  der  französischen  Sprichwörtersammlungen  des 
16.  oder  17.  Jahrhunderts  in  der  Hand  gehabt  hat,  für  den  bedarf 
das  gar  keines  Beweises.  Es  sind  alle  Formen,  die  für  das 
deutsche  Priamel  Wichtigkeit  gewonnen  haben,  entwickelt  ^).    Noch 


')  Bei   der  Erläuterung   der  Priamelfonn   ist   auch   französisches   be- 
rücksichtigt.    Ein  picardisches  Provcrbe  des  13.  Jahrhunderts  lautet: 


128 


mehr.  Was  auf  der  Basis  solcher  gemeiDsamen  primitiven  Grand- 
lagen der  eigentlichen  Literatur  zustrebt,  dafür  bildet  der  rede- 
gewandte Bomane  schon  früh  yiel  reichere  Formen  aus,  als  sie 
in  deutscher  Literatur  aufzuweisen  sind;  und  das  ist  bei  dem 
unterschied  des  künstlerischen  Charakters  beider  Völker  das 
Natürliche^).  Die  Enuegs,  Litaneien  und  einige  verwandte  Er- 
scheinungen sind  uns  schon  begegnet.  Auf  Stellen  der  Troubadours 
hatte  Sachs  aufmerksam  gemacht^);  es  gibt  mehr  der  Art'). 
Auch  auf  das  Spanische  war  dort  verwiesen.  Ein  nicht  ver- 
merktes glossenartiges ^)  Beispiel  Baltasars  de  Alcäzar,  von 
Paul  Heyse  übersetzt,  möge  veranschaulichen,  eine  wie  hoch 
entwickelte  Kunst  hier  vorliegt,  wie  das  einfache  deutsche  Priamel 
damit  gar  keinen  Vergleich  aushält. 

Wenn  ich  dreierlei  besäße, 
Wttrd  ich  schier  in  Glück  versinken: 
•   Dich,  o  schöne  Ines,  Schinken, 
Liebesäpfelchen  mit  Käse. 

Soweit  mag  ein  volkstümlicher  Vierzeiler  zu  Orunde   liegen; 
dann  wird  er  in  feinste  Dialektik  aufgelöst. 

Diese  Ines  ist  fürwahr, 

Die  mir  raubte  den  Verstand, 

Daß  ich  gar  abscheulich  fand 

Alles,  was  nicht  Ines  war. 

Und  in  düsterer  Ascese 

Wollte  mir  kein  Sternlein  blinken. 

Bis  ich  jüngst  geriet  an  Schinken, 

Liebesäpfelchen  und  Käse. 

Tres-grans  envies  dire  os: 

Si  sont  de  II  kiens  a  I  os, 

Et  de  II  povres  a  I  hüls; 

Et  de  plus  dire  je  ne  puls 

Ne  plus  grandes  nuls  hon  ne  vit 

Fors  de  11  femmes  a  I  vit. 
KpuTTüöf^ta  3,  344.     Sind  Vers  4  und  5  späterer  Zusatz?    Auf  die  Form 
wird  eben  in   der  Überlieferung  —  das  sicherste  Anzeichen  für  das  Fehlen 
der  Gattung  —  kein  Gewicht  gelegt. 

*)  Jeanroy,   Les    origines  de  la  poesie   lyrique    en  France  au  moyen 
age  S.  363  ff. 

«)  Herrigs  Archiv  15,  375. 

3)  z.  B.  Mahn,  Die  Werke  der  Troubadours  1,  1.  2.  54.  u.  s.  w. 

^)  Auch  an  die  Cancion  ist  zu  erinnern. 


129 

Ines  freilich  hat  gesiegt, 
Doch  bald  hab  ich  zweifeln  müssen, 
Was  von  diesen  drei  Genüssen 
Mir  zuerst  am  Herzen  liegt. 
So  verlockt  mich  nun  der  Böse 
Jetzt  zur  Rechten,  jetzt  zur  Linken, 
Bald  zu  Ines,  bald  zu  Schinken, 
Bald  zu  Äpfelchen  mit  Käse. 

Wenn  die  Maid  von  Reizen  spricht. 
Lobt  der  Schinken  sich  geschwind; 
Käs  und  Liebesäpflein  sind 
Ein  urheimatlich  Gericht 
Nicht  die  feinste  Hypothese 
Macht  der  Wage  Zünglein  sinken: 
Gleich  an  Wert  sind  Ines,  Schinken, 
Licbesäpfelchen  und  Käse. 

Aber  so  viel  bringt  mir  ein 
Diese  neue  Leidenschaft; 
Ines  darf  so  launenhaft 
Und  so  spröde  nimmer  sein. 
Denn  der  Trost,  den  ich  erlese, 
Tut  sie  nicht  nach  meinen  Winken, 
Ist  ein  herzhaft  Stückchen  Schinken, 
Liebesäpfelchen  und  Käse^). 

Auch  WO  die  Verbindung  kürzer  ist,  welche  von  romanischer 
Literatur  zu  deutscher  hinüberzuleiten  scheint,  versagt  die  Ver- 
gleichung;  so  wenn  man  den  durchgereimten  deutschen  Vierzeiler 
aus  der  französischen  Tirade  oder  Laisse  ableiten  wollte.  Dem 
einfachen  deutschen  Priamel  entgegen,  schreitet  romanische  Dichtung, 
wo  sie  wirklich  priamelhaft  wird,  zu  langen  Spruchreihen  fort. 

Ki  nul  bien  ne  scet  ne  nul  volt  aprendre, 

Ki  mult  acreit  et  n'ad  dunt  rendre, 

Ki  tant  dune  ke  rien  ne  retent, 

Ki  tut  promet  et  puis  ne  dune  nient, 

Ki  tant  parole  ke  nule  ne  l'escute, 

Ki  tant  manace  ke  nul  ne  l'dute, 

Ki  tant  jure   ke  nul  ne  li  crait, 

Ki  demande  quanque  il  n^ait, 

Ki  ä  fole  enemi  sun  cunseil  cunte, 

Ki  por  autrui  amer  sei-meimes  met  a  munte, 


*)  Geibel  und  Heyse,  Spanisches  Liederbuch.    Zweite  Auflage  S.  53  f. 
Nigra,  Canti  popolari  piemontesi  S.  578.  Nr.  85. 

Ealing,  Priamel  9 


130 


Ki  rien  ad  en  burs  et  tut  bargaine, 

Ki  ä  scient  tut  pert  et  rien  ne  guaine, 

Ki  tuz  het  et  nul  gueres  li  aime, 

Ki  plus  fet  en  un  jur  ke  plus  ne  poet  la  semayne, 

Ki  por  estrange  enchace  le  soen  prive  demaine, 

Ki  a  tuz  creit  e  nul  ne  le  poet  creer, 

Ki  trop  se  entremet  de  chose  dunt  il  n'a  ke  fere, 

Ki  en  tens  de  hone  peis  desire  la  guere, 

Ki  altres  blame  dunt  il  meime  est  cupable, 

Ki  se  fi  en  chnsc  ke  n'est  pas  estable, 

Ki  faus  e  fei  e  fol  escute  et  trop  le  contoye, 

Ki  ä  sun  seignur  lige  trop  se  desroye, 

Ki  fous  est  et  plus  fol  se  fet, 

Ki  trop  s'en  jo'ist  de  son  raesfet, 

Ki  n'ad  ki  li  sert  et  il  meimes  ne  volt, 

Ki  trop  se  esmaye  quant  fere  ne  le  cstot, 

Ki  ben  poet  eslir  et  se  prent  al  pir, 

Ki  tuz  quide  vcincre  par  estut  et  par  mesdir, 

Ki  pur  autre  son  bien  desaudrc, 

Ki  tant  s'avaunt  ke  nul  ne  l'alue, 

Ki  bien  ne  volt  fere  ne  altre  le  lesez, 

Ki  quide  kc  ben  seit  quanquez  li  pleisez, 

Ki  mult  em prent  et  nent  ne  achevc, 

Ki  saunz  drait  e  resun  sun  ami  greve, 

Ki  trop  fet  de  mal  et  nent  se  repent, 

Ki  bien  ad  fait  e  puis  se  repent, 

Ki  cestes  folies  aprent,  trente-sis  sens  aprent. 

Ki  ben  les  tendrcit  en  maint  liu  ame  serra, 

Par  coe  wus  pri  sur  tote  riens: 

Lcssez  les  mals,  fctes  les  biens, 

Ne  seez  pas  envious  ne  plains  de  ire, 

Ne  james  a  vostre  voile 
Ne  wous  lesscz  vaincre  orgoile, 
Fetes  bien  pur  mielz  aver; 
Si  freez  sen  e  saver '). 

Eine  andre  allmählich  erweiterte^)  Liste  priamelhaft  aus- 
gemalter Dinge  wird  als  ,proverbes'  wiedergegeben. 

Few  de  fere, 
Raspe  de  eavve, 

')  Jubln al,  Nouveau  rccueil  de  contes,  dits,  fabliaux  des  Xllle, 
XIV  e  et  XV  e  sieclcs  II  372  ff. 

2)  So  ist  auch  die  bekannteste  Stelle  der  Havamal  entstanden.  Andre 
spätere  französische  Listen  bleiben  ebenfalls  in  Aufzählung  stecken.  Herrigs 
Archiv  43,  75.    Bergmann  S.  34. 


I3f 

Gasteu  de  aveigne, 

Enclyn  de  moyne, 

Promesse  de  esquyer, 

Enbracie  de  chivaler, 

Serment  de  ribaud, 

Lerme  de  noneyne, 

Mensonge  d'erbeyr, 

Rechynne  de  anne, 

Abbay  de  chyn, 

Huy  de  wiUeyn, 

Maunger  de  norice, 

Acoyscement  de  enfant, 

Councile  de  apostoyle, 

Pleyt  de  mariage, 

Parlement  de  roy, 

Assemble  de  borjois, 

Turbe  de  willeyns, 

Toule  de  garsouns, 

Noise  de  ffeme, 

Grete  de  gelyns, 

Marteleys  de  ffeverys, 

Buleyterie  de  bouleneers, 

Trebucye  de  chareterys, 

Anee  raas, 

Elle  de  lous, 

Crucye  de  toneyr, 

Avarisse  de  proveyr, 

Coveytisse  de  inoyns  blauns, 

Envye  de  noyrs, 

Melle  de  ribaus, 

Descors  de  chapitels, 

Mensonge  de  pereceous, 

Desleutes  de  pledours, 

Orgoyl  de  templer, 

Bobbant  de  ospiteler, 

Touz  ceuz  ne  valent  an  dener  ^). 

Jacopone  da  Todi  verbindet  in  einem  langen  aus  vier- 
zeiligen,  einreimigen  Alexandriner-Strophen  bestehenden  Gedicht 
—  es  ist  das  28.   der  von  Schlüter  und  Storck  übersetzten^) 


*)  Jubinal  II  375  f.  Englische  Beispiele  bleiben  an  Yerszahl  dahinter 
zurück:  W.  Carew  Hazlitt,  ßemains  of  the  carly  populär  poetrj  of 
England  3,  40  f. 

^)  Ausgewählte  Dichtungen  Jacopones  da  Todi.    Münster  18G4.  S.  98  ff. 

9» 


132 


—  Sprichwörter  und  pri«imelhafte  Redensarten.  Volkstümliche 
Dichter  vereinigen  sicilianische  Sprichwörter  und  Sprichwort- 
Materialien  in  Stanzen').  Die  Form  der  Durchführung  ist,  selbst  wo 
sie  priamelähnlich  wird,  frei^).     um  ein  urteil  zu  ermöglichen,  ein 

*""      '  'J'intu,  cui  servi  ad  un   Pairuni  ingratu, 

Cecu,  cui  campa  sempri  irrisolutu, 
Guai  pri  cui  lassa  chiddu,  cht  c'e  datu, 
Stultu,  cui  cerca  risposta  d'un  mutu, 
Infami,   cui  ä  lu  mali  stä  ostinatu, 
Meseru,  cui  non  ha  riparu,  o  scutu, 
Scuntenti,  cui  d'Amuri  e  travagghiatu, 
Tintu,  cui  cadi  pri  chiamari  ajutu  ^). 

Namenlose  Canti  populari  katalogisieren  sprichwortartiges 
ethnographisches  Material. 

V6i  donna  beddar    curri  a  Siragusa, 
Si  la  v6i  brutta,  curri  a  Terranova, 
Va  a  Rusulini  si  la  voi  lagnusa« 
E  a  Spaccafurnu  si  la  cerchi  a  prova*). 
Su'  tutti  beddi  ]i  donni  rumani, 
Principi  e  cavaleri  li  Francisi, 
Sciacquati  e  allegri  li  Napulitani, 
Nobili  e  ricchi  su'  li  Missinisi, 
Capi  di  regnu  li  Palermitani, 
Cori  cuntenti  su'  li  Catanisi, 
Ricchi  di  pisci  li  Cifalutani, 
D'acqui  a  di  caccia,  su'  li  Lintinisi; 
Cui  voli  pani  'ntra  li  Girgintani, 
Cui  voli  pasta'  ntra  li  Licatisi, 
Dinari  li  dumanna  a  Jacitani, 
Ogghiu  e  summaccu  nni  li  Tirminisi; 
Pri  sulfuru,  frumentu,  vini  e   lani, 
Viniti  di  Sicilia  a  li  paisi^). 

Eine  bestimmte  literarische  Form  oder  Gattung  hat  sich 
aus  solchen  Sprüchen  in  romanischer  Literatur  nicht  ergeben; 
sie  laufen   in    die  Prosa*)   aus.     Und   zwar   wahrscheinlich   schon 

>)  Pitre,  Proverbi  Siciliani  4,  283  ff. 

«)  z.  B.  S.  283  ff.    Nr.  1.  3.  21.  42.    S.  312,  Kr.  13. 

^)  Veneziano  Nr.  1. 

*)  Pitre  4,  326.  Nr.  13. 

5)  Pitre  4,  322.  Nr.  1. 

ß)  Montaiglon,  Recueil  de  poosies  fran^^oises  des  XV«  et  XVIe  siecles 
3,  9G.  5,  117. 


133 


deshalb  niclit,  weil  die  Bomanen  besonders  zwei  Literaturformen 
bereits  besaßen,  welche  für  die  Aufnahme  eines  derartigen  Inhalts 
und  zu  ähnlichen  Zwecken  vollkommen  ausreichend  waren:  Ballade ') 
und  Sonett.  Allerdings  modificierte  sich  mit  diesen  Formen 
auch  der  Gehalt  der  Sprüche,  es  entstand  etwas  Eigenartiges, 
dem  Deutschland  nichts  als  ganz  späte  Nachahmungen  an  die 
Seite  stellen  konnte.  Der  Refrain  der  Ballade')  lud  zu  pointierter 
Zusammenfassung  ein.  Früher  musikalisch,  wurde  er  bald  rhetorisch- 
poetisches üniversalmittel  zum  Abschluß  einer  Gedankenreihe. 
Als  Repräsentant  der  Ballade  möge  der  erste  französische  Dichter 
seiner  Zeit,  Eustache  Deschamps  gelten;  seine  Balladen  be- 
laufen sich  auf  rund  1200.  Obwohl  die  Form  enge  Grenzen 
hat,  ist  von  diesem  gelehrten  Dichter  wohl  alles,  was  überhaupt 
in  den  Gesichtskreis  des  damaligen  Menschen  trat,  in  jene  Form 
gegossen:  Liebeserklärungen,  Totenklagen,  Abschied^  Preis,  Tadel, 
Rüge,  Beschreibungen,  Schlachtberichte,  Geburtstags-  und  Neujahrs- 
wünsche, Polemik,  Lehre,  Sentenzen,  Aufzählungen  aller  Art, 
Dialoge,  politische  Leitartikel  und  Proklamationen  und  noch  vieles 
Andere.  Die  poetischen  Künsteleien  versteigen  sich  bis  zu  albernen 
Geschmacklosigkeiten;  so  müssen  in  einer  Ballade  einmal  alle 
Verse  mit  einem  A  anfangen^).  Die  persönlichsten  Dinge  werden 
in  der  typischen  Form  abgehandelt,  z.  B.  der  Entschluß,  keine 
Bücher  mehr  zu  verleihen*).  Trotzdem  gibt  es  nichts,  was  ge- 
wissen deutschen  Priameln  näher  käme  als  manche  Strophe  von 
Deschamps,  wenn  man  sie  aus  ihrem  Zusammenhange  heraus- 
lösen dürfte;  z.  B. 

Plaintes   contre   le  siecle. 
Je  voy  le  temps  Octovien 
Que  toute  paix  fut  reformee, 
Je  voy  amer  le  commun  bien, 
Je  voy  justice  estre  gardee, 
Je  voy  Saincte  Eglise  essaucee, 
Chastete  en  religion, 
Bonnes  euvres,  devocion, 
Charite,  foy,  droit  jugement 

*)  Jeanroy,  Les  origincs  S.  404  ff. 

*)  Thurau,  Der  Refrain  in  der  französischen  Chanson.    Berlin  1901. 
S.  318  ff. 

')  Oeuvres  completes  de  Eustache  Deschamps  III  S.  276. 
*)  n  103. 


134 


Faire  et  t'enir  sans  fiction. 

—  Dit  il  voir?  —  Par  ma  foy,  il  ment^). 

Man  erkennt  zugleich  die  meist  überlegene  stilistische  Kunst 
des  Franzosen.  Aber  dasselbe  dramatische  Stilmittel  wiederholt 
sich  viermal  in  regelrechter  Ballade  und  ermüdet  deshalb^). 

Die  sogenannte  Fragepriamel  übt  Deschamps  in  der  Ballade 
mit  Meisterschaft. 

Qüi  fait  la  science  acquerir? 

Qui  fait  chevalerie  aler? 

Qui  fait  marchandise  courir? 

Qui  fait  conclusion  d'amer? 

Qui  fait  vaisseaulx  courir  par  mer? 

Qui  fait  paix  et  guerre  entre  gent? 

Qui  fait  le  prince  renommer? 

Tout  se  fait  par  force  d'argent  ^), . 


Oder: 


Quant  se  pourra  tout  reformer? 
Quant  sera  paix  et  vraie  amour? 
Quant  verray  je  Tun  l'autre  amer^ 
Quant  verray  je  parfaicte  honnour? 
Quant  avra  congnoissance  tour, 
Verite,  loy,  pite  saison? 
Quant  sera  justice  en  raison, 
Que  les  mauvais  pugnis  seront? 
Quant  avra  Roys  juste  maison? 
Quant  les  saiges  gouverneront  *). 

Er  versifiziert  Gesundheitsregeln  wie  Eosenplüt. 

D'abregement   de  vie. 
Le  trop  disner  et  tost  dormir  apres, 
Souper  de  nuit,  suir  le  mestier  fres. 


Sanz  appetit  vin  boire  a  Iresgrans  tres, 
Couchier  en  bas,  estre  fei  et  engres: 
Tuent  pluseurs  que  la  mort  suit  de  pres. 

De  continuer  sa  sante. 
Lever  matin  et  prandre  esbatement, 
Entendre  au  sien  et  vivre  sobrement, 
Courroux  fuir,  souper  legierement, 


»)  VII  251.     Vgl.  III  5. 

2)  Vgl.   Die    allgemeinen  Moralisationen  V  167.  276.  278.  286.  II  154. 
Montaiglon,  Beceuil  5,  319. 

3)  VIII  75. 

*)  VIIX  77.  Vgl.  in  182.  XI  15. 


135 


Gesir  en  hault,  donnir  escharsement 
Loing  du  mengier,  soy  tenir  nettement 
L'omme  enrichit,  et  si  vit  longuement  ^). 

Oder  es  werden  6  Krankheitssymptome  aufgezählt^).  In 
strenger  Balladenform  erwägt  er  Gründe  der  Epidemie,  nach 
dem  Schema: 

L'air  corrompu,  la  terre  venimeuse, 
Les  Corps  infects  en  cymetiere,  et  mors 
En  my  les  cbamps,  en  guerre  dolereuse, 
Cbambres  coyes  ou  est  li  amas  ors 
D'infections,  de  puours  de  dehors 
Qu'om  fait  aux  champs,  es  villes,  es  chasteaulx 
D'ordures  grans,  de  fians  par  monceaulx, 
D'immondices  qu'om  art,  dont  c'est  folie, 
Du  mauvais  air  corrompu,  de  pourceaulx, 
Font  en  mains  lieux  causer  l'epidemie'). 

Dann  kommen  die  Heilmittel  dagegen  an  die  Beihe;  hier 
ist  die  Aufzählung  analytisch. 

Qui  veult  fuir  la  persecucion 
Et  le  peril  d'epidemie  avoir, 
Vivre  le  fault  u.  s.  w. 

mit  dem  Befrain: 

Se  vous  voulez  vie  avoir  longuement^). 

Gewiß  eine  fürchterliche  Poesie:  aber  schlimmer  ist  eine 
Ballade  über  die  Bücher  der  Bibel,  die  in  unglaublicher  Trocken- 
heit aneinander  gereiht  werden^).  Endlich  möge  man  vergleichen, 
wie  sich  in  Deschamps'  Balladen  eins  der  vcrbrcitetsten  Priamel- 
themen  darstellt:   des  choses  dont  il  faut  se  garder  ^). 

Die  Form  der  Aneinanderreihung  ist  meist  synthetisch,  oft 
analytisch,  bisweilen  beides.   Für  den  letzten  Fall  noch  ein  Beispiel  ^)- 

Huit  choses  doit  homs  desirier 
Et  acquerrir  de  son  pouoir: 
Science,  pour  en  bien  user, 
Chevauce,  boneur,  largesce  avoir, 
Humilite,  faire  devoir 
Par  tout  ou  il  sera  tenus; 


')  VIII  145.      2)  Yii  51.      3)  VII  38.      *)  VII  40. 

^)  II  2.  Über  ähnliche  etwas  längere  lateinische  Versificationen  derart 
Notices  et  extraits  31,  1,  59.  Gas  ton  Paris,  FranQois  Villen  S.  103  und 
far  das  griechisch-römische  Altertum :  S kutsch,  Aus  Vergils  Frühzeit  S.  52  ff. 

«)  VI  131.      7)  VI  171,  1. 


136 

Que  Verite  soit  ses  escus, 
Et  Pitie  ou  eile  cherra; 
Fuie  vice,  ensye  vertus: 
Dieu  et  le  monde  Tamera. 

Wie  ein  originell  überraschender  und  steigernder  Gedanke 
den  Abschluß  der  Ballade  liefern  kann,  zeigt  Villon*). 

Ballade  de   menus  propos. 
Je  congnois  bien  mouches  en  let; 
Je  congnois  ä  la  robe  Thomtne; 
Je  congnois  le  beau  temps  du  let; 
Je  congnois  au  pommier  la  pomme; 
Je  congnois  l'arbre  ä  veoir  la  gomme; 
Je  congnois  quand  tout  est  de  mesme: 
Je  congnois  qui  bcsongne  ou  chomme; 
Je  congnois  tout,  fors  que  moy  mesme. 

Auch  das  Bondeau  wird  priamelhaft,  z.  B.  Dcschamps' 
Spottgedicht  auf  Böhmen: 

Poulz,  puces,  puour  et  pourceaulx 
Est  de  Behaingne  la  nature, 
Pain,  poisson  salle  et  froidure, 

Poivre  noir,  choulz  pourriz,  poreaulx, 
Char  enfumee,  noire  et  dure; 
Poulz,  puces,  puour  et  pourceaulx. 

Vint  gens  mangier  en  deux  plateaux, 
Boire  servoise  amere  et  sure, 
Mal  couchier,  noir,  paille  et  ordure, 
Poulz,  puces,  puour  et  pourceaulx 
Est  de  Behaigne  la  nature, 
Pain,  poisson  salle  et  froidure^). 

Dem  Befrain  der  Ballade  steht  der  Befrain  des  vielbesprochenen 
deutschen  Bohnenliedes  insofern  nahe,  als  er  auch  hier  zu 
Beihenbildung  Anlaß  gibt.  Die  4.  und  5.  Strophe  (ühland  Nr.  236) 
zeugen  davon. 

Daß  diese  Erscheinungen  trotz  ähnlichen  Inhalts  mit  der 
äußeren  und  inneren  Form  des  Priamels  nicht  organisch  zusammen- 
hängen, liegt  auf  der  Hand.  Zu  dem  gefeierten  Morel  steht  Bosen- 
plüt  und  die  deutsche  Priameldichtung,  so  viel  ich  sehe,  in  keiner 

*)  Oeuvres  de  Fran^ois  Villon  p.  p.  Longnon,  P.  1892  S.  136. 
Gas  ton  Paris,  Fran(jois  Villon  S.  81. 

2)  VII  90.  Deutschland  stellt  er  ein  übles  Zeugis  aus:  Envoier  moy  par 
tout  le  monde,  Fors  sur  le  pays  d'Alemaigne.  VII  59. 


137 

Verbindung.  Der  gelehrte  und  künstlerisch  hochgebildete  Franzose 
konnte  für  die  engbegrenzte  lokale  Kunst  ßosenplüts  auch  kein 
Muster  und  Vorbild  abgeben.  Dagegen  steht  bei  allen  durch- 
greifenden Gegensätzen  der  originelle  Fran9ois  Villon  mit  dem 
Nürnberger  Gelegenheitsdichter  auf  einer  Stufe  zeitgeschichtlicher 
und  psychologischer  Entwicklung,  und  in  Italien  wird  uns  ein 
ähnlicher  Mann  in  Burchiello  begegnen.  Die  Zeit  war  reif  für 
solchen  Individualismus,  dessen  einzelne  Erscheinungen  keine 
specielle  Kunsttradition  verband. 

Seltener  als  in  der  Ballade  gewinnen  vereinzelte  Formen 
des  Sonettes  den  Schein  priamelhafter  Poesie.  Bergmanns 
Fantasien  über  den  Zusammenhang  des  deutschen  Priamels  mit 
dem  fingierten  italienischen  sind  ganz  unhaltbar.  Bereits 
Jacopone  da  Todi  baut  die  besten  volksmäßigen  Priamel- 
vierzeiler,  die  wir  später  wohl  zur  Konstatierung  der  Form  in  Italien 
benutzen  dürften^).  Bergmanns  sogenanntes  Priamelsonett  kommt 
schon  bei  Petrarca  vor.  Wie  oft  die  Ballade,  füllt  sich  das 
Sonett  gelegentlich  mit  priamelhaftem  Gehalt,  und  bisweilen 
ergibt  sich  eine  syntaktisch-rhetorische  Form,  die  ans  Priamel 
erinnert.  Darum  sind  Sonette  Petrarcas  aber  noch  keine  Priamel, 
ebenso  wenig  als  die  eben  betrachteten  Balladen.  Von  Petrarca 
führe  ich  das  79.  Sonett  an: 

Quella  fenestra,  ove  Tun  sol  si  vede 
Quando  a  lui  place,  e  Taltro  in  su  la  nona; 
E  quella,  dove  Taere  freddo  suona 
Ne'  brevi  giorni,  quando  borea  '1  fiede; 

E'l   sasso,  ove  a'  gran  di  pensosa  siede 
Madonna,  e  sola  seco  si  ragiona, 
Con  quanti  luoghi  sua  bella  persona 
Copri  mai  d'ombra  o  disegnö  col  piede; 

E'l  fiero  passo,  ove  m'aggiunse  Amore; 
E  la  nova  stagion,  che  l'anno  in  anno 
Mi  rinfresca  in  quel  di  1'  antiche  piaghe; 

E'l  volto  e  le  parole,  che  mi  stanno 
Altamente  confitte  in  mezzo  '1  core; 
Fanno  le  luci  mie  pianger  vaghe'). 


^)  Vergl.  die  Münstersche  Übersetzung  S.  36  ff. 

')  Le  Rime    di  Francesco  Petrarca   restituite  da  Giovanni  Mestica 
Firenze  1896.  S.  144. 


138 

Felix  Liebrecht  hatte  Bergmann  ein  Sonett  Barchiellos 
mitgeteilt,  das  nun  in  der  Schrift  La  priamele  S.  31  ohne  Citat 
nur  mit  Berufung  auf  Liebrecht  französisch  wiedergegeben  ist. 
Ich  kenne  es  aus  der  Londoner  Ausgabe^),  wo  es  lautet: 

• 

Non  son  tanti  babbion  nel  Mantovono, 

Ne  salci,  ne  ranochi  in  Ferrarese; 

Ne  tante  barbe  in  Ungheria  Paese, 

Ne  tanta  poveraglia  e  in  Milanu; 
Ne  piü  superbia  hanno  i  Franciosi  in  vano, 

Ne  piü  sentenze  in  Dante  non  s'intese; 

Ne  piü  Pedanti  stanno  per  le  spese, 

Ne  tanto  sangue  mangia  un  Catalano: 
Ne  tante  bestie  vanno  a  una  fiera, 

Ne  piü  quartucci  d'acqua  in  fönte  Gajo; 

Ne  a  i  Servi  miracoli  di  cera; 
Ne  piü  denti  si  guasta  un  calzolajo, 

Ne  in  piü  occhi  e  sparsa  una  panziera, 

Ne  tante  forche  merita  sin  Mugnajo : 

Ne  tanti  sgorbj  fa  l'anno  un  Notajo, 
Ne  sono  in  Arno  tanti  pesciolini: 

Quant'  e  in  Vinegia  zazzere,  e  cammini. 

Was  Bergmann  an  Erläuterungen  aus  der  italienischen  Literatur- 
geschichte hinzufügt,  ist  nur  mit  Vorsiclit  aufzunehmen,  und  trotz 
seiner  allerdings  sehr  elementaren  Bemerkungen  über  die  bur- 
chielleske  Dichtweise  ^)  hat  er  doch  nicht  bemerkt,  daß  auch  jenes 
Sonett  einfach  aus  dem  Styl  alla  burchia  hervorgewachsen  ist, 
ohne  sich  an  eine  aus  Deutschland  importierte  Form  anzulehnen. 
Man  ist  gewohnt,  auf  die  Ansätze  zum  burchiellesken  Stil  schon 
bei  Sacchetti  hinzuweisen;  die  Kleinkunst  der  Cacci,  Terzinen, 
Sonette,  Madrigale,  Gliommari,  Frottolen  u.  s.  w.  begünstigte 
die  Neigung  zu  improvisierender  redefertiger  Dialektik.  Das 
liederliche  Talent  des  Domenico  di  Giovanni  verlieh  der  Ge- 
pflogenheit, absichtlich  die  verschiedensten  Dinge  wortspielend, 
ohne  Sinn  und  Verstand  zusammenzuwürfeln,  die  eigentliche 
Ausbildung  und  literarische  Geltung.     Er  machte  Schule.     Seine 


*)  Sonetti  del  Burchiello  del  Bellincioni  e  d'altri  pocti  Fiorentini 
alla  burchiellesca.    In  Londra  (Lucca)  1757  S.  90. 

2)  Philipp  Monnier,  Le  quattrocento.  Paris  1901.  2,261  flP.  Curzio 
M  a  z  z  i ,  n  Burchiello,  saggio  di  stiidi  sulla  siia  vita  e  sulla  sua  poesia.  H 
Propugnatore  X  1,  204  ff.  376  ff.  IX  2,  321  ff.    Thode,  Michelangelo  1,  178  f. 


139 


Erklärer  haben  einen  schweren  Stand,  weil  die  Grenze  zwischen 
absichtlicher  Zusammenhanglosigkeit  und  wirklichen  Bezügen  sich 
nicht  immer  erkennen  läßt.  Burchiello  mischt  auch  Latein  und 
Italienisch. 

Quem  quaritis  vos,  vel  vellere  in  toto 

Festinaverunt  viri  Salomone, 

Viderunt  omnes  Pluto,  e  Ateone 

Cum  magna  societate,  sine  moto. 
Et  clamaverunt  omnes  poto,  poto 

Ingressus  est  filius  Agamemnone, 

Secundum  ordo  fecit  Assalone 

Sibi  Lachesis,  Atropos,  vel  Cldto. 
Itaque  nomen  Cesare  potentes 

Quaeris  vexillum  quomodo  interßcerc 

Et  oculi,  oculonim  ejus  videntes. 
Volo  precipue  sacerdote  armigere 

Sufficit  mihi  quamvis  diligentes 

Vos  omnes,  qui  vultis  mihi  intelligcre. 

Et  ego  volo  dicere, 
Ch'e'  Lucci,  i  Barbagianni,  e  le  Marmegge 
Vorrebbono  ogni  di  far  nuova  legge  *). 

Gewöhnlich  ist  der  Eingang  des  Sonettes  alla  burchia,  aufs 
Geratewohl. 

Sugo  di  Taffetä  di  Camesecca, 
E  Lusignuoli,  e  sabbati  Inghilesi, 
E    un  Bimolle  acuto,  e  tre  tornesi 
Usciti  allota,  allota  della  Zecca^. 

So  geht  es  auch  wohl  ein  halbes  oder  ganzes  Sonett  fort, 
wie  in  dem  angeführten  Beispiel,  das  die  Erwartung  durch  einen 
ganz  geringfügigen  Nachsatz  täuscht.  Bedenkt  man  nun  dazu, 
welche  gelehrten  Kenntnisse  dieser  Florentiner  besitzt,  so  erkennt 
man  wieder  die  große  Kluft,  welche  seine  Kunst  von  deutscher 
Priameldichtung  des  beginnenden  15.  Jahrhunderts  trennt.  Beide 
waren  zu  verschieden,  um  auf  einander  wirken  zu  können.  Der 
spöttisch  angelegte  Bomane,  der  den  Druck  des  Erhabenen  nicht 
lange  aushält,  findet  mit  den  ihm  zusagenden  Produkten  des 
Burlesken  bei  Deutschen  wenig  Verständnis,  was  der  gute  Morhof 
ausdrücklich  konstatiert,  voll  Haß  gegen  diese  excrementa  Pegasi, 
welche  die  Italiener')    zu    ihrer    ewigen  Schande  erstlich  auf  die 


»)  Sonetti  del  Burchiello  (1757)  S.  11.        ^)  S.  15. 

^)  Lehrreich  Vitagliano,  Storia  della  poesia  estemporaDea.  Roma  1905. 


122 


die   wesentlichste  Hilfe   und   bald   einen   eisernen  Bestand  allzeit 
bereiten  Materials  gesichert'). 

Der  Erfahrene. 
Habe  alles  schon  vor  Jahren 
Reichlich  in  der  Welt  erfahren, 
Nur  drei  Dinge  ausgenommen^): 
Zweimal  auf  die  Welt  zu  kommen, 
Um  ein  junges  Weib  zu  werben, 
Und  als  Schwiegersohn  zu  sterben  3). 

Drei  böse  Dinge. 
Männern  dröhn  drei  böse  Dinge, 
Drei  sinds,  die  den  Tod  ihm  bringen: 
Erst  ein  Boot  mit  leckem  Boden, 
Dann  ein  widerspenstig  Füllen, 
Drittens  eine  böse  Hausfrau*). 

Auch  die  Klimax^ stellt  sich  ein: 

Zum  Abschied  an  den  Bräutigam. 
Nur  ein  Wort  noch  laßt  mich  sprechen. 
Gönnt  ein  Wörtchen  mir  noch  heute 
An  den  Bräutgam  mir  zur  Seite: 
Freu  dich  nicht  zu  deiner  Jungfrau, 
Nicht  zu  sehr,  ich  will  dich  bitten. 
Freu  dich  nicht  am  ersten  Tage, 
Nicht  am  zweiten;  noch  am  dritten; 
Rühm  dein  neues  Roß  erst  morgen. 
Deine  Frau  im  zweiten  Jahre, 
Erst  im  dritten  deinen  Schwager, 
Und  dich  selber  nie  im  Leben*). 

Ich  füge  gleich  bei  der  für  unsere  späteren  Erörterungen 
sich  ergebenden  Wichtigkeit  der  Stelle,  die  Wiederholung  in 
einem  Wiegenliede®)  hinzu: 

Ach,  so  manche  arme  Mutter 
Sprach  vor  Zeiten  schon  und  dachte : 


0  Vgl.  Bücher  S.  304. 

2)  Man  ersieht  aus  diesem  Beispiel^  das  sich  mit  Prov.  30,  15.  16.  18.  19. 
Freidank  69,  5  ff.  128,  6  ff.  berührt,  wieder,  wie  dieselben  Formen  unab- 
hängig von  einander  entstehen. 

3)  Paul  S.  293. 

*)  a.  a.  0.  S.  307.    Vgl.  S.  50.  112.  121. 
6)  a.  a.  0.  S.  143. 
6)  a.  a.  0.  S.  165. 


oder: 


123 

Rühm  dein  Roß  nicht  vor  dem  Morgen, 
Nicht  den  Sohn,  bevor  er  Mann  ist, 
Nicht  die  Tochter  vor  der  Ehe, 
Und  dich  selbst  nicht  vor  dem  Tode. 

An  herrlichen  Bildern  steigert  sich  der  Ausdruck;   z.  B. 

Stimmungen. 
So  ist  des  Bedruckten  Stimmung, 
So  des  Traurigen  Gedanke: 
Wie  die  Herbstnacht  trüb  und  finster. 
Wie  des  Winters  düstre  Tage. 
Trüber  noch  ist  meine  Seele, 
Düstrer  noch  als  Nacht  und  Winter. 

Düster  schleicht  der  Wolf  im  Dickicht, 
Düstrer  noch  Schleich  ich  im  Walde; 
Dunkel  ist  des  Fuchses  Fährte, 
Dunkler  noch  sind  meine  Pfade  u.  s.  w.  *). 

Auch  in  andern  Zügen  hat  die  finnische  Poesie  Entwicklungen 
aufzuweisen,  wie  sie  selbständig  in  der  deutschen  Priameldichtung 
herausgebildet  sind.  Dahin  gehört  die  Häufung  paralleler  Gegen- 
sätze^), die  Beihen  mit  jOhne'^),  Motive  der  Lügendichtung*),  des 
Wunsches^),  der  Definitionspoesie ^). 

Auch  diese  Improvisationsdichtung  wächst  sich  zu  kleinen 
Bildchen  aus,  die  eine  Welt  für  sich  ausmachen.  Schon  die  oben 
zitierten  Stellen  und  Überschriften  zeigen  das,  und  der  typische 
Trunkenbold  erscheint  hier  wie  im  Bigveda.  Sie  bietet  gelegent- 
lich wie  das  griechische  Skolion  oder  das  Epigramm^)  Ausführung 
einer  Gnome.    Freilich  fehlt  strophische  Gliederung^).    Aber  trotz 


1)  a.  a.  0.  S.  265.    Vergl.  S.  285. 

3)  a.  a.  0.  S.  129.  32. 

3)  „Einen  Hof,  der  ohne  Hunde, 

Eine  Hütte  ohne  Katze, 

Eine  Wohnung  ohne  Krähen, 

Und  ein  Fenster  ohne  Kinder!"   a.  a.  0.  S.  255.  256. 
*)  a.  a.  0.  S.  22.  37.  83.  95.  180. 
*)  a.  a.  0.  S.  185. 
«)  a.  a.  0.  S.  61.  62. 

^)  Reitzenstein,  Epigramm  und  Skolion  S.  21.  105. 
®)  Sogar   ein  Seitenstück    zu   den  Weingrüßen   und   die  Warnung   vor 
Bürgermeistern,  Richtern,  Advokaten,  Schreibern  und  Pfaffen  ist  vorhanden. 
S.  275.  842. 


124 


aller  dieser  BerührüDgspunkte  sind  Kanteletar  und  deutsche 
Priamel  in  ihrem  Charakter,  ihrer  individuellen  Entstehung  und 
Ausbildung  himmelweit  von  einander  verschiedene  Dinge.  Jedes 
Literaturobjekt  trägt  doch  in  sich  selbst  die  Bedingungen  seiner 
Existenz:  der  indische  Vierzeiler,  das  griechische  Epigramm,  das 
Skolion,  die  Bune. 

Es  wurde  bereits  erwähnt,  daß  man  die  Kanteletar  für  die 
Geschichte  einer  angenommenen  altgermanischen  Priamel 
zu  verwerten  versucht  hat.  Daß  es  schon  ein  indogermanisches 
Priamel  gegeben  habe,  diese  Ansicht  müssen  wir  ablehnen,  wenn 
wir  den  historischen  Begriff  des  Priamels  festhalten.  Dagegen 
zeugt  der  Mangel  fast  aller  Voraussetzungen  und  das  Fehlen 
des  Priamels  als  Gattung  bis  gegen  Ende  des  Mittelalters.  Dagegen 
entscheidet  der  Umstand,  daß  in  den  verschiedenen  Abzweigungen 
der  indogermanischen  Sprachen  und  Literaturen,  mit  Ausnahme 
der  deutschen,  das  Priamel  fehlt.  Wäre  es  indogermanisch,  so 
müßten  es  alle  haben.  Auch  in  der  deutschen  Literatur  hat  es 
sich  erst  entwickelt,  gegeben  ist  es  auch  da  nicht  von  Anfang 
an.  Gegen  das  Hinausschieben  des  Priamels  als  Kunstgattung 
in  vorgeschichtliche  und  urgeschichtliche  Zeiten  spricht  endlich 
folgende  Erwägung.  Priamel  und  Epigramm  sind  Erzeugnisse 
einer  Subjektivität,  die  überall  erst  sehr  spät  literarischen  Aus- 
druck gewinnt.  Überall  ist  epigrammatische  Kunstdichtung  an 
die  Ausbildung  einer  individuell-subjektiven  Denkweise  und  an 
verhältnismäßig  hoch  gesteigerte,  reife  Geisteskultur  geknüpft. 
Das  lehren  Simonides,  Martial,  Bhartrihari,  Rosenplüt, 
Marot,    Owen^).      Ein    indogermanisches    Priamel    wäre    ohne 


*)  Dasselbe  Resultat  gewinnt  auch  die  philosophische  Deduktion,  die 
das  (in  jenen  Dichtungsgattungen  meist  enthaltene)  Witzige  und  Komische 
als  die  subjektivste  Form  des  Schönen  erweist.  Vis  eher,  Ästhetik  I  346. 
Indem  Valentin  das  Drama  als  Gattung  ausscheidet,  sucht  er  (Zs.  f.  vgl. 
Lg.  N.  F.  5,  45)  festzustellen,  daß  zuerst  als  besondere  Gattung  die  epische 
erscheint,  daß  allmählich  die  lyrische  neben  sie  tritt,  daß  endlich  die 
reflektierende  Gattung  einen  ebenbürtigen  Platz  erobert.  Dabei  ist  dann 
allerdings  daran  zu  erinnern,  daß  es  auch  nicht-differenzierte,  primitive  vor- 
literarische und  unliterarische  Dichtung  gibt.  Im  allgemeinen  Bücher 
S.  299  ff.  Wallaschek,  Anfänge  der  Tonkunst  S.  242.  Elster,  Über 
die  Elemente  der  Poesie  und  den  Begriff  des  Dramatischen.    Marburg  1903. 


125 


Beispiel  und  historisch  unbegreiflich.    Ein  indogermanisches  Friamel 
gab  es  also  nicht.     Vielleicht  aber  schon  ein  urgermanisches? 

ß.  M.  Meyer  hat  den  Versuch  gemacht,  das  Alter  ,einer  ger- 
manischen Friamel'  zu  bestimmen.  Er  will  sie  in  die  ersten 
Jahrhunderte  unserer  Zeitrechnung  setzen,  als  die  Qermanen  mit 
den  Finnen  in  Berührung  traten^).  Zwei  oben  mitgeteilte  Lieder 
der  Kanteletar  nämlich,  der  Abschied  von  dem  Bräutigam  und 
das  Wiegenlied  gleichen  teilweise  einer  Strophe  der  Havamal, 
die  vielfach  als  Friamel  betrachtet  ist.  Untersuchen  wir  die 
Ähnlichkeit.     Gemeint  sind  die  Verse: 

Rühm  dein  neues  Roß  erst  morgen, 
Deine  Frau  im  zweiten  Jahre, 
Erst  im  dritten  deinen  Schwager 
Und  dich  selber  nie  im  Leben  ^}. 

Ruhm  dein  Roß  nicht  vor  dem  Morgen, 
Nicht  den  Sohn,  bevor  er  Mann  ist, 
Nicht  die  Tochter  vor  der  Ehe, 
Und  dich  selbst  nie  vor  dem  Tode^). 

Die   verglichene  Strophe  der  Havamal  79  lautet: 

At  kueldi  skal  dag  leyfa, 
kono,  er  brend  er, 
mseki,  er  reyndr  er, 
mey,  er  gefin  er, 
IS,  er  yfir  k/e^mr, 
Ql  er  drukkit  er. 
(Detter  und  Heinzel  1,   16.  2,   113  f.) 

Es  deckt  sich  zunächst  das  Motiv:  Man  lobe  nichts,  bis  es 
die  Frohe  bestanden  hat.  DaJß  Motive  sich  gleichen  können, 
ohne  Abhängigkeit  zu  begründen,  ist  Tatsache*).  Im  Altnordischen 
wird  ohne,  im  Finnischen  mit  Steigerung  aufgezählt.  Dann  ent- 
sprechen sich  im  zweiten  Vers^)  der  Kanteletar  Zeile  3  und 
Havamel  79,  4  genau,  Zeile  3  entfernt  79,  2. 


*)  Die  altgermanische  Poesie  S.  434.  517. 

3)  Paul  S.  143. 

3)  Paul  S.  165. 

*)  QF  10,  30.    Meyer  S.  533. 

*)  Wenn  man,  wie  Meyer,  aus  dem  Liede  einen  strophischen  Vierzeiler 
aushebt;  einen  solchen  gab  es  freilich  im  Finnischen  kaum.  Gustay 
Meyer,  Essays  1,  384.     Comparetti  S.  33  ff.  272. 


126 


Beicht  das  aus,  um  eine  so  wichtige  Tatsache  festzustelleu  ? 
Kann  man  schließen,  das  Priamel  sei  in  urgermanischer  Zeit  zu 
den  Finnen  gelangt? 

Ich  möchte,  wie  Comparetti,  diese  Fragen  aus  folgenden 
Gründen  verneinen.  Eine  urgermanische  Gnome  des  Inhalts,  man  solle 
das  Mädchen  nicht  vor  der  Ehe  lohen,  ist  unbedenklich  zuzugeben. 
Daß  sie  den  Finnen  mit  manchem  Anderen,  was  sie  den  Germanen 
verdanken,  in  vorhistorischer  Zeit  zugekommen  sein  könnte,  der 
Nachweis  dieser  Möglichkeit  ist  Meyers  Verdienst^).  Ob  aber 
die  Häufung  der  Fälle  in  jener  Gnome  schon  urgermanische  feste 
Formel  war,  läßt  die  völlige  Verschiedenheit  der  im  Finnischen 
und  Altnordischen  gewählten  Beispiele  mindestens  zweifelhaft 
erscheinen.  Dagegen  spricht  der  Wechsel  der  Form;  im  Alt- 
nordischen Aufzählung,  im  Finnischen  Klimax.  Auch  im  Mhd. 
hat  der  betreffende  Spruch  keine  Priamelform  ^).  Selbständige 
Erweiterung  der  alten  Gnome  ist  doch  ebenso  gut  möglich.  Den 
weiteren  Schluß,  die  Germanen  hätten  den  Finnen  in  ältester 
Zeit  die  Gattung  des  Priamels  überliefert,  muß  man  ablehnen; 
die  Existenz  der  Gattung  kann  durch  ein  mehr  oder  minder 
zufälliges  Beispiel  der  Klimax  im  Finnischen  nicht  bewiesen  werden, 
die  priamelhaften  Formen  der  altgermanischen  Poesie  konstituieren, 
wie  wir  bald  sehen  werden,  keine  poetische  Gattung,  und  die 
allgemeinen  historischen  Voraussetzungen  für  das  Vorhandensein 
einer  epigrammatischen  Dichtung  xat  Ho^r^y  fehlen  gänzlich. 
Endlich  ist  zu  beachten,  daß  das  gleiche  Motiv  international  zu 
sein  scheint.  Auch  indisch  ist  es,  was  Meyer  entgangen,  vorhanden. 
Böhtlingk  3,  127:  Man  lobt  eine  Speise,  wenn  sie  verdaut  ist, 
eine  Frau,  wenn  ihre  Jugend  dahin  ist,  einen  Helden,  wenn  er 
eine  Schlacht  gewonnen  hat,  einen  Büßer,  wenn  er  sein  Gelübde 
zu  Ende  geführt  hat.  Der  Schluß  auf  Abhängigkeit  der  genannten 
Fassungen  von  der  indischen  wäre  verfehlt;  die  Gemeinsamkeit 
des  Motivs  ist  unzweifelhaft. 


*)  Freilich  warnt  Comparetti  S.  291  davor,  diese  Ähnlichkeiten  auf 
prähistorisehe  Berührungen  beider  Völker  zurückzuführen:  „auf  welchem 
Wege  die  gnomische  Formel  durch  mündliche  Überlieferung  zu  den  Finnen 
gelangte,  und  zu  welcher  Zeit  es  geschah,  läßt  sich  nicht  bestimmen." 
Der  Kalewala  S.  292. 

2)  Freidank  95,  18—19. 


127 


7. 


Mit  der  größten  Sicherheit  ist  über  den  Ziisammenhang 
romanischer  Literatur  und  deutscher  Priameldichtung  geurteilt. 
Daß  es  auch  ,eine  italienische,  französische,  normannische  u.  s.  w. 
Priamel'  gegeben,  galt  als  eben  so  unumstößliche  Wahrheit,  wie 
die  fabelhafte  Existenz  einer  keltischen,  arabischen  oder  chinesischen 
Priamel.  Man  wußte  ganz  genau,  daß  ,die  Priamel*  im  15.  Jah- 
hundert  aus  Italien  nach  Frankreich  gelangte;'  nach  Italien  hatten 
sie  die  deutschen  Meistersänger  verpflanzt.  Vor  dem  15.  Jahr- 
hundert gab  es  keine  Spur  einer  Priamel  in  Frankreich;  wenn 
einmal  in  dem  Arundel-Manuscript  Nr.  220  die  Form  auftaucht, 
so  kam  sie  natürlich  aus  dem  Dänischen.  Die  Dänen  hatten  sie 
den  Deutschen  nachgeahmt,  die  Deutschen  der  Bibel  und  so  fort. 

£s  ist  der  Boman  der  Priamel,  den  Bergmann  geschrieben 
hat.  Die  Geschichte  des  Priamels  ist  weit  weniger  interessant, 
sie  wandelt  nicht  unter  Palmen,  nicht  unter  den  Qestirnen  Ara- 
biens, Syriens,  Chinas  hat  aber  dafür  einen  Vorzug,  der  Wahrheit 
näher  zu  kommen. 

Von  den  romanischen  Literaturen  konnte  in  älterer  Zeit  wohl 
fast  nur  die  Frankreichs  von  Einfluß  auf  deutsche  Gnomik 
sein,  weniger  die  Italiens,  noch  weniger  die  spanische.  Frankreichs 
ältere  Literatur  ist  reich  an  Entwicklungen,  welche  der  unseres 
Priamels  in  Deutschland  parallel  laufen,  ohne  damit  identisch 
zu  sein. 

Man  hat  auch  hier  zwischen  unliterarischer  volkstümlicher 
Gnomik  und  wirklicher  Literatur  einen  Unterschied  zu  machen. 
In  dieser  hat  die  hier  in  Betracht  kommende  Entwicklung  eine 
von  der  deutschen  ganz  abweichende  Gestalt  angenommen;  in 
jener  sind  ähnliche  Ansätze,  wie  fast  überall,  reichlich  vorhanden. 
Die  jeinfachen  volkstümlichen  Improvisationsformen,  aus  denen 
sich  das  Priamel  entwickelt,  fehlen  auch  im  Französischen  nicht. 
Wer  nur  eine  der  französischen  Sprichwörtersammlungen  des 
16.  oder  17.  Jahrhunderts  in  der  Hand  gehabt  hat,  für  den  bedarf 
das  gar  keines  Beweises.  Es  sind  alle  Formen,  die  für  das 
deutsche  Priamel  Wichtigkeit  gewonnen  haben,  entwickelt  *).    Noch 


*)  Bei    der  Erläuterung   der  Priamelform   ist   auch   französisches   be- 
rücksichtigt.    Ein  picardisches  Proverbe  des  13.  Jahrhunderts  lautet: 


128 


mehr.  Was  auf  der  Basis  solcher  gemeinsamen  primitiven  Grund- 
lagen der  eigentlichen  Literatur  zustrebt,  dafür  bildet  der  rede- 
gewandte Bomane  schon  früh  viel  reichere  Formen  aus,  als  sie 
in  deutscher  Literatur  aufzuweisen  sind;  und  das  ist  bei  dem 
Unterschied  des  künstlerischen  Charakters  beider  Völker  das 
Natürliche^).  Die  Ennegs,  Litaneien  und  einige  verwandte  Er- 
scheinungen sind  uns  schon  begegnet.  Auf  Stellen  der  Troubadours 
hatte  Sachs  aufmerksam  gemacht^);  es  gibt  mehr  der  Art^). 
Auch  auf  das  Spanische  war  dort  verwiesen.  Ein  nicht  ver- 
merktes glossenartiges ^)  Beispiel  Baltasars  de  Alcäzar,  von 
Paul  Heyse  übersetzt,  möge  veranschaulichen,  eine  wie  hoch 
entwickelte  Kunst  hier  vorliegt,  wie  das  einfache  deutsche  Priamel 
damit  gar  keinen  Vergleich  aushält. 

Wenn  ich  dreierlei  besäße, 
WUrd  ich  schier  in  GlUck  versinken: 
•  Dich,  o  schöne  Ines,  Schinken, 
Liebesäpfelchen  mit  Käse. 

Soweit  mag  ein  volkstümlicher  Vierzeiler  zu  Grunde   liegen; 
dann  wird  er  in  feinste  Dialektik  aufgelöst. 

Diese  Ines  ist  fUrwahr, 

Die  mir  raubte  den  Verstand, 

Daß  ich  gar  abscheulich  fand 

Alles,  was  nicht  Ines  war. 

Und  in  düsterer  Ascese 

Wollte  mir  kein  Sternlein  blinken, 

Bis  ich  jungst  geriet  an  Schinken, 

Liebesäpfelchen  und  Käse. 

Tres-grans  envies  dire  os: 

Si  sont  de  II  kiens  a  I  os, 

Et  de  II  povres  a  I  huis; 

Et  de  plus  dire  je  ne  puis 

Ne  plus  grandes  nuls  hon  ne  vit 

Fors  de  II  femmes  a  I  vit. 
KpuTTTGiSta  3,  344.     Sind  Vers  4  und  5  späterer  Zusatz?    Auf  die  Form 
wird  eben  in  der  Überlieferung  —  das  sicherste  Anzeichen  für  das  Fehlen 
der  Gattung  —  kein  Gewicht  gelegt. 

*)  Jeanroy,   Les    origines  de  la  poesie  lyrique    en  France  au  moyen 
äge  S.  363  ff. 

»)  Herr  ig  8  Archiv  15,  375. 

3)  z.  B.  Mahn,  Die  Werke  der  Troubadours  1,  1.  2.  54.  u.  s.  w. 

^)  Auch  an  die  Cancion  ist  zu  erinnern. 


129 

Ines  freilich  hat  gesiegt, 
Doch  bald  hab  ich  zweifeln  müssen, 
Was  von  diesen  drei  Genüssen 
Mir  zuerst  am  Herzen  liegt. 
So  verlockt  mich  nun  der  Böse 
Jetzt  zur  Rechten,  jetzt  zur  Linken, 
Bald  zu  Ines,  bald  zu  Schinken, 
Bald  zu  Äpfelchen  mit  Käse. 

Wenn  die  Maid  von  Reizen  spricht, 
Lobt  der  Schinken  sich  geschwind; 
Käs  und  Liebesäpflein  sind 
Ein  urheimatlich  Gericht 
Nicht  die  feinste  Hypothese 
Macht  der  Wage  Zünglein  sinken: 
Gleich  an  Wert  sind  Ines,  Schinken, 
Licbesäpfelchen  und  Käse. 

Aber  so  viel  bringt  mir  ein 
Diese  neue  Leidenschaft; 
Ines  darf  so  launenhaft 
Und  so  spröde  nimmer  sein. 
Denn  der  Trost,  den  ich  erlese, 
Tut  sie  nicht  nach  meinen  Winken, 
Ist  ein  herzhaft  Stückchen  Schinken, 
Liebesäpfelchen  und  Käse^). 

Auch  WO  die  Verbindung  kürzer  ist,  welche  von  romanischer 
Literatur  zu  deutscher  hinüberzuleiten  scheint,  versagt  die  Ver- 
gleich ung;  so  wenn  man  den  durchgereimten  deutschen  Vierzeiler 
aus  der  französischen  Tirade  oder  Laisse  ableiten  wollte.  Dem 
einfachen  deutschen  Priamel  entgegen,  schreitet  romanische  Dichtung, 
wo  sie  wirklich  priamelhaft  wird,  zu  langen  Spruchreihen  fort. 

Ki   nul  bien  ne  scet  ne  nul  volt  aprendre, 

Ki  mult  acreit  et  n'ad  dunt  rendre, 

Ki  tant  dune  ke  rien  ne  retent, 

Ki  tut  promet  et  puis  ne  dune  nient, 

Ki  tant  parole  ke  nule  ne  l'escute, 

Ki  tant  manace  ke  nul  ne  l'dute, 

Ki  tant  jure   ke  nul  ne  li  crait, 

Ki  demande  quanque  il  n^ait, 

Ki  ä  fole  enemi  sun  cunseil  cunte, 

Ki  por  autrui  amer  sei-meimes  met  ä  munte, 


*)  Gcibel  und  Heyse,  Spanisches  Liederbuch.    Zweite  Auflage  S.  53  f. 
Nigra,  Canti  popolari  piemontesi  S.  578.  Nr.  85. 

Ettling,  Priamel  9 


140 


Bahn  gebracht^).  Wo  deutsche  Sonette  zu  prianielhafter  Haitang 
zu  neigen  scheinen,  wie  der  monströse  41.  Liebeskuß  Quirin 
Kuhlnianns*),  ist  das  deutsche  Priamel  ebensowenig  die  Grund- 
lage gewesen  wie  bei  den'  Italicnern.  Eine  Gattung  der  Sonett- 
priamel  hat  es  glücklicherweise  nie  gegeben.  Auf  spätere  Erzeug- 
nisse romanischer  Literaturen  einzugeben,  ist  nicht  erforderlich, 
weil  sie  auf  die  Ausbildung  des  deutschen  Priamels  nicht  ein- 
gewirkt haben.  Die  selbständige  Entwicklung  des  Priamels  in 
Deutschhmd  läßt,  in  lückenloser  Abfolge  ihrer  Phasen  verlaufend, 
fremder  Einwirkung  auf  die  innere  Form  keinen  Kaum.  Hält 
die  Beurteilung  fremder  Literaturerzeugnisse,  wie  billig,  den 
unterschied  bloßer  Stilform  und  literarischer  Gattung  fest,  so 
kann  es  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  Priameldichtung  im  eigent- 
lichen Sinne  auch  in  den  andern  europäischen  Literaturen  fehlt  ^). 

8. 

Von  solchen  Anschauungen  aus  ist  eine  mechanische  Ver- 
gleichung  fremder  Sprüche  zunächst  abzulehnen.  Wo  gelegentliche 
Einwirkungen  zu  erkennen  waren,  ist  auch  hier  davon  Gebrauch 
gemacht;  einer  principiellen  Erörterung  bedarf  es  nicht  mehr. 
Auf  die  verwandten  Erzeugnisse  germanischer  Literaturen  ist 
später  gebührend  Bücksicht  genommen. 

Es  heißt  den  ausländischen  Erzeugnissen  Gewalt  antun,  wenn 
man  sie  mit  dem  Maßstab  des  deutschen  Priamels  mißt;  für 
Alles  mehr  oder  weniger  Ähnliche  die  Bezeichnung  des  Priamels 
zu  erzwingen,  wäre  auch  ganz  unhistorisch.  So  dient  hier  die 
vergleichende  Methode,  völlig  im  Gegensalz  zu  den  bisherigen 
Anschauungen,  recht  eigentlich  dazu,  die  Verschiedenheit  des 
Priamels  von  den  verglichenen  Literaturprodukten  zu  erkennen. 
Das  Nürnberger  Priamel  hebt  sich  in  seiner  Einfachheit  und 
seinen  Lebensbedingungen  scharf  ab  von  den  künstlicheren  ro- 
manischen Formen  des  Mittelalters  und  der  forcierten  Geist- 
reichigkeit  der  gleichzeitigen  Italiener ;   es  ist  weder  orientalischer 


*)  Schneegans,  (icschichto  der  grotesken  Satire  S.  33  f.  Über  den 
Vorsprung  der  Franzosen  gegenüber  den  Deutschen  in  der  Vorliebe  fürs 
Lächerliche:  Herder  2,  46  f.    (Suphan). 

3)  Welti  S.  238.    Vgl.  dieUoppelperiode  von  Üryphius:  WeltiS.  239. 

3)  Gaston  Paris,  Revue  critique  1868,  Nr.  39.  S.  194. 


141 


Herkunft  noch  allen  Indogerraanen  gemein:  der  Versuch,  ein 
urgermanisches  Priamel  zu  erweisen,  ist  gescheitert.  Scherer 
meinte,  das  Priamel  sei  der  germanischen  Literatur  eigentümlich:  wir 
werden  noch  über  ihn  hinauszugehen  iiaben,  indem  wir  in  seiner 
Behauptung  an  Stelle  der  germanischen  Literatur  die  deutsche 
setzen.  Das  wird  sich,  um  es  vorweg  zu  nehmen,  aus  späterer 
Untersuchung  ergeben.  Vielleicht  bin  ich  schon  in  der  Wider- 
legung der  bis  jetzt  geübton  vergleichenden  Methode  zu  ausführlich 
gewesen;  auf  Alles,  was  aus  diesem  oder  jenem  Gesichtspunkt 
einmal  als  Priamel  angesprochen  ist,  braucht  man  wohl  nicht 
einzugehen.  Endlich  noch  eins.  Die  polemischen  Bemerkungen 
über  fremde  Literatur  vermögen  den  einzelnen  Erzeugnissen  nicht 
entfernt  gerecht  zu  werden,  können  und  sollen  nicht  erschöpfen; 
hier  galt  es  nur,  den  dicksten  Firnis  zu  entfernen,  mit  dem 
bisherige  Forschung  die  wirklichen  Züge  des  Gesamtbildes  der 
Priamellileratur  entstellt  hat. 


V. 

Theorien  zur  Entstehung  und  Vorgeschichte 

des  Priamels. 

Der  Begriff  von  Entstehen  ist  uns  ganz  und 
gar  versagt,  daher  wir,  wenn  wir  etwas  werden 
sehen,  denken,  daß  es  schon  da  gewesen  sei. 

Goethe. 

1.  Theorien  über  Entstehung  der  Form  befriedigen  nicht.     2.  Insbesondere 
ist  das  Priamel  nicht  ohne  weiteres  aus  der  Häufung   entstanden. 

1. 

Bevor  wir  die  ersten  Spuren  des  Priamels  aufsuchen  können, 
ist  eine  kurze  Prüfung  der  bisherigen  Theorien  seiner  Entstehung 
und  Vorgeschichte  erforderlich.  Die  Betrachtung  hat  sich  bisher 
durchweg  wieder  auf  die  äußere  Form  des  Priamels,  und  zwar 
des  synthetischen  beschränkt. 

Das  wirkliche  Priarael  ist  wie  alles  Natürlich-Individuelle 
zugleich  Form  und  Inhalt.  Die  Entwicklung  beider  getrennt  zu 
betrachten,  wäre  unrichtig,  weil  weder  eine  vorher  bestehende 
Form  sich  den  Inhalt,  noch  dieser  sich  die  Form  geschafifen  haben 
kann.  Es  entwickelt  sich  beides  nicht  nebeneinander,  sondern 
ineinander.  „Natur  hat  weder  Kern  noch  Schale,  Alles  ist  sie 
mit  einem  Male''.  Man  hat  sich  auch  hier  wohl  die  Sache  zu 
leicht  gemacht.  Rosenkranz  meinte^);  „Der  Spruch  stellt  die 
Sache  einfach  hin  und  begnügt  sich  mit  einer  schlichten  Ein- 
kleidung. Werden  aber  mehre  Subjekte  nach  einander  aufgeführt 
und  werden  dieselben  schließlich  (?)  durch  ein  urteil  zusammen- 
geknüpft, so  entsteht  die  Priamel.  —  Die  Priamel  läuft  also  auf 
eine  Pointe  hinaus."  Man  hört  neben  dem  Philosophen  nur 
Herder  und  Eschenburg.     Die  von  Rosenkranz^)  zuversichtlich 

^)  Geschichte  der  deutschen  Poesie  im  Mittelalter  S.  568. 
3)  A.  a.  0. 


143 


zu  OuDsteo  dos  Priamels  beantwortete  Frage,  ob  Lehrgedicht 
oder  Priamel  die  Priorität  zu  beanspruchen  habe,  hat  keinen 
tieferen  Sinn  als  die  Frage  nach  der  Priorität  von  Ei  oder  Henne. 
Theoretisch  läßt  sich  nichts  dagegen  einwenden,  wenn  man  als 
Entwicklungsreihe  Sprichwort,  Priamel,  Lehrgedicht  ansetzt;  in 
Wirklichkeit  liegt  die  Sache  nicht  so  einfach.  Die  musivische 
Znsammensetzung  der  Bescheidenheit  rechtfertigt  kaum  den  strengen 
Begriff  des  Lehrgedichts,  und  das  Priamel  fällt  ebenso  vielfach 
aus  dem  Bahmeu  der  didaktischen  Kategorie  heraus.  Noch 
Schönbach  hat  jüngst^)  das  Priamel  als  Mittelglied  dieser 
Entwicklung  behandelt^).  Eine  ex  post  ausgedachte  Theorie, 
wie  die  (hier  als  Beispiel  für  viele  zitierte)  B.  M.  Werners 
über  Spruch,  Gnome,  Epigramm,  Bätsei  und  PriameF),  bleibt 
für  die  geschichtliche  Untersuchung  unfruchtbar.  Wenn  ein 
anderer  Theoretiker  der  Poetik  von  der  „Ausartung  des  Epigramms 
in  den  einfachen  Sinn-  und  Denkspruch''  r-edet,  so  wird  man 
sich  schwerlich  von  einer  solchen  Entwicklung  eine  historisch 
glaubhafte  Vorstellung  machen  können.  „Durch  alle  Theorie 
der  Kunst  versperrt  man  sich  den  Weg  .  .  .;  ein  schädlicheres 
Nichts  als  sie  ist  nicht  erfunden  worden**  sagt  Goethe. 

W.  Wackernagel  hatte  einmal  das  Priamel  aus  dem 
Sätsel  hergeleitet,  ein  anderes  mal  mit  den  im  späteren  Mittelalter 
so  beliebten  Blutenlesen  aus  dem  Freidank  in  Verbindung  gebracht 
und  hierin  seine  ersten  Wurzeln  gesehen*);  solcher  Batlosigkeit 
gegenüber  —  für  etwas  anderes  kann  man  derartige  Hypothesen 
doch  kaum  halten  —  glaubte  B.  M.  Meyer  in  Übereinstimmung 
mit  Scherer  feststellen  zu  können,  daß  die  Priamelform  in  der 
altgermanischen  Figur  der  Häufung  ihren  natürlichen  und  sichern 


»)  Walther«  S.  159. 

«)  Behauptungen  wie  die  von  W.  Grimm  bekämpfte:  mit  dem  Lehr- 
gedicht beginne  die  Poesie,  bedürfen  wohl  keiner  Widerlegung;  soviel  ist 
daran  richtig,  daß  die  einfache  Gnome  uralt  sein  muß.  Auch  W.  Grimm 
scheint  einer  zu  äußerlichen  Chronologie  das  Wort  zu  reden,  wenn  er  die 
Entstehung  des  Lehrgedichtes  erst  nach  dem  Verfall  des  Epos  ansetzt. 
Sieht  Usener  in  der  religiösen  Lyrik  bei  allen  Völkern  die  erste  Stufe  der 
Poesie,  während  Wallas  che  k  mit  Nachdruck  das  Drama  voranstellt,  so  ver- 
stehen beide  unter  Poesie  eben  nicht  dasselbe. 

3)  Lyrik  und  Lyriker  S.  181.  188. 

*)  Poetik  3  S.  212.    KL  Schriften  2,  389. 


144 


Hoden  besitze^).  Konnte  Meyers  Annahme  eines  urgermanischen 
und  finnischen  Priamels  als  Dichtungsgattung  nicht  überzeugen, 
so  hat  doch  spätere  Forschung  nur  zu  ihrem  Schaden  Meyers 
sonstige  Ergebnisse  absichtlich  oder  unabsichtlich  ignoriert.  Meyer 
unterscheidet  aber  auch  zwischen  Form  und  Gattung  nicht;  er 
spricht  kurzweg  von  der  Priamel. 

Der  Hauptreiz  aller  Poesie  ist  Einheit  im  Wechsel^);  die 
Versuche,  die  Häufung  technisch  zu  regeln,  führen  unmittelbar 
zur  Entwicklung  der  Priamelform:  so  stellt  sich  Meyer  die 
Genesis  vor.  Geschehen  diese  Versuche  mit  bestimmt  verfolgter 
Absicht,  dann  hätte  wieder  die  grimmig  befehdete  Teleologie  den 
Platz  der  Kausalität^)  eingenommen;  bestehen  sie  in  absichtslosem 
Experimentieren,  dann  wäre  alles  das  auch  hiergegen  vorzubringen, 
was  z.  ß.  gegen  die  Spieltheorie  von  Groos  gilt.  Das  einfachste 
Bindeglied  verleiht  der  Form  die  nötige  Einheitlichkeit.  Zahlen 
sind  allerdings  nur  das  dürftigste  Surogat  dafür  und  wertlos  ohne 
einen  gemeinsamen  Begriff,  der  die  Bindung  herstellt.  Dient  die 
Aufzählung  nicht  epigrammatischem  Zweck,  so  gehört  sie  gar 
nicht  hierher.  Zunächst  prägt  die  Anapher  den  einzelnen  Gliedern 
den  Stempel  der  Einheitlichkeit  auf.  Schon  die  altgermanische 
Poesie  hat  den  anaphorischen  Dreizeiler  ausgebildet,  eine  Vorstufe 
der  Priamelform;   z.  B.  Havamal  74. 

Deyr  fe, 

deyia  frcendr, 

deyr  sialfr  it  sama^). 

Der  Entdecker  des  Dreizeilers  hat  schon  auf  die  Ähnlichkeit 
mit  dem  Paroemiacus  hingewiesen  und  den  Dreizeiler  die  Hälfte 
der  LjoöTahättsstrophe,  als  urgermanisch  angesprochen^).  Setzen 
sich  dann  Parallelverse  an  und  kommt  bestimmte  Oekonomie  der 
Einzelheiten  hinzu,  so  erhält  man  ein  Schema  des  Priamels*); 
allerdings  dieses  nicht  selbst;   denn  zu  einer   bestimmten  Kunst- 


*)  Altgermanische   Poesie    S.  435.     Seh  er  er,  Deutsche  Studien  I  347. 

8)  Meyer  S.  237. 

3)  Meumann  in  den  Philosophischen  Studien  10  (1894),  255:  „Eine 
teleologische  Erklärung  stellt  sich  überall  da  ein,  wo  wir  um  den  Nachweis 
des  kausalen  Zusammenhanges  in  Verlegenheit  sind." 

*)  Meyer  S.  316.  514.    Detter  und  Heinzel  2,  112. 

5)  Meyer  S.  322.  514. 

ß)  Meyer  S.  435. 


145 

gattung  gehört  auch  mindestens  ein  bestimmter  adäquater  Inhalt, 
der  hier  noch  durchaus  fehlt;   z.  B.  Hyndlulied  31 : 

Eru  uQluuT  allar 

frä  Uipolfi, 

uitkar  allir 

frä  Uilmeipi, 

seipberendr 

frä  SuarthQfpa, 

iQtnar  aUir 

frä  Ymi  Icomnir*). 

Die  Anordi\ung  des  Satzes  ist  nur  zufällig  synthetisch. 

Meyer  faßt  nun  das  Priamel  als  eine  Art  Aufblasung  des 
anaphorischen  Dreizeilers  ^).  „Bei  diesem  wird  an  ein  Paar 
symmetrisch  gebauter  Verse  gleich  die  Abschlußzeile  gefügt,  bei 
der  Priamel  werden  erst  noch  die  Vorbereitungszeilen  vervielfältigt. 
Ganz  ähnlich  steht  in  der  Oeschichte  der  Dichtungsformen  die 
italienische  Terzine  zum  Bitornell  oder  das  persische  OhaseF) 
zum  Bubai:  Anfang  und  Schluß  bleiben  unverändert,  der  Hauptteil 
aber  wird  vervielfältigt.  Und  zwar  hat  dieser  Kunstgriff  des 
Ausspinnens  bei  der  Priamel  die  einfachste  Form,  weil  das  ver- 
vielfachte Glied  ein  einfacher  Satz  und  Vers  ist:  a/  a/  ab  wird 
a/a:  a:  a  .  .  .  ./  ^b.  Es  wird  gleichsam  das  Dach  in  die  Höhe 
gehoben  und  das  Haus  um  mehrere  Stockwerke  erhöht,  während 
Fundament  und  Dach  ihre  alte  Gestalt  bewahren*)''.  So  an- 
schaulich dieses  Bild  wirkt,  so  ist  es  doch  insofern  etwas  schief, 
als  die  Vorstellungen  von  unverändertem  Fundament  und  Dach  den 
Gedanken  nahe  legen,  daß  ein  organischer  innerer  Zusammenhang 
zwischen  den  einzelnen  eingefügten  Gliedern  nicht  vorhanden  zu 
sein  brauche,  und  gerade  das  ist  für  das  eigentliche  Priamel 
das  Charakteristische.  Außerdom  paßt  wieder  die  ganze  Theorie 
nur  für  die  eine  Hauptform  des  synthetischen  Priamels,  erschöpft 
also  die  Sache  keineswegs.  Wahrscheinlich  irrt  man,  wollte  man 
gegebenen  Falls  sich  wirklich  die  Entstehung  eines  Priamels  so 
denken,  als  wenn  ein  fester  Ausgangs-  und  Endpunkt  von  An- 
fang  an   in   der  Vorstellung   des   Dichters  festgelegt  wäre,    wie 

0  Detter  und  Heinzel  1,  182. 
3)  S.  435  f. 

3)  V.  Biedermann,  Zs.  f.  vergl.  Lg.  9,  230  ff. 
*)  Meyer  S.  435  f. 
Bttling,  Priamel  10 


146 


im  Grundriß  des  Hauses  Fundament  und  Dach.  Ohne  Zweifel 
ist  nach  Analogie  alles  künstlerischen  Schaffens  zunächst  nur  das 
reine  Wohlgefallen  an  irgend  einer  charakteristischen  Form  oder 
Wendung  beim  Dichter  der  Keim  des  späteren  Werkes;  diese 
Wendung  braucht  gar  nicht  einmal  das  Orundmotiv  zu  sein,  das 
bildet  sich  erst'  später  bei  genauer  Überlegung  und  Abwägung 
aller  Einzelheiten.  Auch  hier  haben  wir  uns  —  und  das  unter- 
scheidet das  altdeutsche  Priamel  vom  Aperfu  und  modernem 
Epigramm^)  —  die  naive  Freude  an  der  Fülle  der  Einzelheiten 
als  die  Grundlage  des  Gedichtchens  vorzustellen;  die  Zuspitzung 
ist  Nebensache. 

Mit  diesen  Einschränkungen  mag  das  Bild  Meyers  seine 
Berechtigung  haben  und  den  äußerlichsten  Schematismus  eines 
synthetischen  Priamels  deutlich  machen;  mehr  aber  nicht.  Im 
Grunde  hatte  sich  Wendeler  die  Entwicklung  ebenso  gedacht-). 
Mit  der  Ansetzung  eines  möglichen  Schemas  erklären  wir  freilich 
nun  nicht  die  Entwicklung  selbst,  das  Agens,  die  innere  treibende 
Kraft.  Es  gilt  gegen  B.  M.  Meyer  dasselbe  Bedenken,  das  wir 
gegen  v.  Biedermanns  Zählmethode  bei  der  Theorie  über  die 
Entstehung  des  Viertakters  aussprechen  müssen.  Wie  sich  durch 
Auszählen  der  Satzbestimmungen  noch  kein  Viertakter  und  durch 
Addition  von  Wortteilen  noch  kein  Ehythmus  ergibt,  so  macht 
die  Multiplikation  einzelner  synthetischer  Glieder  noch  kein 
synthetisches  Priamel.  In  allen  drei  Fällen  dürfen  wir  uns  mit 
solchen  äußerlichen  Erklärungen  wohl  nicht  zufrieden  geben. 
„Es  können  die  Einzelformen  der  Dichtung  nicht  durch  die 
Methode  äußerer  Beobachtung  und  Vergleichung  in  ihren  inneren 
Antrieben  erklärt  und  unter  allgemeingültige  Begeln  gebracht 
werden.  Ein  tiefer  psychologischer  Grundunterschied,  Aussprache 
des  eigenen  bewegten  Inneren  und  Hingabe  an  das  Gegenständliche 
geht  von  den  primären  Gebilden  der  Poesie  aufwärts^)." 

^)  „Der  schlechteste  (Epigrammatist),  meint  Lessing,  nimmt  nie  die 
Feder,  ein  Epigramm  niederzuschreiben,  ohne  den  Aufschluß  vorher  so  gut 
und  kurz  gerundet  zu  haben,  als  es  ihm  möglich  ist.  Oft  hat  er  Nichts 
voraus  bedacht,  als  diesen  einzigen  Aufschluß,  der  daher  auch  nicht  selten 
eben  Das  ist,  was  der  Dietrich  unter  den  Schlüsseln  ist;  ein  Werkzeug, 
welches  eben  so  gut  hundert  verschiedene  Schlösser  eröffnen  kann  als  eines.^ 

3)  De  praeambulis  S.  32  f. 

^  Dilthey,  Die  Einbildungskraft  des  Dichters  S.  336. 


147 


2. 

Inwiefern  wurzelt  das  Priamel  in  der  Häufung^)?  Ist  es 
daraus  abzuleiten? 

Goethe  läßt  die  Sprache  schon  an  und  für  sich  produktiv 
sein,  und  zwar  in  doppelter  Sichtung:  poetisch  produktiv,  insofern 
sie  der  Einbildungskraft,  rhetorisch,  insofern  sie  dem  Gedanken 
entgegenkommt.  (Noten  und  Abhandlungen  zum  westöstlichen 
Divan:  Orientalische  Poesie,  ürelemente.)  Dürften  wir  heute 
noch  eine  solche  Hypostase  des  SprachbegrifTes  gelten  lassen,  so 
träfen  wir  die  sprachliche  Kunst  in  der  ersten  Bichtung  an 
der  Arbeit,  wenn  sie  „Lebensbezüge"  rein  intuitiv  ausspricht 
und  wenn  sie  in  mehr  oder  weniger  freiem  Spiel  schöpferischer 
Produktivität  zum  Zweck  der  gesteigerten  Erlebbarkeit  dem  Princip 
der  Wiederholung^)  folgt  und  der  Variation,  dem  Paralle- 
lismus und  der  Häufung  huldigt.  Aber  wenn  wir  die  Ein- 
schränkung machen,  daß  die  Sprache  nicht  zugleich  Kunst  und 
Künstler,  Objekt  und  Subjekt  sein  kann,  dürfen  wir  uns  Goethes 
Führung  anvertrauen;  machen  wir  den  Unterschied  zwischen 
Poetisch  und  Bhetorisch,  scheiden  wir  rein  rhetorische  sprachliche 
Mittel  vorläufig  aus. 

Bei  den  Anfängen  der  Poesie  spielt  bekanntlich  die  Wieder- 
holung, „die  Seele  des  Volksliedes"  eine  entscheidende  Bolle. 
Als  Beduplikation  gibt  tsie  der  Sprache  der  Kinder  und  der 
Wilden  ein  eigenes  Gepräge '),  der  Beiz  von  Bhythmus  und  Beim 
beruht   auf  Wiederholung,    Wiederholung   ist   das  Tragwerk   der 


»)  Siehe  oben  S.  143. 

^)Woldemar  von  Biedermann,  Zur  vergleichenden  Geschichte 
der  poetischen  Formen,  Zs.  f.  vergl.  Lg.  N.  F.  2,  418  ff.  9,  224  ff.  Goethe- 
Forschungen  3,  235  ff.  R.  M.  Meyer  QF  58,  68  ff.  Etwas  einseitig  und 
äußerlich  Norden,  Kunstprosa  2,  813  ff.  Unsystematiseh  im  allgemeinen, 
sehr  lehrreich  für  das  Estnische  Kallas,  Die  Wiederholungslieder  der  Est- 
nischen Volkspoesie  S.  3  ff;  übrigens  sind  die  sogenannten  Wiederholungs- 
lieder eine  dem  Deutschen  fremde  Specialität.  Gummere  scheidet  im 
5.  Kapitel  seiner  Beginnin gs  of  Poetry  ohne  durchschlagenden  Grund  incremen- 
tal  repetition  und  cumulative  repetition  und  führt  alle  diese  Erscheinungen 
sehr  gezwungen  auf  den  angenommenen  „socialen^  Ursprung  der  Poesie 
zurück. 

3)  Tylor,  Anfänge  der  Cultur  1,217.  Groos,  Spiele  der  Menschen  S.  40. 

10' 


148 


ganzen  primitiven  Poesie  geworden^).  „Beim  erstmaligen  Anhören 
.  .  .  .  sind  wir  rein  auffassend  und  uns  innerlich  adaptierend 
tätig,  bei  der  Wiederholung  ist  die  Arbeit  der  Auffassung  vorbei, 
und  wir  können  uns,  nachdem  dte  aneignende  Aufmerksamkeit 
entlastet  ist,  dem  Genuß  hingeben.  Es  ist  dabei  einerseits  die 
Lustqualität,  die  allem  Bekannten  anhaftet,  welche  in  Kraft  tritt, 
und  negativ  kommt  für  die  Entwicklung  der  Gefühlswirkung  .... 
der  bekannte  Antagonismus  zwischen  Aufmerksamkeit  und  Gefühl 
in  Betracht.  Auf  diesem  Princip  der  Wiederholung  beruhen  ganz 
besonders  die  einfachen  .  .  .  Mittel  der  ältesten  Poesie.^  Beine 
Wiederholung  ist  nicht  ausgeschlossen,  Variation  aber  stellt  sich 
als  negatives  Komplement  schon  von  Anfang  an  ein^).  Diese 
Wiederholung  ist  zunächst  ziemlich  sinn-  und  planlos^);  dann 
tritt  als  regelndes  Moment  „Bewegung"  hinzu.  Mit  den  gleichen 
Bewegungen  werden  Wiederholungen  des  Arbeitsgesanges,  mit 
wiederkehrenden  Figuren  des  Tanzes  die  gleichen  Melismen  ver- 
bunden. Mechanische  Wiederholung  stellt  eine  Vorstufe  des 
Parallelismus  dar*),  die  Häufung  beruht  auf  Parallelismus, 
den  sie  erweitert.  Beim  Heizen  des  Kalkofens  schieben  Bauern 
Palästinas  abwechselnd  Dornen  in  das  Feuerloch  und  singen  dabei, 
einer  stimmt  an,  ein  zweiter  respondiert  ^).  Eegenlieder  werden 
von  Bauernmädchen  bei  Betlehem  mit  häufiger  Wiederholung 
jeder  Zeile  ohne  Vorsängerin  zusammen  gesungen®). 

In  Merg  Ajun  sah  Dalman  einen  Tanz  mit  Bewegungen, 
die  dem  Inhalt  der  gesungenen  Textworte  entsprachen.  Alle 
Anwesenden  sangen  den  Befrain  mit. 

So  pflückt  man  Weißdorn,  o  Mutter  so  1 
so  geht  die  Kokette,  o  Mutter  sol 


*)  Groos,  a.a.O.  S.  41.  46.  158.  Meumann,  Philosophische  Studien 
10,  298.    Wallaschek,  Anfäoge  der  Tonkunst  S.  24.  27.  31. 

2)  Nicht  erst  als  „assertion  of  art,  of  progress,  of  the  individual," 
wie  Gummere  S.  209  meint,  während  er  für  die  Wiederholung  „socialen" 
Ursprung  annehmen  will.  „Iteration  is  the  spontaneous  expression  of 
emotion  (?)  and  begins  in  the  strong." 

^)  Letourneau,  L'evolution  litteraire  dans  les  diverses  races  humaines. 
Paris  1894.     S.  29. 

*)  PoUe  zu  Drosihns  Kinderreimen  S.  32  f. 

*)  Dalman,  Palästinischer  Diwan  S.  56. 

«)  Dalman  S.  58. 


149 


SO  ladet  er  seine  Gäste,  o  Mutter  so! 

so  schlachtet  er  lein  Schaf,  o  Mutter  so! 

so  gehen  die  Mädchen,  o  Mutter  so! 

so  gehen  die  alten  Frauen,  o  Mutter  so! 

so  gehen  die  Meere,  o  Mutter  so! 

so  schwimmt  man  in  den  Flüssen,  o  Mutter  so^}. 

Wiederholung  and  Variation  liegt  als  entwickelndes  Princip 
ebenso  dem  kleinsten  musikalischen  Satz  und  den  meisten  poetischen 
Gebilden  zu  Grunde-),  wie  sie  für  wichtige  Erscheinungen  hoch- 
entwickelter Kunst  das  normierende  Gesetz  abgegeben  hat;  sie 
führt  notwendig  zu  der  in  dem  Parallelismus  des  Stils  ausreifenden 
Kunst  ^).  Man  wiederholt  und  variiert  nicht  mehr  allein  äußerlich 
das  Sprachmaterial,  sondern  den  Sinn^).  Variation  und  Paralle- 
lismus entsprechen  dem  Bedürfnis  der  Poesie  nach  lebendiger 
Entfaltung,  dieser  bezeichnet  positiv,  was  jene  negativ  ausdrückt, 
beide  beherrschen  besonders  alle  noch  nicht  höher  ausgebildete 
Dichtung,  durchaus  noch  die  finnische,  estnische,  lappische  und 
litauische,  die  primitivste  improvisierende  Volkspoesie  fast  aller 
Nationen.  In  manchen  Literaturen  ist  der  Parallelismus  vielfach 
auf  niederer  Stufe  stehen  geblieben.  Bei  den  Ägyptern  scheint 
er  kaum  durchgedrungen  (vielleicht  schon  verwischt)  zu  sein;  in 
einer  Periode  des  Überganges  begriffen  zeigt  sich  akkadische  und 
altchinesische  Literatur^). 

Schon  sehr  früh  macht  sich  neben  dem  eigentlich  ,poetischen' 
der  , rhetorische'  Gesichtspunkt  geltend  und  führt  zu  einer 
Fülle  von  Entwicklungsformen,  zu  bewußter  Tautologie,  Hervor- 
hebung, Doppelung,  zu  Zwillingsformeln  und  Parallelversen.  Als 
formales  Mittel  der  Entwicklung  dient  hier  in  germanischer 
Literatur   auch    der   schon    der   älteren  Entwicklung   angehörige 


*)  Dal  in  an,  »Palästinischer  Diwan  S.  272.  Ähnliches  im  Kinderlicd 
und  Einderspiel. 

')  Vogt  und  Koch,  Geschichte  der  deutschen  Litteratur  P  6. 

3)  Ein  durchgeistigter  Parallelismus  beherrscht  mehr  oder  weniger  die 
ganze  mittelhochdeutsche  poetische  Technik  und  hat  hei  dem  yoUendetcn 
Stilkünstler  Konrad  von  Würzhurg  eine  noch  lange  maßgebende  Ausbildung 
erhalten. 

*)  V.  Biedermann  3,  244  ff. 

5)  V.  Biedermann  Zs.  f.  vergl.  Lg.  2,  427.  9,  228. 


150 

Beim');  bestimmten  rhetorischen  Zwecken  dienen  zugleich  die 
Anapher,  die  synonymische  und  etymologische  Gedankenverbindung, 
die  Antithese,  die  Klimax.  In  höher  entwickelter  Dichtung  tritt 
so  neben  den  fast  automatischen  Variationstrieb  die  vom  Subjekt 
beabsichtigte,  bewußt  geübte,  zweckvolle  Variation,  die  ein 
Grundzug  gerade  der  germanischeu  Dichtung  geworden  ist^).  Das 
leidenschaftliche  Naturell  des  Germanen  liebt  die  Accente^).  Die 
altgermanische  Dichtung  ist  so  sehr  von  dem  leidenschafblichen 
Streben  nach  Variation  durchdrungen,  daß  man  im  Hinblick  auf 
die  Heiti  von  Varationswut  hat  reden*)  und  ihr  wesentlich  die 
Schuld  daran  hat  zuschreiben  dürfen,  daß  die  altgermanische 
Sprache  fast  keine  echtepische  Ausgestaltung,  wie  die  griechische, 
gewinnen  konnte. 

Formelle  und  inhaltliche  Variation  führt  wieder  zur  Häufung, 
die  seit  Alters  in  germanischer  Dichtung  den  breitesten  Baum 
einnimmt^).  Während  die  Häufung  wie  die  andern  ihr  vielleicht 
vorausliegenden  poetischen  Erscheinungen  im  Arbeitslied  noch 
vorwiegend  mechanischen,  im  Kinderreim  und  verwandten  Spruch- 
arten im  Grunde  automatischen,  im  Finnischen  musikalischen 
Ursprungs  und  Charakters  ist,  wird  sie  in  altgermanischer  Dichtung 
bald  Träger  des  Gedankens  zum  Zweck  der  Darstellung  des 
Charakteristischen.     Hier  Logismus,  dort  Mechanismus. 

Auf  den  verschiedensten  Gebieten  sprachlicher  Ausdrucks- 
weise machen  sich  Parallelismus,  Variation  und  Häufung  geltend. 
Der  Parallelismus  zeitigt  unzählige  Zwillingsformeln,  die  von 
ältester  germanischer  Zeit  bis  heute  lebenskräftig  geblieben  sind®). 


1)  R.  M.  Meyer,  Altgerm.  Poesie  S.  328;  vergleiche  das  Ritomell,  das 
Qaodlibet,  den  Leberreim.  y.  Biedermann  2,  430  leitet  wie  Groos  den 
.  Reim  aus  der  Wiederholung  ab.  über  den  entwickelnden  Reim  in  außer- 
germanischer Dichtung  Biedermann  a.  a.  0.  9,  228.  Goethe-Forschungen 
3,  247.  Norden,  Kunstprosa  2,  810  ff.  Zu  eng  faßt  diese  Erscheinungen 
Vierkandt,  Naturvölker  und  Kulturvölker  S.  317. 

3)  Heinz el  QF  10,  50. 

3)  Seh  er  er,  Vorträge  und  Aufsätze  S.  16.  Vogt,  Geschichte  der 
eutschen  Literatur  S.  6. 

*)  Meyer  S.  117. 

5)  Meyer  S.  434.  506. 

ß)  Meyer  S.  240  ff.  Meyer  schreibt  dem  dreifachen  Stabreim  einen 
hervorragenden  Anteil  an  der  Ausbildung  der  Zwillingsformeln  zu  S.  244  f- 


151 


In  der  altdeutschen  Syntax  zeigt  sich  das  gleiche  Streben  nach 
Parallelismus,  wenn  parataktische  Satzverbindungen  und  parallel 
geordnete  Glieder  bevorzugt  werden^).  Auch  die  Bede  und 
besonders  die  Predigt  gibt  sich  dieser  Neigung  gefangen  und 
geht  bis  zu  maßlosen  Häufungen^).  In  Nr.  XKX  der  Denkmäler^), 
von  Scherer  mit  der  Predigt  in  einleuchtenden  Zusammenhang 
gesetzt,  werden  Himmel  und  Hölle  geschildert  (59  flf.  81  flf.  87  flf.  99  flf.). 
Die  berühmte  dann  folgende  Beschreibung  der  Hölle  in  74  Versen, 
immer  dasselbe  Stilmittel  gebrauchend,  schüttet  ,die  Schrecken 
des  Strafortes,  als  ob  die  Fantasie  gepeitscht  werden  sollte,  in 
geschlossenen  Massen  heftig  über  den  Zuhörer  aus'  (116  flf.)*)« 
Diese  Fülle  schier  unerschöpflichen  Beichtums  unserer  Sprache 
nötigte  selbst  W.  Wackemagel  ein  Wort  überraschter  Bewunderung 
ab.  In  der  Erinnerung  (892  flf.)  «werden  die  Schrecken  der  Hölle 
ähnlich  gehäuft.  Es  wäre  wahrscheinlich  irrig,  wollte  man  in 
solchen  fast  formelhaften  Schilderungen  der  Hölle  und  des 
Himmels  nur  biblisch- theologische  Einwirkungen^)  sehen;  alt- 
formelhafte' Volkslieder,  Beschreiungssprüche,  Segen  und 
Volksreime  enthalten  das  Häufungsmotiv,  Bechtsformeln  ver- 
fahren ebenso.  Der  letzte  Vers  des  Volksliedes  Feinslieb  im. 
Grabe  lautet: 

Ei  du  mein  herzaUerlicbster  Schatz, 
Mach  auf  dein  tiefes  Grab, 
Du  hörst  kein  Glöcklein  läuten, 
Du  hörst  kein  Vöglein  pfeifen, 
Du  siehst  weder  Sonn  noch  Mond^). 


*)  Scherer,  Vorträge  und  Aufsätze  S.  86. 

*)  Vergl.  Norden,  Kunstprosa  1,  161.  2,  619.    Einen  andern  Zug  im 
Exordium   der  Predigt,    die  Vorliebe  für  Anapher  und  Klimax,  hat  Ehris 
mann  im  Anzeiger  für  deutsches  Altertum  25,  167    in   Zusammenhang    mit 
dem  Priamel  gebracht,  aber  daran  m.  E.  zu  weit  gehende  Schlußfolgerungen 
geknüpft.    Extemporierende  Rede  führt  von  selbst  zur  Anapher  und  Klimax. 

3)  MSD  XXX.  QF.  12,  27.  Über  den  poetischen  Charakter  Stein- 
meyer 2,  162  ff. 

*)  Erich  Schmidt,  Charakteristiken  2,  62. 

^)  Albrecht  Biete  rieh,  Nekyia.  Leipzig  1893  nimmt  doch  wohl 
etwas  einseitig  für  solche  christliche  Vorstellungen  griechischen  Ur- 
sprung an. 

^)  Birlinger  und  Crecelius  ,  Wunderhorn  2,  234.  Uhland, 
Schriften  4,  7  f. 


1 


152 


Ein    altbnlgarischer   Beschreiungsspruch   malt   den    unheim- 
lichen Ort, 

wo  die  Sonne  nicht  wärmt*), 
wo  der  Wind  nicht  weht, 
wo  der  Hahn  nicht  kräht, 
wo  der  Hund  nicht  bellt, 
wo  das  Schaf  nicht  blökt, 
wo  die  Ziege  nicht  springt'). 

Im  Hütersegen  auf  dem  Boßfelde  über  Hallein   wird  geiade 
so  die  Hölle  beschrieben: 

wo  kein  Hahn  net  kräht 
und  kein  Mahder  mäht, 
wo  kein  Vöglein  singt 
und  kein  Glöcklein  klingt^). 

Wettersprüche  aus  Kärnten  zeigen  dieselben  alten  Formeln; 
zunächst  ein  Kinderspruch  an  die  Sonne  aus  dem  MöUthal: 

Sunne  schein,  schein, 
Treib  die  Wolkn  von  Dein 
Hin  afn  Gatterspitz, 
Wo  Peter  und  Paule  sitrt, 
Wo  ka  Hüne  kräht, 
Wo  ka  Mader  mat, 
Wo  ka  Ochse  lUet 
Und  ko  Plueme  blUet^). 

Ein  andrer  Spruch  richtet  sich  gegen  Wetterhexen: 

Ziech  hin,  ziech  hin 
In  die  wilde  Romanei, 
Wo  ka  Handl  krat. 
Wo  ka  Mader  mat. 
Wo  ka  PlUeml  blUet, 
Wo  ka  Rindl  lüet. 


0  MF  28,  22.    Wilmanns,  Walther  S.  34. 

')  Zeitschrift  für  Volkskunde  8,  337.  Weinhold  hat  da  reiche 
Varianten  hinzugefügt.  Vergl.  Weinhold,  Die  altdeutschen  Verwünschungs- 
formeln S.  676. 

')  Zeitschrift  für  Volkskunde  a.  a.  0.  Über  das  Alter  von  Segen- 
sprüchen Weimarisches  Jahrbuch  3,  253  f.  Ein  modemer  Hütespruch  bei 
Z schalig,  Bilder  und  Klänge  aus  der  Eochlitzer  Pflege.  Leipzig  und 
Dresden  1903.     S.  89. 

*)  Pogatschnigg  und  Herrmann  2,  20.  Dazu  Böhme,  Kinder- 
lied S.  205.  Nr.  966. 


153 


Im  Gurkthal  lautet  ein  Wetterspruch: 

Geh  hin,  geh  hin, 
Wo  ka  Hüne  krat, 
Wo  ka  Mader  mat, 
Wo  ka  Stier  nit  geht, 
Wo  ka  Kind  geborn  wet, 
Dortn  kannst  di  auslarn*). 

Predigt  und  Dichtung  haben  in  gleicher  Weise  von  volks- 
tümlichem Vermöpen  gezehrt.  Hartmann  verdankt  in  seiner 
Rede  vom  Glouven  viel  dem  ausgebildeten  Stil  der  Häufung^), 
mehr  noch  die  späteren  Sermones  nulli  parcentes,  Thomasin  von 
Circlaria,  Hugo  von  Trimberg  und  die  locker  gefügte  Auf- 
zählungskunst des  ausgehenden  Mittelalters,  bis  die  groteske 
Satire  Fischarts  das  Kunstmittel  mit  absichtlicher  Übertreibung 
würzt,  zur  höchsten  Ausbildung  steigert  und  zugleich  für  die 
höhere  Literatur  vernichtet.  Zu  wahrhaft  poetischer  Wirkung 
gelangt  die  Häufung  in  Rechtsformeln,  die  von  KoegeP) 
vielleicht  überschätzt  sind.  Amrumer  Volksreime  schwelgen 
noch  heute  in  Häufungen;   z.  B. 

ärebare,  lungsnäre, 

wan  skel  wi  tu  Rippen  far? 

wan  a  raag  rippet, 

wan  a  berri  piipet, 

wan  a  heewer  skeran  waardt, 

wan  at  biarn  heran  waardt, 

wan  a  stian  drawt, 

wan  a  feeder  sankt, 

wan  an  ruad'en  apel  tu  strun  driiwen  körnt, 

do  skal  ärebare  lungsnare-r  sallew  Üütj  am  swem*). 


^)  a.  a.  0.  21.  Vergl.  noch  Wimderhorn  HI  16.  Meinert,  Alte 
deutsche  Volkslieder  in  der  Mundart  des  Kuhländchens  S.  13  mit  vielen 
Varianten.  Auch  das  Himmelreich  wird  ähnlich  formelhaft  geschildert: 
Bö  ekel,  Deutsche  Volkslieder  aus  Oberhessen  S.  XVIII  f. 

2)  V.  d.  Leyen  S.  70. 

3)  Lg.  I>  242  ff.  Dazu  Siibs  in  der  Zs.  für  deutsche  Philologie  1896. 
S.  405  ff.  und  in  Pauls  Grundriß  IP  526  ff. 

*)  Haupts  Zeitschrift  8,  374.  Dazu  Niederdeutsches  bei  Wegen  er, 
Volkstümliche  Lieder  S.  88  ff.  Böhme,  Kinderlied  S.  163  f.  und  Andree, 
Braunschweiger  Volkskunde  S.  339. 


154 


Frühlingsnähe  bringt  der  12.  März,  der  Gregroriustag,  zum 
Bewußtsein. 

Greegööri : 
plugh  uun  eerd  an  bööre, 
an  at  faader  skööre, 
a  hingster  fan  a  stäl, 
an  a  skel  fdn  a  wäl, 
an  a  ual  wüffen  fan  a  aank, 
ial'  er  uun  a  sköödang, 
gers  uun  a  sprööd, 
fask  uun  a  flood, 
fögler  uun  a  logt, 
do  spring ,arken  uun  a  bogt'). 

In  Verbindung  mit  bedeutungsvoll  gewählten^)  Zahlen  wird 
die  Häufung  im  Zauberspruch  und  Segen  verwandt.  In 
Besprechungsformeln  für  das  Blutstillen  erscheinen  im  Yogtlande 
gern  drei  Rosen,  in  Thüringen  drei  Frauen^).  Neun  Engel 
sollen  den  Wanderer  in  einer  dem  14.  Jahrhundert  angehörenden 
Fassung  des  Beisesegens  behüten: 

dri  min  waldin, 
dri  mich  behalden, 
dri  mich  beschirmin^). 

Zwölf  Engel,  die  zu  je  zweien  aufgeführt  werden,  erscheinen 
ebenso  im  Kindergebet  ^). 

Ich  will  heint  schlafen  gen, 

zwölf  engel  mit  mir  gen, 

zwen  zun  haupten, 

zwen  zun  Seiten 

zwen  zun  füssen, 

zwen  die  mich  decken, 

zwen  die  mich  wecken, 

zwen  die  mich  weisen 

zu  dem  himmlischen  paradeise.    Amen. 


»)  A.  a.  0.  S.  370. 

2)  Bö  ekel,  Volkslieder  S.  Ol  f.  Meyer,  Altgerm.  Poesie  S.  90. 
Heim,  Incantamenta  S.  542  f. 

3)  Dung  er,  Rundas  S.  269  f.  Weimar.  Jahrbuch  3,  254  ff.  Zeitschrift 
für  hochdeutsche  Mundarten  1,  34  ff .  Heim  S.  545.  Martin  Müller, 
Über  die  Stilform  der  ad.  Zaubersprüche.   Kiel.   Dissertation  1901.    S.  58.  75. 

*)  Haupts  Zs.  29,  348. 

5)  Koegel  Lg.  P,  160  nach  Wackernagcl  Lb.^  1510.  Zs.  f.  vergl. 
]Lg.  n.  F.  5,  470  f.    Zs.  f.  Volkskunde  9,  356. 


155 


„Beim  Leben  meines  Vaters,^  schwört  das  Mädchen  in 
Dalmans  Palästinischem  Diwan ^),  „ich  gehe  nicht  hinauf  ohne 
acht  Dienerinnen, 

zwei  wegen  der  Mode, 
zwei  wegen  des  Zimmers, 
zwei  meine  Knöpfe  zu  lösen, 
zwei  für  das  Himmelbett.« 

So  wird  die  Häufung  seit  Alters  durch  vorangestellte  Zahlen 
geregelt,  meist  zu  praktischem  Zweck  der  Aufzählung.  Häufig 
sind  in  altgermanischer  Poesie  die  Aufzählungen  mit  drei 
Gliedern,  seltener  mit  elf,  sechs,  zehn  und  zwölf  Gliedern.  Bis 
zu  18  Gliedern  bringen  es  Havamal  144,  1-162,  P).  Inwiefern 
Zahlen  dem  Priamel  gemäß  sind,  wird  sich  später  zeigen^). 

ünversiegbarkeit  überströmenden  Gefühls  bildet  die  Häufung 
als  unentbehrliche  poetische  Form  im  Wunsch  und  Segen  aus*). 
Die  ältesten  Fluch-  und  Verwünschungsformeln  teilen  die  Er- 
scheinung der  Häufung  mit  den  jüngsten  volksmäßigen  Liebes- 
wünschen.    Der  Beichtum    dieser  Entwicklung   ist  gar  nicht   zu 

^)  S.  257.  Das  formale  Motiv  hat  dieses  Gedicht  mit  dem  sogenannten 
Eindergebet  gemein;  es  wäre  also,  um  Beuschels  Untersuchung  im 
Euphorion  9,  273  ff.  zu  erweitern,  jenes  allgemeine  Motiv  ins  Auge  zu  fassen. 

')  Meyer  S.  86  f.  Schon  Meyer  hat  hier  Bergmann  und  Wendeler 
zurückgewiesen,  die  in  solchen  Aufzählungen  um  jeden  Preis  Priamel  sehen 
wollten.  Bei  unserer  noch  enger  gefaßten  Bestimmung  des  Priamels  ist  es 
nicht  nötig,  darauf  einzugehen.  Die  Aufzählungen  stellen  das  stärkste 
Kontingent  zu  den  fälschlich  sogenannten  Priameln  des  Auslandes.  In 
welcher  Sprache  sollte  wohl  dergleichen  fehlen? 

3)  Aufzählungen  lieht  die  altnordische  Poesie  sehr;  ich  zitiere  noch 
besonders  Völuspa  23,  13 — 19.  Vafprüpnismal  21,  29.  Grimnismal  3  ff. 
Havamal  69,  weil  Wendeler  diese  Stellen  irrig  unter  dem  Gesichtspunkt 
von  Priameln  hat  auffassen  wollen.  De  praeambulis  S.  51  ff.  Meyer 
S.  45.  Theodor  Hampe  spricht  in  den  Mitteilungen  des  Vereins  für 
die  Geschichte  der  Stadt  Nürnberg  12,  94  von  einer  merkwürdigen  Vorliebe 
der  mittelalterlichen  Menschen  für  lange  Aufzählungen,  „namentlich  die 
Volksepen  bieten  zahlreiche  Beispiele  dafür."  Insofern  diese  Vorliebe  echt 
volksmäßig  ist  und  dem  mechanischen  Charakter  der  Volkspoesie  entspricht, 
kann  man  das  gelten  lassen;  aber  sie  ist  ebenso  wenig  specifisch  mittel- 
alterlich als  gerade  der  Volkspoesie  eigen.  Eosenplüt,  Eustachc 
Deschamps,  Villon,  Dunbar  pflegen  sie  gleichmäßig.  Den  Folgerungen, 
die  Hampe  daraus  für  die  Entstehung  des  Fastnachtsspiels  gezogen  hat, 
kann  ich  mich  nicht  anschließen. 

*)  ühland,  Schriften  3,  243  ff.    Weimaxisches  Jahi'buch  2,  75  ff. 


156 


erschöpfeo,  Gruß  und  Segen,  Liebesbrief  und  Neujahrswunsch, 
alle  volkstümliche  Poesie  sind  davon  durchwachsen  und  durchtränkt. 

Nicht  nur  das  Gefühl,  sondern  auch  üppig  wuchernde  Fantasie 
häuft  Beihen  auf  Reihen,  Mögliches  und  Unmögliches,  im  Einder- 
reim, im  Quodlibetischen  Spruchgedicht,  im  Lügenspruch,  in  den 
Eingängen  epischer  Gedichte,  die  Scherer  zweifelnd  aus  der 
Poesie  der  Fahrenden  herleitet,  an  die  Wendel  er  eine  verunglückte 
Herleitung  des  Namens  Priamel  geknüpft  hat').  Wie  der  reißende 
Gebirgsbach  nach  seinem  Eintritt  in  die  Ebene  sich  verbreitert 
und  oft  endlose  Gelände  füllt,  so  scheint  das  von  Haus  aus 
leidenschaftliche  Naturell  des  Deutschen  im  Verlauf  der  ge- 
schichtlichen Entwicklung  stark  die  Bichtung  zu  weitester  Ent- 
faltung in  die  Breite  genommen  zu  haben.  Die  ausgeprägte 
Vorliebe  für  die  Häufung  verliert  oft  die  leidenschaftlichen  Accente 
und  geht  in  bequem-beschauliche  Breite  über;  etwas  Sinniges, 
Anschauliches,  Formlos- Liebenswürdiges,  Traulich-Intimes,  oft  aber 
auch  Bealistisch-Derbes  bezeichnet  diese  Wendung.  Ihr  ent- 
spricht das  Zusammenstellen  von  Sprüchen  und  Spruchreihen 
ohne  entscheidenden  Zusammenhangt).  Diese  Form  der  Zusammen- 
stellung nähert  sich  der  des  Quodlibets^),  ohne,  wie  dieses  ganz 
auf  Zusammenhang  zu  verzichten.  Wie  wenig  die  Bemühungen, 
solche  Zusammenhänge  herzustellen,  im  einzelnen  Falle  erreichten, 
zeigt  Freidanks  Bescheidenheit,  die  jetzt  aber  das  Vorbild  für 
ähnliche  Werke  fast  zusammenhangloser  Komposition  abgaben, 
den  Benner,  das  NarreuschifT. 

Nicht  anders  als  unter  dem  Gesichtspunkt  dieser  Erscheinung 
der  Häufung  dürften  auch  zahlreiche  Stellen  der  altgermanischen 
Dichtung  zu  beurteilen  sein,  die  man  bisher  mit  größerer  oder 
geringerer  Bestimmtheit  als  Priamel  ansehen  wollte*). 


»)  Göttinger  Beiträge  2,  17. 

3)  Zarncke,  CatoS.  121.  Scherer,  DStI  346  f.  Detter  undHeinzcl, 
Edda  2,92  zu  Havanial  27,  1—6.  Paul,  Über  die  ursprüngliche  Anordnung 
von  Freidanks  Bescheidenheit  I  11  ff.  Gervinus  über  das  Variationen 
liebende  deutsche  Sprichwort:  11^  24.  317. 

3)  Auch  Oswald  von  Wolkcnstein  verbindet  im  121.  Gedicht 
quodlibetisch  Preidank-Sprnche. 

*)  Wendel  er  De  praembulis  S.  55.  Uhland,  Schriften  zur  Gesch. 
der  Dichtung  und  Sage  2,  526.  Auch  hier  ist  zu  betonen,  daß  Anglisten 
nicht   darauf   verfallen    sind,    in    die  Auffassung   altenglischer  Gnomik   den 


157 


Dahin  gehören  angelsächsische  Denksprüche  der  Cotton- 
Handschrift  (Grein  —  Wülcker  I  339)  Vers. 14  — 54.  In  breiter, 
lockerer  Form  häufen  sich  die  Bestimmungen,  beginnend: 

5eon5ne  a:pelin5  sceolan  5ode  5esidas 
byldan  to  beaduwe  and  to  beah5ife. 
Ellen  sceal  on  eorle,  ecj  sceal  wi<T  helme 
bilde  5ebidan.     Hafuc  sceal  on  jlofe 
wilde  5ewunian,  wulf  sceal  on  bearowe, 
earra  anba5a,  eofor  sceal  on  holte 
toOroaesenes  trum. 

Auch  mit  den  Versen  50—54  tritt  kein  Abschluß  ein,  sondern 
die  Bestimmungen  mit  ,sceal'  setzen  sich  fort^).  unbefangene 
Prüfung  kann  ten  Brink  nur  beipflichten,  wenn  er  sagt:  „Die 
ursprüngliche  Form  dieser  Spruchdichtungen  scheint  die,  daß  der 
Dichter  eine  Anzahl  einzelner  Erfahrungs-  oder  Heischesätze 
ohne  anderes  Band  als  die  zufällige,  oft  von  der  Alliteration 
bestimmte  Abfolge  der  Gedanken  zusammenfügt.  Den  Umfang 
des  Ganzen  mochte  dabei  die  Rücksicht  auf  den  mündlichen 
Vortrag  und  die  Geduld  der  Zuhörer  abgrenzen.**  (Geschichte 
der  Englischen  Literatur  I  81.)  Ähnlich  gebaut  sind  die  3  Sprüche 
der  Havamal  79—81.  In  andern  Versen  der  Cotton-Handschrift 
(Vers  5—12)  und  der  Exeter-Hs.  (Vers  126  flf.)  waltet  nur 
Parallelismus,  wie  Vers  5  —  12^). 

Ebensowenig  ist  in  gehäuften  Gliedern  Sigrdrifomal  (Detter 
und  Heinzel  1,  114)  Vers  14  —  17  das  Priamelschema  zu  er- 
kennen ^). 


fremden  Gesichtspunkt  einer  ganz  anders  gearteten  ausländischen  Kunst- 
gattung hineinzutragen.  Was  Heinzel  im  Anz.  10,  233  priamelartig  nennt, 
fällt  vollkommen  unter  die  oben  angedeuteten  Gesichtspunkte.  Über  den 
Charakter  der  ags.  Spruchdichtung  Zs.  f.  d.  Altertum  31,  54  ff. 

»)  Dieselbe  Häufung  mit  ,sceal'  Exeter-Handschrift  22  ff.  61  ff.  72  ff. 
118  ff.  130  ff.  139  ff.  153  ff.  203  ff.  und  in  den  von  Heinzel  a.  a.  0.  bei- 
gebrachten Stellen:  Der  Menschen  Geschicke  21  ff.  12  ff.  69  ff.  (Grein- 
Wülkerni  148ff.)   Ähnlich  Cynewulfs  Grist  664  ff.   Julian  a  468  ff.  u.  a. 

')  Wendeler  will  S.  55  Cotton  5  ff.  eine  mesophorische  Priamel  sehen. 
Ich  mache  darauf  aufmerksam,  daß  die  sog.  mesophorischen  Priameln  hei 
Rosenplnt  fehlen;  zu  den  Priameln  im  eigentlichen  Sinn  durften  sie  nicht 
zu  rechnen  sein.    Meist  aber  trifft  in  solchen  Fällen  Klimax  zu. 

3)  Wendeler  S.  53. 


158 


a  biargi  stop 
mep  brimis  eggiar, 
hafpi  ser  ä  hQfpi  hiälm; 

pä  maelti  Mims  hQfup 
froplikt  ip  fyrsta  orp 
ok  sagpi  sanna  stafi. 

a  skildi  kuap  ristnar, 

pcim  er  stendr  fyr  skinanda  gopi, 

ä  eyra  Aruakrs, 

ok   ä  Alsuinnz  hofi, 

a  pui  hueli,  er  snyz 

undir  reip  Rungnis, 

a  Sleipnis  tQnnom 

ok  a  slepa  fiQtrom, 

a  biarnar  hrammi 

ok  a  Braga  tungo, 

ä  Ulfs  klom 

ok  ä  amar  nefi  u.  s.  w. 

Einfache  Häufung  von  Prädikaten  und  Objekten  tritt  Völuspa  7 
(Detter  und  Heinzel  1,  2)  auf^): 

r 
Hittoz  sesir 

ä  Ipauelli, 

peir  er  hQrg  ok  hof 

hätimbropo. 

afla  iQgpo, 

aup  sinfpopo, 

tangir  skopo 

ok  toi  g/e^rpo. 

All  diesen  Erscheinungen  in  meist  schul-  und  kunstmäßigen 
Dichtungen  fehlt  außer  der  Tektonik  des  Priamels  sein  eigent- 
licher Charakter,  wie  er  sich  in  Entstehung  und  Zweck  ausprägt. 
Echter  Volksdichtung  ist  doktrinäre  Eindringlichkeit  entgegen. 
Was  sich  der  Winsbeke  in  der  Häufung  direkter  Vorschriften 
gestattet,  verschmäht  die  Bescheidenheit  Freidanks ^). 

Allerdings  ist  auch  aus  den  Spruchreihen  der  Exeter-Hand- 
Schrift  ein  Ansatz  zur  Priamelform  zu  erweisen.  Wenn  es  Vers 
162  flf.  heißt:  ^    ,  a       y.  a: 

Wsrieas  mon  and  wonnydi5, 
setrenmod  and  unjetreow: 
paes  ne  symeÖT  5od, 


^)  Wendel  er  S.  51  sieht  hier:  praeambulorum  analyticorum  vestigia. 
2)  Bezzenberger  S.  32. 


159 


so  haben  wir  in  der  Form  des  Dreizeilers  einen  abgerundeten 
gnomischen  Inhalt,  der  sich  nach  Art  der  Definitionspoesie  wie 
der  gewöhnlichen  Prosarede  in  parallele  Bestimmungen  auflöst, 
um  alsdann  wieder  energisch  einheitlich  zusammengefaßt  zu  werden: 
Elemente  der  späteren  priamelhaften  Sentenz,  aber  auch  nicht 
mehr  als  Elemente.  Denn  die  Zufälligkeit  dieser  Form  wird  durch 
das  Fehlen  früherer,  gleichzeitiger  und  späterer  Belege  zur  Ge- 
wißheit. 

Etwas  günstiger,  als  in  der  angelsächsischen  Litteratur,  lagen 
die  Bedingungen  zu  formeller  Entwicklung  der  Gnomik  in  dieser 
Richtung  für  die  altnordische  Poesie.  LjööTahättr  wie  Kviöfuhättr, 
einzeln  oder  aneinander  gereiht,  boten  die  bequeme  Form  für  den 
gnomischen  Inhalt;  der  aus  sechs  Kurzzeilen  komponierte  LjöiVahättr 
waltet  in  der  Gnomik  vor,  während  die  längere  Strophe  des 
EviOTuhättr  mit  ihren  volleren  Zeilen  besser  für  den  Fluß  des 
epischen  Berichtes  paßte  ^).  Trotzdem  spielt  der  Kvi^uhättr  als 
Fomyrdislag  (v6[jloc  dpxaVxoc)  auch  in  der  Gnomik  eine  Rolle.  Die 
altnordische  Spruchpoesie  hält  Wein  hold,  soweit  sie  literarisch 
fixiert  ist,  für  mehr  künstlich,  als  volksmäßig,  so  daß  er  sie  eher 
mit  der  Poesie  Thomasins  von  Zirklaere  als  mit  der  Freidanks 
vergleichen  konnte^).  Daneben  floß  aber  hier  wie  überall  der 
breite. Strom  volkstümlicher  Gnomik,  die  meist  in  der  Pflege  des 
pulr  war;  aber  wenn  auch  die  anderswo  bezeugten  Formen  der 
einfachen  Gnome,  wie  das  apologische  Sprichwort^),  schon  im 
Altnordischen  vorhanden  sind:  kompliziertere  stehende  Formen 
scheinen  doch  von  dieser  volksmäßigen  Gnomik  nicht  hervorgebracht 
zu  sein.  Während  Müllenhoff  noch  in  ausgedehntem  Maße  mit 
der  Annahme  einer  altnordischen  Priameldichtung  operierte,  deren 
Erzeugnisse  er  in  Interpolationen  wiedererkennen  wollte,  schränkte 
R.  M.  Meyer  nach  vorsichtiger  Umschau  die  Geschichte  der  ,alt- 


1)  Weinhold,  Altnordisches  Leben  S.  326.  Q  F.  58,  75,  Müllenhoff, 
DAK5,  298.366.  „Der  LiöiTahättr  herrscht  in  der  eigentlichen  Gnomik  d.  h. 
von  der  Gnomik  schon  die  Priamel  und  noch  mehr  die  bloße  Memorialpoesie 
abgerechnet",  über  Wechsel  der  metrischen  Formen  Mogk,  Norwegisch- 
isl&ndische  Litteratur  §  20,  Grundriß  IV  577. 

»)  Weinhold,  An.  Leben  S.  326. 

*)  Weinhold,  (An.  Leben  S.  326)  nennt  die  apologischen  Sprich- 
wörter kaum  ganz  zutreffend  Reste  alter  Schwanke,  deren  Moral  geblieben  ist. 


160 


germanischen  Priamer  durch  die  Bemerkung  ein,  daß  der  Dichter 
die  altgermanische  Häufung  nur  ausnahmsweise  zu  Priamel  oder 
Klimax  auszubilden  wage ').  Machen  wir  den  unerläßlichen  Unter- 
schied zwischen  Priamelform  und  literarischer  Gattung  und  er- 
setzen wir  im  letzten  Satz  das  Wort  Priamel  durch  priamelartige 
Form^),  so  wäre  der  Sachverhalt  richtig  bezeichnet.  Wir  haben 
den  Bestand  poetischer  Produktion,  die  hier  noch  in  Betracht 
kommt  ^),  zu  überblicken. 

Von  vornherein  kann  keine  Rede  davon  sein,  daß  einer  dör 
Improvisationstypen  in  der  erhaltenen  altnordischen  Dichtung 
bereits  ausgebildet  vorläge,  und  um  die  Annahme  einer  Priamel- 
dichtung  als  literarischer  Gattung  steht  es  noch  viel  mißlicher*). 
Man  ist  auch  hier  früher^)  mit  der  Bezeichnung  zu  freigebig 
gewesen. 

In  den  Spruchreihen  der  Havamal  hat  Müllenhoflf  mit  ein- 
dringendem Scharfsinn  eine  dreifache  Schicht  von  Interpolationen 
aufgedeckt,  die  er  meist  als  Priameln  anspricht^).  Betrachten 
wir  sie  einzeln.  An  die  Trinkregel  am  Schluß  der  Loddfafnismal 
(Havamal  133,5  —  15)  ist  eine  Erweiterung  mit  puiat  geknüpft, 
wie  im  späteren  Rosenplütschen  Fastnachtspiel  wohl  ein  Priamel 
mit  '  wenn '  den  Abschluß  bildet.  Die  Verse  sind  nicht  von  Ver- 
derbnis frei  ^) ;  daran  sei  gleich  die  Bemerkung  geknüpft,  daß  alle 
Beispiele,  die  hier  als  Priamelversuche  zu  besprechen  sind,  keine 
geschlossene  Form  zeigen.  Das  beweist  mindestens,  daß  die 
Schreiber  kein  Verständnis  für  die  von  neueren  Gelelirten  diesen 


*)  Altgerm.  Poesie   S.  527. 

^)  Detter  und  Heinzel  reden  2,  119  nur  von  der  Figur  der  Priamel, 
führen  aber  das  Stichwort  Priamel  im  Register  unter  den  Rubriken  Rhetorik, 
Poetik  und  Literaturhistorisches  an. 

^)  Besonders  macht  sich  hier  das  Fehlen  einer  Monographie  über  die 
an.  Gnomik  fühlbar. 

*)  Bergmann,  Des  Hehren  Sprüche  S.  197:  „Ein  Beweis,  daß  man  im 
Norden  die  Priamel  nicht  als  einheimische,  gebräuchliche  Dichtungsform 
kannte,  liegt  darin,  daß  sie  nirgends  als  solche  von  den  norrönischen  Lite- 
raten angeführt  wird". 

s)  Detter  und  Heinzel  reden  nur  einmal  zu  Hav.  83— 86  von  Priamel. 

6)  DAK.  5,  277.  Zur  Beurteilung  der  vorgenannten  Interpolationen 
Mogk  §  33 ff. 

7)  DAK  5,  268.  Anmerk. 


161 

Versen  zugeschriebene  Form  besaßen,  und  liefert  schon  ein  Be- 
denken gegen  die  Annahme  einer  volksmäßig- literarischen  Gattung. 
Wäre  sie  vorhanden  gewesen,  muß  man  doch  schließen,  so  hätten 
auch  die  Schreiber  sie  nicht  immer  verkannt.    Loddfäfnir  rät: 

huars  pü  Ql  drekkir, 

kiös  pü  per  iarpar  megin, 

puiat  iQrp  tekr  uip  Qlpri, 

enn  eldr  uip  sottom, 

eik  uip  abbindi, 

ax  uip  üQlkyngi, 

hQU  uip  hyrogi  — 

heiptom  skal  mäna  kuepja  — 

beiti  uip  bits6ttom, 

enn  uip  bQlui  rdnar; 

fold  skal  uip  fl6pi  taka*). 

Das  ist  nichts  anderes  als  ein  ausgeweiteter  Vergleich,  den 
der  Interpolator  an  die  Aufforderung,  an  der  Erde  zu  riechen, 
in  regellosen  Gliedern  anreiht.  Den  Versen  fehlt  der  innere  und 
äußere  Bau  des  Priamels^). 

Drei  Kvid'uhättr-Langzeilen  schließen  sich  in  den  Versen  127,5  ff. 
desselben  Gedichtes  an,  in  denen  vor  drei  Dingen  gewarnt  wird: 

uaran  bip .  ek  pik  uera, 
ok  eigi  ofuaran: 
uer  pu  uip  Ql  uarastr 
ok  uip  annars  kono 
ok  uip  pat  ip  pripia, 
at  piöfar  ne  leiki. 

Eine  dürftige  Aufzählung,  deren  Einführung  keinerlei  be- 
sondere kunstmäßige  Absicht  erkennen  läßt^).  In  bescheidenen 
Grenzen  hält  sich  die  Steigerung  in  der  an.  Spruchpoesie.  Wie 
Achill  in  der  Unterwelt  das  elendeste  Leben  dem  Tode  vorzieht, 
spricht  sich  in  schöner  Klimax  die  an.  Dichtung  über  den  Wert 
des  Lebens  (Havamal  70)  aus: 

Haltr  ripr  hrossi, 
hiQrp  rekr  handaruanr, 
daufr  uegr  ok  dugir; 

»)  Dazu  Detter  und  Heinzel  2,  136  ff. 

^)  Schon  Bergmann  gab  S.  203    im  Gegensatz    zu  Wendeler  S.  52 
diese  Verse  als  Spruch,  nicht  als  Priamel  wieder. 
»)  DAK  5,  268. 
Enling,  Priamel  11 


162 

blindr  er  betri, 
etin  brendr  se, 
nytr  mangi  näs. 

und,  wie  J.;  Grimm  seine  Bede  auf  Schiller,  schließen 
zwei  andere  Sprüche,  im  Grunde  wahrscheinlich  ein  weit  ver- 
breitetes altgermanisches  Sprichwort'): 

Deyr  fe, 

deyia  frsendr, 

deyia  siälfr  it  sama ; 

enn  orztirr 

deyr  aldregi, 

hueim  er  ser  gopan  getr. 

Deyr  fe, 

deyia  frsendr, 

deyr  siälfr  it  sama; 

ek  ueit  einn, 

at  aldri  deyr, 

domr  um  daupan  huern. 

Diese  glückliche  antithetische  Klimax  erinnert  trotz  einer 
gewissen  herben  formlosen  Dürftigkeit  schon  an  das  Beste,  was 
der  Improvisation  später  in  dieser  Art  gelungen  ist^).  Die 
wichtigsten  Priamelformen  sind  aber  die  synthetische  und  ana- 
lytische.    Sind  etwa  diese  in  den  Hamaval  vorgebildet? 

Schon  bei  Behandlung  der  Spruchdichtung  der  Cotton-  und 
Exeter-Handschrift  begegnete  uns  die  Häufung  der  Beihen  mit 
,sceal';  auch  drei  Sprüche  der  Havamal  (79—81)  wurden  bereits 
in  diesem  Zusammenhange  erwähnt.  Einer  von  ihnen  verdient 
der  strengen  Besponsion  wegen  den  formlosen  ags.  Spruchreihen 
gegenüber  hervorgehoben  zu  werden,  der  Spruch,  dessen  Inhalt 
seinem  Alter  nach  als  zum  Teil  urgermanisch  nachgewiesen  ist 
und  in  den  finnischen  Kanteletar  seine  Entsprechung  gefunden 
hat.  Im  Finnischen  hatte  sich  die  Klimax  daran  geheftet;  im 
Altnordischen  fehlt  die  Steigerung,  das  verbindende  Glied  ist 
nur  das  in  der   ersten  Zeile    Erscheinende    ,skar.     Ob    das    aber 


»)  DAK  5,  259.  280.  Meyer,  Altgenn.  Poesie  S.  57.  452.  457.  459. 
517.  Die  Steigerung  wie  andere  rhetorische,  syntaktische  und  sonstige 
Eigenheiten  sind  im  Kommentar  von  Detter  und  Heinzel  ausgezeichnet 
berücksichtigt  und  nach  dem  reichen  Register  bequem  zu  übersehen. 

2)  Detter  und  Heinzel  2,  114  zu  74.  75. 


163 

hinreicht,  um  sie,  wie  Wendel  er  tut,  als  analytische  Priameln 
zu  bezeichnen,  ist  im  Hinblick  auf  den  allgemeinen  Charakter 
dieser  Konstruktion  mehr  als  zweifelhaft^),  und  wenn  Müllenhoff 
selbst  in  Vers  90  (seiner  Zählung)  ein  Priamel  sah^),  so  diente 
gerade  dieser  Spruch  Wendeler  dazu,  den  unterschied  zwischen 
gehäuften  Vergleichen  und  wirklichem  Priamel  zu  erläutern^). 
Noch  viel  mehr  verschwimmende  und  zerfließende  Struktur  haben 
zwei  andere  Sprüche,  die  auch  mit  Unrecht  hierher  gezogen 
sind^).  Es  fehlen  also  sichere  Beispiele  analytischer  Priamelform, 
und  es  inüßte  aus  der  oft  zitierten  großen  Spruchreihe  Havamal 
83—86  der  eigentliche  Beweis  für  ,die  an.  Priamel'  geführt 
werden.  Jener  Zeit,  als  Jakob  Qrimm  noch  gegen  Bühs  voll 
Begeisterung  zu  Felde  zog,  entstammt  auch  sein  Ausspruch  über 
diese  Verse:  sie  seien  die  ältesten  und  erhabensten  Priameln, 
Odin  selbst  habe  sie  in  dem  göttlichen  Havamal  gesungen^). 

83  Brestanda  boga, 
brennanda  loga, 
ginanda  ülfi, 
galandi  kräko, 
rytanda  suini, 
r6tlausom  uipi, 
uaxanda  uägi, 
uellanda  katli, 

84  Fliuganda  tleini, 
fallandi  bäro, 
isi  einnsbttom, 
ormi  hringlegnom, 
brupar  beproälom 
epa  brotno  suerpi, 
biarnar  leiki 

epa  barni  konungs, 


^)  Wir  fanden  eine  Unmenge  ags.  Beispiele ;  die  Bergpredigt  des  Heliand 
verwendet  sie  wie  Hartmanns  Rede  vom  Glouwen  1728  ff.  Ähnlich  schon 
mit  vorangestelltem  Bindeglied  im  Rigveda.  Kaegi,  Der  Rigveda^  S.  44. 
Vergl.  das  schöne  Skolion  über  die  4  besten  Dinge  S.  166;  und  etwa  Gottfr* 
Keller,  Ged.  1,  51,  3.    Das  sind  doch  keine  Priamel. 

8)  DAK  5,  262. 

3)  De  praeambulis  S.  52.    Anm.  1. 

^)  DAK  5,  277.  Es  ist  nicht  ganz  klar,  ob  M.  den  letzten  Spruch 
als  Priamel  aufgefaßt  hat. 

5)  Kl.  Schriften  6,  103. 


164 

85  Siükom  kal6. 
siälfräpa  prseli, 
uQlo  nilmseli, 
ual  nyfeldom, 
akri  ärsänom  — 
trüi  engi  mapr, 

n6  til  snemma  syni* 
uepr  raspr  akri, 
enn  uit  syni: 
hsett  er  peira  huärt 

86  Bröpurbana  sinom, 
pott  ä  brauto  mdetii 
hüsi  hälfbrunno, 
hesti  alskiotom  — 
pä  er  ior  6nytr, 

ef  einn  fötr  brotnar  — 
uerpit  mapr  sua  tryggr, 
at  pesso  trui  Qllo. 

Eine  Papierbandschrift  fügt  85,  4  noch  hinzn: 

heiprikum  himni, 
hlseianda  herra, 
hunda  helti 
ok  harmi  sksekin. 

Den  Interpolations- Charakter  dieser  Verse  hat  Müllenhoff ') 
erwiesen;  Vers  87  (der  Müllenhoffschen  Zählung)  im  LjödTahäitr 
gehört  der  vierten  Schicht  der  schriftlichen  Interpolation  und 
Erweiterung  des  ursprünglichen  Werkes  an,  die  Verse  der  späten 
Papierhandschriften  gar  einer  fünften^).  Jedenfalls  liegt  kein 
einheitliches  Gedicht  vor,  und  die  Bemüliungen  der  früheren 
Herausgeber  und  Übersetzer,  Einheitlichkeit  hineinzubringen,  sind 
nicht  ohne  Bedenken  ^).   Es  ist  das  alte  echt  priamelartige  Thema ^): 


»)  DAK  5,  262  fif.  277  f. 

')  Müllenhoff  5,  277:  ^Vielleicht  aber  wird  mancher  jetzt  noch 
weiter  gehn  und  lieber,  als  wir  S.  263.  264  vermuteten,  annehmen,  daß 
derjenige,  der  das  erste,  große  Spruchgedicht  und  das  erste  Odinsbeispiel 
durch  79  verband  (S.  261)  und  jenes  Stück  wahrscheinlich  zuerst  stärker 
interpolierte  (S.  264),  diese  Stücke  auch  zuerst  aus  der  mündlichen  Tradition 
auf  den  festeren  Boden  der  Literatur  verpflanzt  haf 

3)  Detter  und  Heinzel,  deren  Text  hier  wiedergegeben,  sind  konser- 
vativ verfahren. 

*)  Meyer  S.  456.    Detter  und  Heinzel  2,  117  f. 


165 

wovor  man  sich  zu  hüten  habe;  die  Form  hat  sich  noch  nicht 
gefestigt;  regellose  Häufung  erzeugt  wie  in  den  früher  be- 
sprochenen afr.  und  englischen  Beihen  parallele  Glieder.  „In 
der  regellosen  Häufung  scheint  sich  fast  das  taciteische  Bild 
einer  Volksversammlung  abzuspiegeln;  lässig  rückt  ein  Ausdruck 
nach  dem  andern  an;  wenn  schon  längst  zur  Sache  geschritten 
werden  könnte,  kommt  noch  einer  verspätet  nachgehinkt;  und 
lange  Satzreihen  werden  so  cunctatione  coeuntium  verbrauchte).^ 
Daß  Häufung  von  Sprichwörtern  oder  sonstigem  gnomischen 
Material,  wie  es  im  Lügenspruch,  in  der  abenteuerlichen  Bede, 
bei  Angelo  Policiano,  im  Minnegesang,  in  der  galanten  Lyrik 
u.  s.  w.  seinen  Niederschlag  gefunden  hat,  ebenso  wenig  Priamel 
bildet,  ist  im  L  Kapitel  gezeigt  worden.  Die  Häufung  führt  an 
sich  eben  noch  nicht  zum  Priamel,  dagegen  meist  zu  Parallel- 
erscheinungen rhetorisch-literarischen  Charakters;  sie  liefert  nicht 
einmal  das  eigentliche  Tragwerk  des  Priamels.  Um  der  primitiven 
Volkskunst  des  Priamels  uns  zu  nähern,  müssen  wir  tiefer,  zu 
fast  automatischer  Betätigung  herabsteigen,  zur  Betätigung  dessen, 
woraus  alle  Poesie  entstanden  ist:   der  Improvisation. 


*)  Meyer  S.  528. 


VI. 

Der  Priamelvierzeiler. 

Den  Stoff  sieht  jedermann  vor  ilcli. 
den  Gekalt  findet  nnr  der,  der  etwas  daxa 
zn  tan  bat,  and  die  Form  ist  ein  Ge- 
heimnis den  meisten.  Goethe. 

Übersicht: 

1.  Allgemeines.  —  2.  Vorformen:  Einzeller  bis  Elfzeiler.  Die  «abgekürzten 
Priameln«.  Vierzeiler  und  Priamelvierzeiler.  —  3.  Typen  des  Priamelvierzeilcrs. 
—  4.  Seine  Verwendung  in  der  Volkspoesie:  in  Zauberformeln,  Segen,  Wunsch 
u.  s.  w.  —  5.  Seine  geschichtliche  Entwicklung  bis  zum  16.  Jh. :  unliterarisches 
Vorleben  bis  zum  12.  Jh.;  er  wird  im  13.  Jh.  volksliterarisch  selbständig.  Vom 
Renner  bis  ins  15.  Jh.:  Bltite  des  volksmäßigen  Priamelvierzeilcrs.  Vertiefung, 
Komik,  Genrebild.  Er  erhält  den  letzten  Schliff  im  Nürnberger  Fastnachtspiel ; 
seine  ungeheure  Verbreitung. 

Wenn  wir  als  Ausgangspunkt  für  die  konkrete  Gestaltung 
des  Priamels  den  Improvisationsvierzeiler  nehmen,  so  wagen  wir 
dabei  insofern  nicht  viel,  als  durch  ausdrückliches  Zeugnis  des 
Priamelspruchbuchs  N  und  anderer  guter  Handschriften  der  Priamel- 
vierzeiler als  Minimum  eines  Priamelgebildes  auch  seine  volle 
historische  Beglaubigung  erhält;  aber  man  könnte  fragen,  ob  es 
nicht  noch  primitivere  Formen  gäbe. 

1. 

Die  Einzelformen  der  Dichtung  in  ihren  inneren  Antrieben 
von  den  einfachsten  Gebilden  bis  zum  höchsten  Kunstwerk  hinauf 
zu  erklären  (eine  in  der  Tat  ideale  Forderung),  scheint  nirgends 
so  notwendig,   als   wenn   es  sich  um  die  Anfänge  der  Gnomik^) 


^)  Wenn  hier  auch  das  Priamel    zur  Gnomik   gerechnet  wird,    so  ist 
aber  doch  yon  den  Begriffsbestimmungen  poetischer  Scholastik  vollständig 


167 

handelt;  und  diese  fallen  vielfach  mit  den  Anfängen  der  Poesie^) 
selbst  zusammen.  Nach  einer  Periode  vorwiegend  abstrahierender 
und  philosophisch-ästhetischer  Verstiegenheiten  ist  man  dazu  über- 
gegangen, die  Entstehungsfrage  immer  nüchterner  zu  formulieren. 
Eingedenk  der  Mahnung,  daß  die  eifrige  Frage  nach  Ursachen  oft 
„von  großer  Schädlichkeit^  sei,  begnügte  man  sich  ferner  damit, 
nicht  dem  absoluten,  sondern  dem  relativen  Ursprung  nachzu- 
forschen; man  gab  die  allgemeinen  Vermutungen  auf  und  fragte 
lieber:  wo  liegt  der  ürsprünglichkeit  am  nächsten  stehende  Poesie 
vor?  wie  ist  sie  beschaffen?  Dabei  durfte  nicht  mit  Aristoteles 
vor  bloßer  Improvisation  Halt  gemacht  werden,  sondern  man  zog 
auch  in  vergleichendem  Verfahren  niedrigere  Formen  der  Poesie 
heran ^).  Schon  W.  Schlegel  schwebt  die  Idee  einer  Natur- 
geschichte der  Dichtkunst  vor^);  Scherer  forderte  eine  Naturge- 
schichte der  Lyrik,  des  Dramas,  der  Fabel  u.  s.  w.^);  Bruchmann 
versuchte  eine  Naturlehre  der  Dichtung.  Braucht  man  auch  nicht 
mit  Letourneau  bis  zu  den  Lautäußerungen  des  „Affenmenschen'' 
herabzusteigen,  so  darf  doch  nichts,  was  zur  sogenannten  Volks- 
poesie im  weitesten  Sinne  des  Wortes  gehört,  dem  ernstlich 
Fragenden  fremd  bleiben.  Herder  sah  die  Volksdichtung  durch 
die  Scheidewand  der  Aufklärung,  Arnim  durch  die  der  Romantik 
—  ich  nenne  Namen,  um  ganze  Generationen  und  große  geistige 
Strömungen  zu  bezeichnen  — :  heute  gilt  es  diese  Scheidewände 
einzureißen,  wo  sie  noch  nicht  gefallen  sind.  Freilich  folgte  auf 
den  unberechtigten  Überschwang  wahlloser  romantischer  Verhimme- 
lung  zunächst  der  noch  unberechtigtere  Bückschlag  fast  voll- 
ständiger Leugnung  aller  Volkspoesie:  man  tröstete  sich  für  ihre 
Verkennung  damit,  sie  totzusagen.    Gummere  versichert,  daß  es 


abgesehen.    Die  Anfänge  der  Gnomik  wie  das  Priamel  gehen  aller  Theorie 
zum  Trotz  ihre  eigenen  Wege. 

')  Von  Erich  Schmidt  ist  eine  Behandlung  dieser  Frage  in  Aussicht 
gestellt.  Es  wird  hier  überall  nur  die  für  unsern  Einzelfäll  nötige,  kürzeste 
aphoristische  Orientierung  beabsichtigt. 

*)  Gummere,  Beginnings  of  poetry  S.  15:  „Even  down  to  the  present, 
this  contempt  for  lower  forma  of  poetry  vitiates  the  work  of  writers  in 
aesthetics." 

^)  Vorlesungen,  hg.  von  Minor  1,  357. 

«)  Kleine  Schriften  1,  696. 


168 


keine  lebendige  Volkspoesie  mehr  gibt,  daß  keine  Volkspoesie  mehr 
entstehen  könne;  ein  für  kulturlose  Givilisation  begreifliches,  für 
noch  so  gering  civilisierte  alte  Kultur  unmögliches  Urteil.  Aller- 
dings darf  es  nach  Gummeres  System  keine  Volksdichtung  im 
alten  Sinne  mehr  geben:  dem  System  zu  Liebe,  das  für  die  ältere 
Zeit  einen  sozialen,  für  die  spätere  einen  individualen  Charakter 
der  Poesie  konstruiert,  muß  die  lebendige  Dichtung  verstummen. 
Demnach  sollen  auch  die  Vierzeiler  verschwinden  oder  verschwunden 
sein,  und  das  kann  man  ja  auch  so  ähnlich  in  einer  unsrer  besten 
Literaturgeschichten  lesen').  Sehr  langsam  vollzieht  sich  da  ein 
Umschwung.  Selbst  weiteren  Kreisen  haben  z.  B.  Wossidlos 
Arbeiten,  die  von  Piger^),  von  Gillhoff^)  den  augenfälligsten 
Beweis  von  heutiger  leibhaftiger  Existenz  einer  Volksdichtung  ge- 
liefert. £s  ist  gerade  für  das  Priamel  die  Frage  von  erheblicher 
Wichtigkeit,  ob  Volksdichtung  zur  Versteinerung  geworden,  oder 
ob  aus  heutiger  Produktion  auf  frühere  geschlossen  werden  kann, 
ob  man  als  Paläontologe  oder  als  Physiologe  dem  wissenschaft- 
lichen Objekt  gegenüber  steht. 

Man  würde  sehr  irren,  wenn  man  in  den  Anfängen  der  Poesie 
Schillers  Welt  des  schönen  Scheins,  in  den  Anfängen  der  Onomik 
Vischers  Poesie  des  schönen  Gedankens  suchte.  Wie  wenig  die 
Anfänge  der  Poesie  mit  moderner  Goldschnitt-Lyrik  zu  tun  haben, 
lehrt  die  Ethnologie^).  Wenn  der  Bötokude  lakonisch  singt: 
„Der  Häuptling  hat  keine  Furcht",  oder:  „Weiber  jung  stehlen 
nicht;  ich,  ich  will  nicht  stehlen",  so  wird  man  vergebens  fragen, 
ob  das  Lyrik  oder  Didaktik  sei.  Auf  die  primitivsten  Formen 
volkstümlicher  Kleinkunst  sind  jene  Begriffe  unanwendbar.  Ja, 
es  liegt  alledem  deutlich  ein  Zustand  voraus,  in  welchem  auf  den 
bloßen  Rhythmus  mehr  Gewicht  fällt,  als  auf  die  Worte  und  deren 
Bedeutung  ^).    Nicht  in  der  Atmosphäre  schönen  Scheins,  sondern 


*)  Wackernagel- Martin  2,  153. 

^)  Zeitschrift  für  österreichische  Volkskunde  4,  9  ff. 

^)  Lebt  die  Volksdichtung  noch?  Monatsschrift  für  Stadt  und  Land, 
1903,  S.  756  fif. 

*)  Wallaschek  bemerkt  aber  andrerseits  S.  203,  daß  auch  Natur- 
menschen ,schöne  Gedanken'  nicht  ganz  fehlen. 

^)  Bücher'  S.  297.  Vgl.  Sitzungsberichte  der  gelehrten  estnischen 
Gesellschaft  zu  Dorpat  1883  (Dorpat  1884)  S.  133  f.    Ähnlich  büdet  für  die 


J 


169 


anformulierten    intuitiven    Denkens    gedeiht    primitive 
Poesie '). 

Was  spätere  Befiexion  säuberlich  als  mythologisch-gegenständ- 
liches und  als  diskursives  Denken  differenziert  hat,  ist  ohne  Zweifel 
in  den  Anfängen  noch  nicht  geschieden.  Das  Bild  hat  sich  da 
kaum  vom  Gegenstand^)  losgelöst,  und  erst  auf  fortgeschrittene 
poetische  Kultur  paßt  Herders  Wort:  Die  Gottheit  hat  uns  die 
Bilder  auf  einer  großen  Lichttafel  vorgemalt;  wir  reißen  sie  von 
dieser  ab  und  malen  sie  uns  durch  einen  feinern,  als  den  Pinsel 
der  Lichtstrahlen  in  die  Seele. 

Wenn  einmal  das  Ergebnis  dichterischer  und  philosophischer 
Intuition  sich  mit  dem  literaturgeschichtlicher  Empirie  deckt,  darf 
die  Bestätigung  willkommen  sein.  Goethe,  Wilhelm  Grimm  und 
Carl  PrantP)  treffen  in  der  Auffassung  uranfänglicher  gnomi- 
scher Rede  merkwürdig  zusammen.  Wenn  Goethe  darin  das  reine 
Anschauen  wiederfindet,  wenn  Grimm  das  blitzartige  Hervorbrechen 
der  fertigen  Onome  hervorhebt,  so  weist  Prantl  in  ähnlichen 
Eigenschaften  ihren  Ideal  -  Realismus  auf,  der  ihr  den  Stempel 
wirklicher  Philosophie  nicht  nur  im  Sinne  geistreicher  Paradoxie 
sichert^).  Und  dieser  Ideal  -  Realismus  ist  für  alle  Zeiten  das 
Kennzeichen  wahrer  Poesie  geworden.  Der  ursprüngliche  Aus- 
druck allegorisiert  und  symbolisiert  nicht,    er  schafit  unmittelbar 


Musik  das  rhythmische  Element  die  Grandlage.  Wallaschek,  Anfänge  der 
Tonkunst  S.  262  £f.,  Böhme,  Geschichte  des  Tanzes  1,245.  Auf  einen  Zu- 
stand, in  dem  Poesie  und  Prosa  noch  nicht  geschieden,  macht  Norden,  Kunst- 
prosa 1,  30  ff.  aufmerksam. 

0  Eauffmann,  Balder  S.  170  ff.  Leider  hat  Theodor  A.  Meyer, 
Das  Stilgesetz  der  Poesie.  Leipzig  1901,  den  Anfängen  und  der  historischen 
Entwicklung  keine  Beachtung  geschenkt.  Hjpologisches  und  metalogisches 
Denken:  Benno  Erdmann,  Umrisse  zur  Psychologie  des  Denkens  (Philo- 
sophische Abhandlungen,  Christoph  Sigwart  gewidmet.  Tübingen  1900). 
S.  35f.,  19  ff.  YgL  Usener  im  Archiv  für  Religionswissenschaft  7, 25.  f. 
Di  eis,  Festrede  der  Berliner  Akademie  vom  23.  Januar  1902.  Sitzungs- 
berichte 1,  25  ff.  32. 

*)  Nicht  einmal  getreue  Gegenständlichkeit  ist  der  Kunst  der  Natur- 
völker eigen.    Vierkandt,  Naturvölker  und  Kulturvölker  S.  237  ff. 

^)  Die  Philosophie  in  den  Sprichwörtern.    München  1858. 

*)  Prantl  S.  10. 


170 


plastisch '),  auf  Grund  eines  unbewußten  pantheistiscken  Monismus. 
Darin  gleichen  sich  die  primitivste  Poesie  der  Naturvölker,  die 
vielbewunderte  Kleinkunst  der  beginnenden  Neuzeit,  die  Weltpoesie 
Goethes.  Nur  quantitativ  verschieden  ist  dabei  der  individuelle 
Anteil  des  Subjektes.  Am  wenigsten  schöpferische  Initiative  und 
individuelle  Mitarbeit  verrät  die  primitive  Improvisation  der  Volks- 
poesie. Selbst  die  ihre  Schnaderhüpfeln  improvisierenden  Älpler 
„stehen  noch  ganz  auf  der  kindlichen  Stufe  eines  Naturvolkes. 
Nicht  das  Ganze  oder  Große  der  Natur  zieht  sie  an,  sondern  nur 
die  Einzelheiten^  —  nicht  anders  verfährt  übrigens  auch  das  oft 
behandelte  Naturgefühl  der  Alten  — .  „Nie  hören  wir  etwas  von 
dem  Wechsel  von  Licht  und  Schatten,  der  Färbung  der  Wälder, 
den  Linien  der  Berge,  dem  Sonnenauf-  oder  Sonnenuntergang, 
dem  Zauber  der  Mondnacht,  dem  Sternenglanz''  ^).  Das  Schnadcr- 
hüpfel  beschreibt  seinen  Hintergrund  nicht,  denn  es  fühlt  sich  eins 
mit  ihm.  Besonderes  und  Allgemeines  scheinen  noch  verschmolzen. 
„Wer  nun  dieses  Besondere  lebendig  erfaßt,  erhält  zugleich  das 
Allgemeine  mit ,  ohne  es  gewahr  zu  werden ,  oder  erst  später'' : 
damit  hat  Goethe  das  Verfahren  der  primitiven  Poesie  wohl  am 
richtigsten  umschrieben. 

Man  hat  von  jeher  und  vom  Stancjpunkt  psychologischer  Er- 
wägung mit  begreiflichen  Übertreibungen  in  aller  Kunst,  auch  in 
der  Poesie,  eine  gewisse  Transcendenz,  einen  Widerspruch  gegen  die 
Wirklichkeit,  eine  gesteigerte  Wirklichkeit  gesehen.  „Even  primitive 
poetry,  was  an  idealization,  an  abstraction,  a  narcotic,  a  kind  of 
waking  dream",  meint  Gummere  (Boginnings  S.  468).  Die  älteste  ger- 
manische Gnomik  kennt  die  Gegensätze  von  Bealität  und  Idealität  noch 
nicht  und  versöhnt  sie  in  sich.  Künstliche  Idealisierung  braucht 
sie  nicht.    Auch  in  dieser  Beziehung  gehört  die  Gnome  zu  den  ür- 


')  P.  ist  weit  davon  entfernt  noch  im  Sprichwort  eine  bildliche  Form, 
ein  Sinnbildliches,  ein  Symbolisches  zu  erblicken,  „denn  all  Derartiges  ge- 
hört dem  poetischen  Gefühle  an  und  kann  nur  durch  den  Umweg  der  Inter- 
pretation in  das  systematische  Verständnis  umgesetzt  werden;  hingegen  das 
Sprichwort  ist  bereits  in  sich  selbst  ein  durchdringendes  Erkennen  des  All- 
gemeinen im  Particularen."  S.  21.  Dilthey,  Die  Einbildungskraft  des 
Dichters  S.  464. 

*)  Elard  Hugo  Meyer,  Deutsche  Volkskunde  S.  318.  Vgl.  Gras- 
berger,  Naturgeschichte  des  Schnaderhüpfels  S.  29.  Vierkandt,  Natur- 
völker und  Kulturvölker  S.  237. 


171 


Zellen  der  Poesie.  Schädlicher  ist  es  gewesen  in  deutscher 
Volksdichtung  oder  in  dem,  was  man  nicht  anders  als  in  der 
Gnomik  unterbringen  zu  können  glaubte,  vorwiegend  Didaktik 
zu  suchen.  Diese  Neigung  hat  die  vorurteilslose  Auffassung  der 
Kleinkunst   des    Epigramms    und   Priamels    sehr    beeinträchtigt. 

Die  Form  der  urgermanischen  Gnome  hat  Koegel  zu 
ermitteln  gesucht;  die  besonderen  Resultate  scheinen  mehr  ge- 
sichert als  ihre  allgemeinen  Voraussetzungen,  und  da  nach  unsern 
Ergebnissen  das  Priamel  weder  als  indogermanisch  noch  als  ur- 
germanisch anzusprechen  sein  dürfte,  brauchen  wir  auf  die  hier 
noch  strittigen  Punkte  nicht  einzugehen  ^).  Was  die  innere  Form 
betrifft,  ist  der  Spruch  tatsächlich  eine  der  Naturformen  der 
Dichtung^). 

Den  niedrigsten  Stämmen  der  Naturvölker,  bemerkt  Tylor^), 
scheinen  die  Sprichwörter  kaum  anzugehören,  sie  treten  vielmehr 
in  bestimmter  Form  bei  einigen  höher  entwickelten  Wilden  auf. 
Westafrikaniscbe  Sprichwörter  stehen  mit  den  europäischen  fast 
auf  gleicher  intellektueller  Stufe.  Germanische  Gnotnik  hat,  wo 
sie  auftritt,  die  Stufe  primitiver  Anfänge  schon  weit  hinter  sich 
gelassen.  Der  einfache  Erfahrungssatz  der  Gnome  wird  erst  spät 
zu  Sprichwort  und  Spruch^).  Die  Grenzen  verschwimmen 
aber  häufig  in  einander.  Im  allgemeinen  folgt  das  Sprichwort 
der  älteren,    der  Spruch  der  jüngeren  Entwicklung;    ihr  Ziel  ist 


*)  Koegel,  Geschichte  der  deutschen  Literatur  I' 172  ff.,  leider  ohne 
Prantl  zu  kennen.  Dazu  R.M.Meyer,  Die  altgermanische  Poesie  S.  452 ff. 
M  aß,  Über  Metapher  und  Allegorie  im  Deutschen  Sprichwort.  Dresden  1891, 
dehnt  auf  das  Sprichwort  die  Begriffe  dogmatischer  Rhetorik  aus,  wie  mir 
scheint,  für  uns  ohne  Nutzen.  Der  entwicklungsgeschichtliche  Verlauf  wird 
umgekehrt. 

5)  Gosche,  Archiv  2,  277. 

3)  Anfänge  der  Cultur  1,  88. 

*)  Den  Unterschied  betont  Pfeiffer,  Freie  Forschung  S.  170.  In  den 
Poetiken  heißt  der  Spruch  meist  Gnome.  Vgl.  noch  Bergmann,  Des 
Hehren  Sprüche  S.  192.  Romanische  Forschungen  3,  420.  Tob  1er  in  der 
Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft  4,  492  ff.  Durch 
die  Wortgeschichte  finden  die  dogmatischen  Festsetzungen  der  gesetzgeben- 
den Ästhetik  durchaus  keine  Bestätigung:  bezeichnet  doch  Sprichwort  noch 
zur  Zeit  der  klassischen  Sammlungen,  in  denen  die  Ernte  des  Mittelalters 
geborgen  wird,  jede  übliche,  sich  wiederholende  Redewendung.  Paul, 
Deuteches  Wörterbuch  S.429.    Heyne  III,  715. 


172 

der  Denkspnich,  der  nach  Prantl  „dem  beginnenden  mittelbaren 
Philosophieren"  angehört*).  Das  Sprichwort  ist  im  Grunde  ge- 
legentliche Improvisation.  Seine  Anwendung  beruht  auf  Ver- 
allgemeinerung^ auf  Subsumption  eines  einzelnen  Falles  unter  einen 
allgemeinen  Erfahrungssatz  ^);  „immer  enthält  es  eine  Erinnerung 
an  etwas  Bekanntes,  es  ist  ein  Citat,  ein  geflügeltes  Wort".  Das 
Vergnügen  am  Sprichwort  beruht  auf  dem  Vergnügen  an  der 
Vergleichung^).  Wie  der  einfache  Ausspruch  der  ursprünglichen 
Gnome  in  das  Leben  und  die  lebendige  Überlieferung  eintritt, 
wie  sich  „auf  dem  Markt  des  Lebens  sein  scharfes  Gepräge" 
einerseits  abgreift,  andrerseits  die  von  Aristoteles  geforderte  ouvropiia 
entsteht,  wie  endlich  Sammlung  und  literarische  Forschung  sie 
literaturfähig  macht  und  die  echte  Gestalt  zu  finden  sucht,  das 
alles  zeigt  auch  das  geflügelte  Wort  von  heute*).  Mit  Tylor^) 
prinzipiell  zu  leugnen,  daß  auch  heute  noch  Sprichwörter  sich 
bilden  können,  sehe  ich  keinen  Grund. 

Es  ist  bei  früherer  Gelegenheit  einmal,  als  es  sich  um  fak- 
tische Unterscheidungen  handelte,  zu  rein  äußerlicher  Anknüpfung 
ein  Gedanke  Schuchhardts  benutzt,  der  ähnlich  wie  Gosche 
in  den  Sprichwörtern  den  Übergang  von  der  ungebundenen 
zur  gebundenen  Bede  sieht.  Entwicklungsgeschichtlich  läßt 
sich  dieser  Proceß  schwerlich  so  verstehen.  Aus  Prosa  ist  auf 
direktem  Wege  wohl  nie  Poesie  geworden^).  Die  Geschichte  der 
älteren  Gnomik  arbeitet  wie  die  Geschichte  des  ältesten  Verses 
überhaupt  mit  theoretischen  Konstruktionen.  Die  beliebteste 
nimmt  die  Zeile  (das  einfache  Sprichwort,  die  Gnome)  zum  Aus- 
gangspunkt und  schiebt  sie  in  Urzeiten  hinauf^).    Man  legt  die 


')  Prantl  S.  12.  22.  3)  Scherer,  Poetik  S.  11  f. 

8)  a.  a.  0.  88.  *)  Gosche,  Archiv  2,278. 

5)  Anfänge  der  Cultur  1,  90. 

®)  Darwin  bei  Simmel  in  der  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  13,  262. 
Saran  in  den  Philologischen  Stadien  S.  181.  Bruchmann,  Poetik  S.  34  ff. 
Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus^  S.  300.  308.  Scherer  im  Anzeiger  U  326. 
R.  M.  Meyer  Anz.  XXIII  307.  v.  Biedermann,  Zeitschrift  für  vergl. 
Literaturgeschichte  XI  369  ff.  Goethe -Forschungen  3,251  f.  Wandt, 
Völkerpsychologie  II,  261  f. 

7)  z.  B.  Wolf,  Über  die  Lais  S.  14.  Stengel  in  Gröbers  Grundriß  11 1, 
78  geht  Yon  der  Ein-Zeile  aus.  Ebenso  wählt  Eugen  Wolff  die  Yerszeile 
zum  Ausgangspunkt  der  Metrik;  ähnlich  Gummere,  Beginnings  S.  211. 


173 

Kola  der  natürlichen  Bede^)  oder  den  einzeiligen  Viertakter  zn 
Grunde  und  sucht  sich  den  Fortschritt  durch  Addition  verständlich 
zu  machen.  Dabei  wird  übersehen,  woher  denn  der  Rhythmus 
kommt,  mag  man  von  Viertaktern  reden  oder  den  primitivsten 
Vers  Paroemiacus  nennen  oder  anders,  mag  man  ihn  schon  dem 
arischen  Urvolke  zuschreiben  oder  einer  späteren  Entwicklung. 
Daß  einfache  Sätze  mehr  oder  weniger  gnomischen  Charakters 
schon  in  der  Rede  des  urzeitlichen  Menschen  nicht  fehlen,  ist  ja 
selbstverständlich;  aber  sie  sind  nicht  von  selbst  zu  rhythmischen 
Eunstgebilden  geworden^),  und  um  diese  handelt  es  sich  doch, 
auch  wenn  man  die  urgermanische  Gnome  zu  erschließen  sich 
bemühte.  Wir  brauchen  ja  bei  schematischen  Übersichten  die 
Zählmethode  nicht  zu  verschmähen,  wie  sie  formell  Bad  1  off  in 
einer  Übersicht  der  poetischen  Formen  bei  den  altaischen  Tataren^), 
inhaltlich  Mone  bei  einer  scholastischen  Klassificierung  von 
Sprichwörtern^)  verwendet  hat,  aber  für  die  Entwicklungsgeschichte 
darf  das  kein  Präjudiz  liefern. 


')  Wilmanns,  Beitrages,  141  sagt  vom  Vers  im  allgemeinen:  „Dem- 
nach sehe  ich  den  Ursprung  des  alten  Verses  mit  seinen  mannigfachen 
Formen  in  nichts  anderem  als  in  den  Kola  der  natürlichen  Rede,  die  in 
feierlichem  Vortrage  auseinander  gelegt  wurden."  Vergl.  J.  Grimm,  Über 
den  Ursprung  der  Sprache  (1858)  S.  54.  Lipps,  Aesthetik  1,322.  Dagegen 
Wundt,  Völkerpsychologie  I  1,  263.  2,  390;  besonders  Wallaschek, 
Anfänge  der  Tonkunst  S.  200  ff.  Kawczynski  (Essai  comparatif  sur 
Torigine  et  Thistoire  des  rhythmes.  Paris  1889)  und  Pierson  (Metrique 
naturelle  du  language.  Bibl.  de  TEcole  des  Hautes  Etudes,  56  me  fasc. 
Paris  1884)  setzen  eigentlich  das  als  gegeben  voraus,  was  den  Gegenstand 
des  Problems  bildet.  Gute  Beobachtungen  bei  M.  Ettlinger,  Zur  Grund- 
legung einer  Aesthetik  des  Rhythmus.  Münchener  Dissertation  1899.  Zeit- 
schrift für  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane  22,  161  ff. 

3)  Bücher  S.  44.  Mit  willkürlich  angenommener  oder  feinsinnig 
ausgedachter  Teleologie  ist  der  Sache  nicht  gedient,  z.  B.  bei  Klemm  in 
den  Wiener  Sitzungsberichten  7, 186.  Ahnlich  teleologisch  verfahren  Spencer, 
Billroth  und  Schrader,  Reallexikon  der  indogermanischen  Altertums- 
kunde S.  130  ff.    Dagegen  Philosophische  Studien  10,  256  f. 

^)  Über  die  Formen  der  gebundenen  Rede  bei  den  altaischen  Tataren 
in  der  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  4,  85  ff. 

^)  Quellen  und  Forschungen  1,  195  ff.  unterscheidet  er  monadische, 
dualistische  und  triadischc  Sprichwörter,  je  nachdem  sie  aus  einem  oder 
aus  zwei  oder  drei  Urteilen  bestehen. 


174 

Eine  verhältnismäßig  ausführliche  Theorie  über  die  Ent- 
stehung rhythmischer  Formen  und  des  Vierzeilers  hatWoldemar 
von  Biedermann  aufgestellt.  Er  glaubte  feststellen  zu  können, 
daß  es  Dichtungen  olme  Rhythmus  und  ebenso  Musik  ohne  Bhythmus 
gäbe.  Das  käme  nur  auf  eine  Verschiebung  der  BegriflFe  von 
Bhythmus,  Dichtung  und  Musik  heraus^).  Er  glaubte  femer, 
daß  die  gleichmäßige  Gestaltung  der  Sätze  zum  Bhythmus  ge- 
führt habe;  das  wäre  eine  Erklärung  des  idem  per  idem.  Er 
sah  im  Bhythmus  nur  die  Zusammenstellung  mehrerer  gleichartig 
betonter  Sätze  und  Bedeteile  und  leitete  den  viergliedrigen  Vers 
in  folgender  Weise ^)  aus  der  SatzbilduDg  ab:   „Wenn  der  einfache, 

*)  Seine  Polemik  gegen  Bücher  (Zeitschrift  für  vergl.  Literatur- 
geschichte N.  F.  11,  369  ff.)  steht  nicht  ganz  auf  der  Höhe  der  Debatte. 
Er  sah  mit  veralteter  Teleologie  in  Musik  und  Rhythmus  nur  mnemo- 
technische Hilfsmittel  und  der  sonst  so  feinsinnige  Mann  bestritt  den 
Gegner  mit  schlagenden  Unrichtigkeiten;  z.  B.  behauptete  er,  um  primitive 
Poesie-Erzeugnisse  ohne  Melodie  und  Rhythmus  zu  erweisen,  die  malaiischen 
Pantun  würden  nicht  gesungen.  „Halten  wir  Musterung  unter  primitiven 
Poesieerzeugnissen,  so  finden  wir  doch  auch  lediglich  gesprochene  fort- 
gepflanzt: so  bei  den  Maori,  die  ihre  Sagen,  und  bei  den  Malaien,  die 
die  volkstümlichen  Pantun  nur  hersagen"  (370).  Das  erste  Beispiel  bezeichnet 
doch  wohl  eine  (ux^ßaat;  I;  c(>.Xo  y^vo;  und  das  zweite,  auf  einen  alten 
Jahrgang  des  Auslandes  (1841)  gestützt,  ist  ganz  unrichtig.  Zwar  ist  es  gar 
nicht  auffällig,  wenn  die  Pantuns  wie  die  Schnaderhüpfel  auch  einmal 
hergesagt  werden;  aber  einer  der  besten  Kenner  der  Malaien,  der  Baron 
Wolbert  Robert  von  Hoevell,  bezeugte  nicht  nur  den  Gesang  der 
Pantuns,  sondern  Wechselgesang  solcher  kleiner  Lieder  als  eine  sehr  beliebte 
Unterhaltung,  die  oft  stundenlang  fortgesetzt  wird;  ganz  wie  bei  den  alpinen 
Vierzeilern.  Waitz-Gerland,  Anthropologie  V  1,  173.  Einwände  gegen 
Bücher  machten  sonst  u.  a.  Groos,  Die  Spiele  der  Menschen  S.  57.  Vier- 
kandt.  Die  Arbeitsweise  der  Naturvölker  in  Jlberg  und  Richters  Neuen 
Jahrbüchern  1900.  S.  162  f.  Saran  in  den  Ergebnissen  und  Fortschritten 
der  germanistischen  Wissenschaft  im  letzten  Yierteljahrhundert.  Leipzig  1902 
S.  184.  Wallaschek  formuliert  S.  282  ff.  Büchers  These  ungenau  und 
widerlegt,  was  Bücher  weder  gesagt  noch  auch  nur  gemeint  hat.  Zeitschrift 
der  internationalen  Musikgesellschaft  1,  79  (Fl  e  i s  ch e r).  Sehr  treffend  scheint 
der  Vorbehalt,  den  Achelis  im  Archiv  für  Kulturgeschichte  2,  86  macht, 
daß  bei  der  Entstehung  der  Poesie  aus  dem  Rhythmus  immer  zugleich  eine 
innere  Empfindung  im  Menschen  ausgelöst  werde.  Roetteken,  Poetik 
1,  203.  Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane  22,  163. 
Anmerkung.    Friedrich  Vogt,  Geschichte  der  deutschen  Literatur  P  331. 

*)  Ähnlich  hatte  Wilmanns  in  seinen  Beiträgen  3,  142  sich  den 
Hergang  vorgestellt:  „Die  Erweiterung  des  Satzes  führte  zu  neuen  Gliedern.'' 


175 


ans  drei  Bestandteilen  zusammengestellte  Satz  in  irgend  einer 
Beziehung,  sei  es  hinsichtlich  des  Subjekts  oder  des  Objekts  oder 
des  Prädikats  eine  nähere  Bestimmung  erhält,  so  besteht  er  aus 
vier  Worten,  und  auf  diese  Grundlage  läuft  am  Ende  die  Ent- 
stehung der  vier  Hebungen  hinaus  ^)^.  Äußerlicher  kann  man 
sich  die  Sache  wohl  nicht  vorstellen;  als  ob  ursprachliche  primi- 
tivste Mitteilung  eines  hypologischen  und  metalogischen  Denkens 
die  Kategorien  moderner  Grammatik  hätte  befolgen  müssen. 
Nicht  einmal  die  heutige  Volksdichtung  des  Schnaderhüpfels  und 
des  Einderreims  kümmert  sich  um  solche  Kategorien.  „The  art 
of  combining  with  exact  rhythm  a  series  of  syntactic  sentences 
which  give  a  connected  story,  or  expreß  a  logical  series  of 
thought,  is  HO  primitive  proceß^j.^  Biedermanns  Theorie  wäre 
eine  Zählmethode,  die  den  Prozeß  der  inneren  Entwicklung  un- 
erklärt ließe.  So  mechanisch,  wie  sich  von  Biedermann  die 
Entwicklung  des  Viertakters  vorstellte,  erklärt  er  auch  den  Vier- 
zeiler, wenn  er  annimmt,  der  Parallelismus  habe  ihn  als  Gedicht- 
gattung ins  Leben  gerufen.  Die  zwei  ersten  und  die  zwei  letzten 
Zeilen  sollten  sich  wie  die  beiden  Glieder  eines  Parallelismus 
verhalten^).  Dabei  beruft  er  sich  auf  die  Schnaderhüpfel,  die 
Krakowiaken,  die  Singes  der  Letten,  die  Vierzeiler  der  Tataren, 
die  Dokra  und  Kubita  der  Hindus,  die  Dindaug  der  Dajak  und 
die  Pantun  der  Malaien,  erwägt  aber  nicht,  daß  die  von  ihm 
vorausgesetzte  Form  des  Parallelismus  nur  eine  von  vielen  andern  ist 
Zwei  Probleme  sondern  sich,  wenn  von  Biedermanns  Theorie 
fällt,  bei  diesen  Erörterungen  als  Kardinalfragen  aus:  woher  der 
Bhy  thmus?  und  woher  der  Viertakter?  Das  erste  hat  niemand, 
auch  Wallaschek  nicht,  in  einem  konkreten  Falle  genauer  formuliert 
als  Bücher.     Wallaschek  wie  Letourneau^)  weisen  der  Nach- 


Vftrgl.  S.  141.  Aber  S.  140:  „Die  vier  Hebungen  treten  zugleich  mit  dem 
Reim  auf,  und  darum  ist  es  wahrscheinlich,  daß  sie  ebenso  wie  der  Keim 
aus  der  lateinischen  Hjmnenpoesie  stammen.^  Vergl.  im  allgemeinen  Saran 
S.  185.  und  Siebs  ebenda  S.  LVII. 

^)  Goethe- Forschungen  3,  252. 
^)  Gummere,  Beginnings  S.  103.    A,  1. 
3)  Goethe-Forschungen  3,  246. 

*)  L'evolution  litteraire  dans  les  diverses  races  humaines.    Bibliotheque 
anthropologique  XV.    Paris  1884.     S.  22     S.  524  leitet   er   die    „Erfindung 


176 


ahmung  von  Jagd,  Krieg  und  dergleichen  eine  entscheidende 
Bolle  zu,  ohne  zu  bedenken,  daß  die  Frage,  ob  der  Rhythmus 
bei  gemeinsamer  Aktion  dieser  Art  vorhanden  oder  notwendig, 
nicht  mit  der  Frage  nach  seinem  Ursprung  zusammenfällt. 
Friedrich  von  Hausegger  und  Boediger  leiten  den  Bhythmus 
in  seinen  Grundlagen  aus  dem  Herzschlag  ab,  weisen  aber  daneben 
dieser  der  Körperbewegung  beim  Gehen,  jener  der  menschlichen 
Gebärde  entwickelnden  Einfluß  zu^).  Wie  Herz-  und  Pulsschlag 
rhythmischen  Gesang  gestaltet  haben  soll,  ist  nicht  so  einfach 
vorzustellen  als  Bfichers  Erklärung,  der  die  Körperbewegung  als 
regulierenden  Faktor  einsetzt;  und  auf  Mitwirkung  dieses  Faktors 
verzichten  auch  Hausegger  und  Boediger  nicht  Indem  Bücher 
ältere  Ansichten^),  ohne  freilich  an  sie  anzuknüpfen,  zu  einer 
wissenschaftlichen  Theorie  ausbaut,  gewinnt  er  die  Formulierung, 
daß  rhythmisch  gegliederte  Körperbewegung  der  Sprache  das 
Gesetz  ihres  Verlaufes  mitgeteilt  habe. 

Ist  uns  einerseits  durch  Büchers  Verdienst  mit  ziemlicher 
Sicherheit  eine  Quelle  des  Bhythmus  erschlossen,   so  wüßte   ich 

der  Metrik"  aus  dem  „gout  pour  les  sons  mesures,  rhythmes"  ab!  Wallaschek 
betont  die  Bedeutung  des  Taktgefühls  im  Kampf  ums  Dasein.  Seine  von 
Seiten  der  Musikwissenschaft  erhobenen  Einwände  gegen  Büchers  musika- 
lische Theorie  sind  beachtenswert  Aber  gegen  seine  These  (S.  266), 
die  Melodie  sei  erst  durch  Betonung  der  Taktabschnitte  entstanden,  spricht 
die  Erwägung,  daß  durch  Lebensalter,  Taktinstrumente,  Geräusche  aller 
Art  u.  s.  w.  Verschiedenheiten  der  Intonation  doch  überall  von  vornherein 
gegeben  sind.  Außerdem  braucht  doch  verschiedene  Intensität  nicht  ver- 
schiedene Tonhöhe  einzuschließen.  Wenn  in  der  inhaltreichen  Abhandlung 
von  E.  Th.  Freuß,  Phallische  Fruchtbarkeitsdämonen  als  Träger  des 
altmexikanischen  Dramas  (Archiv  für  Anthropologie  N.  F.  1.  (19)  Heft  3 
S.  129  ff.)  Tanz  un^  Musik  als  Zaubermittel  aufgefaßt  werden  (S.  167),  so 
sind  wieder,  fürchte  ich,  die  Kategorien  der  Kausalität  und  der  Teleologie 
vertauscht. 

*)  Hausegger,  Gedanken  eines  Schauenden.  München  1903.  S.  323.  292. 
Roediger  Zeitschrift  für  Volkskunde  13,  459:  „Meiner  Meinung  nach 
kommt  der  Rhythmus  überhaupt  nicht  von  der  Arbeit  [vergl.  aber  Bücher' 
S.  306]  her,  sondern  ist  durch  Puls-  und  Herzschlag  in  seinen  Grundlagen 
gegeben,  so  daß  rhythmischer  Gesang  und  rhythmische  Bewegung  auch 
ohne  Arbeit  entstehen  kann,  letztere  vor  allem  beim  einfachen  Gehen. ^ 

3)  Vergl.  z.  B.  Schcrers  Darlegung:  Zur  Geschichte  der  deutschen 
Sprache'  S.  624  ff.  Z schal  ig,  Bilder  und  Klänge  aus  der  Rochlitzer 
Pflege  S.  89. 


177 

andrerseits    von    den    bisher    aufgestellten    keine    überzeugende 
Theorie    über    die    Entstehung    des    Viertakters    anzugeben. 
Letourneau  hatte,   wie  oben   erwähnt,   sich  mit  Phrasen  begnügt; 
nicht    viel    höher    stehen    Masings    allgemeine    Deduktionen^). 
Bruchmann^)  denkt  an  eine  physiologische  Ursache,   die  gerade 
für   eine    solche   Beihe    bequeme   Benutzung   des  Atems.     „Aber 
sicher  ist  dies  nicht^    setzt   er   richtig   hinzu.     Die   herrschende 
Theorie  ist   die   trotz  Meumann   unausrottbare  Altar-Schritt- 
Theorie.    „Jeder  Versfuß  entspricht  einem  Schritt  oder  Sprung. 
Man  ist  nun   um   den  Altar   getanzt:    vier  Schritte,    länger    war 
die  Altarseite  nicht,  dann  war  der  Vers  oder  die  Beihe  zu  Ende, 
und  man  machte  eine  kleine  Wendung  ((rrpo^pi^),  um  gleich  wieder 
anzuheben.     War  der   Altar  umtanzt  —  so   war  auch   das  Lied 
zu  Ende.^    So  veranschaulicht  zuletzt  Bruinier  die  Entstehung^). 
Aber  hatten  die  germanischen  Völker  überhaupt  Altäre?    Oermani 
ea,   quae  diis  offerebant,  non  cremabant  neque  aras  neque  altaria 
more   graeco  et  romano  habebant^).     Und  dann  viereckige?    jede 
Altarseite  wieder  genau  vier  Schritt!    Unglaublich.    Noch  unglaub- 
licher, daß  dann  auch  die  malaiischen  Völker,  die  Völker  Polynesiens 
und  Süd-Amerikas,    die   Tataren,    Chinesen    u.  s.  w.,    bei    denen 
sich   der  Vierzeiler  findet,   alle   dies  merkwürdige  Bequisit  eines 
viereckigen   Normal- Altars    besessen    haben    müssen^).     Übrigens 
sind    die   Vierzeiler   der   Weltliteratur   keineswegs   überall   ganz 
gleich  gebaut;    und    die  Ethnologie    wie  Forschungen   über   den 
ältesten   Tanz    stützen    diese    Hypothese   nicht   im   geringsten^). 


*)  Über  Ursprung  und  Verbreitung  des  Reimes.  Dorpat  1866.  S.  139. 
Yergl.  unten  Jessen. 

«)  Poetik  S.  39. 

3)  Das  deutsche  Volkslied  S.  50.  Vergl.  Wilmanns  Beiträge  3,  141. 
Hensler,  Acta  Geimanica  I  2,  163  f.  Benecke,  Vom  Takt  in  Tanz, 
Gesang  und  Dichtung  mit  besonderer  Berücksichtigung  des  Volkstümlichen. 
Bielefeld  1891.  S.  25  ff.  Dazu  Philosophische  Studien  10,  249  ff.  253. 
Gummere  S.  84  f.  94. 

*)  Müllenhoff,  De  antiquissima  Germanorum  poesi  chorica  S.  11. 

^)  Jessen  freilich  ignoriert,  daß  auch  andre  Sprachen  den  Viertakter 
kennen,  und  dekretiert  (Zeitschrift  für  deutsche  Philologie  2,  147):  „Der 
yiertaktige  Vers  ging  aus  dem  Wesen  der  germanischen  Sprache  hervor." 

*)  Wallaschek,  Anfänge  der  Tonkunst,  Kapitel  7.  Böhme,  Geschichte 
des  Tanzes  1,  236  ff. 

Ealing,  Priamel  12 


178 


Wir  werden  sogar  sehen,  daß  es  sehr  zweifelhaft  ist,  ob  die 
längeren  Versreihen  primitiver  Poesie  (ebenso  wie  der  leich) 
jünger  sind  als  der  Vierzeiler  und  der  Viertakter.  „In  der  Tat 
verdienen  diese  Theorien  streng  genommen  nicht  einmal  den 
Namen  von  entwicklungsgeschichtlichen  Betrachtungsweisen,  als 
solche  würden  sie  uns  doch  wenigstens  die  rhythmischen  Formen 
in  irgend  einem  Stadium  ihrer  früheren  Entwicklung  nachzu- 
weisen und  dieses  Stadium,  mit  jenen  Entstehungsursachen  in 
Verbindung  zu  bringen  haben. ^     (Meumann). 

Die  merkwürdige  allgemeine  Verbreitung  des  Viertakters  und 
Vierzeilers,  die  in  ihren  Orundzügen  fast  über  die  ganze  Erde  zu  ver- 
folgen sind,  legt  die  Vermutung  nahe,  daß  konstant«  physische  oder 
physiologische  Eigenschaften  des  Menschen  hier  im  Spiele  sind. 
Musikalische  Wahrnehmung  ist  ursprünglich  nicht  Leistung  unseres 
Oehörorganes,  sondern  des  Zeitsinnes;  der  Muskelsinn  überwiegt 
in  primitiver  Musik  den  Gehörsinn.  Takt  beruht  nur  auf  unserer 
subjektiven  Auffassung.  Beim  Experiment  des  schwingenden  Stabes 
ist  festzustellen,  daß  der  Rhythmus  im  Objekt,  der  Takt  im 
Subjekt  vorhanden  ist.  Die  Wahrnehmung  von  Schlaggruppen 
geschieht  intuitiv,  ohne  daß  der  Beobachter  auszählt,  wie  beim 
Musiker  im  Orchester^).  Zahlreiche  Beobachtungen  von  Dietze, 
Götz,  Martins,  Stumpf,  Henle,  Meumann,  Wundt  und 
anderen  suchten  das  Gesetzmäßige  solcher  Erscheinungen  festzu- 
stellen^). Wundts  Taktierapparat  leistet  dabei  vorzügliche  Dienste. 
Bei  seinen  Untersuchungen,  die  sich  auf  die  allgemeinen  Be- 
dingungen der  Entstehung  rhythmischer  Formen  beziehen,  geht 
Wundt  von  folgenden  Beobachtungen  aus.  Läßt  man  Taktschläge 
von  absolut  gleicher  Intensität  in  gleichen  Intervallen  auf  einander 
folgen,  so  entsteht  stets  die  Vorstellung,  daß  die  einzelnen  Takt- 
schläge nicht  gleich,  sondern  von  verschiedener  Stärke  seien, 
und  zwar  pflegen  sie  sich  vollkommen  regelmäßig  nach  einem 
bestimmten  rhythmischen  Schema  zu  ordnen.  Es  stellt  sich  nun 
heraus,    daß    bei   jeder  Form    der  Bhythmisierung   nur   eine  be- 


1)  Wallaschek  S.  262.  266  ff. 

5)  Guinmere  S.  99;  „Poetic  rhythm  objectively  an  outcome  of  human 
perception.'^  Meumann,  Untersuchungen  zur  Psychologie  und  Aesthetik 
des  Rhythmus  (Philosophische  Studien  10)  S.  273  ff.  Wundt,  Völker- 
psychologie I  2,  377  ff. 


179 

stimmte  Zahl  von  Eindrücken  zu  einem  Gänzen  zusammengefaßt 
werden  kann.  Als  Maß  für  den  Bewußtseinsumfang,  das  heißt 
für  den  Umfang  einer  Gesamtvorstellung,  deren  Teile  noch  voll- 
ständig im  Bewußtsein  zusammengefaßt  werden  können,  ergab 
sich  eine  Einheit  von  8  Taktgliedern,  und  als  günstigste  Art  der 
Gliederung   der   aus  8  Taktschlägen  bestehende  Viervierteltakt'): 

rrlrr«rr'rrrrrr"rr',y 

I 

Es  ist  ein  das  rhythmische  Gefühl  besonders  befriedigendes  Takt- 
maß und  bewährt  sich  auch  dadurch,  daß  man  bei  dem  Versuch 
möglichst  viele  Eindrücke  zusammenzufassen,  sehr  leicht  auf  diese 
Taktform  verfällt  ^).  Jenes  Taktschema  ist  nichts  anderes  als  das 
des  Vierzeilers  und  des  typischen  Volksliedersatzes.  Vielleicht 
beruhen  diese  poetischen  Urformen  des  Viertakters  und  Vierzeilers 
auf  ursprünglichen  und  konstanten  Dispositionen  des  psychischen 
Mechanismus. 

Dem  Vierzeiler  gegenüber,  der  in  keine  bestimmte  Kategorie 
der  Poetik  gehört,  ist  vielleicht  die  sogenannte  Gnome  schon  ein 
spätes  Kunstprodukt  oder  eine  bloße  Abstraktion  theoretisierenden 
Verstandes.  Für  die  ältere  Zeit  muß  auch  die  Gnome,  insofern 
sie  zur  Literatur  im  weitesten  Sinne  zählt,  durchweg  als  poetisch 
gelten^).     Die  Entstehung  des   Vierzeilers*)   ßlUt  vielleicht  mit 

^)  Die  Yierzahl  der  Takteinheiten  bildet  die  Grundzahl.  Lipps, 
Aesthetik  1,  415.  298.  Zeitschrift  füi*  Psychologie  und  Physiologie  der 
Sinnesorgane  22,  197. 

^)  Wundt,  a.  a.  0.  S.  384  f.  Auf  eine  andere  merkwürdige  physiologische 
Übereinstimmung  wies  Friedrich  Ton  Hausegger  in  seiner  Schrift  Musik 
als  Ausdruck  hin,  jetzt  wieder  abgedruckt  in  den  Gedanken  eines  Schauenden 
S.  323.  Die  Bewegung  der  Musik  hält  sich  in  den  Grenzen,  welche  der 
Bewegung  des  Pulsschlages  gezogen  sind.  Die  Pulsschläge  schwanken 
zwischen  30  und  200,  die  Schläge  des  Metronoms  zwischen  40  und  208  in 
der  Minute. 

^  Heutige  Volkssprichwörter  scheinen  z.  T.  Bruchstücke  aus  mehr- 
zeiligen  Liedern  zu  sein.  Die  österreichisch-ungarische  Monarchie  in  Wort 
und  Bild.  Kärnten  und  Krain,  S.  151.  Scheinbar  entgegengesetzte  An- 
schauung bei  Strack  in  den  Hessischen  Blättern  für  Volkskunde  2,69. 

^)  „Das  Dichten  eines  Volkes  beginnt  nicht  mit  der  Zeile,  sondern  mit 
der  Strophe^.    Meyer,  Fragmenta  Burana  S.  181. 

12* 


180 


den  Anfäugen  dichterischer  Betätigung  des  Menschengeschlechtes 
zusammen;  der  Bigveda  und  der  Schi- King  kennen  ihn.  Welckers 
Ansicht  von  der  Priorität  der  Kasside  und  des  Ohasels  wird  da- 
durch widerlegt^).  Als  ausschließlich  verwendete  Strophe  erscheint 
der  Vierzeiler  bereits  in  den  Sapta9atakam.  Auch  Parallelismus 
und  Häufung  spotten  aller  Chronologie. 

Fehlen  mithin  die  Anhaltspunkte  für  die  äußere  Geschichte 
des  ältesten  Vierzeilers,  so  läßt  sich  doch  mit  ziemlicher  Wahr- 
scheinlichkeit der  Gang  seiner  inneren  Entwicklung  vermuten. 
Freilich  kann  von  Chronologie  keine  Bede  sein,  Jüngstes  und 
Ältestes  erscheinen  in  buntem  Gemisch.  In  dem  Versmaterial  der 
nächsten  Abschnitte  sind  Arbeitslied,  Tanzlied  und  Spruch  ver- 
treten. Vielleicht  ist  der  Vers  des  Vierzeilers  älter  als  die 
Alliterationspoesie,  deren  Vers  sich  gleich  jenem  aus  gemein- 
schaftlicher Urform  entwickelte^). 

S  ch  e  r  e  r  hat  drei  Stufen  des  Gelegenheitsgedichtes  geschieden  ^) : 
bildlicher  Ausdruck  oder  innere  poetische  Form  als  erste  Stufe; 
auf  der  zweiten  Stufe  kommt  der  Schmuck  der  äußeren  poetischen 
Form  hinzu,  auf  der  dritten  der  Gesang.  Es  würde  sich  empfehlen, 
die  dritte  vor  die  zweite  zu  stellen  und  die  innere  Form  von  der 
äußeren  nicht  völlig  abzulösen;  außerdem  liegt  vor  der  ersten 
Stufe  bereits  das  durch  bloße  Isolierung  der  Empfindung  bewirkte 
Poetische  *). 

2. 

Naturvölker  besitzen  Gesänge,  die  aus  Wiederholung  eines 
und  desselben  Wortes  bestehen^)  „Die  amerikanischen  Eingebo- 
renen im  Osten  des  Felsengebirges  haben  eine  Liedform,  in  welcher 
das  effectvoU  Erregende  in  einer  einzigen  Zeile  ausgedrückt 
ist,   und  diese  wird  dann  in  endlosen  Wiederholungen  vom  Ein- 


»)  Nord  und  Süd  10,  351. 

^)  von  Biedermann  3,  248  stellt  die  Alliteration  als  Abschwächung 
des  Reimes  dar.  Eauffmann,  Zs.  für  deutsche  Phil.  25,  558.  Luick  in 
Pauls  Grundriß  II *  997  f.  Vergl.  11^50.  Paul  und  Braune,  Beiträge  22, 
576.  Bruchmann,  Poetik  S.  44. 

3).  Deutsche  Studien  1,  332. 

*)  Bruchmann,  Poetik  S.  68  ff.  Dilthey,  Einbildungskraft  des 
Dichters  S.  396. 

')  Gummere,  Beginnings  of  Poetrj  S.  254,  247. 


181 

zelnen  und  vom  Chore  gesungen"^).  Ähnlich  die  oben  erwähnten 
Begenlieder  der  Mädchen  in  Palästina. 

Zweizeilige  Improvisationen  besitzen  die  Polynesier-).  Im- 
provisierte Zweizeiler  sind  bei  den  Beduinen  und  Bauern  Palästinas 
beliebt.     Ein  Hirtenknabe  bei  Essalt  sang  bei  Sonnenuntergang: 

Es  ging  mir  unter  die  Sonne, 
dunkel  ward  mir  die  Nacht  ^). 

Beduinen  warnen: 

Nicht  betrüge  dich  die  Welt,  auch  wenn  sie  blüht; 
wie  viele  Häuptlinge  fielen  von  ihrem  Sitz^}! 

Beim  Schafscheren  wird  gesungen: 

Laß  dich  scheren,  o  kleine  Schwarzköpfige,  laß  dich  scheren; 
deine  Wolle  ist  Seide  und  weich  das  Fließt). 

Die  enge  Form  solcher  ein-  und  zweizeiligen  Gebilde  läßt  dem 
Parallelismus  des  Priamels  doch  zu  geringen  Spielraum,  weniger 
noch  der  einfache  typische  gnomische  Kurz-Vers. 

In  der  Bescheidenheit  gibt  es  nur  zwei  einzeilige  Sprüche 
64,12.  13: 

slieziu  rede  senftet  zorn. 

swer  rehte  tuot,  derst  wol  gebom. 

Der  Parallelismus ^)  auf  dem  äußerlich  das  Priamel  beruht,  ist, 
freilich  noch  unentwickelt,   oft  schon  in  einer  einzigen   Verszeile 


')  Dilthey,  Einbildungskraft  des  Dichters  S.  434. 

s^  Waitz,  Anthropologie  VI,  90. 

3)  Dalman  S.  33. 

*)  Dalman  S.  32. 

5)  Dalman  S.  41. 

^)  Von  der  Verbindung  nur  zweier  paralleler  Glieder  wird  billig  ab- 
gesehen, weil  aus  solcher  vereinzelter,  meist  zufälliger  Verbindung  noch  nicht 
auf  Parallelismus  als  Prinzip  zu  schließen  ist.  Gelegentlich  werden  zwei 
Glieder  zu  drei  Zeilen  ausgeweitet,  so  daß  mit  dem  zusammenfassenden  Vers 
ein  Vierzeiler  entsteht,  in  dem  wenigstens  äußerlich  Parallelismus  mehre- 
rer Glieder  erscheint.  So  in  dem  Verschen  vom  Zers  und  dem  Schmidt. 
Solche  Fälle  waren  gelegentlich  mit  zu  berücksichtigen,  eine  zusammen- 
hängende systematische  Verfolgung  derartiger  Gebilde  erwies  sich  als  un- 
fruchtbar; sie  können  nur  als  Ausnahme  gelten.  Vollzog  sich  in  diesen 
Fällen  die  Entwicklung  des  Vierzeilers  ohne  rechten  Inhalt,  so  blieb 
andrerseits,  wie  in  den  gleich  zu  erörternden  Zweizeilern,  die  Form  rudi- 
mentär. 


182 

«vorgebildet;  z.  B.   in  dem  alten  Hexameter:    Sunt  tria  dampna 
domus:   imber,    mala   femina,    fumus^),    oder  in  dem  Trimeter: 

icup  xai  bdXdatJOL  xal  7uv^  xaxoL  tpfa'). 

Dem  Hexameter,  der  ja  auch  durch  die  Caesur  in  zwei  Hälfton 
zerfällt,  entspricht  mehr  die  Langzeile,  der  Zweizeiler,  das  Reim- 
paar ;  nicht  selten  lassen  die  dem  Reimpaar  entsprechenden  Lang- 
zeilen Ansätze  zum  Parallelismus  erkennen.  Eine  ganze  Reihe 
von  zweizeiligen  Sprüchen  der  Bescheidenheit,  des  Welschen 
Gastes,  des  Renners  u.  a.,  wie: 

H6chvart,  gitecheit  unde  nit 

diu  habent  noch  vaste  ir  ersten  strit 

oder: 

Vliegen,  vlöhe,  des  tiuvels  nit 
mUent  die  liute  zaller  r.it^) 

bestehen  aus  einer  Verbindung  mehrerer  Begriffe.  Man  ist  in  der 
Bescheidenheit  schon  darauf  aufmerksam  geworden  und  hat  ihr 
Verhältnis  zum  Priamel  zu  bestimmen  gesucht.  Hermann  Paul 
war  geneigt,  sie  geradezu  als  abgekürzte  Priameln  zu  betrachten  *). 
Aber  da  Belege  für  Priamel-Formen  in  der  volksmäßigen  Dichtung 
der  älteren  Zeit  selten  sind,  empfiehlt  es  sich  grundsätzlich  nicht, 
mit  der  Ansetzung  solcher  unerwiesener,  sogar  reicherer  Formen 
zu  operieren.  Dazu  kommt  noch:  Eine  mittelniederländische 
Paraphrase  des  oben  angeführten  Zweizeilers  (Freidank  146,1,2) 


»)  MSD3  XXVII  232.    Handschrift  P  329b  hat  daraus  einen  Vierzeiler 

gemacht : 

Dreu  ding  treibt  den  man  aus 

Yon  haim  aus  sein  selber  haus: 

der  regen,  ruckch  und  an  härbs  weib. 

man  sol  si  pessem  an  irm  leib. 

Vgl.  Renner  20  291  ff.  Vintler,  Plumen  der  Tugent,  767  ff.  Wiggert, 
Zwejtes  Scherflein  zur  Förderung  der  Kenntniß  älterer  deutscher  Mundarten 
und  Schriften.  Magdeburg  1836.  S.  15,  Nr.  59.  Meijer,  Oude  nederlandsche 
spreuken  S.  96.    Köhler,  Kleinere  Schriften  2,  127. 

»)  Stobaeus  I,  8. 

3)  Fr  ei  dank  28, 19.  146, 1.  Man  sehe  übrigens  in  dieser  Zusammen- 
stellung nicht  etwa  barocken  germanischen  Humor;  die  Bemerkung  ist  pa- 
tristischen  Ursprungs.  Loewer,  Patristische  Quellenstudien  zu  Freidanks 
Bescheidenheit  S.  8. 

*•)  Über   die   ursprüngliche   Anordnung  von  Freidanks   Bescheidenheit 
111.    Seine  Liste  ließe  sich  noch  ergänzen  z.  B.  durch  39,  22.  29,  6.  141, 1. 


183 


ist  viel  weniger  priamelhaft  geraten,  als  dieser  selbst^);  aas  diesen 
beiden  Zeugnissen  auf  Grund  der  patristlschen  Quelle  eine  Urform 
des  erschlossenen  Priamels  zu  rekonstruieren,  ist  nicht  möglich. 
Außerdem  stehen  jene  meist  dreigliederigen  Verbindungen  der 
gewöhnlichen  Rede  zu  nahe,  um  bestimmte  Priamelform  erkennen 
zu  lassen^).  Aus  kürzeren  Sprüchen  über  die  ,gitikeit'  der 
Pfaflfen,  wie  Renner  2734  f.,  21403f,  831  flf.,  entwickelte  sich  die 
Inschrift  des  Weißturmtors  zu  Straßburg.  Einen  Zweizeiler, 
der  den  Vierzeiler  in  sich  enthält,  bietet  die  Wiener  Handschrift 
P  331a: 

Klaine  vischel,  schmaleu  tischel,  engeu  stübel: 
Daz  zimt  an  edeln  fUrsten  übel. 

Das  von  Paul  vorausgesetzte  umgekehrte  Verfahren  aber  ist  an- 
scheinend ohne  Beispiel.  Steiermärkische  Volkssprüche  von  heute 
sind  u.  a.  auf  der  Stufe  zweizeiliger  Verbindung  stehen  geblieben  ^), 
z.  B. 

Ochsen,  Roß  und  Leut, 

Viecher  solcher  Art  gibts  alle  Zeit. 

Prügel,  Watschen  und  Stoß, 
Auf  Kopf,  Buckel  und  Gsäß. 

Priamelhafte  Dreizeiler  fehlen  nicht,  besonders  im  Sprich- 
wort^), sind  jedoch  keine  organische  allgemein  maßgebliche  Bil- 
dungen wie  etwa  die  entsprechenden  italienischen  Formen  des 
Ritornells  und  der  Terzine.  In  Botes  Koker  entstehen  sie  durch 
die  Reimbrechung  ^) ;  im  Sprichwort  hat  vielleicht  das  Verfahren 
des  Dreireims  eingewirkt.  Die  besten  scheinen  Variationen  des 
Vierzeilers  zu  sein,  ebenso  wie  die  genannten  italienischen  Formen 
aus  den  Vierzeilern  entstanden  sind.  Wieder  kann  die  Handschrift 
P  (332  a)  eine  entwicklungsgeschichtlich  lehrreiche  Form  des  Drei- 
zeilers  liefern. 


*)  Saringar,  Mnl.  Eijmspreuken  uit  een  oud  Brusselsch  Handschrift 
Nr.  19.  Handelingen  en  Mededelingen  van  de  Maatschappij  der  Nederland- 
sche  Letterkunde  te  Leiden,  1886,  S.  221. 

')  Vergl.  Weisheit  und  Witz  in  altdeutschen  Reimen  und  Sprüchen. 
Berlin   1881.   S.  11,  15,  27,  33,  34—37,  47,  50,  54,  55,  56,  57. 

')  Schlossar,  Deutsche  Volkslieder  aus  Steiermark  S.  386. 

*)  z.  B.  Weisheit  und  Witz  S.  17,  18,  23.  Wander  I  473,  134;  II  220, 
78  u.  V.  a. 

5)  z.  B.  S.  316  f.,  330  f. 


184 

Pinissen  mos  und  magreu  ros 

und  praun  fud  an  weissen  peichen: 

die  dreu  solt  niemand  scheichen. 

Beim  und  Verbindung  der  Satzteile  im  ersten  Vers  verraten  die 
Bestimmung  als  Vierzeiler.  Binnenreim  kennt  das  Schnaderhüpfel 
wohP).  Zwischen  Zwei-  und  Dreizeiler  schwankt  eine  nieder- 
deutsche Inschrift  auf  der  Schelle,  die  in  den  Sitzungen  der 
zoologischen  Sektion  des  Vereins  für  Naturkunde  in  Münster  be- 
nutzt wird: 

En  Voß  de  löpp,  en  Worm  de  krüpp, 
doch  en  vernünftig  Mensch  de  süpp*). 

Individuell  scheint  Verwendung  des  Dreizeilers  z.  B.  bei  Meister 
Altswert  (8,  22  flF.,  67,  21  ff.,  Keller),  in  Brants  Mottoversen ')  und 
bei  Logau  z.  B.  429,  140: 

Schlechte  Kunst  ist  Krieg  erwecken ; 
Schwere  Last  ist  Krieg  erstrecken; 
Große  Kunst  ist  Krieg  erstecken. ' 

Beliebt  ist  der  Dreizeiler,  aber  meist  nicht  priamelhaft  bei  Kirch- 
hoff. Da  kann  schon  lateinische  oder  französische  Triadenform 
eingewirkt  haben.  Eine  systematische  Verfolgung  der  Dreizeiler 
erwies  sich  für  unsre  Zwecke  vorläufig  als  nicht  lohnend. 

Ebenso  erwächst  gelegentlich  durch  Hinzufügung  einer  be- 
sonders aktuellen  Zeile  wohl  ein  Fun  fz ei  1er  aus  dem  Vierzeiler, 
wie  wir  ihn  oben  aus  der  niederdeutschen  Erweiterung  der  Straß- 
burger Inschrift  von  1418  kennen  lernten.  Ähnliches  Schwanken 
in  gelegentlich  willkürlichem  Bau  der  Strophe  bestätigt  alle  Volks- 
dichtung, so  u.  a.  die  nordische  Volkslyrik  ^),  das  Ältßechische  ^), 
die  Villota^)  und  das  Schnaderhüpfel,  in  dem  als  Ausnahme  2  bis 
11  Olieder  nicht  ausgeschlossen  sind. 


*)  Grasberger,  Die  Naturgeschichte  des  Schnaderhüpfels  S.  36. 
Uerrmann  Welcker,  Nord  und  Süd  10,346.  Brenner,  Über  den  Versbau 
der  Schnaderhüpfel  S.  2  ff.    Im  allgemeinen  Wolf,  Über  die  Lais  S.  166  ff. 

«)  Landois,  Frans  Essink  2«,  39. 

3)  Dazu  Zarncke  S.  288. 

*)  Steffen,  Enstrofig  nordisk  folklyrik  S.  84,  113. 

»)  Wiener  Sitzungsberichte  39, 2,  658  f. 

')  Somborn,  Die  Villota.    Heidelberg  1901  S.  75. 


185 


Zweizeiler: 


Dreizeiler : 


Fünfzeiler: 


Sechszeiler: 


Neunzeiler: 


Elfzeiler: 


Mei  Tänzerin  is  a  lange  Geign,  . 
Brauch  a  Later  zum  aufe  stcign*). 

Sonst  gfreit  roi  nix, 

Als  mei  Schnupftabakbüchs, 

A  schönt  Mensch  und  an  Rosenkranz'^). 

Nix  mehr  Bergsteign, 

Nix  mehr  fenstern, 

Nix  Jagerbue  sein. 

Und  mei  Lehn  ghert  in  Kaisar, 

Mei  Herz,  das  ghert  dein  3). 

Nix  mehr  Bergsteign, 

Nix  mehr  Fensterreibn, 

Nix  mehr  Jagerbue  sein , 

Und  der  Kopf  khert  in  Kaiser, 

Und  das  Herzl  mei  Diendl, 

Und  das  khert  dein*}. 

Und  ba  dr  ersten  Hüttn 
Hab  i  gwollt  Hörwig   bittn, 
Is  mir  die  Sendrin   zschlecht; 
Und  ba  dr  zweiten  Hüttu 
Is  mr  dr  Weg  viel  zschlecht; 
Und  ba  dr  drittn  Hüttn 
War  mir  die  Sendrin  recht: 
Is  der  Jager  drin 
Mit  seine  Knecht^). 

Wo  die  Sun  aufgeht, 

Und  ka  Nebel  steht. 

Und  die  Gamslan  in  der  Heh  umgehn, 

Schon  in  der  Früeh, 

Geh  i  der  hohen  Alma  zue  , 

Bei  der  Schwagrin  kehr  i  ein. 

Wann  i  af  die  Alma  geh, 

Was  i  schon  auch, 

Und  die  Schwagrin  gibt  kan  Rueh, 


»)  Pogatschnigg  und  Herrmann  P,  209,  Nr.  1015. 
»)  2, 51,  Nr.  200. 
3)  2,  66,  107.     1,  220,  225  u.  ö. 

*)  2,  66,  Nr.  272.    Vgl.  aus  dem  ersten  Teil  Nr.  391,  396,  695,  729» 
861,  869. 

»)  a.  a.  0.     1»,  231.  Nr.  1113, 


186 

Sie  kennt  mi  schon  von  weiten, 

Grueß  di  Gott,  sagt  sie,  mei  liaber  Bue*). 

Aber  das  sind  alles  Beipiele,  die  individuelle  Erklärung  verlangen 
und  als  Ausnahmen  die  Regel  der  Vierzeiler  nur  bestätigen. 

Dem  Zwei-  und  Dreizeiler  gegenüber  stellt  der  Vierzeiler 
ungefähr  das  Minimum  dessen  dar,  wa*s  ein  zu  völlig  ausgebildeten 
Gliedern  entwickelter  Parallelismus  des  Priamels  an  Bewegungs- 
freiheit erfordert.  Er  ist  zugleich  eine  der  Naturformen  stro- 
phischer Poesie,  international,  uralt,  die  Hauptform  volkstümlicher 
Improvisation  und  bis  heute  auch  die  eigentliche  volksmäßige 
Priamelform.  ünsre  Aesthetiken  und  Poetiken  kennen  ihn  nicht, 
unsre  Literaturgeschichten  behandeln  ihn  höchstens  als  Stiefkind 
oder  Bastard  der  Musen  ^),  eine  umfassende  eindringende  wissen- 
schaftliche Behandlung  ist  in  Deutschland  nie  versucht.  Ist  es 
ein  Glück  für  dieses  Naturkind  der  Poesie,  daß  man  es  bis  in 
die  neueste  Zeit  nicht  kennen  wollte,  daß  es  unbeachtet  in  freier 
Luft  ohne  die  oft  schädliche  Pflege  zweifelhafter  Gönnerschaft 
gedieh?  Warum  ist  man  so  spät  auf  den  Vierzeiler  aufmerksam 
geworden  ?  Hans  Grasberger  antwortet  für  den  alpinen  Vierzeiler: 
„Das  Schnaderhüpfel  mußte  so  lange  auf  den  literarischen  Kredit- 
brief warten,  weil  es  so  herzlich  ungebildet  ist,  weil  es  nicht 
lesen  und  schreiben  gelernt  hat.  Weil  es  nicht  rechtzeitig  in  die 
Schule  gegangen,  konnte  es  sich  weder  selbst  literarisch  vertreten, 
noch  war  es  geschickt  genug,  einen  tüchtigen  Anwalt  für  seine 
Sache  zu  interessieren.  Eis  mußte  ein  touristisches  Zeitalter 
kommen,  auf  daß  das  Schnaderhüpfel  in  den  Bergen  aufgesucht 
und  von  da  in  die  Städte  und  Studierstuben  des  Flachlandes 
hinausgetragen  wurde,  auf  daß  dessen  Einverleibung  in  die  Volks- 
literatur sich  vollzöge"  ^).  Bis  dahin  fristete  der  alpine  Vierzeiler 
sein  Leben  unbeachtet  oder  in  den  entlegensten  literarischen 
Winkeln  als  Inschrift  auf  buntgemalten  Eiern,  als  Sinnspruch,  den 
das  Mädchen  in  das  für  den  Burschen  bestimmte  Liebestüchlein 
stickte,  den  man  zu  Papier  gebracht  heimlich  an  die  Häuser  Miß- 


1)  a.  a.  0.  2, 206.   Nr.  634. 

')  „Das  Gelegenheitsgedicht,  die  erste  und  ächteste  aller  Dichtarten, 
ward  verächtlich  auf  einen  Grad,  daß  die  Nation  noch  jetzt  nicht  zu  einem 
Begriff  des  hohen  Wertes  desselben  gelangen  kann",  sagte  Goethe. 

3)  Die  Naturgeschichte  des  Schnaderhüpfels  S.  17. 


187 

liebiger  befestigte ;  und  erblickte  er  einmal  gedruckt  das  Licht  der 
literarischen  Welt,  so  erschien  er  mit  dem  ägyptischen  Traumbuch 
gedruckt  in  diesem  Jahre  auf  grobem  Papier  in  Gebetbuchlettern  ^). 
Heute  vermehrt  man  den  Inhalt  der  Büchlein  mit  lustigen  Liedern, 
dem  Wiener  Walzer,  der  Wacht  am  Rhein,  Ännchen  von  Tharau, 
und  dergleichen  und  wählt  Titel  wie  „Oberländler-  und  neueste 
Volks- Liedin.  österreichische  Gsangln  und  Walzer  nebst  Gesängen 
aus  den  Alpenscenen  sUetzte  Fensterl  und  drei  Jahrin  nach  dem 
letzten  Pensterln*)". 

Dem  Entdecker  des  deutschen  Volksliedes  waren  die  Bund- 
gesänge des  Landvolks  und  das  Tanzmäßige  des  Gesanges,  die 
Lieder  des  Volkes  auf  Straßen  und  Gassen  und  Fischmärkten, 
nicht  entgangen.  „Nur  wer  ist,  der  sie  sammle?"  fragte  Herder. 
—  „  Der  Best  der  altern,  der  wahren  Volksstücke  mag  mit  der  so- 
genannten täglich  verbreiteteren  Kultur  ganz  untergehen,  wie 
schon  solche  Schätze  untergegangen  sind:  wir  haben  ja  Metaphysik 
und  Dogmatik  und  Akten  —  und  träumen  ruhig  hin!"^) 

Im  einzelnen  ist  nun  bis  heute  schon  mancherlei  für  die  Kennt- 
nis des  Vierzeilers  getan.  Anton  Benk  hat  jüngst  aus  Schnader- 
hüpfeln  und  verbindendem  Text  sogar  einen  Volksroman  „Von 
der  Feirtigschuel  bis  zur  Hoachzetroas"  (Innsbruck  1899)  gemacht*). 
W.  H.  Biehl  sprach  in  seinem  Buche  von  der  deutschen  Arbeit 
goldene  Worte  über  diese  „durch  Zahl  und  Kraft  wichtigen  Lieder", 
die  einen  von  dem  größten  Teil  der  Nation  längst  überlebten 
Urzustand  wiederspiegelnd,  „wie  aus  uralter  Zeit  von  den  stillen 
Bergeshalden  zu  uns  herübertönen"  ^),  und  untersuchte  ihre  kultur- 


1)  Z.  f.  Volkskunde  9, 436  f.  Grasberger  S.  3.  Wolfram,  Nassauische 
Volkslieder.    Berlin  1894.  S.  16  f. 

^)  München  o.  J.  Verlag  von  Ph.  Höpfner.  Auch  bei  K.  Werkmeister 
in  Miesbach  erscheinen  ähnliche  Sammlungen. 

3)  Suphan  5,  188  f. 

*)  Bielenstein  verwertete  die  lettischen  Vierzeiler  zu  kulturgeschicht- 
lichen Untersuchungen. 

5)  Das  klingt  in  Stiel ers  herrlichem  Vers  nach: 

Denn  wie  die  Welt  sich  wandeln  mag, 
Rastlos  in  Wehen  und  Streben: 
Bergvolk  und  grüne  Bergeswelt, 
Sie  haben  ewiges  Lehen. 

K.  Stieler,  Hochlandslieder.    Stuttgart  18848.    S.  192. 


188 


geschichtlichen  VoranssetzuDgen  ^).  Die  allmählich  immer  zahl- 
reicheren Sammlungen  gestatteten  schon  verdienstliche,  oft  über- 
raschende Ausblicke  eröffnende  Untersuchungen,  nachdem  seit 
dem  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  Forscher  und  Nachdichter  sich 
um  das  kleine  poetische  Gebilde  bemüht  hatten.  Schmeller  er- 
kannte den  lyrischen  Vierzeiler  als  Tanzlied  ^)  und  zog  schon  aus« 
ländische  Improvisationen  zum  Vergleich  heran.  Sc  her  er  glaubte 
1876  noch  ein  rechtfertigendes,  entschuldigendes  V7ort  hinzufugen 
zu  müssen,  als  er  eine  vergleichende  Poetik  verlangte  und  den 
Schi-king  wie  die  Schnaderhüpfel  heranzogt).  De  Gruyter  berück- 
sichtigte beim  Tägelied  den  Vierzeiler  ausgiebig,  und  sein  Becen- 
sent  Boethe  betont  dessen  Wichtigkeit*). '  Im  Jahre  1882  wies 
Gustav  Meyer  auf  die  indischen  Vierzeiler  hin,  1885  gab  er  seine 
Studien  über  das  Schnaderhüpfel  heraus^).  In  demselben  Jahre 
veröffentlichte  B.  M.  Meyer  Studien  über  unsre  älteste  Lyrik  ^), 
die  sich  durch  umsichtige  Beachtung  auch  dieses  Zweiges  der 
Volkspoesie  auszeichnen,  für  den  freilich  Jeanroy  kein  rechtes 
Verständnis  haben  konnte ')  unerschöpflich  an  vorzüglichen  Beob- 
achtungen   sind    die    Volksdichtung   betreffenden    Abschnitte    des 


>)  Die  deutsche  Arbeit.     2.  Abdruck.    Stuttgart  1862.    S.  131  f. 

»)  vgl.  Weinhold  zu  Kellers  Fsp.    Nachlese  S.  342. 

3)  Kleine  Schriften  hg.  von  Burdach  1^701. 

*)  Anzeiger  16,75. 

»)  Essays  und  Studien  1,  332  ff.    Dazu  2, 145  ff. 

•)  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum  29, 121  ff. 

^)  Les  origines  de  la  poesie  lyrique  S.  280.  Auch  Schlossar  stimme 
ich  nicht  bei,  wenn  er  die  Gattung  der  Schnaderhüpfel  nur  zum  Teil  zur 
eigentlichen  Volkspoesie  gehören  lassen  will.  Deutsche  Volkslieder  aus 
Steiermark  S.  X.  XXIX.  Unterschätzt  werden  m.  E.  die  Vierzeiler  von 
Berger,  Nord  und  Süd  68.  S.  85:  „Indessen,  wer  jemals  solchen  Im- 
provisationen beigewohnt  oder  die  einschlägigen  Sammlungen  solcher  Vier- 
zeiler durchblättert  hat,  der  weiß,  daß  hier  die  poetische  Begabung  überhaupt 
nicht  in  Frage  kommt:  der  formelhafte  Rahmen  ist  gegeben  und  wird  je 
nach  Bedürfnis  verschieden  ausgefüllt,  Varianten  ergeben  sich  ganz  von 
selbst.  Diese  einfachste  Art  der  Gelegenheitsreimerei,  unseren  Gesellschafts- 
spielen vergleichbar,  ist  völlig  entwickelungslos;  und  es  ist  schwer 
vorzustellen,  daß  das  Schnadahüpfl  eines  Tiroler  Burschen  von  heute  auch 
nur  eine  Linie  höher  stehen  sollte,  als  jene  Neckverse  .  .  .  .,  wie  sie  ...  . 
Ausonius  ....  hörte".  Daß  die  Vierzeiler  nicht  entwicklunglos,  sondern 
entwicklungsfähig  sind,  daß  sie  das  Ferment  für  Weiterbildungen  in  der 
Lyrik  und  Didaktik  geliefert  haben,  wird  auch  hier  zu  zeigen  versucht. 


189 

Sammelwerkes  „Die  österreichisch-UDgarische  Monarchie  in  Wort 
und  Bild".  Wie  reich  und  voll  immer  noch  der  Quell  dieser 
Dichtung  sprudelt  und  wie  alt  zum  Teil  ihre  Wendungen  sind, 
betonte  in  einem  schönen  Aufsatz  über  das  deutsche  Volkslied  in 
Österreich  Hauffen^).  E.  H.  Meyers  Deutsche  Volkskunde  ge- 
denkt (S.  315  ff.)  in  feinsinniger  Behandlung  der  Volksdichtung 
auch  der  Schnaderhüpfel  und  hebt  im  Anschluß  an  Hauffen  her- 
vor, daß  die  vierte  Zeile  gern  die  Pointe  birgt. 

Zahlreiche  Anregungen  zur  weiteren  Würdigung  der  lange 
verkannten  Gattung  boten  Kunstdichtung  und  Spezialliteratur. 
Bekannt  ist,  was  Heinrich  Heine  über  sein  Verhältnis  zu  den 
kurzen  österreichischen  Tanzreimen  selbst  gestanden  hat');  bekannt 
ist  Wilhelm  Müllers  Verhältnis  zum  Volksreim ^).  Hatten  doch 
Goethe,  Herder  und  die  Herausgeber  des  Wunderhorns  sich  der 
Pflege  des  alpinen  Vierzeilers  nicht  versagt.  Der  Einfluß  der 
Schnaderhüpfelweisen  auf  die  Musikübung  von  unseren  Klassikern 
bis  znr  Gegenwart  verdient  eine  besondere  musikwissenschaftliche 
Behandlung.  Böhme  glaubte  im  Schnaderhüpfel  die  älteste  Form 
aller  Tanzlieder  zu  finden^),  ohne  zu  wissen,  daß  es  noch  primi- 
tiveren Tanz  gibt^).  Einen  künstlich  schiefen  Gegensatz  konstruierte 
Friedrich  Hofmann,  als  er  das  Schnaderhüpfel  zum  würdigsten 
Seitenstück  zu  den  Märchen  des  deutschen  Nordens  machte^).  Den 
Versbau  der  Schnaderhüpfel  untersuchten  Hermann  Welcker  und 
Oskar  Brenner.  Was  Gummere  in  seinen  Beginnings  of  Poetry 
(New- York  1901.  S.  405  ff.)  als  a  study  of  the  schnaderhüpfl  gibt, 
ist  bis  auf  die  problematische  Verwendung,  die  er  von  dem  Vier- 


^)  Zs.  f.  Volkskunde  4,  5  ff.  Vgl.  Piger,  Das  Schnaderhtipfl  in  der 
Iglauer  Sprachinsel.     Zeitschrift  für  österreichische  Volkskunde  4,  9  ff. 

3)  Strodtmann,  Heines  Leben  1,  234.  Briefe  1,  273 ff.  Steffen, 
Svenska  landsmälen  XVI  1,219.  Philip  Schuyler  Allen,  Studies  in  popu- 
lär poetrj.  Chicago  1902.  S.  13  ff.  des  Sonderabdrucks.  Es  würde  sich 
empfehlen,  auch  bei  Ueine  mehr  Gewicht  auf  den  Vierzeiler  als  auf  das 
Schnaderhüpfel  zu  legen. 

3)  Journal  of  Germanic  Philology  3, 38  f.  83  ff.  90. 

^)  Geschichte  des  Tanzes  1,  238. 

*)  Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus  S.  254  ff.  Preuß  im  Archiv  für 
Anthropologie  29  (N.  F.  1),  165  ff.    Scherer,  Kleine  Schriften  1,  707. 

^)  Frommanns  Mundarten  3,  154, 


1 


190 

zeiler  macht,  nicht  selbständig;  an  Irrtümern  fehlt  es  nichts« 
Auch  Beuschel  hat  in  seinen  volkskundlichen  Streifzügen  ein 
Kapitel  über  das  Schnaderhüpfel,  wesentlich  ihm  Erreichbares 
referierend^).  Stowasser  dichtete  Schnaderhüpfeln  stilgerecht  ins 
Lateinische  und  Griechische  um'). 

Wichtiger  als  Friedrich  Hofmanns  Versuche,  Übersetzungen 
der  Schnaderhüpfel  durch  sein  Quäckbrunnle  in  Mitteldeutschland 
einzuführen^),  war  Dungers  Nachweis,  daß  sie  dort  immer  heimisch 
gewesen.  Während  E.  H.  Meyer  das  Schnaderhüpfel  aus  dem 
westlichen  Mitteldeutschland  und  Norddeutschland  grundsätzlich 
ausschloß,  weist  Dunger  in  der  letzten  Behandlung  der  sächsischen 
Volksdichtung^)  darauf  hin,  daß  solche  Vierzeiler  fast  in  allen 
Gegenden  Deutschlands  noch  im  Volksmunde  leben  ^).  Die  erste 
umfassende  Untersuchung  der  Vierzeiler  eines  bestimmten  Gebietes 
lieferte  Richard  Steffen,-  und  zwar  für  die  nordische  Volkslyrik. 
Enstrofig  nordisk  folklyrik  i  jämforande  framställning.  Svenska 
landsmälen  XVI  1.  Stockholm  1898.  Trotzdem  der  nordische 
Gelehrte  die  deutsche  Fachliteratur  nicht  ausgeschöpft  hat,  bleibt 
seiner  Arbeit  ein  hohes  Verdienst.     Hier  ist  zum  ersten  Male  der 


*)  S.  144  nennt  G.  the  schnaderhnpfl  a  thing  of  festal  origin,  was 
doch  höchstens  vielleicht  für  die  Form  des  Vierzeilers  nach  der  Tanztheorie 
möglich  wäre.  S.  411  meint  er,  in  Übereinstimmung  mit  seiner  Überzeugung, 
daß  echte  Volksdichtung  nicht  mehr  lebt:  „a  sehn,  cannot  be  imitated'': 
gewiß,  streng  genommen  kehrt  nichts  völlig  gleich  wieder,  aber  nichts  ist 
vielleicht  mehr  nachgeahmt  als  die  Schnaderhüpfel-Poesie. 

2)  Aber  Strophe  5  des  Volkslieds  Der  rote  Apfel  (ühland  Nr.  50)  soll 
eine  Priamel  sein?  S.  146. 

3)  Griechische  Schnaderhüpfeln.     Wien  und  Leipzig  1903. 

*)  Man  hat  sie  ebenfalls  ins  Ungarische  übersetzt.  Snädahüpfelck: 
Euphorien  5,  630.  Doch  gibt  es  auch  dort  eigene  Improvisationen  der  Art. 
Aigner,  Ungarische  Volkslieder  S.  XXVIII.  Schon  Gustav  Meyer  bedauerte, 
daß  Aigner  sie  nicht  mitgeteilt  hat.  Baöka  pesmarica  (Das  Liederbuch  der 
Baöka.  Vollständigste  Sammlung  baökaer  und  banater  Hochzeitlieder, 
Schnaderhnpferln,  die  man  am  liebsten  singt).  Neusatz  1898:  bei  Krauß  in 
den  Romanischen  Forschungen  16,  1,  215. 

5)  Wuttke,  Sächsische  Volkskunde.  Dresden  1900.  S.  247.  VgL  Strack, 
Hessische  Blätter  für  Volkskunde  1,57. 

*)  Hruschka  und  Toischer  bestreiten  nicht  mit  Unrecht  die  Ubiqui- 
tät  des  Schnaderhüpfels;  aber  das  trifft  den  Vierzeiler  in  unserm  weiteren 
Sinne  nicht.    Deutsche  Volkslieder  aus  Böhmen.    Prag  1891.    S.  XII, 


191 


typische  Entwicklungsgaog  vom  Tanzlied  zu  bloß  gesungener  und 
dann  gesprochener  Dichtung  systematisch  verfolgt^). 

Lange  war  man  geneigt,  die  Vierzeiler  als  Fragmente  längerer 
Gedichte  aufzufassen;  man  kehrte  also  das  Verhältnis  genau  um 
und  machte  sich  wunderliche  Vorstellungen,  um  den  fingierten 
Entwicklungsgang  zu  begreifen.  So  Gräter.  Die  Vierzeiler  sind  ihm 
„wahrscheinlich  in  derBegelnur  Anfänge  der  ursprünglichen  eigent- 
lichen Tanzlieder,  die  durch  die  Länge  der  Zelt  und  die  Gewohnheit, 
nur  einzelne  Verse  zum  Tanze  vorzusingen,  verloren  gegangen". 
Mone  schließt  aus  der  trümmerhaften  Kürze  auf  späte  Entstehung^). 
Weinhold  hat  nicht  anders  gedacht:  „Das  Liebeslied  hat  sich  in 
die  vierzeiligen  Gstanzeln  aufgelöst"^).  Indessen  hat  man  die 
Verbreitung  der  Vierzeiler  über  die  halbe  Welt  allmählich  kennen 
gelernt,  fand  sie  unter  anderen  wieder  in  der  Poesie  der  altaischen 
Tataren*),  der  Tungusen^),  der  Woljäken^),  in  den  französischen 
Caroles,  den  spanischen  Coplas,  den  portugiesischen  Cantigas, 
Versos,  Trovas,  Quadras,  Fadinhos  und  Fados,  der  friulanischen 
Villotta^),  den  Improvisationen  Graubündens  ®) ,  im  Distichon  der 
Neugriechen,  im  albanesischen  Beit,  im  Seigen  Vierzeiler  der 
Kroaten^),  in  den  Krokowiaken,  den  Penillions  in  Wales,  in  den 
slovenischeu  vize,  in  dem  metrischen  Gebilde,  das  der  Perser  tolgu, 
der  Busse  Schlüssellied,   der  Serbe  Kolo^®),    der  Litauer  dumka, 


*)  Gegen  kritiklose  Verallgemeinerung  wendet  sich  Kauffmann, 
Deutsche  Metrik  S.  9. 

')  Quellen  und  Forschungen  1, 163:  „Man  sieht  aus  den  österreichischen 
und  bayerischen  Volksliedern,  daß  sich  die  Lyrik  des  Volkes  zuletzt  in 
solche  kurze,  abgebrochene  Äußerungen  verliert.  Demnach  sind  sie  jung." 
M  0  n  e  s  Anzeiger  7,  244. 

3)  Mitteilungen  des  historischen  Vereins  für  Steiermark  9, 75.  Ebenso 
Adam  Wolf,  Volkslieder  aus  dem  Egerlande,  Eger  1869.  S.  IV.  „Die 
Trompete  hat  den  Dudelsack,  der  rasche  Neutanz  den  Dreischlag,  der  vier- 
zeilige  Gesang  die  alten  Balladen  und  Lieder  verdrängt '^. 

*)  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  u.  Sprachwissenschaft  4,  103. 

5)  Zeitschrift  für  Volkskunde  10,  243. 

ß)  Yrjö  Wichmann,  Wotjakische  Sprachproben  I,  S.  XVL  Journal 
de  la  Societe  Pinno-Ougrienne  XI.    Helsingfors  1893. 

')  Somborn,  Die  Villotta,  Heidelberg  1901. 

8)  Mones  Anzeiger  8,  380.     Gröbers  Grundriß  11^  222  f. 

9)  Z.  für  Volkskunde  4, 10.     KpuTTtöfSia  6,  295. 
«")  KpuiiT(£8ia  2,  284  flf.  5,  23  ff. 


192 


der  Lette  dseesma  ^)  der  Magyar  dana,  der  Lappe  joika  und  vaoleh 
Deont'),  in  den  malaiischen  Pantuns,  bei  den  Oallas,  in  den  Oe- 
dichtchen  des  Häla').  Vielfach  differenzierte  Benennungen  herrschen 
in  manchen  slavischen  Qebieten,  in  Kroatien  und  Slavonien  kolske, 
Beigenlieder,  polkoönice,  Hüpf  liedchen;  in  Serbien  nnd  Bosnien 
brojanice,  Zählverse^);  bei  den  Wenden  psezpöla,  Feldlieder,  reje, 
Tanzlieder,  swazbarske  spjewanja,  Hochzeitslieder,  wuzenenja, 
Bundgesänge,  stonanj^,  Bittlieder ^j;  bei  den  Kaschuben  bnttke- 
garde,  Stromerlieder*)  u.  s.  f.  Beich  entwickelt  und  bodenständig 
erscheinen  die  Liedchen  in  nordischer  Literatur,  als  stev  in  Nor- 
wegen, vivivaki  auf  Island,  lätar,  polskor,  hamburskor  u.  s.  w., 
näktergalstrofema  in  Schweden  und  Dänemark.  In  ganz  Süd- 
amerika sind  sie  als  Volksliedchen  verbreitet^);  auf  die  nordameri- 
kanischen limericks  hat  Philip  Schuyler  Allen  hingewiesen^);  die 
Beduinen  von  Tunis  und  Tripolis  pflegen  sie'),  wie  die  Beduinen 
und  Bauern  Palästinas  ^^).  Demnach  mußte  man  sich  endlich  ge- 
wöhnen, den  Vierzeiler  als  selbständige  uralte  Improvisations- 
dichtungy  als  das  echteste  der  Volkslieder  gelten  zu  lassen.  So 
geht  es  denn  auch  nicht  an,  die  Frage  nach  der  Herkunft  des 
Vierzeilers  zugunsten  eines  Volkes  zu  beantworten;  man  hatte 
schon  wieder  die  Kelten  als  Erfinder  des  Vierzeilers  ausersehen: 
er  ist  genieinsamer  Besitz  von  Naturvölkern  und  Nationen  höchster 
Kultur;  seine  Formen,  so  mannigfaltig  sie  sind,  beruhen  doch 
immer  auf  demselben  Schema.  Eine  umfassende  vergleichende 
Behandlung,  die  Oustav  Meyer  anregte,   wäre  in   ißv  Tat  eine 


1)  Vgl.  Z.  f.  Volkskunde  7,310.  Schelmenlieder.  Emil  Bielenstein, 
Wie  die  alten  Letten  gefreit  haben  S.  10  (Studien.  Riga  1896.  2). 

«)  G.  Meyer  1,  365  ff. 

3)  G.  Meyer  S.  365  ff. 

«)  KpuirrdSia  6,  295. 

^)  Haupt  nnd  Schmaler,  Volkslieder  der  Wenden  I.  11.  Grimma 
1841.     1843. 

^)  Tetzner,  Die  Slovinzen  und  Lebakaschuben  S.  235. 

^)  Bö  ekel,  Volkslieder  aus  Oberhessen  S.  CXV.  Vierzeiler  aus  dem 
brasilianischen  Staate  S.  Paulo:    Romanische  Forschungen  16,  137  ff. 

^)  Studies  in  populär  poetry  S.  14. 

^)  Stumme,  Tripolitanisch- Tunisische  Beduinenlieder.  Leipzig  1894. 
8.  4  ff. 

^)  Dal  man,  Palästinischer  Diwan.    Leipzig  1901. 


193 

schöne  Aufgabe.  Aber  wer  ist  ihr  gewachsen,  bevor  der  sprach- 
liche, poetische  und  musikalische  Charakter  eines  ungeheuren 
ethnographischen  Materials  sich  im  einzelnen  zuverlässig  feststellen 
läßt?  Zunächst  bleibt  nichts  anderes  übrig,  als  zweifellos  zu- 
sammenhängende Oebiete  vorsichtig  abzugrenzen  und  die  wirklich 
verwandten  Erscheinungen  zusammenzufassen.  Einzeluntersuchung 
wird  erst  nötwendige  Vorarbeiten  liefern  müssen. 

Wir  haben  es  hier  nicht  nur  nicht  mit  dem  internationalen 
Vierzeiler  zu  tun,  sondern  auch  streng  genommen  nicht  einmal 
mit  dem  rein  lyrischen  deutschen  Vierzeiler;  der  epigrammatische 
Vierzeiler  ist  es,  den  wir  hier  zu  untersuchen  haben,  und  auch 
wieder  nur  soweit  er  priamelhaft  ist.  Insofern  er  mit  dem  Vier- 
zeiler überhaupt,  oder  insofern  der  deutsche  mit  dem  germa- 
nischen u.  s.  w.  notwendig,  z.  B.  seiner  Form  nach,  zusammen- 
hängt, muß  die  Beschränkung  allerdings  durchbrochen  werden. 
So  erscheint  denn  das  hier  abgesteckte  Gebiet  winzig  im  Vergleich 
zu  seiner  unermeßlich  sich  ausdehnenden  Umgebung. 

Man  hat  sich  bisher  vorwiegend  mit  dem  eigentlich  lyrischen 
Vierzeiler  beschäftigt  und   den   viel   weiter   ausgreifenden,    aber 
musikalisch  minder  begabten  jüngeren  Bruder  des  Schnaderhüpfels, 
den    epigrammatischen    Vierzeiler   leicht   übersehen.      Daß 
einstrofige  Improvisation  satirisch  wird,  ließ  sich  nicht  verkennen. 
Richard  Steffen  sagt:    Det  ligger  nästan   i   sakens  natur,   att 
en  dikt  pä  fyra  rader  gärna  skall  fä   en   epigrammatisk   form^). 
Hanffen  bemerkte  in  seiner  trefflichen  Charakteristik  des  alpinen 
Vierzeilers,  daß  die  drei  ersten  Zeilen  des  Schnaderhüpfels  häufig 
das  gleiche  Eingangswort  haben,    während    die   vierte    die    über- 
raschende   Pointe    birgt,    was    den    Schnaderhüpfeln    einen   aus- 
gesprochen epigrammatischen  Charakter  verleiht.    „Die  deutschen 
Priameln  des  14.  und  15.  Jahrhunderts  kommen  ihnen  in  diesem 
Punkte  sehr   nahe^)."     Aber   wie    weit   man   noch   von   der  Er- 
kenntnis des  gnomischen,  auch  des  nicht  priamelhaften,  Vierzeilers 
entfernt  war,  zeigen  noch  jüngst  gefallene  Äußerungen  Leitzmanns 
und  Steffens.     „Vielleicht",    meint   der  Herausgeber  Gerhards 
von  Minden,  „steckt  auch  in  dem  streng  durchgeführten  Gesetz 

*)  S.  7.  Vergl.  Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus  S.  255  ff.     Gummere, 
Beginnings  of  poetry  S.  425. 

3)  a.  a.  0.  S.  15.     Grasberger  S.  54  f.    Reuschel  S.  117. 
Knling,  Priamel  13 


194 

der  Vierzeiligkeit  seiner  Moralen,  das  ich  sonst  nirgends*)  beob- 
achtet finde,  ein  volkstümlicher  Usus/  Sehr  glücklich  berichtigt 
Steffen  zunächst  Gustav  Meyers  Ansicht  vom  Fehlen  der 
,,Schnaderhüpfel''  in  Norddeutschland  (S.  15)  und  scheint  zu 
ahnen,  daß  der  Name  Schnaderhüpfel  für  alle  hier  in  Betracht 
kommenden  Erscheinungen  unzulänglich  ist;  aber  sonderbar  klingt, 
was  er  gelegentlich  (S.  206)  über  den  gnomischen  Vierzeiler  in 
Deutschland  vorträgt.  Mit  Anknüpfung  an  mitgeteilte  nordische 
Beispiele  führt  er  aus:  Sädana  strofer  som  dessa  finnas  ock  i 
Tyskland.  Dar  frodades  i  synnerhet  under  1500  —  talet  en  s.  k. 
^spruchdichtung^,  som  korteligen  kan  karakteriseras  säsom  enstrofig 
diktning  av  didaktisk  eller  satiriskt  innehäll.  ütrycket  „sprach^ 
synes  nog  ocksä  hava  förekommit  om  längre  dikter^  men  ätminstone 
under  1500  —  talet  vara  dessa  „sprüche^  vanligen  enstrofiga. 
Dann  führt  er  je  zwei  Sprüche  aus  Seelmanns  Seimbüchlein 
und  Haltrichs  Deutschen  Inschriften  an.  Während  er  für  die 
einstrofige  nordische  Volkslyrik  mindestens  das  gleiche  Alter  wie 
das  der  Folkeviser  beansprucht,  täuscht  er  sich  sehr  inbetreff  des 
Alters  unsers  gnomischen  Vierzeilers,  den  er  ja  dann  auch  eben- 
sowenig wie  seine  Vorgänger  oder  die  jüngsten  Bearbeiter  deut- 
scher Vierzeilerliteratur,  von  der  rein  lyrischen  Strophe  unter- 
scheidet. 

Den  epigrammatischen  Improvisations- Vierzeiler  besitzen  heute 
alle  germanischen  Völker,  natürlich  auch  alle  deutschen  Stämme 
und  Landschaften:  nicht  alle  den  als  Tanzlied  gesungenen.  Mit 
Unrecht  hat  man  den  Vierzeiler  auf  die  süddeutschen  und  einige 
mitteldeutschen  Landschaften  beschränken  zu  müssen   geglaubt^). 


')  Der  Vierzeiler  ist  als  Eingangs-  und  Schlußvers  beliebt.  Nur 
einige  zufällige  Beispiele:  Seifried  Helbling  4,  1.  Renner  (B.  D.) 
S.  1.  (Wölfel,  Zs.  f.  d.  A.  28,  198.)  Fsp.  969.  Niederdeutsches  Reim- 
büchlein S.  1.  122.  Schumanns  Nachtbüchlein  S.  28.  31.  32.  37.  39.  42. 
54.  63.  216.  (Bolte).  Vcrgl.  die  französischen  Quatrains,  die  Vierzeiler  der 
Totentänze,  Brants,  Hans  Sachsens  u.  s.  f. 

3)  Gustav  Meyer,  Essays  I  364  f.  E.  H.  Meyer,  Volkskunde  S.  315. 
Sogar  für  Mitteldeutschland  war  man  geneigt,  schon  fremden  Import  an- 
zunehmen. Weimarisches  Jahrbuch  3,  326.  Hauffen  S.  12.  Wolfram 
Nassauische  Volkslieder  S.  16  f.  382  fi.  Gottschee  hat  zwar  keine  Schnader- 
hüpfel (Hauffen,  Die  deutsche  Sprachinsel  Gottschee.  Graz  1895.  S.  138), 
aber  wohl  den  Vierzeiler  (S.  129). 


195 

Alle  übrigen  Landschaften  kennen  ihn;  es  waltet  eben  nur  ein 
besonderer  Unterschied:  ein  ähnlicher  Unterschied,  wie  er  auch 
die  Geschichte  unserer  mittelalterlichen  Lyrik  und  Spruchdichtung 
beherrscht  hat.  In  Oberdeutschland  erhalten  sich  im  Mittelalter 
die  Traditionen  des  Minnesanges,  während  Mittel-  und  Nord- 
deutschland die  lehrhafte  Spruchdichtung  bevorzugt.  Burdach 
und  ßoethe  haben  diesen  fruchtbaren  Gesichtspunkt  hervor- 
gehoben *).  Der  Unterschied  beruht  nicht  nur  auf  Verschiedenheit 
der  Literaturströraungen,  sondern  auf  charakteristischer  Ver- 
schiedenheit der  deutschen  Stämme.  Den  Unterschied  des  physischen, 
sittlichen  und  poetischen  Charakters  in  Nord  und  Süd  liebte  Victor 
Hehn  zu  betonen^),  und  die  Volkskunde  liefert  den  Beweis  einer  bei 
den  einzelnen  Stämmen  recht  verschiedenen  musikalischen  und  all- 
gemein künstlerischen  Begabung^).  Nach  dem  Norden  zu  ändert 
sich  der  Ausdruck  individueller  musikalischer  Stimmung.  Der 
echte  Hochlandslaut  des  Jodlers  verkümmert  bereits  im  Mittel- 
gebirge, um  sich  in  der  norddeutschen  Tiefebene  höchstens  in 
einem  rohen  Einzelschrei  Luft  zu  machen^).  Der  Süden  liefert 
die  Menschen  einheitlicher,  voller,  harmonischer;  der  Norddeutsche 
hat  zuviel  kritisches  Scheidewasser  in  den  Adern.  Gewiß,  man 
singt  im  Norden  wie  im  Süden  ^);  aber  es  bezeichnet  beim  Tanz- 
lied doch  ein  Zurückdrängen  der  Subjektivität,  wenn  auf  den 
Färöer  und  bei  den  Dithmarsen  die  Tänze  durch  Balladengesang 
begleitet  wurden^).  Der  Süden  hat  das  improvisierende,  ganz 
individuelle  Tanzlied  bis  heute  bewahrt. 


*)  Burdach,  Reinmar  der  Alte  S.  134  ff.  Roethe,  Reinmar  von  Zweier 
S.  239  ff.  Jung,  Beiträge  zur  Geschichte  des  nord-  und  mitteldeutschen 
Minnegesanges.     Göttinger  Dissertation  1891. 

')  Gedanken  über  Goethe  S.  10  ff.  der  5.  Auflage.  Über  Goethes 
Hermann  und  Dorothea  S.  61. 

^)  Vierteljahrschrift  für  Musikwissenschaft  7,  444.  Die  norddeutschen 
Militarmusiker,  die  nach  Bayern  versetzt  wurden,  konnten  nicht  improvisieren 
und  ohne  Noten  spielen,  was  doch  dem  bayrischen  Musiker  ein  Leichtes  war. 

^)  E.  H.  Meyer,  Volkskunde  S.  317. 

*)  Die  ältesten  vlämischen  Verse  sind  Bruchstücke  eines  Tanzliedes 
(1173).    Niederdeutsches  Jahrbuch  10,  157. 

«)  Bö  ekel,  Volkslieder  aus  Oberhessen  S.  CXI  ff.  CXLV  ff.  „Be- 
merkenswert ist  auch  bei  germanischen  Völkern  von  Nord  nach  Süd  ein 
Schmelzen  der  starren  Balladenform,  ein  Zurücktreten  des  erzählenden  Elements 

13* 


194 


der  Vierzeiligkeit  seiner  Moralen,  das  ich  sonst  nirgends*)  beob- 
achtet finde,  ein  volkstümlicher  üsus.^  Sehr  glücklich  berichtigt 
Steffen  zunächst  Gustav  Meyers  Ansicht  vom  Fehlen  der 
,,Schnaderhüpfel^  in  Norddeutschland  (S.  15)  und  scheint  zu 
ahnen,  daß  der  Name  Schnaderhüpfel  für  alle  hier  in  Betracht 
kommenden  Erscheinungen  unzulänglich  ist;  aber  sonderbar  klingt, 
was  er  gelegentlich  (S.  206)  über  den  gnomischen  Vierzeiler  in 
Deutschland  vorträgt.  Mit  Anknüpfung  an  mitgeteilte  nordische 
Beispiele  führt  er  aus:  Sädana  strofer  som  dessa  finnas  ock  i 
Tyskland.  Dar  frodades  i  synnerhet  under  1500  —  talet  en  s.  k. 
^spruchdichtung^,  som  korteligen  kan  karakteriseras  säsom  enstrofig 
diktning  av  didaktisk  eller  satiriskt  innehält.  Utrycket  „spruch'' 
synes  nog  ocksä  hava  förekommit  om  längre  dikter^  men  ätminstone 
under  1500  —  talet  vara  dessa  „Sprüche"  vanligen  enstrofiga. 
Dann  führt  er  je  zwei  Sprüche  aus  Seelmanns  Seimbüchlein 
und  Haltrichs  Deutschen  Inschriften  an.  Während  er  für  die 
einstrofige  nordische  Volkslyrik  mindestens  das  gleiche  Alter  wie 
das  der  Folkeviser  beansprucht,  täuscht  er  sich  sehr  inbetreff  des 
Alters  unsers  gnomischen  Vierzeilers,  den  er  ja  dann  auch  eben- 
sowenig wie  seine  Vorgänger  oder  die  jüngsten  Bearbeiter  deut- 
scher Vierzeilerliteratur,  von  der  rein  lyrischen  Strophe  unter- 
scheidet. 

Den  epigrammatischen  Improvisations- Vierzeiler  besitzen  heute 
alle  germanischen  Völker,  natürlich  auch  alle  deutschen  Stämme 
und  Landschaften:  nicht  alle  den  als  Tanzlied  gesungenen.  Mit 
Unrecht  hat  man  den  Vierzeiler  auf  die  süddeutschen  und  einige 
mitteldeutschen  Landschaften  beschränken  zu  müssen   geglaubt^). 


')  Der  Vierzeiler  ist  als  Eingangs-  und  Schlußvers  beliebt.  Nur 
einige  zufällige  Beispiele:  Seifried  Helbling  4,  1.  Renner  (B.  D.) 
S.  1.  (Wölfel,  Zs.  f.  d.  A.  28,  198.)  Fsp.  969.  Niederdeutsches  Reim- 
büchlein S.  1.  122.  Schumanns  Nachtbüchlein  S.  28.  31.  32.  37.  39.  42. 
54.  63.  215.  (Bolte).  Vergl.  die  französischen  Quatrains,  die  Vierzeiler  der 
Totentänze,  Brants,  Hans  Sachsens  u.  s.  f. 

3)  Gustav  Meyer,  Essays  I  364  f.  E.  H.  Meyer,  Volkskunde  S.  315. 
Sogar  für  Mitteldeutschland  war  man  geneigt,  schon  fremden  Import  an- 
zunehmen. Weimarisches  Jahrbuch  3,  326.  Hauffen  S.  12.  Wolfram 
Nassauische  Volkslieder  S.  16  f.  382  fi.  Gottschee  hat  zwar  keine  Schnader- 
hüpfel (Hauffen,  Die  deutsche  Sprachinsel  Gottschee.  Graz  1895.  S.  138), 
aber  wohl  den  Vierzeiler  (S.  129). 


195 

Alle  übrigen  Landschaften  kennen  ihn;  es  waltet  eben  nur  ein 
besonderer  Unterschied:  ein  ähnlicher  Unterschied,  wie  er  auch 
die  Geschichte  unserer  mittelalterlichen  Lyrik  und  Spruchdichtung 
beherrscht  hat.  In  Oberdeutschland  erhalten  sich  im  Mittelalter 
die  Traditionen  des  Minnesanges,  während  Mittel-  und  Nord- 
deutschland die  lehrhafte  Spruchdichtung  bevorzugt.  Burdach 
und  Roethe  haben  diesen  fruchtbaren  Gesichtspunkt  hervor- 
gehoben^). Der  Unterschied  beruht  nicht  nur  auf  Verschiedenheit 
der  Literaturströraungen,  sondern  auf  charakteristischer  Ver- 
schiedenheit der  deutschen  Stämme.  Den  Unterschied  des  physischen, 
sittlichen  und  poetischen  Charakters  in  Nord  und  Süd  liebte  Victor 
Hehn  zu  betonen^),  und  die  Volkskunde  liefert  den  Beweis  einer  bei 
den  einzelnen  Stämmen  recht  verschiedenen  musikalischen  und  all- 
gemein künstlerischen  Begabung^).  Nach  dem  Norden  zu  ändert 
sich  der  Ausdruck  individueller  musikalischer  Stimmung.  Der 
echte  Hochlandslaut  des  Jodlers  verkümmert  bereits  im  Mittel- 
gebirge, um  sich  in  der  norddeutschen  Tiefebene  höchstens  in 
einem  rohen  Einzelschrei  Luft  zu  machen*).  Der  Süden  liefert 
die  Menschen  einheitlicher,  voller,  harmonischer;  der  Norddeutsche 
hat  zuviel  kritisches  Scheidewasser  in  den  Adern.  Gewiß,  man 
singt  im  Norden  wie  im  Süden  ^);  aber  es  bezeichnet  beim  Tanz- 
lied doch  ein  Zurückdrängen  der  Subjektivität,  wenn  auf  den 
Färöer  und  bei  den  Dithmarsen  die  Tänze  durch  Balladengesang 
begleitet  wurden^).  Der  Süden  hat  das  improvisierende,  ganz 
individuelle  Tanzlied  bis  heute  bewahrt. 


*)  Burdach,  Reinmar  der  Alte  S.  134  ff.  Roethe,  Reinmar  von  Zweter 
S.  239  ff.  Jung,  Beiträge  zur  Geschichte  des  nord-  und  mitteldeutschen 
Minnegesanges.     Göttinger  Dissertation  1891. 

^)  Gedanken  über  Goethe  S.  10  ff.  der  5.  Auflage.  Über  Goethes 
Hermann  und  Dorothea  S.  61. 

3)  Vierteljahrschrift  für  Musikwissenschaft  7,  444.  Die  norddeutschen 
Militärmusiker,  die  nach  Bayern  versetzt  wurden,  konnten  nicht  improvisieren 
und  ohne  Noten  spielen,  was  doch  dem  bayrischen  Musiker  ein  Leichtes  war. 

4)  E.  H.  Meyer,  Volkskunde  S.  317. 

*)  Die  ältesten  vlämischen  Verse  sind  Bruchstücke  eines  Tanzliedes 
(1173).    Niederdeutsches  Jahrbuch  10,  157. 

«)  Bö  ekel,  Volkslieder  aus  Oberhessen  S.  CXI  ff.  CXLV  ff.  „Be- 
merkenswert ist  auch  bei  germanischen  Völkern  von  Nord  nach  Süd  ein 
Schmelzen  der  starren  Balladenform,  ein  Zurücktreten  des  erzählenden  Elements 

13* 


196 

Dasselbe  läßt  sich  in  kleinerem  Bahmen  auf  dem  Weg  vom 
Gebirge  zum  Gestade  in  der  nordischen  Yolkslyrik  beobachten. 
„Liksom  den  tyska  schnaderbüpfeln  liar  sitt  egentligoste  hemland 
i  de  sydlige  alpländerna,  sä  harock  den  enstrofiga  lyriska  dikten 
pä  skandinaviskt  omräde  fätt  sin  rikaste  utveckling  i  ett  bärgland, 
Norge*).  So  hat  allerdings  der  vorwiegend  lyrische  Vierzeiler 
seine  Heimat  im  Gebirge;  das  Schnaderhüpfel  der  Alpenländer 
und  die  nordischen  Stevs  bezeugen  das.  Bei  den  deutschen 
Stämmen  der  Tiefebene  modificieren  sich  der  originelle  Tanz  und 
und  die  improvisierende  Gesangeslust:  der  Vierzeiler  gewinnt 
in  der  Bichtung  von  Süden  nach  Norden  an  epigrammatischem 
Charakter  und  verliert  an  Zusammenhang  mit  der  Musik ^).  Der 
lyrische  Vierzeiler  des  Nord-Ostens  wird  diesen  Sachverhalt  nicht 
trüben  können ;  er  ist  bei  schwäbischer  und  Salzburger  Kolonisation 
mit  gewandert,  wie  er  aucli  nach  Siebenbürgen  verschlagen  wurde. 
In  Nord-  und  Mitteldeutschland  geriet  schon  in  älterer  Zeit  auch 
die  künstlichere  Spruchdichtung,  „abgeschlossen  von  neuen  Zu- 
flüssen und  begünstigt  durch  die  lehrhaften  Neigungen  eines 
beschaulichen  Publikums,  in  ein  behagliches  Stagnieren,  bei  all 
ihrem  Reichtum  wurde  sie  verhältnismäßig  einseitig*)".  Die 
eigentliche  Stegreifdichtung  von  lyrischer  Grundstimmung  be- 
schränkt sich  in  der  Volksdichtung  mehr  auf  den  Süden,  im 
Norden  wird  die  Improvisation  mit  schwerfälligem  Ernst  und 
wohlmeinender  Pedanterie  reichlich  durchsetzt,  die  Mitte  hält, 
wie  wir  sehen  werden,  die  Nürnberger  Kunst. 

Wir  wollen  versuchen,  den  so  gewonnenen  Zusammenhang 
durch  einige  Beispiele  zu  befestigen,  indem  wir  für  die  Begründung 
des  allgemeinen  Unterschiedes  uns  auf  das  ganze  später  hier  vor- 
gelegte Spruchmaterial  beziehen.  Die  Verwandtschaft  des  mittel- 
deutschen Vierzeilers  mit  dem  süddeutschen  ist,   wenn  auch  ver- 


und  eine  Zunahme  der  leichtbeschwingten  Lieder."     S.  CXLVI.     Spottlieder 
auf  den  Färöer  zum  Tanz  gesungen.    Böhme,  Geschichte  des  Tanzes  1,  233. 

>)  Steffen,  Landsmälen  XVI  1,  28. 

')  So  erklärt  sich  auch  im  Priamelvierzeiler  die  regelmäßige  Vers- 
fnllung  nach  dem  Vorbild  der  gesprochenen  Dichtung.  Wolf,  Über  die 
Lais  16  f.  Im  Schnaderhüpfel  ist  der  vierhebige  Vers  nicht  selten;  z.  B. 
Meier,  Schwäbische  Volkslieder  S  93.  Nr.  239. 

3)  Roethe  S.  239  f. 


197 


schieden  beurteilt,  längst  hinreichend  festgestellt.  Aber  auch  Nord- 
deutschland und  selbst  die  Niederlande  nehmen  teil  an  dem 
gemeinschaftlichen  Besitz;  nur  muß  man  nicht  gerade  überall 
„Schnaderhüpfel"  suchen.  Viele  der  in  Mitteldeutschland  gesammelten 
Vierzeiler  sind  in  niederdeutschem  Gebiet  verbreitet.  Ihre  Menge  und 
Originalität,  ihre  Verwendung  im  Kinderspruch,  Segen,  Volksreim 
aller  Art  zeugt  hinreichend  gegen  fremden  Import.  Selbst  die 
eigentlich  lyrischen  Vierzeiler,  die  nach  Norden  zu  immer  seltener 
werden,  fehlen  keineswegs.  In  seiner  Sammlung  der  westfälischen 
Volkslieder  hat  Reif  f  erscheid  schon  auf  solche  Spur  der  ,Schnader- 
hüpfeP  hingewiesen*),  ein  anderes  Vierzeiler-Motiv  hat  das  west- 
fälische Volkslied  „Wenn  sich  die  Hähne  krähen"  (ReifiFerscheid 
8.  121,  15,  7)  mit  kärntischen  Schnaderhüpfeln  gemein.  In  West- 
falen sagt  man: 

Und  wenn  es  Rosen  schneit 
und  regnet  kühlen  Wein, 
so  maß  ein  jeder  Knabe 
bei  seinem  Feinslieb  sein. 

In  Weißenstein  bei  Villach: 

Wann  i  di  sollt  liebn, 

Mueßts  Wetter  verkehrn, 

Mueß  in  Summer  Schnee  schneibn 

Und  in  Winter  grüen  wem. 

In  Maria  Saal: 

Wann  Mond  und  Sunn  untergehn, 
Und  die  Sterne  auferstehn, 
Und  die  Glan  rückwärts  rinnt, 
Nachher  lieb  i  di  gschwind. 

In  öriflFen: 

I  wer  di  schon  liabn, 
Wann  die  Zaunsteckn  blUan, 
Wann  die  Drau  aufwärts  rinnt, 
Nacher  liab  i  di  gschwind  2). 

Hier  wird  der  Liebhaber  abgewiesen;   im  westfälischen  Liede 
fallen  die  beiden  letzten  Verse  aus  der  Situation  heraus,  weil  sie 


1)  Reif  f  erscheid,  V/estf.  Volkslieder  S.  179.  Vergl.  Dunger  Nr.  287 
mit  Reiff  er  scheid  Nr.  19.  S.  123.     Gustav  Meyer  2,  148. 

*)  Pogatschnigg  und  Herrmann  1',  95.  Nr.  452  ff.  Zum  Motiv 
Uhland  3,  216  ff.  Böckel  S.  GL  ff.  Hauffen  S.  14.  19.  Gottschee 
S.  168  ff.    R.  M.  Meyer  S.  231. 


198 


eineD  widersinnigen,  aber  beim  Volk  beliebten  versöhnlichen^) 
Abschluß  herbeifähren  wollen;  daher  ist  die  Spitze  des  Motivs 
verbogen.  Ein  oberhessisches  Lied  geht  darin  am  weitesten;  der 
Nachtwächter  von  Gleiberg  diktierte  dasselbe  Lied  mit  dem  Schluß: 

Die  Hochzeit  woUen  wir  halten, 
Die  Hochzeit  bei  der  Nacht; 
Wenn  Vater  und  Mutter  schlafen, 
Dann  halten  wirs  bei  der  Nacht'). 

Ein  schlagendes  Beispiel  für  ein  mittelniederdeutsches  Schnader- 
hüpfel,  will  man  überhaupt  diese  anfechtbare  individuelle  Be- 
zeichnung gelten  lassen,  bietet  ein  alter  Fastnachtsdialog,  der 
von  Seelmann  zwischen  Elbe,  Weser  und  Aller  lokalisiert  worden 
ist  und  in  der  ältesten  vorliegenden,  allerdings  nicht  ursprüng- 
lichen Gestalt  den  Jahren  1522  bis  1535  entstammt^).  Da  sagt 
Hans  Meyer  Vers  161: 

Wen  de  kreien  liegen  umm  unsen  klocktorn, 
und  de  Sperlinge  silken  in  minem  tundom, 
so  isset  nicht  gantz  wieth 
der  lustigen  sommertidt. 

In  der  niederländischen  Übersetzung  des  Antwerpener  Druckes*) 
lauten  die  Verse: 

Als  de  Kraeyen  vlieghen  om  onsen  Klock-toorn, 
£n  de  Spreeuwen  nestelen  in  onsen  Tuyn-doorn, 
Soo  en  isset  niet  seer  wijt 
Van  den  soeten  Somer-tijt. 

Was  ist  das  anders,  als  das  Motiv  des  Schnaderhüpfels,  das 
in  Mittelkärnten  so  gesungen  wird: 

4 

Wann  der  Auerhahn  pfalzt, 
Wann  der  Kohlfuhrmann  schnalzt 
Und  der  Nachtvogel  schreit: 
Is  der  Tag  nimmer  weit*). 


In  Elagenfurt: 


Wann  die  Glocke  hell  klingt, 
Und  die  Sendrinn  schean  singt 


^)  Gedankenvoll  redet  darüber  R.  Hildebrand,  Materialien  S.  216. 

3)  Böckel  Nr.  73. 

3)  Seelmann,  Mittelniederdeutsche  Fastnachtspiele.     S.  XXIX  f. 

*)  Bolte  und  Seelmann,  Niederdeutsche  Schauspiele  S.20.  Vers  132flf. 

*)  Pogatschnigg  und  Herrmann  1,  251. 


199 


Und  der  Guggu  recht  schreit: 
Is  der  Tag  nimmer  weit  *). 

mit  der  Variante  im  letzten  Vers: 

Is  die  lustigste  Zeit  3). 

Von  der  Jahreszeit  wird  das  Motiv  dann  auf  das  Brenteln^), 
aufs  Wetter  und  anderes  tibertragen.  Das  Tagelied -Motiv*) 
wird  hier  schwerlich  älter  sein,  als  das  allgemeine  Zeit-Motiv, 
wie  außer  den  niederdeutschen  Vierzeilern  folgende  Varianten 
zeigen: 

Wenn  der  Fink  a  sue  singt 
und  der  Kukuk  sue  schreit, 
do  denk  ich  halt  alleweil: 
mei  Schats  is  net  weit^). 

Wenns  regnt  und  wenns  schneit, 
und  wenns  glatteisen  thut, 
do  gieh  ich  ze  mann  Schotzel 
und  bi  nc  a  wing  gut^). 

Wenn  de  Sterla  blitzen 
und  der  Manden  schie  scheint, 
do  denk  ich  halt  alleweil: 
mei  Schatz  is  net  weit^). 

Wenn  die  Hühner  gatzen, 
und  die  Kälber  schmatzen, 
und  der  Kukuk  schreit, 
hot  der  Bauer  gute  Zeit'). 

Nix  schänners  in  Wald, 
wenn  de  Peitschen  su  knallt, 
wenn  de  Soeg'  a  su  klingt, 
und  der  Stöckgräber  singt  ^). 


*)  Pogatschnigg  und  Herrmann  1,  253. 

3)  A.  a.  0.  2,  220.    Variante  bei  Meyer,  Essays  1,  396  f.    De  Gruyter 
Das  Tagelied  S.  88.  Vergl.  Mailüfterl.  Gun  dl  ach  Nr.  847.   Weim.  Jahrb.  3,  324'^ 
8)  A.  a.  0.  1,  210. 

*)  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum  29,  232  ff. 
»)  Dunger  Nr.  43. 
6)  Dunger  Nr.  332. 
T)  Dunger  Nr.  343. 
8)  Dunger  Nr.  1192. 
»)  Dunger  Nr.  1238. 


200 

Wans  Goasl  schean  springt, 
Und  da  Raubvogel  singt, 
Und  wans  Büchserl  laut  gelt: 
Is  a  Freud  af  dar  Welt. 

Wans  regnt  und  wans  schneit. 

Und  wans  dunert  und  kracht, 

Und  won  d'  Schwoagrin  koan  Liab  net  hat: 

Aft  is  guati  Nacht*). 

Bei  Hans  Folz  werden  wir  einem  gesungenen  Vierzeiler 
begegnen;  Steffen  hat  auf  niederdeutsche  Vierzeiler  hingewiesen, 
die  den  Tanzcharakter  bewahren^).  Ich  wähle  einen  mecklen- 
burger Tanzreim  als  Beispiel. 

Twe  ossen,  vier  pier  un  ene  bunte  koh, 

de  gift  mi  min  mudder,  wenn  ik  heirathen  do; 

lustig  uppe  lining  un  trurig  vörbi, 

draussel  to  sadel  und  vinttfot  dorbi^). 

Der  sinnige  Beim:  ,Es  ist  nicht  lange,  daß  es  geregnet  hat' 
findet  in  England  seine  Parallele*).  Angesichts  der  Vierzeiler 
in  nordischer  Volksliteratur  und  der  ethnologischen  Tatsache  ihrer 
übiqultät  wird  sich  die  Theorie  einer  Auswanderung  aus  den 
Alpen  schwerlich  halten  lassen.  Wenn  England,  Dänemark, 
Schweden,  Norwegen  und  Holland  ihre  Vierzeiler  haben,  warum 
sollte  man  für  das  unmittelbar  benachbarte  Norddeut-schland  Ent- 
lehnung annehmen?  Daß  einzelne  oder  auch  viele  wandernde  Motive 
und  Exemplare  ausgetauscht  werden,  zwingt  nicht  zu  jener  be- 
denklichen Theorie. 

Eine  verwirrende  Fülle  von  Bezeichnungen  beweist  die  un- 
geheure Verbreitung  und  Beliebtheit  der  Vierzeiler.  Wie  es  in 
der  Bamberger  Beichte  heißt:  ,Ich  bin  sculdig  in  ...  ,  allen 
scantsangen,  in  hönreden  manigen',  klagt  man  noch  im  vorigen 
Jahrhundert  in  der  Schweiz:  „Der  strafende  Geistliche  muß  an 
Kilbenen  der  Leute  Buelliedlein  und  Gespött  sein."  Tobler^), 
dem  man   diese  Notiz    verdankt,    identificierte    diese    vierzeiligen 


>)  Werle,  Almrausch  S.  224.  16. 

3)  Landsmälen  XVI  1,  16.    Aber  die  mnd.  Sprüche  des  16.  Jahrhunderts 
sind  doch  nicht  mehr  gesungen.     Zs.  f.  Volkskunde  8,  350. 
3)  Wossidlol  S.  9.  Nr.  11. 
*)  Gummere  Beginnings  of  poetry.     S.  413. 
^)  Tobler,  Schweizerische  Volkslieder  1,  CXLV. 


201 


Spottlieder  wie  Müllenhoff  und  Ludwig  Steub  mit  deu  alten 
winileod,  denen  er  eben  einen  vorwiegend  scherzhaften  und 
spöttischen  Charakter  beimißt^),  und  weist  auf  die  Namen  Stupf- 
lied, Speilied,  Tratzlied,  Schelmlied,  Tanzeliedli,  Stöbert elied, 
Lumpeliedli,  Schlumperliedchen,  Bappetizli,  Buggusser  hin^). 
Zum  Teil  dieselbe,  teils  andere  oder  etwas  modificierte  Verwendung 
des  Vierzeilers  bezeichnen  die  Namen  der  Schnaderhüpfel,  der 
Schnitterhüpflein-),  Schnaderhaggen,  Schleiferliedlein,  Schnapper- 
liedlein, Schnaxen,  der  Bundas,  der  Landler,  chorzen  Liedli, 
Gsätzli,  Schwatzliedlein,  Schmetterliedle,  Flausn-,  Possenliedln, 
Haarbrecher  -  Gsangln,  Bassein,  Plapperliadln,  Sprüchin,  Gsangln, 
Gschdanzlen,  Liedin,  Gasseireime*),  Gasseilied,  Gasseistreit,  Boim- 
sprüchc,  Vöizaliga,  Steikle,  Tschumperliedln,  Schandliedle,  Schamper- 
liedle,  Ansingeliedlein,  Spitzliedlein,  Possenliedlein,  Schnitzliedlein, 
Tänze  ^),  Stichreim,  Spöttl-  oder  Trutzliedl,  Trutzreim  %  Stampelliedl, 
Stampenie^),    Klampfln,    Gstänkerisch  ^),    Buhlerlieder  ^),    Lumpe- 


1)  Koegel  I  61  f.  schreibt  etwas  paradox  ihnen  epischen  Inhalt  zu. 
Müllenhoff,  Zs.  f.  d.  A.  9,  128  ff.  nahm  die  Bedeutungen  Gesellschaftslied 
und  Gassenhauer  an.    MSD^  2,  155. 

3)  Vergl.  Z.  f.  d.  A  29,' 124.  Zum  Rugguusser:  Alfred  Tobler,  Das 
Volkslied  im  Appenzellerlande  S.  74;   Stoberteliedli  S.  107. 

3)  SchmellerBWB.  113  558.  Frommanns  Mundarten  4,  73.  Dunger 
S.  XI  f.    E.  H.  Meyer,  Volkskunde  S.  315. 

*)  Gegen  Böhme,  Geschichte  des  Tanzes  1,  240  und  Brenner,  Zum 
Versbau  der  Schnaderhüpfel  S.  2  ist  daran  zu  erinnern,  daß  zum  Teil  der 
Gasseireim,  z.  B.  der  Salzburger  (Süß  S.  161  ff.)  etwas  anderes  ist.  Die 
österreichisch-ungarische  Monarchie  in  Wort  und  Bild.  Oberösterreich  und 
Salzburg  Wien  1889.  S.  474.  Gassellied  und  Gasseistreit  in  Steiermark. 
Dasselbe  Werk,  Steiermark  S.  189.  Strolz  im  Sammler  für  Geschichte 
und  Statistik  von  Tirol  2,  74. 

*)  Die  letzten  drei  Bezeichnungen  in  B irl in g er s  Schwäbischen  Volks- 
liedern.   Freiburg  i.  B.  1864.  S.  62. 

6)  Z.  f.  Volkskunde  1,  105.  Steffen  S.  15  f.  Dunger  S.  XII  ff. 
Zum  Bunda  ist  eine  Stelle  aus  Kuhn  aus  Musikalischem  Quacksalber  (hg. 
von  Benndorf.  Berlin  1900.  S.  3.  der  Vorrede)  nach'zutragen :  „einem 
Bauern  ein  Bunde  aufstreichen.  ^ 

7)  Schmeller,  Bayer.  Wb.  IP  758  f.  Kalff,  Het  Lied  S.  537  f. 
Böhme,  Geschichte  des  Tanzes  1,  28.  Lexer  s.  v.  Im  16.  Jahrhundert 
gleich  Fantasie. 

8)  Werle,  Almrausch  S.  474. 

^)  Jglan.  Zeitschrift  für  österreichische  Volkskunde  4,  9. 


202 

sticklin,  Schnörkel  ^),  Kadenzchen,  Schwänzchen  ^),  Nachstückelchen, 
Lermen  ^),  goolis  Liedli,  Stomperli,  Satzliedli,  Gsatzliedli,  Stagraaf- 
liedli,  aas  oss-em  Stagraaf,  e  chorzes^). 

Es  ist  wohl  nicht  Zufall,  daß  die  bekannte  Priamelüberschrift 
der  Wolfenbüttler  Handschrift  FG  53»  sich  gegen  die  Bezeichnung 
,schamper'  (hier  Gegensatz  zu  ,geistlich')  wehrt.  Es  ist  Tatsache, 
daß  der  in  Baiern,  Sachsen  und  Thüringen^)  übliche  Nanoe  Schand- 
oder Schamperlied  alt  ist.  Ursprünglich  mag  der  Name  die  von 
Weinhold  und  Dunger  erwiesene  Bedeutung  Tanzlied  gehabt  haben, 
früh  verdunkelt  durch  volksetymologische  Angleichung  an  Schande. 
Und  dieser  Sinn  des  Wortes  sagte  den  Zeloten  am  meisten  zu, 
die  Tanzlied  wie  Tanz  seit  Alters  bekämpft  haben.  Bezeichnet 
doch  klerikaler  Fanatismus  die  weltlichen  Lieder  von  jeher  als 
cantus  obscoeni^).  Der  Tractat  ,Was  schaden  tautzen  bringt'^ ) 
verwirft  die  Tanzlieder  in  Bausch  und  Bogen,  bezeugt  wiederholt 
ihre  Bezeichnung  als  schamper  lieder^),  nennt  sie  unflätigen  Ge« 
sang  und  bedroht  Dichter  und  Vorsänger.  Im  Neidhartspiel  er- 
wähnt Lucifer  selbst  die  Schampperliedl  der  Bauren  ^).  Weder 
die  Sammlungen  der  Exemplare  noch  die  Liste  der  Bezeichnungen 


*)  Marriage,  Volkslieder  ans  der  badischen  Pfalz  S.  IX.  Hessische 
Blätter  für  Volkskunde  1,  56. 

«)  Erk-Böhme,  Liederhort  2,  795. 

3)  Hessische  Blätter  1,  56.  87.  31  flf.  81  ff. 

*)  Alfred  Tobler,  Das  Volkslied  im  Appenzeller  Lande  S.  28. 

»)  Dunger,  Rundas  S.  XIII  ff.  Sächsische  Volkskunde  S.  248.  Zeug- 
nisse des  16.  Jahrhunderts  hat  Goedeke  im  Grundriß  2',  24  zusammen- 
gestellt.   'Vergl.  Bö  ekel,  Volkslieder  aus  Oberhessen  S.  CXXXII  ff. 

*)  Im  Lettischen  derselbe  Vorgang. 

^  Wieder  abgedruckt  bei  Böhme  1,  94  ff. 

")  S.  94:  „glicher  wise  als  geistlicher  gesanck  leytzt  zu  geistlicher 
andacht  des  hertzen,  also  reitzt  der  tantzrimer  vnfletiger  gesang  zu  ynkuscher 
begirde."  „vnd  ist  groß  swere  sunde  eym  y etlichen,  der  solich  schamper 
lider  ticht  oder  singt.'*  S.  95  „sunde,  die  vß  den  lidern  oder  spruchen 
gent."  „Sölichcn  gesanck  der  vmme  genden  tentz,  als  schamper  lieder, 
helffen  die  bösen  geist  stifften."  S.  96  „vnküsche  schamper  lieder,"  „tantz- 
lieder  vnd  vppige  Sprüche."  Vergl.  Spangenberg  bei  Böhme.  S.  108. 
Geffcken,  Der  Bildercatechismus  S.  57  der  Beilagen.    Germania  30,  193  ff. 

9)  Kellers  Fsp.  441,  19.  Was  Bruinier  S.  142  unter  Schamperlied 
behandelt,  deckt  sich  mit  unsern  Gedichtchen  nicht  ganz:  eher  Lessings 
Schamperlied.    Erich  Schmidt   in   der  Zeitschrift  für  Volkskunde  5,  360. 


203 


werden  zunächst  auf  einige  Vollständigkeit  Anspruch  machen 
können.  Hier  ist  heute  noch  alles  im  Fluß.  Man  täte  sicher 
unrecht,  alle  jene  Namen  samt  ihren  zugehörigen  Begriffen 
zusammen  zu  werfen;  sie  sind  offenbar  nicht  nur  lokal  verschieden; 
auch  unter  dieses  leichte  Völkchen  muß  einmal  der  kritische 
Besen  fahren,  wenn  wir  auch  in  der  Volksdichtung  und  der  alten 
Poesie  keine  Beinkulturen  je  werden  verlangen  dürfen.  Vielleicht 
wenden  die  verheißungsvoll  aufblühenden  mundartlichen  und 
volkskundlichen  Studien  auch  dieser  Frage  ihre  Aufmerksamkeit 
zu.  Aber  schon  jetzt  ist  zu  sehen,  daß  die  herkömmliche 
Charakteristik  der  Schnaderhüpfel  u.  s.  w.  als  bäuerlicher  Standes- 
poesie viel  zu  eng  ist.  Scher  er  hielt  auch  die  ritterliche  6^ 
Seilschaft  des  12.  Jahrhunderts  wohl  für  fähig  solche  Improvisationen 
hervorzubringen^),  und  für  die  Beteiligung  der  Aristokratie  an 
den  Bundas  gab  Dunger  (S.  XVIIIj  ein  ausdrückliches  Zeugnis. 
Eine  erschöpfende  Charakteristik  aller  deutschen  Vierzeiler  scheitert 
noch  an  der  Verschiedenheit  der  einzelnen  nicht  hinreichend 
untersuchten  Arten. 

3. 

Der  Priamelvierzeiler  erhält  seine  dem  Vierzeiler  gegenüber 
selbständige  Sonderstellung  durch  die  specifisch  priamelhafte  Form, 

Auf  die  Form  der  Volkspoesie  ist  weniger  geachtet,  als  auf 
ihren  Inhalt,  und  Uhland,  der  versprach,  auch  jene  zu  behandeln, 
aber  das  Versprechen  nicht  erfüllte,  hat  so  eine  wichtige  Aufgabe 
als  Erbschaft  hinterlassen^).  An  Anregungen  in  dieser  Hinsicht 
hat  es  auch  für  den  Priamelvierzeiler  nicht  gefehlt;  aber  die 
bisherigen  Versuche,  umfassendere  Gesichtspunkte  für  das  Urteil 
zu  gewinnen,  können  nur  wenig  befriedigen.  Es  sind  zum  Teil 
oberflächliche  Beobachtungen  ohne  Ziel  und  Zusammenhang.  So 
wenn  Neus,  der  Herausgeber  der  estnischen  Volkslieder,  folgende 
schiefe  Erläuterung  des  Parallelismus  liefert:  „Die  Volksdichtung 
sieht  sich  oft  genötigt  und  liebt  es^  einer  Zeile,  deren  Sinn  nicht 
sofort  hell  und  klar  einzuleuchten  oder  die  für  den  beabsichtigten 
Eindruck  zu  schwach  scheinen  möchte,  einen  zweiten,  einen  dritten 
gleichen  Inhaltes   zur  Ergänzung,   Erklärung,   Verstärkung  folgen 


•^ 


»)  Kleine  Schriften  1,  702. 
2)  Abhandlung  3^,  15. 


204 

zu  lassen."  ^Hiermit  hängt  auch  die  eigentümliche  Aufzählung 
eines  Gegenstandes  nach  dessen  einzelnen  Teilen  zusammen^).'' 
Dann  hat  sich  der  Geschichtsschreiber  der  deutschen  Mystik  für 
einige  Vierzeiler  eine  eigene  Theorie  ähnlicher  Art  zurecht 
gemacht,  die  sogar  Norden  billigt.  „Von  dem  gewöhnlichen 
Spruche,"  meint  Preger,  „welcher  eine  Vernunftswahrlieit  oder 
eine  sittliche  Wahrheit  in  leicht  behaltbarer,  prägnanter  Form 
ausdrückt,  können  wir  als  besondere  Art  den  Sinnspruch  unter- 
scheiden, in  welchem  ein  Gedanke  zuerst  in  auffallender  paradoxer 
Weise  oder  wie  ein  Rätsel  ausgesprochen  wird,  um  dann  nach 
einigen  folgenden  erläuternden  Sätzen  als  evident  zu  erscheinen. 
Die  Vorliebe  für  diese  Form  der  Lehre  im  Mittelalter  erklärt 
sich  aus  der  sinnigen  Weise  des  Volkes,  und  es  ist  bei  der 
Natur  der  Mystik  begreiflich,  daß  sie  selbst  vor  allem  davon 
Gebrauch  macht.  Schon  Eck  hart  erscheint  als  ein  Meister  solcher 
Spruchweisheit,  insbesondere  auch  des  Sinnspruchs  ....  Der 
summarischen  Aufzählung  folgt  dann  die  Erläuterung,  der  Auf- 
schluß 2)."  Hermann  Welcker  widmete  der  persischen  Vier- 
zeile und  dem  deutschen  Volksreim  im  Jahre  1879  eine  Ab- 
handlung^), um  nachzuweisen,  daß  das  deutsche  Schnaderbüpfel 
unbewußt  auf  dieselbe  Keimfolge  wie  die  persische  Vierzeile 
gekommen  sei,  und  wollte  dabei  eine  ghaseloide  Form  des 
deutschen  Vierzeilers  ausscheiden.  Hans  Grasberger  hat 
Welckers  vorsichtige  Formulierung  erweitert,  findet  unter  den 
Schnaderhüpfeln  nicht  nur  zahlreiche  Ghaselen,  sondern  läßt 
Welcker  die  Ghaselform  geradezu  als  den  uns  zustehenden  deutschen 
Volksreim  feiern*).  Es  handelt  sich  in  jener  Frage  nur  um  eine 
Form  des  Binnenreims,  der  die  Entwicklung  der  beiden  Lang- 
zeilen zum  Vierzeiler  deutlich  macht*).  Der  Binnenreim  setzt 
sich  am  frühesten  in  der  ersten  Langzeile  fest.  Schon  oben 
begegneten  uns  Beispiele. 

Die  Mittel,  deren  sich  das  klassische  Priamel  wie  der  Priamel- 
Vierzeiler  zum  Aufbau  seiner  Form  bedient,   sind  weder   zurällig 


0  s.  X.  XI. 

*)  Preger,  Geschichte  der  deutschen  Mystik  2,  133. 
3)  Nord  und  Süd  10,  359  ff. 

*)  Die  Naturgeschichte  des  Schnaderhüpfels  S.  33.  98  f. 
^)  Brenner,  Zum  Versbau  der  Schnaderbüpfel  S.  2. 


205 


noch  willkürlich;   sie  sind  bis  heute,   wie  keine   andern,  typische 
Hauptformen  der  volkstümlichen  Improvisationsdichtung. 

Was  von  primitiver  Poesie  der  sogenannten  Naturvölker 
bekannt  ist,  stimmt  darin  überein,  daß  die  Improvisationen  kurz 
sind;  meist  enthalten  sie,  wie  bei  den  Australiern'),  nur  einen 
oder  zwei  Gedanken  und  werden  immer  wiederholt.  „Aborigines 
are  found  uttering  measured  sounds  with  no  meaning  at  all  for 
hours;  sometimes,  the  sounds  possess  the  meaning  of  a  single 
Word;  or  again,  the  meaning  of  a  phrase^)."  Ob  man  in  der 
einfachen  Wiederholung  desselben  improvisierten  Wortes^)  den 
Anfang  poetischformaler  Gestaltung  sehen  dürfte,  ist  recht  zweifel- 
haft. Büchers  einschneidende  Forschungen  haben  unter  anderem 
wieder  gezeigt,  daß  in  der  Begel  nicht  ein  einfaches  Gebilde, 
wie  es  die  Abstraktion  ausklügelt,  als  Uratom  für  jeden  Kunst- 
zweig der  Poesie  den  Anfang  aller  Entwicklung  bezeichnet,  sondern 
am  Anfang  schon  ein  recht  kompliciertes  Lebendiges  steht,  das 
durch  Differenzierung  fortschreitet.  Die  Biologie  bestätigt  das. 
Es  ist  sehr  fraglich,  ob  die  noch  im  Finnischen,  Estnischen, 
Litauischen,  Lappischen  und  sonst  ^)  gepflegte  wenig  oder  gar  nicht 
geregelte  längere  Beihe  und  der  Vierzeiler  nicht  älter  sind,  als 
die  kürzere  rhythmische  Eeihe  des  Viertakters  ^).  Der  psychologische 
Grund  jener  kurzen  wiederholenden  Improvisationen,  die  nach 
übereinstimmenden  Beobachtungen  alle  Anfänge  der  Musik  und 
Poesie  kennzeichnen,  ist  die  geringe  Fähigkeit  des  primitiven 
Menschen,  ein  erfundenes  Motiv  systematisch  zu  entwickeln  und 
zu  gestalten,  ein  größeres  Ganze  aus  sich  heraus  zu  schaffen. 
Dureh  die  Begabung  für  systematische  Entwicklung  unterscheidet 
sich  wesentlich  der  Kulturmensch  von  dem  primitiven,  der  Er- 
wachsene vom  Kinde.     „So  oft  das  Kind   in  seiner  momentanen 


•)  Wallaschek,  Anfänge  der  Tonkunst  S.  189.  24.  27.  31. 

2)  Mind  1892  S.  326. 

3)  Gummere,  Beginnings  S.  252. 

*)  Die  Fisch-Tungusen  haben  Gesänge  ohne  Schluß  und  Abteilung  in 
Strophen,  die  in  ununterbrochener  Einförmigkeit  bis  zu  völliger  Erschöpfung 
wiederholt  werden.    Wallaschek  S.  246. 

^)  Eigentlich  schließt  die  Gegenüberstellung  eines  Prosasatzes  und 
eines  metrisch-musikalischen  Gebildes  einen  in  der  Tat  nicht  vorhandenen 
Dualismus  ein.  Ton  kunstmäßig  entwickelter  Prosarede  kann  in  Urzeiten 
keine  Rede  sein. 


206 


Laune  etwa  einen  Beim  erdichtet  hat,  wiederholt  es  ihn  nnzähligemal. 
Dadurch  erst  versenkt  es  sich  in  die  notwendige  Stimmung,  deren 
Zeitdauer  seine  Intelligenz  nicht  mit  hinreichender  Abwechslung 
ausfüllen  kann^)." 

Fanden  wir  bei  den  Tungusen  endlose  Wiederholung  ohne 
Abschluß,  so  bezeichnet  das  Streben,  den  Reihen  der  Wieder- 
holung einen,  wenn  auch  noch  so  primitiven  Abschluß  zu  geben, 
jedenfalls  einen  künstlerischen  Fortschritt.  Über  die  Form  eines 
australischen  Corrobberry,  eines  primitiven  dramatischen  Tanzes, 
wird  berichtet:  „Die  ganze  Musik  bestand  aus  Variationen  einer 
einzigen  Melodie,  gesungen  mit  abwechselnder  Stärke  und  in 
verschiedenem  Tempo  ....  Zu  Ende  des  Gesanges  trillern 
sie  ein  R  in  einem  ziemlich  hohen  Ton^).*'  Ähnlich  gebaut  ist 
die  Zalruta  der  Beduinen  und  Bauern  Palästinas.  Die  Zalruta 
beginnt  jede  der  drei  ersten  Zeilen  mit  dem  Freudenruf  äwiha 
und  schließt  den  vierten  mit  dem  Jubeltriller  lulululululesch  ^) 
Die  musikalische  Bewegung  steigert  sich,  bis  sie  im  Schluß  auch 
ihren  Höhepunkt    erreicht.      Die  Melodie    macht    das    deutlich*). 


1.  A-    wi- 

2.  ä      wi- 


ha     ja  'arüs        u.  s.  w. 
ha    min  hottik     u.  s.  w. 


lu      lu    lu  lu  lu  lu  lu  lu  lu    lu      lesch. 


Aber    auch    die   Gedankenbewegung   gestaltet    sich    zugleich 
nahezu  priamelartig. 


J)  Wallaschek  S.  202.  299.     Kohler   in    der   deutschen   Literatur- 
zeitung 1903.    S.  1373. 

2)  Wallaschek  S.  250.    Die    Tänze    der   Kamtschadalen    werden   mit 
dem  Ausdruck  eines    immer   steigenden  Affekts    gesungen.    Ebenda  S.  246. 

3)  Modificationen  bei  Dalman,  Palästinischer  Diwan.     S.  XX. 
♦)  Dalman  S.  358.    Nr.  18. 


207^ 

Bringet  die   Braut! 

Awiha  —  wisch  hal  'arüs  illi  räihin  jegibüha 
Awlha  —  taht  kal  *at  halab  kä  'idin  jehannüha 
Awiha  —  hatu  schnäbir  wiglüha 
hadi  bint  anilr  il  ^arab  'albrig  chudüha. 

lululululesch. 

Awiha,  wer  ist  diese  Braut,  welche  bringen  werden,  die  jetzt  gehen, 
Awiha,  die  unter  der  Festung  von  Aleppo  wohnen,  wünschen  ihr  Glück, 
Awiha,  gebt  SchleiertUcher  und  singt  ihr  Gelwe, 
das  ist  die  Tochter  des  BeduinenfUrsten   —    zur  Burg  bringt  sie ! 

lululululesch  ^) ! 

Beginnt  in  der  Zalruta  jede  der  drei  ersten  Zeilen  mit 
dem  gleichen  Melisma  und  Wort,  so  schließt  umgekehrt  in  den 
Ataba-Improvisationen  Vers  1,  2  und  3  in  gleicher  Art.  Es  sind 
wieder  fast  priamelartige  Beispiele  gewählt. 

Salüni  ilbld  jabu  immi  salüni 

midri  bälhum  midri  salüni 
^assa  dihin  bilmakla  sälüni 

chaUüni  trik  balä  rataba. 

Vergessen. 

Es  verschmerzten   mich  die  Weißen,  o  Sohn  meiner  Mutter,  sie  verschmerzten  mich, 
ich  weiß  nicht,  ob  (ich)  in  ihrem  Sinn,  oder  ob  sie  mich  verschmerzten, 

vielleicht  —  wie  Fett  in  der  Pfanne  —  machten  sie  mich  fließen, 
sie  ließen  mich  am  Boden  liegen  ohne  Halt^). 

Ana  lak  'öd  'ala  —  d  darben  wabni 

wa  'edde  bjüt  lizzenät  wabni  . 
uder  'äni  chaschab  lilbet  labni 

win  hüdik  bid  ja  umm  il  'asaba. 

Der  Bau  des  Liebenden. 

Ich  sitze  an  der  Wegscheide  und  baue, 

und  bereite  Häuser  fUr  die  Schönen  und  baue, 
und  meine  Arme  will  ich  als  Bauholz  für  das  Haus  bauen, 

denn  dein  Busen  ist  weiß,  o  du  mit  der  Kopfbinde^)! 

'Alaija  min  haleb  laschscham  jömain 

sidrik  mal  ^ab  ilchaijäl  jömain 
'aschartik  sine  bitküli  jömain 

'aschrit  jöm^ahla  min  sine. 


1)  Dalman  S.  192. 
3)  Dalman  S.  69. 
3)  Dalman  S.  69. 


1 


208 


Liebe  verkürzt  die  Zeit. 
Mir  sind  von  Aleppo  nach  Damaskus  zwei  Tage, 

deine  Brust  ist  Spielplatz  des  Reiters  zwei  Tage, 
ich  verkehrte  mit  dir  ein  Jahr,  du  sagst,  zwei  Tage, 

der  Umgang  eines  Tags  ist  süßer  als  ein  Jahr^). 

Ana  —  Iraibe  schiddu  mchaddäti 
Ana  —  Iraibc  mä  waddat  riik&ti 
Ana  —  Iraibe  mä  wadda^t  le  'ummi 
min  ba  'da  na  zra  'u  wardan  warihänan. 

Ich   bin  die  Fremde  (Gelwe). 
Ich  bin  die  Fremde,  macht  bereit  meine  Kissen, 

Ich  bin  die  Fremde,   ich  habe  nicht  Abschied  genommen  von  meinem  Gewissen, 
Ich  bin  die  Fremde,  ich  habe  nicht  Abschied  genommen  von  meiner  Mutter, 
hinter  uns  her  pflanzet  Rosen  und  Myrten^). 

In  diesen  poetischen  Gebilden  ist  der  innige  Znsammenhang 
mit  Körperbewegung  und  mit  der  Musik  noch  gewahrt.  Tritt 
die  Musik  zurück  oder  fällt  sie  ganz  fort,  so  hat  die  logische 
Verarbeitung  freien  Spielraum,  sie  wird  zur  Hauptsache.  Auf 
der  Grenze  der  zweiten  und  dritten  Stufe,  die  wir  unterscheiden, 
zwischen  primitivem,  halb  automatischen  Abschluß  und  logisch- 
thematischer Entwicklung  steht  die  Form  des  Priamelvierzeilers. 
Überlebsel  eines  älteren  Entwicklungsstadiums  bieten  etwa  Beispiele 
wie  der  Gaunerspruch: 

Wer  nur  den  lieben. 
Wer  nur  den  lieben. 
Wer  nur  den  lieben, 
•  Johaß  Reist  beer  beer  3). 

Auch  in  vollständig  ausgebildeter  Poesie  hat  die  Kunst  des 
Improvisierens  ihre  bald  erreichten  Grenzen.  Wenn  sie  nicht 
Virtuosenhaft  wird,  wie  in  der  Kunstdichtung  romanischer  Völker*), 
verfallt  sie  immer  wieder  einem  gewissen  psychischen  Mechanismus. 
Alle  volkstümliche  Kunst  sucht  sich  Gedankenarbeit  zu  ersparen. 
Weil  es  unbequem  ist,  im  Augenblick  verschiedene  upne 
Gedanken  logisch- thematisch  zu  verflechten,  beschränkt  man  sich 
auf  einen;   alles  andre  ist  episodenhaft,  wird  Digressio.    Müllen- 


1)  Dalman  S.  81. 
9)  Dalman  S.  186. 

^)  Ave-Lallemant  II  23.   Es  war  des  Schinderhannes  Zauber-Drohbrief 
an  den  Pächter  Heinrich  Zürcher  zu  Neudorf. 
*)  Vergl.  auch  Bohde,  Griech.  Roman  S.  308. 


209 


hoff  hat   am  Priamel    dieses  Charakteristikum   treffend    hervor- 
gehoben.    Musikalische  Improvisation   des  Praeambulum   und  der 
Frottole   bestätigt   die  Beobachtung.     Budolf  Hildebrand  sieht 
in  dem  Festhalten  eines  einzigen  Gedankens  geradezu  das  Wesen 
unserer  ältesten  einstrophigen  Lyrik:   „Man  wiederholte  das   eine 
liet,   das   dem  Augenblick  seinen  vollen  Stimmungsausdruck  gab, 
fort  und  fort,  indem  man  sich  in  seinen  Inhalt  gleichsam  hinein- 
bohrend versenkte  und  seine  Stinamung   daran   vertiefte   bis    zur 
Sättigung*)."      Im    Vierzeiler    zwingt    die    Enge    der    Form    zu 
Beschränkung   und   Einheitlichkeit,    während    das   kleine  Gebilde 
andrerseits  dem  entwickelten  Parallelismus  die  nötigste  Bewegungs- 
freiheit gewährte.     So  steht  das  Priamel  in  der  Mitte   zwischen 
den  Erzeugnissen  des  völlig  automatischen  psychologischen  Mecha- 
nismus und  der  Eunstpoesie  des  schönen  Gedankens;   es  stellt  eine 
Übergangsstufe  dar:    die  Form  denkt   für    den  Improvisator   mit. 
Wir  können  drei  Typen  des  Priamelvierzeilers  unterscheiden, 
die    aber   sämtlich    eines    Ursprungs    sind.      Wiederholung   und 
Parallelismus    sind    die    primitivsten    Mittel,    um    den    Eindruck 
eines    Gesetzlichen    zu   erzeugen^).      Wie  jede    Arbeitsbewegung 
sich  aus  mindestens  zwei  Momenten^)  zusammensetzt,   so   ist  der 
Ehythmus  aller  Gedankenbewegung*)  entweder  steigend  oder  fallend, 
diastaltisch    oder    hesychiastisch.      Steigende    Gedankenbewegung 
ergibt  den  Typus  des  synthetischen  Priamels  (A)  und  der  Klimax  (B), 
fallende  den  Typus  des  analytischen  Priamels  (C).    A  und  B  sind 
im  Grunde  identisch,  C  ist  die  ümkehrung^)  des  ürtypus.    Dieser 
schließt  sich  auch  naturlich  dem  aufsteigenden  Satzton  der  Periode 
an  und  ist  bei  Kulturnationen   am   allerhäufigsten   vertreten.    In 
nicht -indogermanischer    Poesie    scheint    der    Typus    C    beliebt. 


»)  Hildebrand,  Materialien  S.  212  f. 

3)  Welcker  S.  359  f. 

3)  Bücher  S.  26.  307. 

*)  Wenn  hier  von  Gedankenbewegung  die  Rede  ist,  so  wird  das 
nicht  streng  logisch  gemeint;  die  Gedanken  können  auch  ganz  unlogisch, 
alogisch,  hyperlogisch  sein,  wie  im  Gaunerspruch  und  vielen  halb  automatischen 
Versen.    Logismus  ist  erst  im  Werden  begriffen. 

*)  Wie  nahe  die  Umkehrung  der  Typen  A  und  C  liegt,  lehren  Beispiele 
wie  „Und  a  Lieb  ohne  Freud"  (Werle,  Almrausch  S.  103.  Greinz  und 
Kapferer  1,  3),  verglichen  mit  Nr.  933  in  von  Hörmanns  Schnaderhüpfeln^ 
S.  341.    Pogatschnigg  und  Herrmann  P  Nr.  976 ex,  1041.  1759-1764-41. 

Baling,  PrfameL  ^^ 


210 


B  wird  mehr  von  den  geistreichen  Bomanen  als  von  den  germanischen 
Völkern  gepflegt.  Tatsächlich  haben  wir  es  hier  mit  einer  völlig 
festgewordenen  primitiven  Dichtungs-Form  zu  tun,  die  sich  keines- 
wegs auf  Deutschland  beschränkt.  Die  natürlichen  Grundlagen 
des  geistigen  Lebens  sind  im  wesentlichen  überall  dieselben,  und 
je  tiefer  man  zu  den  Anfängen  der  Poesie  hinuntersteigt,  um  so 
ähnlicher  gestalten  sich  verhältnismäßig  die  uns  entgegentretenden 
Erscheinungen.  Alle  Volksüberlieferung  lagert  auf  breiter  ge- 
meinschaftlicher Grundlage;  da  gibt  es  keine  schroffen  Übergänge, 
kein  plötzliches  Abbrechen.  Die  Einheit  des  menschlichen  Geistes 
wird  nirgend  so  evident  wie  hier.  Deshalb  sind  auch  die  typi- 
schen Formen  der  primitiven  Improvisation  auf  breiter  Basis  zu 
behandeln. 

Das  Material  erfordert  kurze  Erläuterung.  Was  auf  ver- 
schiedener Stufe  sprachlicher  und  poetisch-technischer  Entwicklung 
steht,  ist  grundsätzlich  nicht  völlig  vergleichbar.  So  scheidet 
z.  B.  eigentlich  finnische  Literatur,  manches  orientalische  und 
vieles  der  Poesie  von  Naturvölkern  aus;  solche  Beispiele  sind 
in  besonderer  Schrift  gesetzt,  ebenso  als  Paradigmen  dienende 
Verse  von  Goethe.  Für  das  Indische  sind  die  Sapta9atakam  des 
Häla  benutzt^),  obwohl  die  Volkstümlichkeit  dieser  Vierzeiler  eine 
gewisse  Einschränkung  erleidet  (schon  oben  ist  davon  die  Bede 
gewesen):  ihr  volksmäßiger  improvisatorischer  Grundcharakter 
steht  hinreichend  fest^).  Auch  Jacopones  da  Todi  Kunst  ist 
volksmäßig,  sicher  in  noch  höherem  Grade  als  Sapta9atakam ; 
Jacopones  Vierzeiler  können  für  romanische  Beispiele  des 
13.  Jahrhunderts  gelten,  um  aber  des  volkstümlich-improvi- 
satorischen Charakters  sicher  zu  sein,  haben  wir  oft  aus  den 
Sammlungen  der  KpuirTaoid  zitiert,  ohne  Bücksicht  auf  den  Inhalt. 
Der  Improvisationscharakter  ist  nicht  immer  mehr  deutlich;  Über- 
lieferung und  Kunst  verwischen  ihn.  Produkte  wie  lateinische 
quatrains^)  oder  persische  Gedichte  wie  das  von  Eth6  (Firdusi 
als  Lyriker  S.  657)^)  mitgeteilte,  sind  ausgeschlossen;  nicht 
minder  echt  Lyrisches  (wie  bei  Oswald  von  Wolkenstein  Nr.  43 


')  freilich  nicht  wieder  mit  abgedruckt. 

')  Weber,  Abhandlungen  für  die  Kunde  des  Morgenlandes  YII  4,  XXI  f. 

3)  Notes  et  extraits  31,  88. 

*)  Mnnchener  Sitzungsberichte  1873,  3. 


211 


und  poetische  Grabschriften  von  Hoffmann swaldau  Nr.  59 
^Eines  so  sich  am  Moste  zu  todte  gesoffen").  Dagegen  wären 
humoristische  volksmäßige  Parodieen  offenbar  epigrammatischen 
Charakters,  wie  Vierzeiler  der  Viri  obscuri,  nicht  zurückzuweisen, 
trotzdem  sie  sich  lyrischer  Muster^)  bedienen.  Daß  der  Liebes- 
gruß im  Buodlieb  nicht  allein  auf  lateinische  Floskeln  der  gelehrten 
Literatur  zurückgeführt  werden  kann,  sondern  auf  einem  viel 
weitergreifenden  Motive  ruht,  lehrt  ein  Gedicht,  das  Socin  in 
seinem  Diwan  aus  Centralarabien  II  Nr.  38  übersetzt  hat:  „Will- 
kommen dem  Gruß,  der  von  meiner  Geliebten  mir  zukam;  Will- 
kommen sovielmal  als  Abendrotwolken  zusammen  aufziehen!  Oder 
sovielmal  als  Wolken  Bogen  fallen  lassen  oder  als  Blitze  an  ihren 
Bändern  aufleuchten.  Oder  als  verschiedene  Blumenstengel  empor- 
sprossen, oder  als  Pilger  ihren  Geleitsmännern  Tribut  zahlen*^  u.  s.  f. 
Aus  dem  Fehlen  von  Beispielen  bestimmter  einzelner  Sprach- 
gebiete bitte  ich  keine  Schlüsse  zu  ziehen.  Teils  fehlen  dafür 
Sammlungen  überhaupt,  teils  darin  die  Vierzeiler,  oder  unter 
Vierzeilern  gerade  priamelhafte;  und  im  allgemeinen  sind  die 
Universitätsbibliotheken  mit  volkskundlichem  Material  noch  wenig 
versehen;  gilt  doch  leider  die  Volkskunde  heute  noch,  wie  zu 
Wielands  Zeiten  die  Chemie,  als  Modewissenschaft.  Die  König- 
liche Bibliothek  zu  Berlin  auszuschöpfen,  war  mir  zum  Schaden 
der  Sache  nicht  vergönnt.  Die  Ortsangabe  ist  nicht  so  gemeint, 
daß  der  betreffende  Vierzeiler  dort  entstanden  oder  nur  dort 
vorhanden  sei,  womit  Niemand  etwas  Neues  gesagt  wird,  der 
um  diese  Dinge  weiß.  Es  handelt  sich  nur  um  die  Form  und 
ihre  Typen.  Älteres  oder  ganz  Volksmäßiges  ist  im  allgemeinen 
bevorzugt.  Für  die  älteren  Perioden  fehlt  in  der  Begel  aufge- 
zeichnetes volksmäßiges  Material,  das  andrerseits  auch  in  moderner 
Aufzeichnung  vielfach  die  Voraussetzung  des  Alters  für  sich  hat. 
Fremde  Originaltexte  zu  erlangen,  war  bei  der  Ausdehnung  des 
Materials  nicht  immer  möglich;  die  Lautschrift  ist  aus  den  von 
Gustav  Meyer ^)  geltend  gemachten  Gründen  aufgegeben.  Über 
die  Eonstatierung  eines  bestimmten  Typus  läßt  sich  im  gegebenen 
Fall  manchmal  streiten;   ABC  gehen  in   einander  über.     In   der 

')  WilmaHns,   Walther   S.  293.    Burdach,    Zs.    f.    d.   A.  27,  354. 
Grazer  Studien  zur  deutschen  Philologie  5,  68  ff.     QF  93,  91. 
«)  Essays  1,  411. 

14* 


212 

folgenden  Übersicht  sind  die  einzelnen  Heispiele  regelmäßig  typische 
Vertreter  von  Hunderten .  oder  Tausenden  ihresgleichen;  Belege 
zu  häufen  ist  nicht  beabsichtigt.  Fast  jede  Fassung  hat  zahl- 
reiche Varianten;  für  das  Deutsche  liefert  die  ganze  folgende 
Untersuchung  Material.  Absolute  Gleichmäßigkeit  ließ  sich  bei 
der  Mangelhaftigkeit  der  zu  Gebote  stehenden  Hilfsmittel  nicht 
immer  erreiclien.  Unterabteilungen  nach  antiken  oder  modernen 
rhetorischen  und  sonstigen  Gesichtspunkten  sind  vermieden,  da 
sie  unbefangenem  Verständnis  zunächst  nicht  dienen.  Wann  bei 
den  einzelnen  fremden  Nationen  der  priamelhafte  Vierzeiler  auf- 
tritt, muß  im  einzelnen  Fall  besonders  untersucht  werden.  Stets 
ist  er  älter  als  die  Aufzeichnung  in  der  Literatur.  Gegen  Ende 
des  Mittelalters,  wenn  sich  volkstümliche  Literatur  hervorwagt, 
haben  ihn  die  Eulturnationen  Europas. 

So  ist  denn  das  Material  ohne  Zweifel  sehr  der  Vervoll- 
kommnung fähig,  aber  es  wird  genügen,  um  das  Gesetzmäßige 
der  Formen  erkennen  zu  lassen. 

Was  die  Anordnung  betrifft,  so  sind  die  Literaturerzeugnisse 
indo-europäischer  Sprachen,  zunächst  mit  Ausschluß  der  ger- 
manischen, vorangestellt:  indische,  lateinische,  romanische,  grie- 
chische, slavische,  litauische,  lettische  und  keltische;  die  ger- 
manischen bilden  die  zweite  Gruppe:  die  deutschen  mit  Berück- 
sichtigung der  einzelnen  Landschaften  und  mit  Einschluß  des 
Niederländischen,  die  nordischen,  die  englischen;  den  Schluß 
machen  anhangsweise  Verschen  der  türkischen,  finnischen,  est- 
nischen und  malaiischen  Sprachen. 

Typus  A. 

Schema: 

Alter  wtbe  minne, 
und  junger  Hute  sinne, 
und  kleiner  rosse  loufen: 
sol  nieman  tiure  koufen. 

Verweile  nicht  und  sei  dir  selbst  ein  Traum, 

Und  wie  du  reisest,  danke  jedem  Raum, 

Bequeme  dich  dem  Heißen  wie  dem  Kalten: 

Dir  wird  die  Welt,  du  wirst  ihr  nie  veralten.     ^ 

Goethe. 


213 

Indisch. 
Sapta9atakam  Nr.  514. 

Mittellateinisch. 

Quot  sunt  üores  in  Idae  vallibus, 
Quot  redundat  Dodona  frondibus, 
Et  quot  pisces  natant  equoribus: 
Tot  habundat  amor  doloribus. 

Carmina  Burana  Nr.  82,  3. 

Friaul. 

Ai  provät  malinconie, 
Ai  provat  il  freit  d'invier, 
Ai  provdt  la  gelo^ie: 
Son  tre  penis  da  l'infier. 

Arbeit,  Villotte  Priulano  S.  81.  Nr.  182. 

Lombardisch.  ' 

Chi  tira  de  mira, 
chi  suna  de  lira, 
Chi  pesca  co  Tarn: 
i  mör  de  la  fam. 

Düringsfeld,     Sprichwörter    der    germanischen    und     romanischen 
Sprachen  II  210.    Nr.  381. 

Mittel-Italien. 

Se  il  Papa  mi  donasse  tutta  Roma, 
E  il  Principe  Boighese  l'Amentana, 
E  mi  dicesse:   Lascia  andar  chi  t'ama: 
Jo  gli  direi  di  no,  sacra  Corona. 

d'Ancona,  La  poesia  popolare  italiana.    Liyorno  1878  S.  209. 

Wer  den  Rock  ungern  beschmitzet, 
Zierlich  ausspukt,  steht  und  sitzet, 
Seinem  Lob  die  Ohren  spitzet: 
Büßt  die  Zeit  ein  für  die  Taten  M. 

•  ^  # 

Ausgewählte  Gedichte  Jacopones  da  Todi  übersetzt   von  Schlüter 
und  Storck  S.  36. 

Französisch. 

Charue  de  ieunes  veaux, 
Chasse  de  ieunes  chevaux, 
De  ieune  faucon  volee: 
Ne  feit  onc  bonne  iournee. 

luvencorum  aratio, 
Fullorum  venatio, 


214 


Falconis  iuvenis  aucupium: 
Irritum  semper  Studium. 

Garnerius,  Thesaurus  adagiorum  gallico-latinorum  (Francofurti  1612). 
S.  123. 

Provenfalisch. 

Itar  au  liech  et  non  dourmir, 
Pron  esperar  et  non  venir, 
Amar  et  non  aver  plesir: 
Sont  tres  causos  que  fan  mourir. 

Herrigs  Archiv  43,  69. 

Spanisch. 

Los  deos  de  las  manos, 

Los  deos  de  los  pies, 

La  picha  y  los  gUebos: 

Son  bentitres. 

KpuTTcdSta  2,  225. 

Neugriechisch. 

T6v  dpcEir'  %{  ä  aairoWC'ßC, 
Tov  vexpo  •*.{  a  yapyoüClQC, 
t6  fAeOucfiivo  xi  av  xepa(X^C) 
p.dv'  T^v  xepaffid  Od  X^'^^* 

rioX{T7)c,  napoift^at  2,422.    No.  17. 

Polnisch. 

Przeskoczyla  bez  koryto, 
Sikla,  piardla  —  dobre  i  lo! 
Zsune}e  sie  bez  tarcige: 
Az  jej  wlazla  drzazga  w  pi^e. 

KpuTcxaSia  3,  226.   Nr.  41. 

Wales. 

Nid  i  garu  do'  is  i  yma, 

Nag  i  roi  'nhroed  i  lawr  yn  ara,' 

Na  chwaith  i  gyffwrdd  wrth  yr  ysgub: 

Rho  dithau  'th  drwyn  yn  nhin  dy  fodrybl 

KpuirrdSta  2,  359. 

Litauisch. 

Die  Augen  in  der  Scheide, 

Die  Zähne  in  der  Tasche, 

Die  Füße  in  den  Händen: 

Dann,  o  lieber  Gott,  dann  verlaß  mich  nicht. 

Schleicher,   Litauische  Märchen,    Sprichwörter,    Bätsei   und  Lieder, 
S.  244;  vergL  Vorwort  S.  V. 


215 


Deutsch. 
Ober-Bayern. 

Koa  Nacht  is  ma  z'  dunkl, 
Koa  Weg  is  ma  z'  weit, 
Koa  Fenster  z'  hoch  drobn: 
Wenn  mis  Diandl  recht  freut. 
650  Schnaderhüpfln.    München,  Höpfner  s.  a.  S.  48. 

Tirol, 
ünterinntal. 

An  aiberisch  Hüetl, 
A  baierisch  Mieder, 
A  baierisch  Diendl: 
Kriegt  nit  an  ieder. 
von  Hörmann,  Schnaderhupfeln^  S.  361.  Nr.  992. 

Lechtal.    Brixlegg« 

Wer  an  Äpfel  stiehlt  und  frißtn  nit, 
Wer  a  Dianl  liebt  und  küßt  sie  nit, 
Wer  ins  Wirtshaus  geht  und  trinkt  koan  Wein: 
Mueß  a  rechter  Patzenläppel  sein. 
Zeitschrift  für  österreichische  Volkskunde  2,  104.    Nr.  145. 

Salzburg. 

A  frischs  Wassel  en  Berg, 
A  Sehens  Diandl  en  Tal, 
Und  dö  husögn  Buabm: 
Hoot  roa  gean  Ubaral. 

Süß,  Salzbnrgische  Volkslieder  S.  194. 

Böhmen. 
Tepl. 

Zwon  Fläign  in  da  Stubn, 
Un  zwoa  Antla  in  Säi, 
Un  zwan  Mai  in  ain  Bett: 
Thaun  ananni  neat  wäih. 
Hruschka  und  Toischer,  Deutsche  Volkslieder  aus  Böhmen  S.  316. 

Oberösterreich. 

Wann  da  Baur  si  mehr  zimt. 
In  da  Stadt  kaft  a  Haus, 
Und  si  herrisch  will  tragn: 
Wird  a  Gwandlümmel  draus. 
Kaltenbrunner.    Die  deutschen  Mundarten  hg.  von  Frommann  4,376. 


216 


Kärnten. 

Zwa  Köpf  und  oan  Sinn, 
Zwa  Herzl  und  a  Freud, 
^wa  Biabl  treu  liabn: 
Lauta  Unmöglichkeit. 

Pogatschnigg  und  Hermann  1,  131.    Nr.  595. 

Steiermark. 

Wer  et  schnupft  und  et  raucht, 
Und  et  tanzt  und  et  sauft, 
Und  hot  dechter  ka  Geld: 
Ist  a  Schand  af  der  Welt. 

von  Hörmann,  Schnaderhüpfeln^  S.  337.  Nr.  921. 

Ungarn. 
Die  Heanzen. 

Wann  dar  Auff  a  mal  p&üzt. 
Und  da  Kibau  anbui  schnalzt, 
Und  dar  andri  Hohn  schrait: 
Is  da  Tog  nima  woit. 

Welcker,  Dialektgedichte'  S.  148. 

Siebenbürgen. 

Wenn  die  Herrn  im  Rathaus  sitzen, 

Die  Handwerksleut  in  der  Arbeit  schwitzen. 

Die  Bauern  auf  das  Feld  ausgehn: 

So  muß  das  Land  im  Segen  stehn. 

Haasinschrift  zu  Schaas  bei  Hai  trieb- Wolff  S.  449. 

Mähren. 
Iglan. 

Geberg  und  Gethal, 
Zwa  Rösserl  im  Stall, 
Zwa  Bubn  fUr  a  Madl: 
Sei  z'viel  auf  a  Mal. 

Zeitschrift  für  österreichische  Volkskunde  4,  17. 

A  Bix  ohni  Ho* 
Und  a  Diendl  ohni  Mo' 
Und  a  Jaager  ohni  Schneid: 
Da  es's  allmal  gefeit. 

von  Eobell,  Schnadahüpfeln  S.  329.   Nr.  26. 


217 


Der  Kittel  und  d  Hosen, 
Der  Berg  und  der  Graben, 
Der  Bua  und  sein  Deandl: 
Muß  an  Z'sammastand  haben. 

K.  Stieler,  Bergbleamln.    München  s.  a.  S.  87. 

Drei  Drumpf  und  oan  Sau, 
Zwen  Herrn  und  koan  Frau, 
So  a  Gspiel  und  a  Haus: 
Ja,  da  Teuxel  halts  aus. 

Franz  Stolzhamers  mundartliche  Dichtungen,  bearb.  von  Hanric der, 
Weitzenböck  und  Zöhrer.    Linz  1897.  1,288. 

Schwaben. 

Wele,  wele  ummer  laufet, 
Wele  d'Glöckle  läutet, 
Wele  zwei  z'säme  stoßet: 
Sind  die  beste  Leutle. 

Ernst  Meier,  Schwäbische  Volkslieder  S.  127. 

Schweiz. 
Eerenz. 

Riffen  und  Schnee, 
Badende  Bueben  im  See, 
Riffi  Kirschi  und  blühender  Win, 
Das  ist  alls  in  eim  Meien  gsin. 

Winteler,  Die  Kerenzer  Mundart  S.  196. 

Solothurn. 

Trink  im  Merze  wiene  Luus, 
Im  Aprelle  wiene  Muus, 
Im  Meie  wiene  Chueh: 
So  wirds  dr  nie  ntit  tue. 

Dr  Grosätti  usem  Leberberg  3',  46.    Nr.  101. 

Appenzell. 

Mini  Schwöster  spillt  Gittar, 
minn  BrUeder  Klarinett, 
minn  Vatter  bröglet  d'Muetter: 
das  geed  e  Quartett. 

Tobler,  Das  yolkslie4  im  Appenzellerlande  S.  3^.  No.  5. 


21? 


Aargau. 

Wenn  einer  en  steinigen  Acher  hat 
Und  en  hölzige  Pflueg, 
Und  e  bös  Frouweli  hat: 
So  ist  er  gschlage  gnueg, 

von  Hörmann,  Schnaderhüpfeln ^  S.  194.  Nr.  549. 

Elsaß. 

Iwer  de  Minsterblatz  ohne  Wind, 
Durch  de  Kurwegaß  ohne  Kind, 
Durchs  Spittelgässel  ohne  Spott: 
Isch  e  grossi  Gnad  von  Gott 

Martin  und  Lienhart,  Wörterbuch  der  Elsässischen  Mundarten  1,  221. 

Nürnberg. 

Geih  mer  nit  über  mei  Aeckerla, 
Geih  mer  nit  über  mei  Ra, 
Geih  mer  nit  naf  lo  mein  Kätterla: 
Sunst  brech  i  dir  Arm  a  Ba. 

Die  deutschen  Mundarten,  hg.  von  Frommann  6,  417. 

Vogtland. 

Und  an  Gerichtsdiener  als  Voressen, 
und  den  Landrichter  als  Worscht, 
und  den  Gensdarm  glei  grün  gfressen: 
Bu,  dös  macht  an  Dorscht. 

Dunger,  Bundas  Nr.  1218. 

Meininger  Oberland. 

Steinheider  Kinder, 
Lauschner  Rinder, 
Und  Schalkener  Braut: 
Besch  —  ölla  leut. 

Schleicher,  Yolkstümliches  aus  Sonneberg  S.  93. 

Schlesien. 

Bei  dem  Bäcker  kauffen  Korn, 
bei  dem  Schmiede  kauflen  Kohlen, 
bei  dem  Schneider  kauffen  Zwirn: 
hilfft  dem  Händler  auf  die  Sohlen. 

liOgau,  hg.  Yon  Eitner,  S.  20.   No.  48. 


219 


Erzgebirge. 

Heischrecken,  Fladrmeis, 
Advekatn,  Filzlais: 
Wu  die  namme  iwrhand, 
Die  verzehrn  e  ganz  Land. 
A.  Müller,  Volkslieder  ans  dem  Erzgebirge  S.  166.    Nr.  166. 

Nassau. 

Ein  altbayrischer  Säbel, 
Und  eine  ungarische  Kling, 
Und  ein  nassausches  Mädel: 
Das  sind  lauter  schöne  Ding. 
Wolfram,  Nassauische  Volkslieder  S.  382.    No.  24. 

Elsenzthal. 

Wer  im  Heumache  nit  gawelt, 
^n  der  Ahm  nit  zawelt, 
Im  Herbscht  nit  früh  uffsteht: 
Der  mag  seh,  wies  'm  Winter  geht. 
Glock,  Lieder  und  Sprüche  aus  dem  Elsenztale  S.  52. 

Eifel. 

Wenn  die  Frau  nicht  haust, 
Die  Katz  nicht  maust, 
Der  Hund  nicht  billt: 
Dann  ist  Alles  verspielt. 
Schmitz,   Sitten  und  Bräuche,   Lieder,    Sprüchwörter  und  Rätsel  des 
Eifler  Volkes  1,  179.    Nr.  28. 

Westpreußen. 

Augen,   die  nicht  ferne  blicken, 

Und  die  auch  nicht  nach  Liebe  schauen, 

Die  oftmals  ganz  gewaltig  drücken: 

Das  sind  meine  Hühneraugen. 
Treichel,  Volkslieder  und  Volksreime  aus  Westpreußen.     Danzig  1895. 
S.  159.    Inbetreff  der  Provenienz  sind  die  Bemerkungen  S.  III  und  V  des 
Vorworts  zu  beachten. 

Ostpreußen. 
Mewe. 

Ein  Schreiber  ohne  Feder, 
Ein  Schuster  ohne  Leder, 
Ein  Kaufmann  ohne  Geld: 
Sind  die  größten  Hundsfötter  in  der  Welt. 
Frischbier,   Preußische  Sprichwörter  und  volkstümliche  Redensarten^ 
2.  Sammlung.    Berlin  1876,    S.  164.   Nr.  2416, 


220 
Niedersächsisch. 

En  Afkate  one  Leigen,  i 

En  Jude  one  Bedreigen, 
'ne  Ziege  one  Bart: 
Dat  sint  Dinge  seidener  Art. 
Grote,  Niedersächsisches  Kinderbuch.    Hannover  1872',  S.  454. 

BrauDSchweig. 

Hunger  un  Dost, 
Hitze  un  Frost, 
Kein  Tüg  open  Liwe: 
Un  dat  sind  fiwe. 

Zeitschrift  für  Volkskunde  10,  426. 

Westfalen. 

Jäiden  moargen  branneweYn, 

un  nommerdages  bäir, 

un  do  en  nett  jung  miäken  beY: 

es  dat  nitt  en  plasäir. 

Nd.  Korrespondenzblatt  1,  94. 

Hamburg. 

Beren  achter  Wynacht, 
Un  Appeln  achter  Fassnacht, 
An  Junfern  över  dörtich  Jar: 
Heft  alle  dre  den  Smack  verlarn. 

Nd.  Korrespondenzblatt  5,  16. 

Lübeck. 

Den  Kopp  hol!  kold,   de  Been  holl  waarm, 
Stopp  nich  to  veel  in  dinen  Daarm, 
De  Achterpoort  laat  open  stahn : 
Denn  kann  de  Dokter  wider  gähn. 
Schumann,   Volks-  und  Kinderreime   aus  Lübeck  S.  119.    No.  460a. 
Wegener  S.  228.    No.  777;  S.  229.    Nr.  778. 

Mecklenburg. 

Fisch  an  Graden, 

Flesch  an  Knaken, 

Holt  an  Knorren: 

De  soelen  irst  inn  Himmel  kamen. 

Nd.  Korrespondenzblatt  11,  44. 

Schwaneburg. 

WiewT  krunkn, 
Hunne  hunkn, 
Koopmann  schwaern: 
Loat  juch  nich  bethaem. 

Wegener  S.  227.    No.  767. 


221 


Altmark. 

Twee  Höän  upp  een  Meß, 
Twee  Furrlüd  up  een  Woagn, 
Twee  Muddrs  in  een  Huus: 
De  könn  sick  nich  verdroagn. 

Wegener  S.  231.    No.  789. 

Einem  Säufer  wird  in  Ostfriesland  nachgerufen: 

Janever  is  mien  Levend, 
Janever  is  min  Dood, 
Janever  mut  ik  hebben: 
AI  heb  ik  ok  geen  Brood. 


Globus  24,  31 L 


Mittelniederländisch. 


Die  gherne  dobbelt  ende  drinct, 
ende  altoos  die  taverne  mint, 
ende  locker  is  mit  sconen  vrouwen: 
cruus  noch  munt  en  sei  bi  behouwen. 

Altdeutsche  Blätter  1,  76.  No.  23. 

Neuniederländisch. 

Daar  Burgeroeesters  Koren  kopers  zyn, 
£n  Pagters  en  Verklikkers   drinken  de  Wyn, 
En  siegte  lui  gaan  bidden  om  broot: 
Daar  leeft  de  Gemeente  in  groote  noot. 

Op  een  Rydwagen  tot  Haarlem.    Eoddige  en  ernstige  Opschriften  1,  25. 

Englisch. 

He  that  hath  it  and  will  not  keep  it, 
He  that  wants  it  and  wiU  not  seek  it, 
He  that  drinks  and  is  not  dry: 
Shall  want  money  as  well  a«  J. 

Northall,  English  folk-rhymes  S.  518. 

Aus  dem  14.  Jahrhundert: 

Long  beards  heartless, 
painted  hoods  witless, 
gay  coats  graceless: 
make  England  thriftless. 

W.  Carew  Haziit     English  proverbes.    London  1869.  S.  268.    Nort- 
hall S.  98.    Nach  1327. 


'I'Ii 


Dänisch. 

Hvor  Soldater  syde  og  brade, 
Praester  Verdsligt  villc  raade, 
Qvinden  og  Regiering  haver: 
Ilde  sig  Huusholdning  haver. 

Ord-Bog    over   Danske   Ordsprog   paa   Pransk   oversatte.     Kiöbenhavn. 
1757.     S.  316. 

Norwegisch. 

Du  tai   'ke  tukke  deg  sä  ifra  mcg, 
Du  tar  'ke  tenkje  at  eg  vil  fä  deg, 
Du  tar  no  inki  sa  pä  deg  snü: 
eg  held  meg  leksa  god  eg  som  du. 

Landstad,  Norske  Folkeviser  S.  750.    Nr.  7. 

Finnisch. 

Will  der  Luchs  den  Berg  zerbeißen, 
Will  der  Wolf  den  Stein  zerbrechen, 
Will  der  Bär  den  Fels  zermalmen: 
Allen  kostet  es  die  Zähne. 

Altmann,  Euiien  finnischer  Yolkspoesie  S.  140. 

Malaiisch. 

Von  Patani  das  gelbe  Betelblatt, 
Von  Malacca  die  frische  Betelnuß, 
Und  ein  weißgelbes  Christenmädchen: 
Dran  einer  wohl  verderben  muß. 

Talvj,  Proben  S.  71. 

Natürlich  bindet  sich  improvisierende  Volkskunst  niclit  an 
regelrecht  ausgeprägte  syntaktische  Schemata;  die  logische  Be- 
ziehung ist  oft  bloß  angedeutet.  So  gehört  zum  Typus  A  die 
bekannte  Martel-Inschrifc  vor  Amras: 

Aufi  gstiegn, 
Kerschen  brockt, 
Abi  gfallen: 
Hin  gwesen  *). 


*)  Marterl,  Votivtafeln,  Grabschriften,  Peldkreuze,  Leichenbretter,  Haus- 
sprüche, Armeseelenbilder  in  Tirol,  Vorarlberg,  Bayr.  Wald,  Vorgebirge  nnd 
Altbayrischen.  Gesammelt  von  mehreren  Touristen.  Regensburg.  Stahl 
s.  a.  S.  27.    Vgl.  S.  24  und  oben  das  penill  aus  Wales. 


22^ 


Grobes  stilistisches  Schematisieren  wird  hier  zur  Unmöglichkeit. 
Unerschöpflich  sind  die  sich  ergebenden  und  am  modernen  Schnader- 
hüpfel  zu  studierenden  Nuancen  der  Verbindung.  Zugleich  leiten 
solche  Fälle  zu  dem  verwandten  Typus  B  über.  Wenn  auch  erst 
in  dem  folgenden  Kande  der  moderne  Priamelvierzeiler  als  solcher 
zur  Behandlung  kommt  ^),  so  ist  doch  schon  hier  auf  die  unge- 
heure Beweglichkeit  der  Formen  hinzuweisen,  um  auch  für  die 
ältere  Zeit  den  richtigen  Augenpunkt  für  die  Beurteilung  zu  finden. 
Ohne  besondere  Andeutung  der  logischen  Beziehung  verfährt  der 
Spruch : 

Oane  han  i  entern  Bach, 
Oane  im  Grabp, ' 
Oane  in  der  Nachbarschaft: 
Drei  mueß  i  habn. 

von  Hörmann,  Schnaderhüpfeln  aus  den  Alpen^  S.  41.    No.  115. 

Ähnlich : 

Schön  jung  is  mei  Bluot, 
Und  schön  rund  is  mei  Huot, 
Und  Kurasch  wie  a  Teufel: 
Will  sehn,  wer  mir  was  tuot. 

Gundlach  No.  905. 

Vogtland. 

Morigns  früh  ze  Branntwein, 
und  Nochmittig  ze  Bier, 
und  Obends  in  de  Rockenstubn: 
dös  is  de  Borschmanier. 

Dunger,  Eundas  No.  799. 

D  Frau  Wirtin  in  Sattl, 
D  Köchin  in  d  Hand, 
D  Kellnerin  ins  Loatseil : 
Das  liederliche  Land. 

KpüTTTötSia  4,  89.     No.  45. 

Inhaltlich,  aber  nicht  formal  entwickelt  scheint: 

Schneid  in  Leib,    Geld  in  Sack, 
Und  a  Sehens  Diandl  af  d  Nacht: 
Dö  drei  gutn  Ding 
Kann  man  selten  zsammbring. 

Pogatöchnigg  und  Herrmann  1,  364.    No.  1551. 


»)  Vorläufig  Reuschel  S.  117  f. 


224 


Von  sjotaktisch-stilistischer  Gleichmäßigkeit  oder  gar  Korrekt- 
heit maß  oft  abgesehen  werden. 

Zwa  Gamserl  Um  scheixen, 
Zwa  Hnnderl  tan  jagn, 
Zwa  Deanidl  tan  streitn: 
Oan  Bfinbl  woHn  s'  habn. 

TOD  Hörmanii'  S.  48.   Nr.  136. 

Eine  ganze  dialogisch-mimische  Scene  stellt  das  Schnader- 

'^  *  Madl,  magst  an  rodn  Apfl  ? 

Bfadl,  magst  an  Wem  aa? 
Biagst  net  a  weng  halsn? 
*Ja!  ja!  i  mag  aa!« 

6  n n  dl a  ch ,  Tausend  Schnadahüpfeln.    Nr.  92. 

Ebenso  dramatisch  verfährt  der  Vierzeiler: 

An  Spmng  übern  Zami, 

Und  an  Jucbazar  drauf. 

Und  an  Klockar  ans  Fenster: 

Scheans  Diemdl,  tuo  auf! 

Gnndlach  Nr.  184. 

In  formaler  Entwicklung  bleiben  Verse  stecken,  wie: 

Zu  dir  bin  i  gangen, 
zu  dir  hats  mi  gfreut, 
zu  dir  ge  i  nimmer: 
der  wöch  is  mer  zweit 

Die  deutschen  Mundarten  5,  510.    No.  1*3. 

Bisweilen  sind  nicht  alle  Glieder  gleichmäßig  entwickelt;  so 
das  erste  in  dem  verbreiteten  Vierzeiler: 

Gelt,  du  klemmaugate, 
Gelt,  für  di  taugati, 
Gelt,  Blr  di  war  i  recht: 
Wann  i  di  mecht. 

Pogatschnigg   und   Herrmann  1,  91.    Nr.  397.      von   Hörmann  ^ 
S.  33,  No.  92.     Dunger  No.  535.    Ernst  Meier  S.  8.    No.  30. 

Von   der  4.  Zeile  ist  der  Abschluß  sogar  in  die  3.  gerückt: 

Wanns  regnt  und  wanns  schneibt, 
Und  wann  kalt  da  Wind  waht, 
Und  i  geh  zu  meim  Deamdal, 
Wanns  Spieß  regna  thaat. 

Gundlach  Nr.  170.    von  Hörmann»  S.  203.    Nr.  14. 


225 


Z'  BitzUtetten  und  Malvergettn', 
Z'  St.  Veit  und  Maria  Saal, 
Khert  alles  mein, 
Bis  Ebenthal. 

Pogatschnigg  und  Herrmann  1',  129.  Nr.  626. 

Zwoa  kohlschwarze  Rößlan, 

A  Saggl  in  Wagen, 

Mei  Bue,  der  mueß  ja 

A  Schnurbartl  haben.  „ 

Ebenda  S.  8.  Nr.  39. 

Noch  ein  Beispiel  dieser  Art  gibt  Werie  im  Almrausch  S.  3 
aus  dem  Murtal. 

An  Knödl  und  a  Fleisch, 
Und  a  Koch  und  an  Sterz, 
Na,  das  ham  ma  halt  do, 
Und  an  altdeutsches  Herz. 

Selbst  in  die  zweite  Zeile  rückt  der  sogenannte  Abschluß; 
ein  Beweis,  wie  wenig  überhaupt  auf  den  Abschluß  als  solchen 
Wert  gelegt  wird. 

Lustig  frisch  auf 
Ist  mein  Buebn  sei  Brauch, 
s  HUetl  auf  der  Seitn, 
die  Schneid  oben  drauf. 

von  Hör  mann,  Schnaderhüpfeln^  S.  2.  Nr.  2.  Pogatschnigg  und 
Herrmann  1^,  10.   Nr.  50. 

Dagegen  lehrte  J.  G.  Meister,  das  vornehmste  Acumen 
besonders  in  die  letzte  Zeile  zu  bringen;  „denn  wo  diese  zurücke 
bleibet,  so  sind  die  Sinn-Getichte  ein  schwartzer  Balsam,  welcher 
nach  verlohrenen  Gerüche  nichts  thut,  als  daß  er  die  Haut  be- 
sudelt ^).^  Vor  allen  Dingen  kann  oft  nicht  von  Abschluß  im 
Sinne  rhetorischer  Theorie  die  Bede  sein,  nicht  etwa  von  einem 
Prädikat,  das  zu  mehreren  Subjekten  gemeinsam  gehöre  und  der- 
gleichen.    Einige  Beispiele  mögen  das  zeigen: 

San  neat  alla  Grasla  gräin, 
San  neat  alla  Maidia  schäin, 
San  neat  alla  Röisla  routh: 
Wöi  mas  geam  hout. 

Hruschka  und  Toischer,  Deutsche  Volkslieder  aus  Böhmen  S.  329. 


*)  Unvorgreiffliche  Gedanken  Von  Teutschen  Epigrammatibns  ...  von 
M.  M.  Leipzig  1698.     S.  81. 

Snllng,  PriameL  15 


226 


Mein  Köih  stenga  dick  inn  Teich, 
Mein  Köih  hoben  al  grauß  Bauch, 
Mein  Köih  geben  Mülch  u  Schmolz: 
Man  Frau  wiad  stolz. 

Hruschka  und  Toischer  S.  364. 

A  Bisserl  Schwoarz  und  a  weng  Weiß, 
A  Bisserl  Englända  und  a  weng  Preuß, 
A  Bisserl  Ruß  und  a  weng  Franzos: 
Und  donn  geht  die  Gschicht  los. 

Hruschka  und  Toischer  S.  375. 

Ein  zweiter  Vierzeiler  erweitert  die   letzte  Zeile   des   ersten 
in  einem  böhmischen  Gedicht  aus  Plan-Eger. 

Wenn  anna  an  staininga  Acka  haut 
U  haut  an  hUlzana  Pflough, 
U  haut  a  rechts  böis  Wei  dazou: 
Dear  is  schon  geschlagn  grad  gnough, 

Dear  mou  si  selwa  Hulz  eintragen, 
Dear  mou  sie  selwa  Feiea  schlogn. 
Dear  mou  si  selwa  haitzn  an, 
Mouß  selwa  Köchin  san. 

Hruschka  und  Toischer,  Deutsche  Volkslieder  aus  Böhmen  S.  221. 

Tjrpus  B. 

Schema: 
Alte  leute  krauen  sich, 
zornige  leute  hauen  sich, 
weise  leute  besinnen  sich: 
junge  leute  minnen  sich. 

Im  neuen  Jahre  Glück  und  Heill 

Auf  Weh  und  Wunden  gute  Salbei 

Auf  groben  Klotz  ein  grober  Keill 

Auf  einen  Schelmen  anderthalbel  Goethe. 

Indisch. 
Sapta9atakam  Nr.  80. 

Lateinisch. 

Nee  parit  mula, 

nee  lapis  fert  lanam, 

nee  huic  morbo  caput  crescat: 

si  creverit,  tabescat. 

Heim,  Incantamenta  S.  549. 


22/ 
Livorno. 

Non  c'e  sabato  senza  sole, 
Non  c'e  donna  senz'  amore, 
[Non  c'e  rosa  senza  spina,] 
Non  c'e  prato  senz'  erba: 
Non  c'e  camicia  senza  in.  . 


Romania  12,  610. 


Venedig. 

Un  legno  no  fa  foco, 
Do  ghe  ne  fa  poco, 
Tri  ghe  ne  faria: 
Ma  i  vole  compagnia. 

von  Düringsfeld  1,  177.  Nr.  351. 

ViUotta. 

Es  ward  das  Meer  für  die,  so  Schiffahrt  treiben; 
Die  Feder  und  das  Tintenfaß  zum  Schreiben; 
Zum  Sundenbußen  ward  das  Fegefeuer: 
Die  Lieb  fUr  Alle,  die  einander  teuer. 

Somborn  S.  131.    El  mar  e  fato  per  i  naveganti. 

Die  Geduld  als  Schild  erhebe, 
Eifrig  in  Gehorsam  lebe, 
Nicht  nach  vielem  Wissen  strebe: 
Aber  tu  viel  guter  Taten. 

Ausgewählte  Gedichte  Jacopone  da  Todis,   übersetzt  von  Schlüter 
und  Storck  S.  37. 

Französisch. 

Les  asnes  mangent  de  Tavene, 
Les  bons  chevaux  n'ont  point  de  foin, 
Les  lourdaux  ont  leurs  panses  pleines: 
Les  bons  esprits  meurent  de  faim. 

Garnerius  S.  60. 

Spanisch. 

Todo  lo  vence  el  amor; 
Todo  el  dinero  lo  allano; 
Todo  lo  consume  el  tiempo; 
Todo  la  muerte  lo  acaba. 

Marin,  Cantos  populäres  espafioles  4,  243.    Nr.  6870. 

15* 


m 


PortugiesiäcL 

Kern  toda  a  aryore  da  fhictö, 
Nem  toda  a  erva  da  fior; 
Nem  toda  a  mulher  bonita 
Tode  dar  constante  aroor. 

Braga,  Cancioneiro  populär.    Coimbra  1867.    S.  44. 

Neugriechisch. 

xdEXXio  vd  )(Ouv  xd  nailid  fxou, 

xaXXco  vd  yr^  if)  dcpevriäi  fxou. 

IIoX^TTjc,  riapocfA^at  2,  673.   No.  2. 

Macedonien. 

Xapd  \  Tov  icoü  TO  ic{vet, 

^dpd    'C  TOV   1C0U   XCpV^, 

)(apd  'c  t))  xo(ji.iiav(a, 
Kai  'c  ^'  t)]  oovTpo^pidL 

Abbott,  Macedonian  Folklore  S.  342.    No.  39. 

Aus  Samogitien. 

Wiele  po^cieli  bez  pi6r, 
Wiele  tTzewik6w  bez  sk6r, 
Wiele  miast  bez  muröw: 
Wiele  pauöw  bez  gburow. 

Nitschmann,  Geschichte  der  polnischen  Literatur  S.  239. 

Wendisch. 

Z  nesla  kacka  dzence  jykow, 
Tod  dttbowgm  penkom, 
'Sitke  mlode  wule  'nyla, 
Dzes  atcho  skopa. 

Haupt  und  Schmaler,  Volkslieder  der  Wenden  I  Nr.  219. 

Bosnisch. 

Sttvopoljka  bez  obojka, 
a  Zagonka  bez  zaglavka, 
Cagjavica  mrka  pica, 
Bukowiöka  pukla  pi£ka. 

KpuircdSia  8,  249. 


229 


Litauisch. 
Ein  Fünfzeiler. 

Einer  mit  sich  tut  nicht  gut, 
Zweie  plaudern  wohlgemut, 
Gut  beraten  wird  zu  dreien, 
Klüger  können  vier  nicht  sein, 
Neune  schwatzen  allerhand, 
Zwölfe  aber  Unverstand. 

Schleicher,  Litauische  Märchen,  Sprichwörter,  Bätsei  und  Lieder  S.  244. 

Lettisch. 

Für  die  Mädchen  blüht  die  Rose, 
Für  die  Mädchen  prangt  der  Mohn, 
Für  die  Mädchen  reiten  stolze 
Knaben  ihre  jungen  Rosse. 

Uli  mann,  Lettische  Volkslieder  S.  17.  Nr.  53. 

Deutsch. 
Ober-Bayern. 

Zum  Frühstück  a  Suppn, 
Und  Fisch  auf  Mittag, 
Um  halbe  drei  Krebsn, 
Und  Vögeln  auf  d  Nacht. 

650  Schnaderhüpfln.    München  9.  a.  S.  27. 

Böhmen. 
Plan. 

Zan  Fröistück  a  Suppen, 
U  Fisch  af  Mittagh, 
Um  a  halwa  dra  Krebsn, 
U  Rebhennla  af  d  Nacht. 

Hrnschka  und  Toi  scher,  Deutsche  Volkslieder  aus  Böhmen  S.  316. 

Tirol. 

Mei  Muatter  ist  kröpfet, 
Der  Voter  ist  kramp, 
Mei  Schwöster  ist  buggelt. 
Aber  i  bin  a  Lump. 

(rreinz  und  Kapferer,  Schnadahüpfeln  aus  Tirol  S.  32. 


230 
Wiener  Wald. 

Wanns  nua  nit  schlimma  wiad, 
Wanns  nua  so  bleibt, 
Wanns  ah  schon  regna  tuad, 
Wanns  nua  nit  schneibt. 

Welcker,  Dialektgedichte  ^  S.  130. 

Salzburg. 

Und's  Diendl  is  handsam, 
Zum  Tanzn  schön  langsam, 
Zum  Busselgebn  gschwind 
Und  zum  Halsn  schön  lind. 

von  Hör  mann,  Schnaderhüpfeln  ^  S.  123.    Nr.  345. 

Ennstal. 

Wia  d  Schüssel,  so  d  Scherbn, 

Wia  's  Mehl,  so  die  Nocken, 

Wia  's  Kraut,  so  die  Ruabn, 

Wia  der  Voda,  so  die  Buam. 

Zeitschrift  für  Volkskunde  6,  137. 

Kärnten. 

Das  Fegfoir  is  vrbrennt, 
Und  die  HöU  is  eiskalt. 
Der  Teixl  in  Pension, 
Der  Hascher  is  schon  alt. 

Fogatschnigg  und  Herrmann  2,  34.  Nr.  125. 

Steiermark. 

Koan  Baum  ohne  Laub, 
Und  koan  MUhl  ohne  Staub, 
Und  koan  Hut  ohne  Schnuar, 
Und  koan  Dim  ohne  Bua. 

von  Hörmann,  Schnaderhüpfeln^  S.  340.   Nr.  928. 

Dee  Fuchs  dee  san  kniffi, 
D'  Reh  flüchti  habaus, 
Und  da  Bäar  is  grobgriffi, 
Doh  da  Jaaga  lacht  s'  aus. 

J.  A.  Pangkofer,  Gedichte  in  altbayerischer  Mundart.    N.  F.  Nürnberg 
1854.    S.  299.    Sprüche. 


231 

Wohrzoachn. 

An  iads  Bierhaus  hot  sein  Hobelspon, 
An  iads  Weinhaus  hat  sein  Tanenzweig, 
An  iads  Hütlerl,  wo  a  Dirndl  wohnt, 
Hot  durch  n  Wold  sein  Jagasteig. 

ßosegger,  Zither  und  Hackbrett  S.  52. 

Da  Pfarr  vagibt  d  Sünden, 
Und  s  Bier  giebt  an  Kraft, 
Und  d  Lieb  is  für  Leutln, 
Wo  jung  san,  daschafit. 

Ganghof  er  bei  Gundlach  S.  29.   Nr.  23. 

Elsaß. 

ABC  Abt, 

de  Schulmeister  gnappt, 

der  Profiser  hinkt, 

und  d  Schuelfrau  stinkt. 

Martin  und  Lienhart,  Wörterbuch  der  Elsässischen  Mundarten  1,  264. 

Vogtland. 

Halb  und  halb  mogst  mich  scha, 
Halb  und  halb  net, 
Halb  und  halb  mog  ich  net: 
Lieber  gor  net. 

Dunger,  Bundas  Nr.  517. 

Buhla. 

De  Bearr  sein  werlich  net  gereng, 
Der  Waald  iis  au  voll  höscher  Deng, 
A  Frä,  bear  of  den  Bearenar  stiit 
Un  of  de  Ruhl  anäpper  sieht. 

Ludwig  Storch  bei  Welcker,  Dialektgedichte^  S.  198. 

Nehlitz. 

Mein  Vater  ist  en  Spitzbub, 
Meine  Mutter  hat  gestohlen, 
Mein  Bruder  sitzt  im  Zuchthaus: 
Und  mich  werdn  se  bald  holen. 

Adler,  Volks-  und  Kinderlieder.    Halle  1901.    S.  25. 


232 


Westprenßen. 

Verschlaf  die  Zeit,  verlern  das  Denken, 
Verändre  nie  dein  Schafsgesicht, 
Laß  dich  von  jedem  Ochsen  lenken, 
Und  wenn  er  stößt,  dann  muckse  nicht 

Treichel  S.  162. 

Ostpreußen. 

Altstadt  die  Macht, 
Kneiphof  die  Pracht, 
Im  Löbnicht  der  Acker, 
Auf  dem  Sackheim  der  Racker. 

Frischbier,  Preußische  Volksreime.    Berlin  1867.  S.  269. 

Lübeck. 

Kalffleesch  Halffleesch, 
Hamelfleesch  Damelfleesch, 
Aber  uppen  Ossenbraden 
MUtt  man  goode  FrUnn  inladen. 

Schumann,  Volks-  und  Kinderreime  aus  Lübeck  S.  119.    Nr.  457. 

Niederländisch. 

Eerst  een  raap, 

Dan  een  schaap, 

Dan  een  koe, 

Zoo  gaat  het  naar  de  galge  toe. 

Van  Vloten,  Nederlandsche  Baker-  en  Kinderrijmen.    Leiden  1874  S.  64. 

Dänisch. 

Vel  föd,  er  vel  en  Trost, 
Men  bedre  vel  opdragen, 
Vel  gift,  er  Livers  Lyst, 
Vel  död  er  heele  Sagen. 

Ord-Bog  over  Danske  Ordsprog  S.  113. 

Englisch. 

Hay  is  for  horses, 

Straw  is  for  cows, 

Milk  is  for  little  pigs. 

And  wash  for  old  sows. 

Northall  S.  489, 


233 


Finnisch. 

Marder  fanget  man  mit  Pfeilen, 
Drosseln  fanget  man  mit  Dohnen, 
Schnäpel  fanget  man  mit  Netzen, 
Narren  fanget  man  mit  Worten. 

Alt  mann,  Runen  S.  156. 

Tatarisch. 

Der  Krankheiten  schlechteste  ist  die  Gicht, 
Der  Hunde  schlechtester  die  Hündin, 
Der  Pferde  schlechtestes,  das  ausschlägt, 
Der  Weiber  schlechteste,  die  sich  (Jedem)  giebt. 

Radi  off,  Proben  der  Volksliteratur  der  nördlichen  türkischen  Stämme. 
VI  Der  Dialect  der  Tarantschi-Tataren.    St.  Petersburg  1886.     S.  1. 

In  den  germanischen  Sprachen  scheint  dieser  Typus  ver- 
hältnismäßig etwas  seltener  vertreten,  als  in  manchen  andern, 
im  niederdeutschen,  niederländischen,  nordischen  Sprachgebiet 
seltener,  als  im  ober-  und  mitteldeutschen.  Feinere  Wirkungen 
erreichen  hier  besonders  die  romanischen  und  slavischen  Impro- 
visationen. Typus  A  und  B  sind  oft  schwer  zu  scheiden,  z.  B. 
in  dem  Hausspruch  aus  dem  Stubaiertal: 

Trau  nicht  der  Welt, 
Trau  nicht  dem  Geld, 

•  

Trau  nicht  dem  Tod: 
Trau  allein  auf  den  Gott. 

von  Hör  mann,  Haussprüche  S.  88. 

Oder  in  Stelzhamers  Tanzl: 

Koan  Tag  ahne  Sunn, 
Und  koan  Nacht  ahne  Stern; 
Und  koan  Herz  af  da  Welt, 
Das  koan  anders  hat  gem. 

Zwoa  Fischerl  im  See, 
Und  zwoa  Vögerl  im  Wald; 
Und  zwoa  Leut,  dö  so  gern  ham, 
Dö  finden  so  bald. 

Koan  See  ahne  Wassa, 
Koan  Wald  ahne  Bam; 
Und  koan  Nacht,  wor  i  schlaf, 
Yo  man  Schatz  ahne  Tram, 


234 


Leicht   stellt   sich    statt   der  SteigeniDg   der  Gegensatz  ein. 

Da  Wein  is  fUm  Durst, 
Füm  Hungar  a  Wurst, 
Und  a  Deandl  zum  Scherz, 
Abam  Weib  ghört  inei  Herz. 

Werle,  Almrausch  S.  219. 

Daß  d'  Stiefel  schean  glonzn, 
Deswegn  gibts  a  Wix, 
A  Pulver  für  d*  Worzn, 
Fürs  Podagra  nix. 

Greinz  und  Eapf erer,  2.  Sammlung  S.  13. 

Oder  die  Steigerung  bleibt  absichtlich  aus. 

P.  P.    in    een  Gezelschap    verzogt,    om    wat   te   uiten,    ter   eeren  van  vier 
Brabantsche  Steden,  zeide: 

Leuven  zig  met  Drank  verblyd, 

Mechelen  veel  Zotten  slyt, 

Brüssel  voert  een  grooten  Staat, 

Antwerpen  heeft  de  Leepel-straat. 

Opschriften  3,  3. 

Typus  C. 

Schema: 

Bus  slahe  wir  der  werlde  trummen: 
ein  touber  spottet  ofte  eins  stummen, 
ein  alter  töre  eins  jungen  tummen, 
ein  lamer  gickelt  fif  den  krummen. 

Mancherlei  hast  du  versäumet: 

Statt  zu  handeln,  hast  geträumet. 

Statt  zu  denken,  hast  geschwiegen, 

Solltest  wandern,  bliebest  liegen. 

Goethe. 

Indisch. 

Sapta^atakam  Nr.  221. 

Mittellateinisch. 

Tres  infelices  in  mundo  novimus  esse: 
infelix,  qui  pauca  sapit  spernitque  doceri, 
infelix,  qui  recta  docet,  operatur  iniqua, 
infelix,  cui  nulla  sui  sapientia  prodest. 

Mones  Anzeiger  3,  32. 


235 


Französisch. 

De  trois  choses  Dieu  no  gart: 
c'est  de  bouchon  de  Lombart, 
de  et -cetera  de  notaire, 
de  quid-pro-quo  d'apoticaire. 

Mones  Anzeiger  4,  464  aus  einer  Handschrift  des  15.  Jhs. 

Languedoc. 

Diou  vous  garde  de  tres  caousos: 
D'uno  chambrieiro  que  se  fardo, 
D'un  varle  que  se  regardo, 
D'un  paour'  repas  que  tardo. 

Herrigs  Archiv  43,  75. 

Venedig. 

Beim  Liebsten  mein  man  sieben  Gebrechen  findt: 
Ist  blind  und  lahm  und  hat  nen   bösen  Grind. 
Rechts  ganz  gelähmt  ist  auch  der  arme  Tropf, 
Und  hat  nicht  Hals,  nicht  Beine  und  nicht  Kopf. 

Somborn  S.  168.    El  mio  moroso  'Iga  sete  difeti. 

Piemont. 

Tre  cose  a  son  mal  goemä: 
un  osel  a  man  a  na  masnä, 
una  dona  ant  le  man  d'un  soldä, 
e  un  caval  ant  le  man  d'un  frä. 

von  Düringsfeld,  Sprichworter  1,  155. 

Spanisch. 

El  hombre  para  ser  hombre 
Nesesita  tres  partias: 
Jaser  mucho,  jablar  poco 
Y  no  alabarse  en  su  bia. 

Marin,  Cantos  populäres  espaüoles  4,  183.  Nr.  6543. 

Griechisch. 

*r7tatvetv  jxiv  äptorov  dfvSpl  Ovaxcj), 
dfiurepov  8h  ^u^v  xaX^v  ^evl^dai, 
T^  TpiTov  81  itXoüTeTv  dSoXcoc, 
xal  To  tetapTOv  ^ßav  jieTot  tcdv  (^(k(ay. 

Bergk,  Poetae  lyrici  3 3,  1289,5, 


23r> 

Neugriechisch. 

joupouvt  So)ftexisEi)(Uf>o, 
fjLOUAUtpc  avpavTCb](Aepo, 
xal  imEXc  xplfAa  £vt. 

noX{Ti)c,  DapocfAiac  2,469.   Nr.  2. 

Macedonien. 

icpitctc  vd  ^aao(ACf>i^9Q, 
irpfnei  dfoicpa  vd  &)&flEO]Q, 
xotl  vd  {A^jv  T«  XojapcdoiQ. 
Abbott,  Mscedonian  Folklore  S.  940.   Nr.  24. 

Polnisch. 

Mutnlenku,  daj  mnie  za  mi|z: 
Albo  mi  ji(  mitiu^  zawii^z, 
Albo  nitki^,  albo  lycskiem 
Albo  z  portek  kasalyczkiem. 

Kpuirc«£Sca  3,  324.   No.  39. 

Südslavisch. 

Svaka  ptica  ima  kljun, 

svaki  öoban  treba  d£bun, 

svakoj  rupe'  treba  klin, 

a  djevojki  ruimarin. 

Kpuirrdda  6,  328.   No.  54. 

Lettisch. 

Was  für  Wunder  sah  ich  nicht, 

Als  im  fremden  Land  ich  war: 

Huhn  mit  Brüsten,  Schwein  mit  Hörnern, 

Schafbock  stand  gesattelt  da. 

üllmann,  Lettische  Volkslieder  S.  89.   Nr.  280. 

Aus  der  Bretagne. 

Tri  zoull  e  deux  va  mamm: 

Toull  ann  tamm, 

Toull  ar  bramro, 

Ha  toull  ann  hibil  kämm. 


Ans  Wales. 

Tri  pheth  y  sy'n  rhyfeddod  mawr: 
Cont  yn  dal  dwr  a'  i  phen  i  lawr, 
Cala  '  n  codi '  phen  heb  asgwrn  ynddi, 
Twll  tin  yn  cau  heb  un  llinyn  crychu. 


Kpuirc«Eft(a  2,  266. 


Kpuirn£(ia  2,  857. 


237 


Deutsch. 
Ober-Bayern. 

Und  a  Lieb  ohne  Freud : 
Is  a  Wagn  ohne  Rad, 
Is  a  Bam  ohne  Blatt, 
Is  a  Bild  ohnfe  Gnad. 

650  Schnadahüpfln.    München.    Verlag  von  Ph.  Höpfner,  s.  a.  S.  21. 

BöhmeD. 
Strodenitz. 

Is  koana  im  stand: 
Dem  Strodanetza  fangt, 
Dem  Strodanetza  reißt, 
Oda  gar  außi  schmeißt. 

Hruschka  und  Toischer,  Deutsche  Yolkslieder  aus  Böhmen  S.  315. 

Egerland. 

Mein  schätz  is  a  schmid, 
e  isenklopper, 
e  rechter  flankierer, 
,e  madlfopper. 

Die  deutschen  Mundarten,  hg.  von  Frommann  5,  128.   Nr.  9. 

Tirol. 

I  han  nix  als  a  Häusl 

Und  a  gescheckete  Kueh 

Und  a  Spinnradi  und  a  Bettstattl 

Und  a  Bettl  dazua. 

von  Hörmann,  Schnaderhüpfeln^  S.  30.    No.  82. 

Salzburg. 

s  Diendl  hat  sechs  Sinn, 
Den  oan  her,  den  oan  hin. 
Den  oan  auf,  den  oan  a, 
Den  oan  dort,  den  oan  da. 

von  Hörmann^  S.  52.    No.  149. 

Niederösterreich. 

I  bi  a  Regrat, 

Und  i  droch  an  Kabut 

Und  a  Holzmizn  auf 

Und  a  greans  Sdraißal  drauf. 

Pie  deutschen  Mundarten,  hg.  von  Frommann  3,  389, 


238 


Steiermark. 

Geht  ma  sunsten  nix  ab: 
Wie  -  r  -  a  MUhl  und  a  Rad, 
Und  a  Haus  und  a  Feld, 
Und  a  Dierndle  mit  Geld. 

von  Hörmann,  Schnaderhüpfeln^  S.  30.    No.  81. 

Schwaben. 

I  weit  i  war  gstorba 
Und  lag  begraba  in  der  Hell 
Und  alle  Madien  drinna  wären 
Und  i  der  Ober-Gesell. 

Welcker,  Dialektgedichte »  S.  74. 

Appenzell. 

Ond  uus  ischt  mit  meer; 
ond  mi  Huus  hed  kä  Töör, 
ond  Töör  hed  kä  Schloß, 
ond  vom  Schätzeli  bin  i  loos. 

Tobler,  Das  Volkslied  im  Appenzellerlande.     S.  35.   Nr.  68. 

Elsaß. 

Ich  wollt,  ich  war  im  Himmel 
und  du  im  Paradis, 
ich  wollt,  ich  hätt  einen  Schimmel 
und  du  einen  Sack  voll  Lüs. 

Martin  und  Lienhart,  Wörterbuch  der  Elsäßischen  Mundarten  1,  337. 

Frankfurt. 

Die  Sachseheißer  Weibercher 
Die  trage  weiße  Heiwercher, 
Und  tragen  gele  Schickelger 
Un  danze  wie  die  Gickelcher. 

M.  Belli-Gontard,  Sammelsorium  der  alten  Frankfurter  und  Sachsen- 
häuser Volkslieder,  Geschichten  und  Redensarten.  Frankf.  a.  M.  1875.  S.  3. 
Ähnlich  in  Darmstadt. 

Vogtland. 

Alles  muß  sei: 
wie  Tanzn  und  Geign, 
ban  Madel  nei  legn, 
und  de  Zeit  ze  vertreibn. 

Dung  er,  Rundas  No.  408. 


•239 


Eifel. 

Gott  mög  euch  geben: 
Lang  hier  zu  leben, 
Glückselig  zu  sterben 
Und  den  Himmel  zu  erben. 

Schmitz,   Sitten  und  Bräuche,  Lieder,  Sprichwörter  und  Rätsel  des 
Eifler  Volkes  1,  5.    Neujahrsgruß. 

Westpreußen. 

Die  Jagd,  die  Jagd 

Bringt  Hunger  und  Schmacht, 

Zerreißt  Strümpfe  und  Schuh, 

Bringt  Ärger  noch  dazu. 

Treichel  No.  157. 

Siebenbürgen. 

Wozu  ist  Geld  doch  gut  ? 
Wers  nicht  hat,  hat  nicht  Mut, 
Wers  hat,  hat  Sorglichkeit, 
Wers  hat  gehabt,  hat  Leid. 

Hausinschrift  zu  Magarei  bei  Haltrich-Wolff  S.  467. 

Lübeck. 

Ik  wuU,  de  Dübel  de  weer  dood, 
Un  ik  weer  in  de  Höll, 
Un-t  weern  luter  Jumfern  dor, 
Un  ik  weer  Junggesell. 

Schumann,  Volks-  und  Einderreime  aus  Lübeck  S.  163.    No.  585. 

Landen. 

Dat  sünd  hoochbeente  Jahm: 
Dat  Frohstück  mutt  man  spaarn, 
s  Middags  mutt  man  nich  vel  etn, 
s  Abens  mutt  mant  ganz  vergetn. 

Wegen  er,  Volkstümliche  Lieder  aus  Norddeutschland  S.  216.   Nr.  722. 

Nordfriesland. 

Gregöri : 

Pluch  uut  Eerd  böri, 
Skeb  ütj  a  Wal, 
Hingster  fan  Stal. 

Firmen  ich,  Germaniens  Völkerstimmend,  2. 


240 


Niederländisch. 

Sie  vrienti  dat  dient  gy  wel  te  weten: 
Een  Duytsch  kan  drinken  sonder  eten, 
Ben  Engelschman  eet  sonder  drincken, 
Een  Nederlander  laet  hem  inschincken. 

Er  asm  US  over  nederlandsche  Spreekwoorden  uitgeven  door  S  uringar. 
Utrecht  1873.    S.  417,  43. 

Dänisch. 

Man  kiender  Klokken  af  sin  Klang, 
Hören  af  sin  Gang  og  Sang, 
Urten  af  sin  Lugt,  Traet  af  sin  Frugt, 
Men  Skalken  af  sine  Ord  og  Utugt. 

Ord  -  Bog  S.  336.    Das  Motiv  lebt  auch  bei  den  Altajern  und  Telenten. 
Radioff,  Proben  1,  1.    Freidank  82,  10.     Zingerle  S.  29. 

Finnisch. 

Nicht  Musik  erfreut  den  Tauben, 
Bergesaussicht  nicht  den  Blinden, 
Runensänge  nicht  den  Dummen, 
Nicht  ein  freies  Wort  den  Herrscher. 

Altmann,  Runen  S.  6. 

Esthnisch. 

Melesta  mello: 
Unnusta  und, 
Pea  mees  meles, 
Pea  tanno  peas. 

Denk  zu  gedenken: 
Scheuche  den  Schlaf, 
Halte  den  Mann  hoch, 
Auf  dem  Haupt  die  Haube. 

Neus,  Esthnische  Volkslieder  S.  281. 

Altajer  und  Teleuten. 

Ohne  Land  giebts  keinen  Fluß, 
ohne  Gott  giebts  kein  Volk, 
ohne  Kragen  ist  kein  Pelz, 
ohne  Gesetz  ist  kein  Volk. 
Radioff,  Proben  1,  6.    Noch  erkennbar  ist  die  Zweiteiligkeit. 


241 


Ein  Sechszeiler  dieses  Typus  ist  im  Esthnischen  gebildet: 

Fünf  auf  Erden  sind  mißachtet: 
Erst  ein  Sohn,  der  sonder  Vater, 
Dann  die  Tochter,  die  ohn  Mutter, 
Drittens  der  geringe  Diener, 
Viertens  eine  arme  Waise, 
Fünftens  ein  verwittwet  Wesen. 

Neus,  Esthnische  Volkslieder  S.  194. 

Auch  das  Pantnn  wird  sechszeilig. 

Drei  Verbote   sind   in   meiner  Betelbüchse, 

Und  ihnen  mußt  du  folgsam  sein; 

Gewickelt  sind  sie  in  die  Betelblätter: 

Sprich  nicht,  wenns  gilt  zu  handeln  1 

Nicht  müßig  lieg  im  Zelte! 

Verbirg  dich  nicht,  wenns  gegen  den  Feind  geht! 

Talvj,  Versuch  S.  73. 

Noch  lehrreicher  ist  eine  esthnische  Spnichform,  die  in  ihren 
Grundzügen  auch  von  Hans  Fol z  zum  Doppelpriamel  verwandt  ist: 

Ekk  olleks  issa  ilma  rikkas, 
Emma  sidile  seutud, 
Welli  piljautil  petud, 
S6ssarel  sadda  rahhada: 
Kui  temma  ärrasurrekse, 
Mahha  jäeks  issa  ilma  rikkus, 
Emma  seutud  sidiksed, 
Wenna  piljautil  piddetud, 
Sdssari  sadda  rahhada. 

• 

War  auch  weltenreich  der  Vater, 
Selbst  von  Seid  umhüllt  die  Mutter, 
In  Brillanten   gefaßt  der  Bruder, 
Hätte  Hundert   in  Geld    die  Schwester: 
Setze,  daß  sie  sterben  müßten: 
Bliebe  zurück  des  Vaters  Reichtum, 
Hier  der  Mutter  Seidenhülle, 
Dieses  Bruders  Brillantenfassung, 
Diese  Hundert   in  Geld  der  Schwester. 

Neus,  a.  a.  0. 

Freiere  Formen  sind  bei  diesem  Typus  durch  die  von  vorn- 
herein festgelegte  Disposition  fast  ausgeschlossen.  Besonders 
scheint  feinere  antithetische  Durchbildung,  wie  sie  das  Italienische 
liebt,  als  Regel  den  germanischen  Beispielen  abzugehen. 

Euliny,  Priamtl  16 


242 


Uamur  commensa  cun  dulci  parole, 
L'amur  finisce  coi  sospir  de  core; 
L'amur  commensa  cun  soni  e  can  canti, 
L'amur  finisce  cun  sospiri  e  pianti. 

Nigra,  Canti  popolari  de  Piemonte.    Torino  1888.    S.  578.  Nr.  85. 

San  Pietros  Kirchweih,  die  ist  unser  eigen, 
Und  wer  ne  Liebste  hat,  mag  sie  da  zeigen. 
Wer  neue  Hosen  hat,  der  bindet  sie, 
Wer  keine  Liebste  hat,  der  findet  sie. 

Somborn,  Die  Yillota  S.  118. 

Daß  mehrere  Typen  kombiniert  werden,  ist  keine  Seltenheit. 
Typus  C  wird  öfter  mit  B  verbunden. 

Sama  's  drei  KeuschlasUhn: 

Oana  macht  Zogglschin, 

Oana  macht  Stifflwix  — 

Und  i  kan  nix. 

Werle,  Almraosch  S.  67. 

Ähnlich  ist  W.  Müllers  Vers  gebaut: 

Jedem  das  Seine. 

Recht  für  die  Wachenden, 

Glück  für  die  Schlafenden, 

Liebe  den  Träumenden, 

Gnade  den  Sterbenden  1 

Gedichte  II  430.  Nr.  32. 

Auch  italienische  Beispiele  sind  vorhanden. 

In  mezo  el  peto  mio  tegno  tre  stele  — 

In  meiner  Brust  trag  ich  drei  schöne  Ste'me: 
Den  Beppi  nenn  den  treusten  ja  ich  gerne. 
Ob  Nanas  Treue  kann  ich  auch  nicht  klagen. 
Doch  Toni  muß  allein  die  Krone  tragen. 

Somborn,  Die  Yillotta  S.  140. 

Me  vogio  maridar,  no  so  co   chi  — 

Will  mich  vermählen,  weiß  noch  nicht  wem : 
Kommt  Nane,  möcht  ich  sagen  wohl:    mit  Dem; 
^ommt  Toni,  wink  ich  mit  dem  Aug  ihm  fein; 
Kommt  Beppi:   daß  du  mögst  gesegnet  sein. 

Somborn  S.  157. 

Typus  B  mit  einem  A  entsprechenden  Abschluß  erscheint  in 
einem  von  Oreinz  und  Kapferer  in  ihrer  2.  Sammlung  S.  25 
mitgeteilten  Vers: 


243 


A  Gans  is  a  Vogl, 
A  Fux  is  a  Viach, 
Abe  d'  Katz  is  a  Luada: 
Mi  graut,  wenn  is  siech  1 

Typus  A  und  C  schließen  sich  aus  und  können  nur  zum 
Doppelpriamel  zusammen  geschoben  werden,  wie  etwa  in  dem 
finnischen  Sechszeiler: 

Wem  der  Liebe  Lust  beschieden, 
Wem  der  Liebe  Glück  zu  eigen, 
Wem  der  Liebe  Loos  gefaUen : 
Solcher  kennt  nur  Scherz  und  Freude, 
Jubel,  Fröhlichkeit  und  Frieden, 
Lachen,  Heiterkeit  und  Wonne. 

Altmann,  Runen  S.  27. 

Oustav  Meyer  sagt  einmal:  „In  feststehender  Grundform 
die  größte  Beweglichkeit,  das  ist  die  Signatur  der  Volksdichtung 
überhaupt.^  Für  keinen  Zweig  der  Volkspoesie  gilt  das  in  höherem 
Grade  als  für  das  Priamel,  das  in  den  engen  Grenzen  einer 
Grundform  sich  eine  schematisch  nicht  zu  erschöpfende  Mannig- 
faltigkeit der  Bewegung  sichert.  Eigentliche  Improvisationsdichtung 
ist  ja  im  geselligen  Leben  der  höheren  Stände  unsers  Volkes 
wenig  entwickelt^).  Wo  sie  auftritt,  bestätigt  sie  den  halb 
mechanischen  Charakter,  der  sich  als  Eigentümlichkeit  der  Impro- 
visation herausstellte.  Wir  können  darauf  die  Probe  machen, 
wenn  wir  die  Trinksprüche  des  improvisationslustigen  Hoffmann 
von  Fallersleben  heranziehen.     Auch  bei  ihm  ist  der  Paralle- 


^)  Gervinus  machte  di^  treffende  Bemerkung:  „Man  kann  es  be- 
dauern, daß  heute  Niemand  mehr  einen  Leberreim  zu  machen  versteht, 
aber  man  würde  es  einem  schlecht  danken,  wenn  er  gute  Leberreime  in 
Bücher  sammeln  wollte;  so  wie  es  überhaupt  mit  allem  der  Fall  ist,  was 
mit  dem  Improviso  eine  Ähnlichkeit  hat.^  Geschichte  der  deutschen  Dichtung 
2*,  504;  aber  er  verkennt  die  Natur  der  Improvisation,  wenn  er  meint: 
„Das  Gelegenheitslied  wird  leicht  zum  Vortrefflichsten;  nur  muß  die  Gelegen- 
heit keine  Gewohnheit  sein,  oder  die  Gewohnheit  müßte  freien  Spielraum 
in  den  Gegenständen  lassen.  So  waren  die  Tanzlieder  der  Dittmarsen,  wie 
die  der  Kärtner,  Tiroler  und  Schwaben,  Volkslieder  von  mannigfacher  Art 
und  Inhalt,  und  doch  sieht  man  an  dem  späteren  Gebrauche  der  Schleifer- 
liedchen  oder  einzelner  dazu  benutzter  Strophen  aus  anderen  Volksliedern, 
daß  auch, diese  Tanzpoesien  aus  ihrer  ursprünglichen  Neuheit  und  Mannig- 
faltigkeit arm  und  stationär  werden.*'  2^,  503.  Ein  gewisser  Schematismus 
ist  vielmehr  von  Anfang  an  aller  Volkspoesie  eigen. 

16» 


244 


lismus  des  Grundtypus  A  am  häufigsten,  z.  B.  im  Trinksprach 
auf  Lessing  und  auf  Martins.  Dasselbe  Motiv  mit  ümkehrung 
zum  Typus  C  verwendet  Hoffmann  im  Spruch  auf  Rietschel: 
Meist  wird  reichere  Durchbildung  angestrebt;  die  Verbindung 
dieses  Strebens  mit  Festhalten  •  des  Typus  A  zeigt  der  Spruch 
auf  Franz  Liszt.  Der  Steigerung  des  Typus  B  kommt  ein 
Spruch  auf  die  Kunst  naheJ)  Endlich  möge  durch  die  Theorie 
der  Improvisation  die  Gesetzmäßigkeit  der  hier  behandelten  Formen 
ihre  Bestätigung  finden.  Die  Grundlage  der  rhetorischen  Impro- 
visation sieht  M.  Langenschwarz  (Die  Arithmetik  der  Sprache 
oder  der  Redner  durch  sich  selbst.  Psychologisch-rhetorisches 
Lehrgebäude.  Leipzig  1834  S.  231)  in  folgendem  Verfahren: 
„Indem  wir  ...  die  Verbindungspunkte  aller  Teilbegriffe  unter- 
einander in  gerader  Richtung  nach  dem  Hauptgegenstande  her- 
stellen, und  diesen  dabei  fortwährend  zur  Anwendung  zu  bringen 
genötigt  sind,  erzeugen  wir  eine  Kette  der  Ideenverflechtung, 
bei  welcher  dem  Zuhörer  der  Hauptgegenstand  zwar  bis  zuletzt 
als  passendes  Scblußglied  aufbewahrt,  und  seine  Aufmerksamkeit 
spannend,  bis  zum  Schlüsse  unbekannt  bleibt^),  bei  der  aber 
zugleich  dieser  Hauptgegenstand  ihm  allmählich  in  seinen  Teil- 
bildern überzeugend  zur  Anschauung  gebracht,  und  dergestalt 
durch  denselben  der  Zweck  der  endlichen  Hervorleuchtung  eines 
beabsichtigten  Grundbildes  steigerungsweise  ^)  erfüllt  werden  kann". 

4. 

Ehe  wir  den  deutschen  Priamelvierzeiler  in  seiner  historischen 
Entwicklung  verfolgen,  ist  es  angebracht,  auf  sein  Vorkommen 
in  unliterarischen  volksmäßigcn  Gattungen  der  Poesie  einen  Blick 
zu  werfen,  die  sich  historischer  Entwicklung  mehr  als  andre 
entziehen;  auf  Priamelvierzeiler  im  Arbeitslied,  Zauberspruch, 
Segen,  Wunsch,  Gruß,  Rätsel,  Kinder-  und  Volksreim.  Es  werden 
immer  wieder  nur  typische  Beispiele  seiner  mannigfachen  Ver- 
wendung herausgehoben  und  nichtdeutsche  Varianten  in  der  Regel 
nicht  herangezogen. 


1)  Weim.  Jahrb.  5,  121  ff.   117.  126.  127.  130  f.  132.  137. 

*)  vergleiche  Typus  A. 

3)  darin  ist  die  Tendenz  zum  Typus  B  ausgesprochen. 


245 


Die  Ansicht,  daß  ursprünglich  sicher  jede  Art  von  Dichtung 
eine  geistliche  gewesen  sei^),  widerspricht  den  Tatsachen  der 
Ethnologie.  Wie  Körperbewegung,  was  eben  Bücher  unter 
„Arbeit^  versteht,  früher  geleistet  wird,  als  sich  der  Kultus 
ausbildet,  so  wird  Arbeitsgesang  dem  Kultgesang  vorangegangen 
sein.  Auch  die  bildende  Kunst  tritt  auf  der  niedrigsten  Kultur- 
stufe in  der  Begel  unabhängig  von  der  Religion  auf^).  Einen 
lettischen  Priamel Vierzeiler  des  Typus  B,  bei  der  Heuernte 
gesungen,  hat  Leskien  übersetzt: 

Schön  die  Wiese,  abgemähet, 
Schöner  noch,  wenn  abgeharket; 
Doch  weit  besser  macht  es  doch  sich, 
Wenn  das  Heu  im  Schober  stehet  3). 

Der  üblichste  Improvisationstypus  (A)  schlägt  in  einem 
westfälischen  Arbeitslied  durch. 

Eenen  Pott  un  eenen  Schief, 

Sess  Paar  Lepels,  krumm  und  scheef, 

Eenen  Rock,  sess  Elen  wiet: 

O  wat  fröde  sick  dat  Lüt! 

Eenen  Kist  un  eenen  Schrank, 
Eene  Tunnen  ton  Schwinedrank, 
Twe  ole  Küssen,  eenen  Pohl: 
Segge  ji  Lue,  war  dat  nich  veel*)? 

Motiv  und  Inhalt  dieser  Verse  sind  in  vierzeiliger  Impro- 
visation weit  verbreitet*),  ünliterarischer  Kleindichtung  gehören 
ferner  die  Zaubersprüche^')   an,   die   uns   fast  überall  an   den 


*)  Bruinier,  Das  deutsche  Volkslied  S.  50.  Opitz,  Buch  yon  der 
Deutschen  Poeterey  S.  8  (Braune):  „Die  Poeterey  ist  anfanges  nichts  anders 
gewesen  als  eine  verborgene  Theologie  vnd  vnterricht  von  Göttlichen  sachen." 

^  Grosse,  Die  Anfänge  der  Kunst  S.  193.  Preuß  im  Archiv  für 
Anthropologie  hg.  von  Ranke  und  Thilenius.  N.  F.  1.  (XXIX)  S.  167. 

3)  Bücher«  S.  241. 

*)  Bücher^  S.  91. 

^)  G.  Meyer,  Essays  und  Studien  1,  361  f. 

^)  Bücher«  S.  272;  „Wenn  nun  aber  schon  bei  der  gemeinen  Arbeit 
des  täglichen  Lebens  Gesang  und  rhythmische  Bewegung  unzertrennlich  ver- 
bunden sind,  wenn  hier  offenkundig  diese  Verbindung  in  zahlreichen  Fällen 
das  Werk  förderte,  so  müßte  es  uns  fast  Wunder  nehmen,  wenn  man  nicht 
in    dem    Wortrhythmus   selbst   ein  Moment  des  Gelingens,    eine  Art  Zauber 


246 


Pforten  der  Literatur  begegnen.  Es  liegt  nahe,  für  Zauberformeln 
im  allgemeinen  ein  hohes  Alter  in  Anspruch  zu  nehmen.  Doch 
darf  man  sich  nicht  verhehlen,  daß  Schlüsse  dieser  Art  die 
mangelnden  äußeren  Beweise  für  die  Datierung  eines  bestimmten 
Spruches  in  der  Tat  nicht  ganz  ersetzen  können;  in  jedem  Fall 
ist  Vorsicht  geboten  ^).  Zauberformeln,  die  einen  Priamelvierzeiler 
darstellen,  sind  reichlich  vorhanden.  Halb  automatischen  Charakters 
ist  noch  ein  Zauberspruch  gegen  Schlaflosigkeit.  Man  spricht 
in  Hessen,   sobald  die  Kühe   abends  von  der  Weide  heimkehren: 

Die  erst'  Kuh, 

die  zweit'  Kuh, 

die  dritf  Kuh, 

geh  mir  doch  die  Nacht  inei  Ruh'!). 

Schon  im  Atharva-Veda  lassen  sich  alle  Typen  des  Priamel- 

Vierzeilers   nachweisen;    der   Grundtypus  A  ist   so   häufig,   wie 

kaum  ein  anderes  konstantes  Versgebilde  des  Atharva-Veda. 
Zum  Beispiel: 

Das  Wasser  ist  heilkräftig,  traun! 
Das  Wasser  scheucht  die  Krankheit  weg; 
Das  Wasser  macht  gar  alles  heil: 
Das  helfe  dir  von  Xetriya^. 

B 

Schlafzauber. 
Die  Mutter  schlaf,  der  Vater  schlaf. 
Der  Hund  schlaf  und  der  Vater  des  Orts, 
Es  schlafen;  die  ihr  sind  verwandt. 
Dies  ganze  Völklein  schlafe  rings  ^). 


erblickt  und  ihn  auch  da  dem  Bewegungsrhythmus  gesellt  hätte,  wo  man 
das  mit  natürlichen  Mitteln  UnvoUbringbare  vollbringen  wollte.^  Jakob 
Grimm,  Deutsche  Mythologie  JI*  1023:  „Alle  Kraft  der  Bede,  deren  sich 
Priester,  Arzt,  Zauberer  bedienen,  hängt  mit  den  Formen  der  Poesie  zu- 
sammen.^ Preuß,  Phallische  Fruchtbarkeitsdämonen  a.  a.  0.  S.  167. 
Weinhold,  Die  altd.  Yerwünschungsformeln  S.  667.  Wuttke,  Der  deutsche 
Yolksaberglaube  der  Gegenwart'  S.  185.    Gummere  S.  393. 

^)  Comparetti,  Der  Kalewala  S.  255. 

»)  Wuttke»  S.  170. 

3)  Grill,  Hundert  Lieder  des  Atharva-Veda»  S.  9.  III  7,  5.  Vergl. 
S.  14.  VI  91,  3  (Zeitschrift  für  Volkskunde  5,  7).  Ebenso  begegnen  Verse 
des  Typus  A:  S.  19.  24.  31.  32.  33.  37  u.  s.  f.  Oldenberg,  Die  Literatur 
des  alten  Indien  S.  41  ff. 

*)  Grill  S.  51  i 


247 
C 

Wiedergewinnung  eines  abspenstigen  Gatten. 

Dies  Heilkraut  grab  ich  aus:    es  zieht 
Den  Blick  auf  mich,  zum  Weinen  bringts, 
Zur  Rückkehr  treibts  den  Scheidenden, 
Stimmt  freundlich  den  Erscheinenden'). 

Vom  Vorkommen  des  Priamelvierzeilers  in  den  übrigen  indo- 
germanischen Sprachen  wird  hier,  wo  es  sich  nur  um  den  deutschen 
priamelhaften  Vierzeiler  handelt,  abgesehen.  Aus  Natschbach 
bei  Neunkirchen  in  Niederösterreich  teilte  Nagl  eine  bemerkens- 
werte Abart  des  zweiten  Merseburger  Zauberspruches  mit.  Die 
epische  Einleitung^)  ist  aufgegeben,  der  Spruch  gereimt;  man 
verwendet  ihn  gegen  die  Auszehrung: 

Fleisch  und  Blut, 

Flachs  und  Glieder, 

Mark  und  Bein: 

Sollen  so  wenig  schwinden  wie  dieser  Stein  ^). 

Nagl  vergleicht: 

b^n  zi  bdna, 
bluot  zi  bluoda, 
lit  zi  geliden: 
s5se  gelimida  stn. 

umgekehrt  stellt  den  Typus  G  dar: 

Ich  rate  Dir  vor  Verrenkt: 
Streich  Ader  mit  Ader, 
Streich  Blut  mit  Blut, 
Streich  Knochen  mit  Knochen*). 

Ein  Zauberzettel,  den  man  in  Westfalen  und  in  der  Gegend 
von  Swinemünde  am  Halse  trug,  enthielt  die  Besprechungsformel: 


0  Grill  S.59. 

^Koegel  P  157.  Schonbach,  Studien  zur  Geschichte  der  alt- 
deutschen Predigt  2,  123  ff. 

^  Nagl-Zeidler,  Deutsch-österreichische  Literaturgeschichte  1,  58. 
MSD3  2,  46  f.    Ebermann  in  der  Palaestra  24,  1  ff;  besonders  S.  23. 

*)  Westpreußen.  Frischbier,  Hexensprach  und  Zauberbann.  Berlin 
1870.  S.  92.  Bartels,  Zeitschrift  für  Yolkskunde  5, 14.  Ebermann  S.  23. 
Usener  in  den  Hessischen  Blättern  für  Yolkskunde  1,  2  ff. 


248 

Der  Fuchs  ohne  Lungen, 

Der  Storch  ohne  Zungen^), 

Die  Taube  ohne  Gall: 

hilft  für  das  siebenundsiebzigsterlei  Fieber  alP).c 

Die  Formel  kann  sehr  alt  sein;  schon  das  frühe  Mittelalter 
bezeugt  die  Vorstellung,  die  Taube  habe  keine  Galle  ^),  und  die 
siebenundsiebzigerlei  Krankheiten  hat  Kuhn  bis  in  noch  viel 
ältere  Zeiten  hinauf  verfolgt^).  Zauberzettel  und  das  Romanas- 
büchlein fiberliefern  unter  vielen  anderen  Zeugen  die  Verse: 

Glückselige  Wunde, 

glückselige  Stunde, 

glückselig  ist  der  Tag, 

da  Jesus  geboren  war*).     (Typus  B.) 

Verbreitet  ist  die  Formel: 

In  allen  Kirchen  klingt  es, 

in  allen  Kirchen  singt  es, 

in  allen  Kirchen  wird  das  Evangelium  verlesen : 

Rose,  du  mußt  sterben  oder  verwesen^). 

Oegen  die  Rose,  anschöt,  richtet  sich  der  niederdeutsche 
Spruch: 


1)  Zingerle  zu  Vintler  8816. 

^)  Wuttke,  Der  deutsche  Volksaberglaube  der  Gegenwart'  S.  169. 
Statt  ,Fuchs'  kommt  die  Variante:  ,die  Bienen'  vor.  Vergl.  auch  Heim, 
Incantamenta  Nr.  108  und  S.  549.  Falaestra  24,  143  f.  Daß  ein  Rätsel 
hier  das  Frühere  und  auf  die  Zauberformel  von  Einfluß  gewesen  sei,  schließt 
Ebermann  S.  143  doch  wohl  nur  aus  der  Form  und  infolge  der  irrigen 
Voraussetzung,  daß  die  Zauberformel  jung  sein  müßte.  Ebermann  spricht 
von  einer  schwer  vorstellbaren  „Verwechslung"  des  Zauberspruches  mit  dem 
Volksrätsel,  ohne  an  die  Möglichkeit  einer  für  beide  ähnlich  wirkenden 
Formgebung  zu  denken. 

3)  Grimm,  Freidank^  S.  LXXXVI.  Unsinn  bei  Wander  4,  1043,  46. 
Interessant  Renner  12204  ff.  Uhland,  Schriften  3,317,  157.  Eine  Be- 
sprechungsformel gegen  das  Lendengeblüt  (Rundas  S.  282)  beginnt  mit  der 
sinnlos  gewordenen  Zeile:  „Turteltaub  ohne  Gall"  die  von  Dunger  irrig 
auf  die  Jungfrau  Maria  bezogen  wird. 

*)  Kuhns  Zs.  13,  128  ff. 

s^)  WuttkeS  172.  Dunger  Nr.  1447.  Variante  Alemannia  24,  174. 
Losch,  Deutsche  Segen- Heil-  und  Bannsprüche  Nr. 220.  269.  Falaestra  24,  71  ff. 

6)  Wuttke  172  mit  Variation.  Ähnlich  Zs.  f.  Volksk.  8,  201,  8.  5,18. 
Dünger  Nr.  1464.  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum  21, 211.  Falaestra  24, 139. 


249 


Anschöt  ik  wUl  dik  bespräken: 
Du  säst  dik  bräken, 
Du  säst  nich  mer  huchern 
Un  säst  nich  mer  puchern*). 

Demselben  Typus  B,  der  nicht  häufig  auftritt,  gehören 
Formeln  an  wie: 

Du  sollst  nicht  kellen, 
Du  sollst  nicht  schwellen, 
Du  sollst  nicht  wehe  tun. 
Du  sollst  sachte  tun^). 

Eine  Handschrift  des  18.  Jahrhunderts,  aus  Mockmühl 
stammend,  empfiehlt  gegen  Grimmen  oder  Kolik  den  Segen: 

Ein  alter  Scheerenschopf, 

ein  alter  Leibrock, 

ein  Glas  voll  rauten  Wein: 

Bännutter,  laß  dein  Grimmen  sein')! 

In  Westpreußen  schöpft  man,  um  sich  die  Treue  des  Ge- 
liebten zu  sichern,  am  Ostermorgen  vor  Sonnenaufgang  drei  Löffel 
fließendes  Wasser,  trinkt  sie  aus  und  spricht: 

Untergehn, 
Auferstehn, 
Immer  treu, 
Ewig  neu*). 

Gegen  das  Feuer  der  Schweine  bedient  sich  die  Volksmedizin 
in  der  Grafschaft  Buppin  und  Umgegend  der  Besprechung: 

Hoch  ist  der  Heben, 

Kalt  ist  daneben, 

Kalt  ist  die  Totenhand: 

Da  bestreiche  ich  den  Blei,  den  kalten  Brand  ^). 

Das  Spruchmotiv  kommt  schon  bei  Marcellus  vor  (Heim, 
Incantamenta  Nr.  114),  Stoffgeschichtliches  haben  Beinhold 
Köhler  und  ßolte  zusammengestellt^).  Von  der  1656  zu  Marburg 
als  Hexe    verbrannten    72  jährigen    Katharina  Staudingerin    wird 


^)  Andre e,  Braunschweiger  Volkskunde  S.  304. 

^  Zeitschrift  für  Volkskunde  7,  56.    Ebermann  S.  52  ff. 

')  Losch  Nr.  38. 

*)  Wuttke^  S.  364. 

s)  Zs.  f.  Volksk.  8,  305  f.  Variante  Wuttke^  S.  172. 

B)  Kleinere  Schriften  3,  558  ff. 


250 

ein  Bettler- Gebet  erwähnt,   dessen  Motiv   ebenso  mit  dem  latei- 
nischen zusammenfällt 

Der  Himmel  ist  mein  Hut, 
Die  Erde  ist  mein  Schuh  (oder  Schurz), 
Das  heilige  Kreus  ist  mein  Schwerd: 
Wer  mich  sieht,  hat  mich  lieb  und  wert^). 

Mit  geriDger  Variation  benutzt  den  Spruch  der  ertappte 
Felddieb  in  der  Niederlausitz  als  Segen. 

Der  Himmel  ist  meine  Hut, 

Die  Erde  mein  Schutz, 

Unser  Herr  Christus  ist  mein  Hort  und  Schwert: 

Auf  daß  mich  niemand  sucht  und  begert^). 

Genauer  lenkt  in  das  alte  Motiv:  summum  caelum,  ima  terra, 
medium  medicamentum  ein  Segen  gegen  Verhexung  von  Mensch 
und  Vieh  wieder  ein: 

Der  Himmel  ist  ob  dir. 

Das  Erdreich  ist  unter  dir, 

Du  bist  in  der  Mitten: 

Ich  segne  dich  vor  das  Verritten'). 

Wunderlich  verkürzt  scheint  die  Form  des  Spruches: 

Voller  Mond,  grüner  Baum, 
Neues  Licht,  weißer  Schaum: 
Macht,  daß  meine  2^ähne  nicht 
Wütend,  tobend  werden^). 

Ein  Spruch  gegen  Maden,  den  man  sich  aber  nur  denken 
soll,  indem  man  stillschweigend  zu  einem  Elettenstrauch  geht 
und  einen  Mauerstein  in  die  Hand  nimmt,  lautet  zu  Neu-Buppin: 

Klettenblatt  ich  würge  dich, 
Klettenblatt,  ich  würge  dich, 
Klettenblatt,  ich  lasse  nicht  eher  los: 
Bis  das  Tier  die  Maden  ist  los^). 


1)  Reinhold  Köhler,  Kl.  Schriften  3,  560. 

2)  Köhler  3,  561.    Zeitschrift  für  Volkskunde  10,  230. 

3)  Köhlers,  562.    Hartmanns  Gregorius  3106.    Heinrich  Witten- 
Weilers  Bing  33c,  8. 

*)  Gl  eck,    Lieder    und   Sprüche    aus    dem   Elsenzthale.     Bonn  1897. 
S.  50.    Dazu  Dunger,  Bundas  S.  277.  Nr.  1485. 
s)  Zeitschrift  für  Volkskunde  8,  308. 


251 

Meinert  zeichnete  einen  Marsegen  (Alpbeschwörung)  aus  dem 
Kuhländchen  so  auf: 

Ich  lä  mich  heint  wi  Naechte, 
Gott  behitt  mich  vir  Nochwersknaechte  1 
Gott  behitt  mich  vir  dam  laidige  OIp, 
Ar  h6t  a  Kopple  wi  an  Kolb. 

Nun  die  Formel: 

Olle  Wasser  wote! 

Olle  Baemer  blote! 

Olle  Baege  staige! 

Olle  Kiechespeitze  meide  ') ! 

Aufzählungen  nach  Typus  A  und  G  sind  häufig^).  Chronologisch 
festgelegt  ist  ein  Vierzeiler,  der  in  verschiedenen  alten  Segens- 
formeln wiederkehrt.  Die  Handschrift  von  Muri  bezeugt  ihn  für 
das  zwölfte  Jahrhundert  in  der  Form: 

Min  buch  si  mir  beinin, 

min  herze  si  mir  steinin, 

min  houbit  si  mir  stahelin: 

der  gaote  sancte  Severin  der  phlege  min^). 

Im  Tobiassegen  lautet  er: 

din  herze  si  dir  steinin, 
din  Ifp  si  dir  beinin, 
din  houbet  si  dir  stahelin: 
der  himel  si  der  schilt  din^). 


»)  Meinert  S.  44.  Anderes  bei  Wuttke»  S.  170.  —  Zeitschrift  far 
Volkskunde  6,  213.  Mitteilungen  der  schles.  Gesellschaft  f.  Yolksk.  III 
(1896)  S.  25.   Mitteilungen  zur  bayerischen  Volksk.  1897.  Nr.  4.  S.  4.   Vogt. 

';  Heim,  Incantamenta  S.  559  (II  32);  vergl.  S.  545.  Ebermann 
S.  80  ff.    Der  Blutsegen  von  den  drei  Frauen.    S.  95  ff.    Drei  Blumen. 

3)  MSD'^  2,  287.  —  Es  folge  hier  die  Fassung  der  Denkm&ler: 

In  nomine  domini, 
daz  heilige  lignum  domini 
gisegine  mich  hüte 
undendn  unde  obinani 
min  buch  si  mir  beinin, 
min  herze  st  mir  steinin, 
min  houbit  si  mir  stahelin  I 
der  guote  sancte  Severin 
der  phlege  mini 

Vergl.  S.  285.  289.  290.  296. 
*)  MSD»  XLVn  4,  45. 


252 


In  mehreren  Literaturen  ist  diese  volksmäßige  einreimige 
Strophe  entwickelt,  z.  B.  im  Keltischen^),  im  Cechischen^)  wie  im 
Mittellateinischen  ^). 

* 

Ebenso  in  einer  Handschrift  des  12  Jahrhunderts  überliefert 
ist  ein  Gedicht:  Ad  equum  erraehet,  das  zuletzt  Koegel  am  aus- 
führliclisten  behandelt  hat^j.  Der  epische  Eingang  des  Zauber- 
spruchs ist  hier  zu  einem  mehrstrophigen  Lied  ausgewachsen, 
dessen  Schluß  wohl  die  alte  Formel  durchblicken  läßt. 

Man  gieng  after  wege,  zöh  sin  ros  in  handon; 

do  begagenda  imo  min  trohtin  mit  sinero  arngrihte. 

,Wes,  man,  gestü?   züne  ridestü?* 

,waz  mag  ich  riten!    min  ros  ist  errsehet/ 

,Nü  ziuh  ez  da  bi  üere,  tu  rüne  imo  in  daz  ora, 

drit  ez  an  den  cesewen  fuoz:    s6  wirt  imo  des  errseheten  buoz! 

In  Niederschrift  vom  Jahre  1405  ist  der  noch  heute  lebendige 
Spruch  bezeugt: 

Cristus  wart  geborn, 
Cristus  wart  verlorn, 
Cristus  wart  wider  fanden: 
der  gesegen  dise  wunden^). 

Es  sind  immer  nur  die  eigentlichen  Heilsprüche,  das  Kern- 
stück, das  Becept,  nicht  Beiwerk,  Eingang  oder  Erzählungen^), 
was  priamelhaft  gebaut  ist.  Obwohl  theoretisch  nicht  ausgeschlossen 
ist,  daß  spätere  Formentwicklung  auf  diese  Sprüche  eingewirkt 
hat,  ist  es  doch  keineswegs  unwahrscheinlich,  daß  sie  uralt  sind. 
Das    Formelwesen    haftet   seiner   Natur   nach   in    einer    stetigen 


>)  S.  oben  S.  236. 

9)  Wiener  Sitzungsberichte  XXXIX  2,  656  ff. 

3)  Ebert,  Allgemeine  Geschichte  der  Literatur  des  Mittelalters  im 
Abendlande  I^  584.  Die  Sermones  nulli  parcentes.  MSl)^  2,  200.  Vergl. 
finnische  einreimige  Reihen.  Comparetti,  Der  Kalewala  31.  Über  Tirade 
und  Laisse:  Stengel  in  Grob  er  s  Grundriß  II*  77.  Wolf,  Über  die 
Lais  S.  16,  269. 

*)  P  157  f.    Ebermann  S.  13. 

^)  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum  4,  577.     Eb ermann  S.  28. 

*)  Zs.  f.  d.  Altertum  37,  261.  Schönbach,  Studien  zur  Geschichte 
der  altd.  Predigt  2,  124.  Pauls  Grundriß  IP  36.  Oldenberg,  Die 
Literatur  des  alten  Indien  S.  41. 


253 

Überlieferung*).  Das  Zauberlied  ist  durch  seinen  Vortrag,  den 
Zweck,  auf  den  es  abzielt,  recht  eigentlich  Spruch,  seine  Wirkung 
gleicht  der  einer  Formel.  Es  muß  denn  auch  wie  die  Vedahymne 
vollständig  ohne  Veränderungen  und  Auslassungen  hergesagt  werden: 
fehlt  ein  Wort,  wird  eins  verändert  oder  vergessen,  so  verliert 
es  seine  Wirkung.  Wenn  ein  Tietäjät  sich  dazu  versteht,  dem 
Sammler  einen  Vers  mitzuteilen,  so  läßt  er  dabei  irgend  etwas 
weg,  in  der  Überzeugung,  daß  jener  den  Spruch  dann  doch  nicht 
gebrauchen  könne,  während  er  für  ihn  selbst  seine  Kraft  behalte  ^). 
Aber  wir  dürfen  aus  dem  Vorkommen  des  Priamelvierzeilers  in 
den  Zauberformeln  nicht  zu  viel  folgern.  Trotzdem  zwischen 
Zauberspruch  und  Didaktik  eine  gewisse  Verwandtschaft  be- 
steht^), ist  es  nicht  möglich,  das  Priamel  aus  Zauberformeln 
herzuleiten;  denn  die  Priamelform  ist  beim  Zauberspruch  nicht 
Gesetz.  Daß  aber  diese  Improvisationsform  sich  auch  beim 
Zauberspruch  einstellt,  spricht  dafür,  daß  sie  sehr  alt  ist. 
Dem  Zauberspruch  und  dem  Segen  verwandt  sind  impro- 
visierter Wunsch  und  Gruß,  nicht  immer  von  einander  zu 
unterscheiden.  Beim  Wunsch  ist  das  Vorwalten  des  Typus  C 
das  natürlich  gegebene,  Kombinationen  kommen  vor,  A  ist  nicht 
häufig.  Im  Niedersächsischen  Kinderbuch  (Hannover  1872^  S.  394. 
Nr.  82)  hat  Grote  als  Geburtstagswunsch  den  Vierzeiler  (Typus  A) 
abdrucken  lassen: 


^)  Uhland,  Schriften  3,  255.  Zs.  for  deutsches  Altertum  37,  260  f. 
Über  die  Funktion  des  Schlußverses:  MSD^  2,  45.  SpÄte  Beispiele  S.  278. 
Zur  Metaphysik  des  Zauberspruches  Wuttke,  Der  deutsche  Yolksaberglaube 
der  Gegenwart 3  S.  168;  „Was  der  Reim  im  äußeren  Klange  ausdrücken 
will,  das  drückt  sich  hier  in  kernhaftcr  Wirklichkeit  aus,  die  innere  Gleich- 
stellung und  Verbindung  des  äußerlich  Unterschiedenen.  Daß  die  Zauber- 
sprüche so  oft  gereimt  sind,  ist  nur  eine  andere  Form  derselben  Anschauung. 
So  närrisch  die  Formeln  im  einzelnen  auch  klingen  —  und  dieses  Närrische 
fällt  zum  Teil  auf  spätere  Entstellung,  —  so  liegt  diesem  Parallelismus, 
dieser  Real-Poesie  des  Gleichnisses  doch  die  Ahnung  eines  tieferen  Gedankens 
zu  Grunde,  des  Gedankens,  daß  auch  unter  der  scheinbar  wirren  Zerstreuung 
des  vereinzelten  Daseins  durch  alles  Sein  doch  ein  tiefer  innerer  Zusammen- 
hang hindurchgeht 

')  Gomparetti  S.  26  f.    Ähnliches  Verfahren  hat,  wie  kaum  bemerkt 
scheint,  auch  deutsche  Sprüche  verstümmelt. 

3)  Gomparetti,  Der  Kalewala  S.  291. 


254 

So  viel  Dorn  dein  Rosenstock, 
So  viel  Haar  dein  Ziegenbock, 
So  viel  Flöh  dein  Pudelhund: 
So  viel  Jahre  bleib  gesund! 

In  der  Grafschaft  Glatz  lautet  dieser  Wunsch: 

So  viel  Domen  ein  Rosenstock, 
So  viel  Haar  ein  Ziegenbock 
So  viel  Flöh  ein  Pudelhund; 
So  viel  Jahre  bleib  gesund  *). 

Die  im  Wunsch  beliebteste  Form  des  Typus  C  erscheint  in 
Schweizerischen  Haussprüchen  wie  im  Schnaderhüpfel. 

Gott  bewahr  mit  deiner  Hand 

Oberkeit  und  Vatterland, 

Kirche,  Lehrer,  meine  Friind, 

Glaubensbruder  und  di  Find.  Affoltern^). 

Segne  Herr  Mann,  Weib  und  Kind, 

Segne  Haus  und  Hausgesind, 

Segne  die  mir  sind  verwandt. 

Anvertraut  und  sonst  bekannt.  Af foltern^). 

Drum  wünsch  ich  mar  nix; 

Als  a  lögadö  Henn, 

Gnueg  Schmalz  und  gnueg  Raosen 

Und  a  Weiberl  mordschen^). 

Typus  B  verbindet  sich  in  folgendem  Wunsch  mit  C: 

Ich  wünsch  Inen  ein  goldens  bett. 
Unten  drunter  rosenstöck. 
In  der  mitt  den  heiigen  geist. 
Der  mit  Ine  zum  himmel  reist  ^). 


^)  Yolkmer,  Einderreime,-  Lieder  und  Spiele  aus  der  Grafschaft 
Glatz.  Yierteljahrschrift  für  Geschichte  and  Heimatskunde  der  Grafschaft 
Glatz  9,  39. 

')  Sutermeister,  Schweizerische  Haussprüche  S.  13. 

3)  Sutermeister  S.  14. 

*)  Sylvester  Wagner,  Salzburga  Bauern- Gsanga.  Wien  1847.  S.  14. 
Zum  Motiv  Meijer,  Oude  nederlandsche  Spreuken.  Groningen  1836.  S.  104: 
Een  onledich  wyf  en  legghende  hinne  hebben  yele  cakelens  aen.  von 
Hörmann,  Schnaderhupfeln»  S.  355.  Nr.  972. 

^)  Schleicher,  Volkstümliches  aus  Sonneberg  S.  92.  Nr.  9. 


255 


Verbreitet  sind  humoristische  Wünsche  wie: 

Ich  wünsch  dir  e  glückligs  Neujahr, 
E  Bengele  ufs  Ohr, 
£  Hewel  uf  der  Kopf, 
Bis  daß  s  Bluet  abtropft  >). 

Wenn  die  Schalknaben  im  Braunschweiger  Land  am  Sylyester- 
abend  ihren  Neujahrswunsch  vergeblich  gesagt  haben,  so  wird 
der  Unzufriedenheit  folgender  Ausdruck  gegeben: 

Ik  wünsche  juch  en  siechtet  niet  jar, 
Hunderdusend  lüse  up  einen  har, 
£n  kop  vuU  schörwe, 
Un  en  ars  vuU  wörme*). 

Haben  Kinder  in  Lübeck  mit  dem  Schießvogel  Gaben  ge- 
sammelt, so  lautet  ihr  Dank: 

Jch  wünsche  dem  Herrn  einen  goldnen  Tisch, 
Auf  jeder  Ecke  einen  gebratenen  Fisch, 
Und  mitten  daraaf  eine  Flasche  Wein, 
Das  soll  dem  Herrn  seine  Gesundheit  sein^). 

Typus  A  und  C  verbinden  sich  auch  in  dem  Nachtwächter- 
wunsch: 

Ich  wünsch  eich  zum  neuen  Jahr: 
So  viel  Stern  am  Himmel  stehn. 
So  viel  Reh  im  Walde  gehn. 
So  viel  Tropf  lein  Regen: 
So  viel  Glück  und  Segen  ^)1 

„Goden  dag,  broder",  beginnt  ein  Schäfergruß,  den  Uhland 
nach  Hallings  Mitteilung  abdrucken  ließ*)  —  „Schön  dank, 
broder.  —  Broder,  wat  maken  dine  dinger?  — 

Hoch  in  lüften, 

tief  in  klüften, 

hinten  über  berg  und  tal: 

da  gehn  die  dinger  allzumahl. 


*)  Martin  und  Lienhart,  Wörterbuch  der  Elsässischen  Mund- 
arten 1,  410. 

*)  Andree,  Braunschweiger  Volkskunde  S.  233. 

3)  Schumann  S.  136.    Nr.  566a.  —  Erk-Böhme  III  S.  114.    Vogt. 

*)  W  lehn  er,  Stundenrufe  und  Lieder  der  deutschen  Nachtwächter. 
Begensburg  1897.    S.  69. 

&)  Schriften  3,  302.    Dazu  Bolte  Zs.  f.  Volkskunde  7,  97,  210.  15,  166. 


256 


In  Siebenbürgen  begrüßen  die  Kinder  den  Frühling  mit 
folgenden  Versen:  t,..  .  u       r    • 

°  Blomtchen  af  wiegen, 

Blömtchen  af  stiegen, 
Blömtche  blä: 
Dat  fräj6r  öß  hk^)\ 

Ein  Einderwunsch  zur  guten  Nacht  verwendet  mittelalterliche 
Volksliedmotive  priamelhaft: 

Ich  wünsch  gute  Nacht: 

Von  Rosen  ein  Dach, 

Von  Zimmt  eine  Thiir, 

Von  Rosmarin  ein  Riegel  dafür'). 

Wunsch  und  Liebesgruß  vereint  ein  Vierzeiler  des  15.  Jahr- 
hunderts,  in   dem   das   tiefe  Gefühl   einer  Mädchenseele   mit  der 

^  *  Ich  grüßen  dich  zuo  drie  stund, 

min  allerliebster:    in.  din  rotten  mund, 
got  grüß  dich  in  din  öglin  klor, 
got  geh  dir  vil  und  guoter  jor^). 

Auch  das  Schnaderhüpfel  kennt  den  Oruß: 

Deandl  i  schick  Dir  an  Gruaß, 
A  Pfandl  vol  Muas, 
Schwarzkerschn  drunta: 
Deandl,  schläfst  oda  bist  munta*)? 

Ein  Tiroler  Schnaderhüpfel  veranschaulicht  den  als  Rätsel 
gewendeten  Priamelvierzeiler. 

Kimm  her  von  der  Vintl, 
Häb  a  Köpf!  wie  a  Hündl, 
A  Göschl  wie  a  Goaß: 
Jetz  rät,  wie  1  hoaß^). 

>)  Böhme,  Kinderlied  S.  216.  Nr.  1067.  SchtTster,  Siebenbürgisch- 
Sächsische  Volkslieder,  Sprichwörter,  Rätsel,  Zauberformeln  und  Kinder- 
dichtungen.   Hermannstadt  1865.     S.  338.  Nr.  62. 

«)  Böhme  S.  111.  Nr.  488.  ühland,  Schriften  3,  360.  Aufseß  und 
Mones  Anzeiger  3,  290  f.  Ernst  Meyer,  Die  gereimten  Liebesbriefe 
des  deutschen  Mittelalters.  Marburg  1899.  S.  31.  Ritter,  Altschw&bische 
Liebesbriefe.  Graz  1898.  S.  113.  68.  77  ff.  Birlinger  und  Crecelius, 
Wunderhorn  2,  312.  Bolte  zu  Treichel,  Volkslieder  und  Yolksreime  aus 
Westpreußen  S.  117.     Schumann  S.  6.  Nr.  726.    ßeinle  Nr.  101. 

3)  Mones  Anzeiger  3,  290.  Meyer,  Liebesbriefe  S.  87  f.  Ritter, 
Altschwäbische  Liebesbriefe  S.  67  ff.  111  ff. 

^)  Werle,  Almrausch  S.  335,  als  Gaßlspruch  verwandt. 

^)  Yon  Hörmann,  Schnaderhüpfeln^  S.  361.  Nr.  990. 


257 

Obwohl  das  Bätsei  an  sich  mit  dem  Priamel  keineswegs 
zusammenfällt  ^),  so  erscheinen  doch  die  Improvisationsformen  des 
Priamelvierzeilers  auch  im  Bätseivers  und  Bätseilied ;  werden  doch 
auch  diese  heute  noch  improvisiert,  wenn  in  den  Anrollnächten 
Salzburger  Burschen  Bätsei  in  die  Häuser  hinein,  die  Hausbe- 
wohner heraussagen^).  Von  einer  Schäfersfrau  aus  Sietow  stammt 
folgendes  Bätsei:      _..    ,        u     ui 

°  Ein  dorn  ohne  blum, 

ein  brot  ohne  krum, 
ein  Spiegel  ohne  glas: 
rats,  meine  herren,  was  ist  das? 

Qemeint  ist  die  Dornenkrone  Christi,  eine  Oblate  und 
Christi  Augen  ^).       t>  .   i. .      ^        - .      ,   r. 

°        '  Dat  altyt  roert  en  niet  en  leeft, 

£n  milde  es  en  niet  en  geeft, 
En  vroemis  sonder  manlike  daet: 
Wat  is  dat,  ghi  gheselle,  nu  raet*). 

Kein  Typus  erscheint  häufiger.     Noch   einige  Beispiele   vom 

Oberrhein:  Vome  wie  e  Kamm, 

Mitte  wie  e  Lamm, 
Hinne  wie  e  Sichel: 
Roth  jetz,  lieber  Michel. 

Klein  wie  Kümnel, 
Blau  wie  der  Himmel, 
Grün  wie  Gras: 
Rath,  was  ist  das^)? 

Die  Art  des  Abschlusses  bei  diesem  Typus  ist  mannigfaltig. 

Voen  a  Hackle, 
Ai  der  Meitt  a  Packle, 
Heindeneimm  an  Fonnestiel: 
Seche  Deinge  seyn  goer  viel^). 

*)  Natürlich  spricht  dagegen  kein  Beispiel  wie  das  von  Bolte  in 
Köhlers  Kleineren  Schriften  3,  538  (Nr.  60)  mitgeteilte.  Das  ist  weder 
R&tsel  noch  Priamel,  sondern  willkürliche  Auflösung  eines  Priamels  mit 
Verzicht  auf  alle  organische  Form.  Pfeiffer,  Germania  1857  S.  147  f. 
Diutiska  1,  325.  Zeitschrift  für  deutsche  Philologie  9,  194  f.  Göttinger 
Beitrage  2,  18.     Heidelberger  Handschriften  2,  35. 

»)  H.  F.  Wagner,  Das  Volksschauspiel  in  Salzburg  1882  S.  4. 

')  Wossidlo,  Mecklenburger  Volksüberlieferungen  1  Nr.  407c. 

*)  Matthaeus,  Veteris  aevi  Analecta  I,  66b  (ed.  secundae.  Hagae- 
Comitum  1738). 

*)  Mones  Anzeiger  7,  262,  Nr.  186.  Nr.  183. 
-      «)  Meinert  S.  288.  Nr.  29. 

Euling,  Priamel  H 


Oder: 


258 

So  hoch  wie  a  Haus, 

So  klein  wie  a  Maus, 

So  bitter  wie  Gall: 

Das  esset  Herre  und  Edelleut  all  *). 

Erst  weiß  wie  Schnee, 
Dann  grün  wie  Ellee, 
Dann  roth  wie  Blut: 
Schmeckt  allen  Kindern  gut'). 

A  runt  Jackl, 

A  schwärz  Kappl, 

A  Bouch  foll  Schtain: 

Was  maag  das  sain')? 

Bisweilen  fehlt  alle  VerbinduDg. 

Mann  ohne  mutter, 
pferd  ohne  futter, 
feuer  ohne  hitz, 
türm  ohne  spitz  ^). 

Selten  läßt  sich  die  steigernde  Improvisation  verwenden,  wie 
etwa  in  dem  genrebildmäßigen  Bätsei  auf  das  Butterfaß: 

Nu  ward  dat  dach,  dat  wunnert  mi, 

ik  mööt  up,  du  sasst  unner  mi, 

mit  den  Stangen  stöker  ik  di, 

dat  di  de  noors  wuppelt,  un  dat  hoegt  di^). 

Umkelirung  der  Hauptform  bietet  das  Bätsei  auf  die  Kelch- 
blätter der  Hundsrose: 

Fünf  Bruder  in  einer  Nacht  geboren: 
zwei  hatten  Bärter,  zwei  waren  geschpren, 
und  einer  von  derselben  art 
hatte  nur  einen  halben  Bart^). 

Unsere  typischen  Improvisationsformen  beherrschen  das  Kinder- 
lied und  den  Volksreim  in  Deutschland  überall.  Schon  unter 
den    oben    zusammengestellten    Vertretern    der    einzelnen    Typen 


')  Meier,  Volkslieder  aus  Schwaben  S.  72. 
3)  Meier  S.  74. 

3)  Peters,  Yolkstümliches  aus  Österreich.     Schlesien  S.  121.    Nr.  346. 
Auflösung:   die  Hagebutte. 

*)  Wossidlo  I  Nr.  407a. 

»)  Wossidlo  I  Nr.  73.    Vergl.  71  ff. 

«)  Wossidlo  I  Nr.  155a. 


259 


befanden    sich   Volksreime.    Ein  Baseler   Einderlied   bezeichnete 
Maehly  ohne  weiteres  als  Priamel. 

Schmid  ohni  Schmitte, 
Der  Hafner  ohni  Hütte, 
Der  Miller  ohni  Relle, 
Sind  die  drei  ärmste  Gselle^). 

Ennstlos  bleiben  Improvisationen  wie: 

Das  Dörren  im  Herbst, 
das  Trocknen  im  Winter, 
das  Backen  im  Ustig, 
dunkt  d'  Husfrauen  lustig^). 

Die  Form  wird  meist  freier  gehandhabt. 

Nigel  nagel  neus  HUseli, 
Nigel  nagel  neus  Dach, 
Nigel  nagel  neus  Schätzeli; 
dem  alte  guet  Nachtat 

Bute,  bute  haie: 

's  Rüehli  goht  in  Maie, 

's  KUehli  goht  im  lange  Gras, 

's  Maiteli  het  e  Schaudemas^). 

Adolf  heiß  ich, 

die  Hosen  zerreiß  ich, 

die  Nüss  zerbeiß  ich, 

und  sonst  nichts  weiß  ich'). 

Strengere  Form  des  Typus  G  ist  vertreten  durch  einen 
Vierzeiler,  den  Bochholz  nnter  die  Spieltexte  zu  Tageszeiten 
gestellt  hat. 

S'  lUtet  Mittag: 

d'  Herre  i's  Grab, 

d'  Buebe  i's  Wirtshus, 

d'  Maidiene  i's  Zucherhus^). 


')  Baseler  Kinder-  und  Yolksreime  S.  63. 

*)  Rochholz,  Deutscher  Glaube  und  Brauch  2,  114.  Inschrift  am  Ofen. 
')  Reinle  Nr.  110;  mit  abweichendem  Schluß  als  Schnaderhnpfel  hftufig. 
^)  Baseler  Kinder-  und  Yolksreime  S.  11. 

^)  Rochholz,   Alemannisches   Kinderlied   Nr.   741.     Variationen   un- 
gemein verbreitet. 

^)  Alemannisches  Kinderlied  S.  188.  Nr.  326. 

17» 


260 


Tobler  gibt  die  Variante: 

Es  Itttet  Mittag: 

de  Herren  i's  Grab» 

de  Bueben  i  d'  Schuel, 

de  Meitschene  i'  Bichtstuel '). 

Kinderreim   und   Schnaderhüpfel    berühren    sich    wieder    in 
folgendem  Spruch  des  Typus  B: 

S'  ist  nit  alls  an  eim  paar  Hose, 
s'  ist  nit  alls  an  eim  paar  Schuch, 
s'  ist  nit  alls  an  der  Hübschi  gl^e: 
s'  ist  au  viel  am  ordelig-thne  *). 

Schnaderhüpfel  verwenden  das  Motiv: 

Is  mer  nix  um  en  Kreuzer, 
Is  mer  nix  um  a  Geld, 
Is  mer  nix  um  a  Diendl: 
Gibts  mehr  af  der  Welt^). 

Mir  is  nix  um  'n  Reichtum, 
Mir  is  nix  um  's  Geld, 
Und  a  liebs  feins  Herzel 
Is  mir's  Liebste  af  der  Welt^). 

Ein  Kinderreim  aus  dem  Lechtal  bei  Brixlegg  lautet: 

A  schottener  Bohrer, 
A  gusseisener  Stoan, 
Statt  Papier  a  Sagmeahl: 
Wie  kannt  dös  schoan^)? 

An    den   bekannten   Kinderbackspruch   erinnert   das   Tiroler 
Schnaderhüpfel: 

A  Kistn  voll  Kloabim, 

A  Truchn  voll  Meahl, 

And  a  Schmalz:    nacher  bachn  wir 

Uens  Krapfen  goldgeal'). 


^)  Schweizerische  Volkslieder  2,  227. 

«)  Rochholz  S.  314.  Nr.  746. 

8)  Pogatschnigg  und  Herrmann  1»,  108.  Nr.  521.  Vergl.  1,  327. 
Nr.  1427. 

*)  A.  a.  0.  1,  148.  Nr.  671.  Vergl.  Böhme,  Kinderlied  S.  108  f. 
Nr.  476.  480. 

^)  Zeitschrift  für  österreichische  Volkskunde  2,  103.    Nr.  126. 

')  Greinz  und  Kapferer,  2.  Sammlung  S.  48. 


261 


Das  Elsaß  ist  reich  an  Priamel-Beimen.    Z.  B. 

Min  Schatz  isch  von  Adel, 
Heißt  Anne  Marie, 
Hett  hiheri  Wade 
Un  glesseri  Knie^). 

De  Jnmfere  Maier 

Het  viel  Hühner  und  keine  Eier, 

Viel  Rewen  und  keinen  Win: 

Wer,  Dühenkers,  wott  doch  Maier  sin^)l 

Ober   fünfhundert  Jahre   im   Elsaß   geläufig    ist   der   Wirt- 
scbaftspruch:- 

Wer  im  HoUmachet  nit  gawelt 

Und  in  der  Eme  nit  zawelt, 

Und  im  Herbst  nit  frttej  ufsteht: 

Der  kann  luejen  wie  's  ihm  im  Winter  geht^). 

In  ganz  Deutschland  verbreitet  sind  Abzählreime  wie: 

Ich  und  du, 
Unds  MüUers  Kueh, 
Unds  Becken  Stier: 
Sind  unsere  yier*). 

Nur   leise    angedeutet    ist    bisweilen    in   Haussprüchen    der 
Typus  B.    Ein  Züricher  vom  Jahre  1655  lautet: 

Der  lentz  bringt,  das  der  vogel  singt. 
Der  sommer,  das  aUes  vorher  springt. 
Der  herpst  gibt,  das  man  sich  emehrt, 
Der  winter  hilfft,  das  man  verzehrt^). 

Allgemein  verbreitet  ist  der  analog  gebaute  Haussegen: 

Des  Morgens  denk  an  deinen  Gott, 
Des  Mittags  iß  vergnügt  Dein  Brot, 
Des  Abends  denk  an  deinen  Tod, 
Des  Nachts  verschlafe  deine  Not. 

Nach    Mitteldeutschland    möge    uns     ein    Weihnachtspruch 
führen,  den  Kinder  zu  Landwust  singen. 


*)  Martin  und  Lienhart,W örterbuch  der  els&ssischen Mundarten  1 , 833. 

^  Ebenda  1,  176. 

^  Ebenda  1,  179.  193. 

«)  Ebenda  1,  129. 

^)  Sutermeister  S.  32. 


262 

A  Pfitfil  um  Rcftnia 
imd  a  Boibel  zon  Kleidn, 
and  a  Kinkel  xon  Klingn: 
wirds  BoffiikiiiDcI  bnogoi'). 

Eioen  Bochlitzer  Spielreim  hat  Z schalig  aufgezeichnet. 

Ron,  ndl,  nill: 
Mä  Dabb  is  Toll« 
Mä  Baach  is  ker, 
Ificli  hangert  schr^. 

Dem  altenglischeD  ,Samer  is  icnmen  in^   ist  der  Jahreszeit- 
reim ans  Bochlitz  verglichen: 

In  Smmner  ist  es  oo  so  bibsch: 

Da  blakt  das  liewe  Vieh. 

Da  habbt  dr  Bo^,  da  springt  das  Schwein, 

Un  bäsdn  oo  de  Kih^. 

Als    Pappentanzlied    sind    folgende    Verse    aus    Darmstadt 
überliefert: 

Hessenlander  Weiberchen 
Haben  runde  Häoberchcn, 
Haben  hohe  SchökelGlien, 
Tanzen  wie  die  Kickelchcn*). 

Die  siebenbürgische  Mutter  tröstet  ihr  Kind  am  Winterabend 
mit  dem  schönen  Spruch: 

wol  fläjen  de  wnlkcn, 

wol  saosxt  der  wäint« 

wol  staewen  de  flohen  ämeräink: 

scfal6f  nor,  schlof  nor,  me  goldig  käint^)! 


0  Dnnger,  Kinderlieder  S.  194.  Nr.  1049.  Über  das  Alter  der 
Weihnachtsfeier  Mogk  in  der  Sächsischen  Yolksknnde  S.  278.  Yogt, 
Weihnachtsspiele  S.  91.  130  ff.  146.  299. 

*)  Bilder  and  Klänge  ans  der  Bochlitzer  Pflege.  Leipzig  nnd  Dresden 
1903.    S.  106. 

3)  Zschalig,  Bilder  S.  9. 

*)  Anch  anf  die  Sachsenhänser  gemünzt.  Siehe  oben  S.  238.  Drosihn- 
Polle  S.  65.    Nr.  98. 

^)  Schuster,  Siebenbnrgisch- Sächsische  Volkslieder  S.  323  Kr.  6. 
Mejer,  Deutsche  Yolksknnde  S.  121  giht  den  Spruch  irrtumlich  als  nord- 
iriesisch. 


268 


Häufiger  ist  die  ümkehrung  C: 

Schlof,  Kinnel,  schlof: 

dein  Voter  is  a  Grof, 

dein  Mueter  is  a  Edelfra, 

dein  Kinnermad  sein  Schätzela  *). 

Aus  Sonneberg: 

Schlouf,  büüwla,  schlouf: 
Dei  fatter  is  a  schouf, 
Dei  mutter  is  a  meerkatz, 
Dun  bist  a  kleener  draakbatz'). 

Der  bei  fast  allen  mitteleuropäischen  Völkern  wiederkehrende 
Maikäferspruch   verfährt  technisch  genau  so  wie  das  Wiegenlied. 

Maikäfer  flieg: 

Dein  Vater  ist  im  Krieg, 

Dein  Mutter  ist  im  Pommerlandi 

Pommeriand  ist  abgebrannt  3). 

Ebenso    der   Kasseler   Kinderreim,    der    elterlicher   Züchti- 
gung gilt: 

Ach,  du  liebe  Zeit: 
Wie  ist  die  Welt  so  weit. 
Wie  ist  mein  Rock  so  eng, 
Und  meine  Mutter  so  streng^)! 

Aus  dem  Erzgebirge  stammt  der  Einderreim: 

Hemmbengl, 

Zuckerstengl, 

Sympfieß: 

Dei  Mutter  siehts^). 


*)  Dünger,  Kinderlieder  S.  58.  Nr.  6.  Treichel  S.  117.  Marriage, 
Volkslieder  aus  der  badischen  Pfalz  S.  375.  Nr.  278  und  S.  390. 

')  Schleicher  S.  95.  Nr.  15.  Eine  Amme  singt  diese  Zeilen  dem 
Kinde  des  Herzogs  Georg,  der  die  Sängerin  dann  einmal  durch  die  Be- 
merkung erschreckt,  sie  gebe  doch  eine  seltsame  Beschreibung  seiner 
Familie.     Schleicher  S.  96. 

3)  Lewalter-Eskuche,  Hessische  Kinderlieder.  Kassel  1891.  S.  60. 
Nr.  163. 

*)  Böhme,  Kinderlied  S.  119,  Nr.  537. 

^)  A.  Müller,  Volkslieder  aus  dem  Erzgebirge.  Annaberg  1883. 
S.  178.    Nr.  8. 


264 
Auf  unnütze  Fragen  des  Kindes  antwortet  man  im  Vogtland: 

Was?  —  ein  alts  Faß. 

wenns  regnet,  wirds  naß,  ^ 

wenns  schneit,  wirds  weiß, 

wenns  friert,  wird  Eis'). 

Echten  Improvisationscharakter  verraten  niederdeutsche  Volks- 
und Kinderreime  in  Formen  des  Priamelvierzeilers.  Ein  Holz- 
hacker bei  Parchim  improvisiert  nach  einem  Gespräch  ein  Verschen 
über  die  UnvoUkommenheit  der  Welt  und  seines  Holzmaterials'). 
Hinter  dem  Trunkenen  wird  in  Lübeck  gerufen: 

Höh,  höh,  höh: 

De  Keerl  het  en  Floh, 

De  Keerl  is  besapen, 

De  Büxenklapp  steiht  apen^). 

In  Mecklenburg  sagt  man  bei  Sonnenuntergang: 

Wenn  de  sünn  so  tickert. 
Wenn  de  sttnn  so  mickert. 
Wenn  se  upn  gläden  steiht: 
Denn  se  bald  ttnner  geiht^). 

Auf  die  Frage  nach  dem  Hunde  wird  geantwortet: 

Wenn  uns  oll  tiff  'n  köter  wir, 

un  denn  noch  'n  beten  gröter  wir, 

un'denn  noch  'n  beten  bunt: 

denn  wir't  'n  snakschen  hund^).  ^ 

Dem  zuletzt  beim  Maikäferspruch  beobachteten  Verfahren 
folgt  der  Braunschweigischo  Neckreim: 

Johann I    spann  an: 
De  Katte  voran, 
Den  Kater  vorup. 
In  de  Fore  herup*). 


>)  Dunger,  Kinderlieder  S.  124.  Nr.  172. 

>)  Siehe  oben  S.  220. 

^  Schninann,  Volks-  und  Kinderreime  aus  Lübeck  und  Umgegend. 
Lübeck  1899.    S.  77.  Nr.  292  b. 

*)  Wossidlo,  Das  Naturleben  im  Munde  des  Mecklenburger  Volkes. 
ZfVkde  5,  425. 

s)  Wossidlo  1,  11.    Nr.  20. 

^)  Neckreime  gesammelt  yon  Otto  Schütte  im  Braunschweigischen 
Magazin   hg.    yon  Zimmermann   3,  205.    Hildebrand   im  DWB  5,  283. 


265 

Wenn  einer  bei  dem  (schon  im  12.  Jahrhundert  durch 
Steinmetzzeichnungen  im  Wormser  Dom  bezeugten)  Mühlenspiel 
eine  Mühle  gewinnt,  lautet  der. Spruch  in  Niedersachsen: 

Stripp  strapp  struU: 
Mine  Möl  is  vull, 
Mine  Mole  gabt, 
Dine  Mole  staht>). 

Am  Michaelistag  heischen  Qütersloher  Kinder  Gaben  mit 
dem  Vers: 

Wenn  de  Fru  na  Kerken  gebt, 
Wenn  de  Rock  in  Faulen  steht, 
Wenn  de  Kamern  knappet: 
Giäwet  US  docb  n  paar  AppeP)! 

In  Ibren, 
war  alle  Swiene  gieren, 
war  de  Kalfer  blarren, 
war  de  olde  Wiefen  gnarren. 

singt  man  in  Ostfriesland  3). 

Als  Inschrift  erscheint  dort  der  alte  Vers: 

De  warbeit  is  to  bemmel  gbetogen, 

en  de  trouwe  is  over  dat  wide  meer  gbeflogben, 

de  gerecbticbeit  is  allentbalven  verdreven: 

de  vntrouwe  is  in  de  werldt  gebleven^). 

Gebräuchlich  ist  der  Priamelvierzeiler  als  Inschrift  überall. 
£ine  vom  Jahre  1681  datierte  Wirtshausinschrift  aus  dem  Moll- 
tal beruht  auf  einem  Spruch  des  15.  Jahrhunderts: 

Ein  Gast,  dem  ein  Wirtb  gütlicb  tbut 
Und  der  dann  zablt  mit  bösem  Gut 
Dem  Wirtb,  der  ibm  fUlit  seinen  Balg: 
So  ist  der  Gast  ein  arger  S<ibalk^)l 


»)Dro8ihn-Polle  S.  125.  Nr.  306.  Weit  verbreitet.  Vergl.  zur 
Struktur  den  Rocblitzer  Spielreim  oben  S.  262. 

«)  Drosihn-Polle  S.  152.  Nr.  394.    Vers  2. 

^  Globus  26,  108. 

*)  Inschrift  von  Oldersum  1580.     Globus  75,  386. 

»)  Falck,  Inschriften  S.  84.  Göttinger  Beitr&ge  2,  61.  Nr.  32.  Die 
moderne  Fassung  schulmeistert  die  Stilistik  des  mhd.  Spruches. 


266 

Ein  noch  älterer  Spruch,   aus  dem  14.  Jahrhundert,  steht  in 
folgender  Form  an  einem  Hause  in  der  Nähe  von  Brixen: 

Beichten  ohne  Reu, 
Lieben  ohne  Treu, 
Beten  ohne  Innigkeit: 
Sein  drei  verlorne  Arbeit'). 

Ein  halbes  Jahrtausend   alt   wird  auch  wohl  in   der  Haupt- 
sache die  Aufschrift  an  einem  Hause  in  Kärnten  sein: 

Ein  Schneider  auf  einem  Roß, 
Ein  Jud  auf  dem  Schloß, 
Eine  Laus  auf  dem  Grind: 
Sein  drei  stolze  Hofgesind^). 

In  Innsbruck  liest  mau  an  einem  Hause: 

Weiße  Raben,  schwarzer  Schnee, 
Keusche  Jungfern,  blauer  Klee, 
Treue  Freunde  in  den  Nöthen: 
Sind  die  größten  Raritäten  3). 

An  einem  Hause  am  Starnberger  See: 

Geh  ohne  Stock  nicht  durch  den  Schnee, 
Geh  ohne  Steuer  nicht  zur  See, 
Geh  ohne  Gottes  Gruß  und  Wort 
Niemals  aus  deinem  Hause  fort^). 

Ein  Spruch  des  T^pus  B  von  Rosegger  ist  in  verschiedenen 
Gasthäusern  der  Steiermark  angebracht  zu  finden. 

Der  Adam  hat  d'Liab  aufbracht. 
Der  Noah  den  Wein, 
Und  der  Davidl  's  Zithemschlagn : 
Muß  a  Steyrer  gwest  sein^). 

Ein  Schwäbischer  Ofenspruch  lautet: 

Goldgelb  im  Beutel, 

Grasgrün  auf  dem  Feld, 

Leibfarb  im  Bett: 

Das  sind  drei  Stück,  die  jeder  gern  hätt®). 


*)  Marterl,  Votivtafeln,  Grabschriften,  Feldkreuze,  Leichenbretter, 
Haassprüche  etc.  Gesammelt  von  mehreren  Touristen.  2.  Sammlung.  München, 
Schupp,  0.  J.     S.  14. 

«)  Ebda.  S.  12.   3)  Ebda.  S.  9.    *)  Ebda.  S.  13.    *)  Ebda.  S.  9. 

^)  Aus  der  Gegend  von  Calw.    Alemannia  4,  244.   Nr.  56. 


267 


Reich  an  Inschriften  ist  besonders  Siebenbürgen. 

Die  Alten  sollen  die  Jungen  lehren, 
Die  Jungen  sollen  auf  die  Alten  hören, 
Einer  soll  den  anderen  ehren: 
Alsdann  wird  uns  Gott  vermehren^). 

Eine  drastische  Verwendung  findet  der  Priamelvierzeiler  als 
Bilderreim: 

Tot  Rotterdam  op  een  Tappers  Deur  daar  een 

Aap  een  Kat  en  een  Molen  op  geschildert  stönd: 

DEzen  Aap  en  kan  niet  luizen, 

Deze  Kat  en  kan  niet  niuizen, 

Deze  Molen  kan  niet  malen: 

Die  hier  komt  drinken  rooet  betalen  of  anders  mag  hem  de  Drommel  halen  ^  ) ! 

Nicht  minder  beliebt  ist  der  Vierzeiler  als  Ortsreim. 

Wer  durch  Hoflfe  {=  Hoffenheim)  geht  ungfoppt, 
Durch  Zuzehause  ungschpott. 

Durch  Mcckse  («=  Meckesheim)  unn  Mauer  ungschlage : 
Der  kann  von  Kunscht  unn  Wunner  sage'). 

Elsaß. 

Ze  Thann  im  Range, 

Ze  Gebwiller  in  der  Wanne, 

Ze  Türkheim  im  Brand: 

Wachst  der  besti  Win  im  Land*). 

Drei  Schlösser  auf  einem  Berge, 
Drei  Kirchen  auf  einem  Kirchhofe, 
Drei  Stadt  in  einem  Thal: 
Ist  ganz  Elsaß  überall^). 

An  ehrlichs  Geblüet 
Und  an  aufrichtigs  Gmiiet 
Und  an  Herzerl  a  treus: 
Das  is  d'  Salzburger  Weis^). 


*)  Hausinschrift  zu  Honigberg.    Haltrich-Wolff  S.  448. 

^  Opschriften  1,  10. 

')  Gl  eck,  Lieder  und  Sprüche  aus  dem  Elsenztale.  Bonn  1897.  S.  45. 
!Nr.  33.  In  zahllosen  Variationen  fast  überall  verbreitet.  Beispiele  des 
15.  Jahrhunderts:  von  Düringsfeld,  Internationale  Titulaturen  2,  41. 

*)  Die  deutschen  Mundarten  3,  13.    Weinspruch. 

^)  Stob  er,  Sagen  des  Elsasses  S.  102.  113  f. 

«)  von  Hörmann,  Schnaderhüpfeln^  S.  357.  Nr.  978. 


268 

Das  Ausseer  Salz 
Und  das  bergrische  Schmalz 
Und  der  steierische  Wein: 
Macht  die  Diendlan  so  fein '). 

Bayreuther  Gebot, 

Selber  Brod, 

Thiersteiner  Bier: 

Währt  nur  a  Wochner  vier*). 

Adorf,  Brambach,  dazu  Schöneck, 
Milau,  Treuen  und  Langefeld, 
Oelsnitz,  Plauen  und  Elsterberg: 
Sind  9  Bier,  ist  keins  ehrenwerth'). 

Typus  R  und  C  fehlen  auch  in  dieser  Verwendung  nicht. 

In  Lauterbach  hamm  se  kann  Pfarrer  mehr. 
Und  af  der  Kerch  hamm  se  kann  Thorm, 
Af  de  Wochen  do  gieht  der  Schulmaster  fort, 
Und  der  Nachtwächter  is  scha  gestorbn*). 

Von  Schemnitz  das  Silber, 

Von  Bleiberg  das  Blei, 

Von  Oestreich  das  Diandle, 

Von  Kartn  de  Treu»). 

Drubn  der  Grti 
hamm  se  böse  Knie, 
hamm  se  Grindle  dra, 
machen  se  Supp  drva^). 

Ebenso  wenig  genau  bestimmbaren  Alters  wie  die  meisten 
Volksreime  dieser  Art,  die  nicht  auf  bestimmte  Begebenheiten, 
Personen  oder  Zustände  zielen,   sind  auch  Weidsprüche.     Zum 

^      *  Ein  schläferiger  Jäger  und  verdrossen, 

Ein  trabender  Leit-Hund  ungenossen, 
Und  ein  zeltender  Wind: 
Das  sind  eins  Herrn  sein  unnützes  Hof-Gesind|[). 


»)  Pogatschnigg  und  Herrmann  1',  382.    Nr.  1786. 
«)  Dunger,  Eundas  S.  241.    Nr.  1285;  vergl.  Nr.  1286. 
»)  Dung  er  S.  242.  Nr.  1287. 
*)  Dunger  S.  241.    Nr.  1281. 

*)  Pogatschnigg  und  Herrmann  1',  384.   Nr.  1797. 
«)  Dunger  S.  240.    Nr.  1276. 

^)  Döbel,  Eröffnete  Jäger-Practica  oder  Der  wohlgenbte  und  Erfahrne 
s:er  (Leipzig  1746)  3,  158.    Köhler,  Kleinere  Schriften  3,  452  ff. 


269 


Noch  vielfach  läßt  sich  der  Priamelvierz^iler  aus  Volks- 
liedern ausscheiden,  deren  Unterlage  er  bildete^).  Ich  wähle 
einige  Beispiele  aus  Meiers  Schwäbischen  Volksliedern.  In  dem 
Lied:  Du  bist  mein  (S.  94)  sind  die  drei  letzten  10  zeiligen 
Strophen  aus  Vierzeilern  aufgebaut;  der  zweite  ist  zweimal  ein 
Priamelvierzeilbr. 

Keine  Schöne  krieg  i  nit, 
Keine  Wtlste  mag  i  nit, 
Und  ledig  bleib  i  nit: 
Was  fang  i  an? 

Dreimal  ist  gar  nit  viel, 
Sechsmal  ist  noch  so  viel, 
Siebenmal  muß  au  voll  sein: 
Schatz,  du  ghörst  mein. 

Die  Liebesbeteuerungen   folgen   gern   dem   Vierzeilerschema. 

So  lang  die  Felsen  tragen  Reben, 

Und  darin  fließt  der  rote  Wein, 

Und  so  lang  Gott  mir  schenkt  das  Leben, 

So  lang  sollst  du  mein  eigen  sein'). 

Oder: 

Und  so  lang  das  Wasser  fließet 
Und  die  Felsen  tragen  Stein, 
Und  so  lang  das  Feuer  brennet 
SoUst  du  Schatz  mein  eigen  sein'). 

Mehrere  Fassungen  dieses  vagabondierenden  Vierzeilers  sind 
von  der  Volkslyrik  in  Goethes  „Kleine  Blumen,  kleine  Blätter", 
„die  anmutigste  Blüte  der  deutschen  Änakreontik"  eingeflochten, 
wie  Erich  Schmidt  gezeigt  hat^). 

Zum  Schluß  möge  je  ein  Beispiel  der  drei  Grundtypen  er- 
wähnt sein,  das  uns  die  Entstehung  neuer  Priamelvierzeiler  aus 
unmittelbarer  Improvisation  noch  einmal  gleichsam  mit  Händen 
greifen  läßt.  „Einer  unter  uns",  berichtet  Olearius,  „indem  er 
der  Mußcowitischen  Bussen  Arth,  Leben  und  Wesen  anschaute 
und  betrachtete,  beschriebe  es  kürzlich  mit  folgenden  Beimen: 


')  Zur  Sache  Strack  in  den  Hessischen  Blättern  für  Volkskunde  1,  59. 
2)  Meier  S.  98.        ^)  S.  99. 

^)  Charakteristiken    2,  177  ff.      Dazu    Kopp    in    der    Zeitschrift    für 
Volkskunde  12,  38  ff.    Nr.  7.    Euphorion  11,  513. 


270 

Kircheoi  Bilder,  Creutze,  Glocken, 
Weiber,  die  geschminkt  als  Docken, 
Herren,  Knoblauch,  Brandtewein: 
Sind  in  Mußcau  sehr  gemein^)«. 

Es  ist  das  Versehen,  das  Schiller  sich  in  den  CoUectanea 
zum  Demetrius  aufschrieb^). 

Minister  Bosse  erzählt  aus  seiner  Jugendzeit,  die  Knaben 
hätten  auf  ihre  Lehrer  folgenden  Schulreim  gemacht:  ' 

Thieme  ist  ein  guter  Mann, 
Kleinert,  der  geht  auch  noch  an, 
Scharfe  ist  ein  Kribbelkopp, 
Mahleke  hängt  die  Jungens  opp^). 

Weihnachten  1903  improvisierte  ein  Berliner  Straßenverkäufer, 
der  zwei  kleine  weiße  Mäuse  aus  Blech,  eine  farbige  Messing- 
stange fortwährend  herauf  und  herunter  laufend,  anpries: 

Een  Sechser  de  laufende  Maus: 
Det  kleene  Aas  macht  fom  Daler  Spaß, 
Looft  von  Berlin  bis  nach  Wien, 
Ohne  Petroleum  und  ohne  Benzin. 

5. 

Der  deutsche  Friamelvierzeiler  bis  zum  16.  Jahrhundert. 

Will  man  den  Friamelvierzeiler  als  Grundlage  des  klassischen 
Priamels  erkennen,  so  wäre  eine  Beschränkung  unzweckmäßig, 
die  etwa  vor  dem  15.  Jahrhundert  halt  machte:  man  muß  weiter- 
greifen, wenn  das  richtige  Gesamtbild  entstehen  soll.  Für  die 
Mitte  Deutschlands  bleibt  die  Überlieferung  des  vor-Bosen- 
plütschen  Vierzeilers  zufällig  und  spärlich,  erst  die  Reflexe 
dieser  Kunstübung  in  der  Literatur  des  ganzen  15.  Jahrhunderts 
spenden  das  notwendige  Licht,  und  mittelniederdeutsche  wie 
mittelniederländische,  selbst  späte  Überlieferung  müssen  klaffende 
Lücken  ausfüllen  helfen. 


^)  Adami  Olearii  Persianische  Reise-Beschreibung.  Hamburg  1696. 
S.  106. 

<)  Schriften  der  Goethe-Gesellschaft  IX  256. 

^  Grenzboten  62,  290.  Ebenso  gebaut  ist  der  neueste  antisemitische 
Reim  auf  den  Burenkrieg,  citiert  in  der  Reichstagssitzung  Tom  6.  De- 
zember 1904. 


271 

Bis  ins  12.  Jahrhundert  hinein  bleibt  der  Priamelvierzeiler 
noch  durchweg  unliterarisch,  wie  wir  ihn  zum  Teil  im  vorigen 
Abschnitt  kennen  gelernt  haben.  Das  erste  improvisierte  deutsche 
Epigramm,  der  bekannte  Spielmannsreim  vom  Jahre  783: 

Nu  habet  Uodalrih 
firloran  er6noHh, 
östar  inti  uuestar, 
sid  irstarp  sin  suester^) 

ist  ein  Vierzeiler,  freilich  kein  Priamelvierzeiler. 

Mehr  nähert  sich  einem  Priamelschema^)  der  Spruch  des 
12.  Jahrhunderts: 

Tief  furt  truobe, 
und  schone  wiphuore, 
sweme  dar  wirt  ze  gäch, 
den  gemit  iz  sd^). 

Bei  Otfried  glaubt  man  die  äußere  Struktur  des  priamel- 
haften  synthetischen  Vierzeilers    durchzufühlen    in  Strophen    wie: 

Allaz  thaz  gibirgi  inti  allo  thio  burgi 

joh  dales  ebonoti  —  so  wes  iz  allaz  lobonti^). 


1)  QF  12,  14  f.  MSD  Nr.  VIII.  Koegel,  Gesch.  d.  d.  Literatur  V  230. 
Koegels  Meinung,  der  yielumstrittene  Spielmannsreim  stamme  erst  aus 
der  Zeit  des  Berichterstatters  (I*  203),  scheint  unannehmbar  und  hängt  mit 
seiner  Theorie  von  Otfrieds  Priorität  in  der  Verwendung  des  Keimes 
zusammen.  Der  Vierzeiler  trägt  so  sehr  das  Gepräge  einer  wirklichen 
Eingebung  des  Augenblicks,  daß  es  nicht  einleuchten  will,  er  sei  hundert 
Jahr  aus  der  Situation  heraus  durch  die  Sage  ,gemacht'.  Das  Verfahren 
wäre  ziemlich  ohne  Beispiel.  Dazu  kommt  ein  andres:  der  Mönch  von 
St.  Gallen,  der  den  Spielmannsreim  berichtet,  zählte  einen  Waffengefährten 
Eerolts,  des  Bruders  Uodalrichs,  zu  seinen  Gewährsmännern.  MSD^  2, 60. 
Kelle,  Geschichte  der  deutschen  Literatur  1,  71. 

')  Es  ist  das  Schema  eines  unechten  Priamels,  das  nur  äußerlich  drei 
Glieder  entwickelt,  wie  der  Vers  vom  Zers  und  Schmidt.  Mehr  derart  bei 
Henrici,  Zur  Geschichte  der  mittelhochdeutschen  Lyrik  S.  4  ff. 

3)  MSD3  XLIX  2. 

*)  I  9,35;  vergl.  11,  13.  In  Anlehnung  an  die  Bibelstelle  Luc.  11,27 
ergeht  sich  auch  Otfried  in  den  später  als  Priamelmotiv  beliebten  volks- 
mäßigen Seligpreisungen:  I,  11,  39  ff.  Längere  Perioden  mit  Häufung  der 
Vordersätze  und  Abschluß  im  Nachsatz  eröffnen  das  II  Buch  1  ff:  vergl. 
20,  1  ff.    Parallel   gehäufte   Satzglieder:    U  5,  7.    24,  3.   IV  16.  15.   u.  o. 


272 


Thaz  beilege  io  giredotun,  ouh  buah  fon  mir  gesagetun, 
Job  forasagon  tellent,  tbio  ziti  iz  nu  irfuUent^}. 

Mit  fiuru  sie  nan  brantin,  mit  wazaru  oub  irqualtin, 

odo  oub  mit  steinonne:    mit  wiu  segenotis  thu  tbib  tbanne?*) 

Da  sich  Oifried  in  ausgesprochenen  Gegensatz  znm  Volks- 
gesang  stellt,  ist  es  nicht  zu  verwundern,  wenn,  besonders  bei 
Behandlung  stofflich  so  entfernter  Gegenstände,  die  volksmäßigen 
Formen  fast  ganz  verwischt  sind^). 

Der  große  Stilkünstler  Notk er  läßt  diese  Form  sogar  in 
der  Prosa  seiner  Psalmenübersetzung  durchbrechen.  Im  26.  Psalm 
überträgt  er: 

Dar  tag  äne  nabt  ist, 

ddr  Hb  dne  t6d  ist, 

dar  lieb  ane  leid  ist: 

tara  lastet  mib  zecbomenne^). 

Auch  in  der  Erinnerung  glaubt  man  einen  rügenden 
Priamelvierzeiler  zu  hören,  wenn  Heinrich  von  Melk  sagt: 

Die  pbaffen  die  sint  gitic, 
die  gebour  die  sint  nidic, 
die  cboufliut  babent  triwen  nicbt, 
der  wibe  chiuscbe  ist  enwicbt*). 

Die  allerhäufigste  Stilisierung  des  späteren  Priamels  weist  ein 
Vierzeiler  Wernhers  von  Elmendorf  auf,  der  trotz  seiner 
Abhängigkeit  von  Wilhelms  von  Conches  Philosophia  mpralis 
de  honesto  et  utili  doch  auch  aus  volksmäßiger  gnomischer  wie 
epische)*  Dichtung  schöpfte: 

Swer  dir  vaste  zu  spricbet 
und  mit  scharfen  worten  stiebet 
und  dicb  dtner  dumbeit  berüfit: 
daz  is  der  diner  eren  gebrücbit^j. 


»)  IV  14,  11. 

9)  V  1,  11  vergl.  23,  201.   24,  5. 

3)  Für  Existenz  der  einfacbsten  aus  zwei  Langzeilen  bestehenden 
Strophe,  die  dem  Vierzeiler  entspricht,  ist  Koegel  eingetreten.  Geschichte 
der  deutschen  Literatur  I«  18.  39  f.  650.    Pauls  Grundriß  II»  50. 

*)  VergL  Otfried  I  18,  9.  Über  Notkers  Verdienste  als  Stilkünstler 
Koegel  1«  618  ff.  Pauls  Grundriß  IP  146.  Er  bat  auf  obige  Stelle 
aufmerksam  gemacht. 

5)  Er.  423;  vergl.  Priesterleben  676.    Wilmanns,  Beiträge  1,  56. 

«;  123.  ZfdA.  4,  284  ff. 


273 


Für  die  Selbständigkeit  dieses  Vierzeilers  spricht  hier  der 
umstand,  daß  in  Wernhers  Quellen  das  Korrelat  fehlt^).  Die 
beiden  letzten  Dichter  haben  uns  bereits  in  die  zweite  Hälfte 
des  12.  Jahrhunderts  geführt,  eine  Periode,  in  welcher  der  priamel- 
hafte  Vierzeiler  anfängt,  in  der  Literatur  wirklich  Boden  zu 
gewinnen.  Überblicken  wir  die  bisherigen  Zeugnisse,  ohne  den 
Grad  der  Wahrscheinlichkeit  zu  überschätzen,  die  den  aus  ihnen 
gezogenen  Schlüssen  innewohnt. 

Man  messe  die  Spärlichkeit  unserer  Beispiele  zunächst  an 
der  Überlieferung  der  vorliterarischen  Lyrik,  und  man  wird  die 
Zeugnisse  für  den  priamelhaften  Vierzeiler  verhältnismäßig  nicht 
dürftig  nennen  können.  Schon  die  Pointe  sicherte  dem  priamel- 
haften Vierzeiler  ein  zäheres  Leben  als  dem  lyrischen  Vierzeiler^). 
Der  allgemein  gnomische  Vierzeiler  ist  reicher  vertreten.  Die 
Erzeugnisse  volkstümlicher  Kleinkunst  wurden  natürlich  als  Dichtung 
des  niederen  Volkes  vorachtet;  nur  ausnahmsweise  und  christlich 
umgedeutet  wurden  Zauberformeln  der  Aufzeichnung  für  wert 
gehalten^).  Sie  machten  ebenso  wenig  literarische  Prätensionen 
wie  die  Eingebungen  des  Augenblicks,  die  sich  des  gnomischen 
Vierzeilers  bedienten.  Man  schrieb  diese  ebensowenig  auf,  wie 
die  ersten  Lautenisten  ihre  Priamel.  Nirgends  würde  wieder 
mit  ausschließlicher  Berücksichtigung  der  gleichzeitigen  literarischen 
Tradition  weniger  erreicht  als  in  unserm  Falle.  Es  muß  schon 
das  1 2.  Jahrhundert  einen  ziemlich  beträchtlichen  Schatz  gut 
geprägter  Priamelmotive  besessen  haben:  das  Vorhandensein 
einiger  ganz  vollendeter  Priamelvierzeiler  in  Freidanks  Be- 
scheidenheit wäre  sonst  unerklärlich,  und  außerdem  lehrt  das 
vielleicht  ein  Blick  auf  fremde,  insbesondere  die  mittelnieder- 
ländische Überlieferung.  Sie  hat  mit  der  deutschen,  bei  allen 
selbständigen  Verschiedenheiten,  eine  Fülle  so  nah  verwandter 
Motive  gemein,  daß  man  zu  schließen  geneigt  ist,  diese  seien 
älterer  gemeinsamer  Besitz  gewesen.     Für  Entlehnung  in  diesen 


»)  Schönbach  Z.  f.  d.  A.  34,  57  (Sauerland  S.  30  f.  42  f.);  vergl. 
über  den  nicht  genügenden  Text  in  Mignes  Patrologia  171,  1003  fif. 
Schönbach,  Die  Anfänge  des  Minnesanges  S.  41. 

2)  R.  M.  Meyer,  Alte  deutsche  Volksliedchen  S.  176. 

^)  Vergl.  Burdachs  Ausführungen  über  das  volkstümliche  deutsche 
Liebeslied  Z.  f.  d.  A.  27,  345  f.  Grazer  Studien  zur  deutschen  Philologie  5, 73  ff. 
Ealing,  Priamel  13 


274 


Fällen  fehlen  bis  jetzt  Beweise,  und  die  ganz  charakteristische, 
dem  Oeist  des  Niederiändischen  völlig  kongeniale  Verarbeitnng 
der  Motive  zeugt  dagegen^).  Zuerst  sei  auf  ein  später  (S.  316) 
zu  behandelndes  Motiv  hingewiesen,  das  den  Kern  für  das  Rosen - 
plütsche  , Jaghunt,  wilde  swein  und  hasen'  (Göttinger  Beiträge 
2,  53.  Nr.  XIV.  Vers  4.  5.  6.)  abgab;  es  ist  nicht  nur  im  Mittel- 
niederländischen und  Mittelniederdeutschen,  sondern  unter  andern 
auch  im  Picardischen  des  13.  Jahrhunderts,  im  Englischen  und 
Dänischen  bezeugt.  Mit  der  Annahme  einfacher  Entlehnung  wäre 
wenig  erklärt;  wahrscheinlicher  ist  sehr  alte  Gemeinsamkeit  des 
Motivs  mit  unaufhörlichen  Angleichungen  im  Austausch  herüber 
und  hinüber. 

Ebenso  sind  zweifellos  gegensätzliche  Zusammenstellungen 
mit  ,ohne^  auch  für  volksmäßig  gnomische  Sede  des  Frühmittel- 
alters vorauszusetzen,  Zusammenstellungen  wie  wir  sie  selbst  bei 
den  Altajem  und  Teleuten  gefunden  haben. 

Ein  gemeinsames  Motiv  liegt  femer  offenbar  folgenden  beiden 
Priamelvierzeilern  zu  Grunde,  den  Eennerversen  (12474  ff.): 

Herren  gunst,  aberiilen  weter, 
frouwen  gemüete  und  riusen  eter, 
Würfel,  ros  und  vederspil: 
triegent  ofte,  swerz  merken  wil. 

sowie  dem  Spruch  der  Hulthemschen  Handschrift: 

Wintersche  nachten, 

Vrouwen  gbedachten, 

Ende  herscap  hulde: 

Verkeren  dicke  ende  menechfulde^). 

Ebenso  würde  man  wohl  Entlehnung  ausschließen,  wenn  man 
den  mittelhochdeutschen  Priamel Vierzeiler: 


')  Natürlich  fand  ein  ständiger  Austausch  und  nie  unterbrochener 
Import  statt,  aber  an  der  Gemeinsamkeit  volkstümlicher  gnomischer  Über- 
lieferungen ändert  das  nichts.  Wenn  in  der  Tat  nur  „sehr  Weniges  aus 
der  Poesie  in  der  Volkssprache  wirklich  von  dem  Volke  aufgenommen  ward'' 
(Schönbach,  Gesammelte  Aufsätze.  Graz  1900.  S.  VHI),  so  gehörten 
wohl  solche  Sprüche  dazu. 

')  Belgisch  Museum  1,  111;  yergl.  S.  470.  Meijer,  Oude  nl.  Spreuken 
8.  92.    Zeitschrift  für  deutsche  Philologie  35,  513. 


275 


Wer  alle  tag  will  ligen  im  luder 
Und  aus  der  schussel  wil  füren  gute  fuder 
Und  einen  trunk  übern  andern  wil  sauffen: 
Den  sieht  man  wenig  erb  und  eigen  kaufTen^). 

mit  seinen  mittelniederländischen  Parallelen  vergleicht.  Das 
Motiv  ist  da  ganz  selbständig  behandelt;  z.  B.  in  der  Fassung 
der  Dresdener  Handschrift  M  33a  Blatt  5b: 

Die  nacht  ende  dach  in  tavernen  leecht 

ende  niet  en  wynt  ende  niet  en  heeft 

ende  eet  ende  drynct  ende  weel  betaelt: 

mij  ghieft  wonder,  waer  hy  tghelt  haelt. 
oder: 

Die  gherne  dobbelt  ende  drinct 

ende  altoos  die  taveme  mint 

ende  locker  es  mit  sconen  vrouwen: 

cruus  noch  munt  en  sei  hi  behouwen. 

Altdeutsche  Bl&tter  1,  76.    Nr.  23. 

Die  niet  en  wint  ende  niet  en  heeft 
ende  altoos  in  die  taveme  leeft 
ende  sinen  waert  wel  betaelt: 
mi  heeft  wonder,  waer  hijt  haelt. 

Ebenda  Nr.  24.     Germania    19,  304.     Dieser   Fassung   folgt 
eine  Glasschrift  „In  den  Haeg,  op't  Buitenhof  in  een  Wynhuis": 

Die  niet  en  heeft,  en  niet  en  wint, 
En  hem  altyt  in  't  gezelschap  vint, 
En  de  Waardinne  wel  betaalt: 
Het  geeft  my  wonder,  waar  hy  't  haalt. 

Koddige  en  emstige  Opschriften  2,  51. 

Ganz    individuell    verfährt    eine    andre    Version,    ^op    een 
Parkement  geschreven,  en  in  een  Lyst  opgehangen^: 

De  Sondags  slaat  het  Quakelbeen, 
En  in  de  Week  der  Teerling-steen, 
En*s  Winters  vischt,  en  Somers  vinkt: 
Die  heft  geen  kuyp  daar  vleesch  in  stinkt. 

Opschriften  2,  116. 


»)  Göttinger  Beitrage  2,  60.  Nr.  XXX.    Zum  Motiv  auch  Florilegium 
Gottingense  Nr.  56.    MSD  XLIX  6. 

18* 


276 


Ebenso  folgende: 

Op't  Krat  van  een  Wagen. 

Die  op  hooge  paarden  wil  ryden, 

£n  slaapen  aan  schoone  vrouwen  haar  zyden, 

En  drinken  de  wyn  die  klaar  is; 

Moet  hebben  een  buidel  die  swaar  is: 

Opschriften  2,  31. 

Glasschiift  te  Zevenhoven: 

Docr  den  Wynstruik, 

En  Vrouwen  Buik, 

En  Garsten  koren: 

Heeft  menig  Man  zijn  lijf  verloren. 

Opschriften  1,  80. 

Bloße  Übersetzung  aus  dem  Deutschen  kann  man  bei  Ge- 
staltung eines  andern  Motivs  von  wirklich  selbständiger  Behandlung 
unterscheiden.    In  ein  mittelniederländisches  Arzneibuch  ist  1586 

eingetragen : 

Die  Eenen  wolf  geloeft  op  der  Heyden 

Ende  eenen  Jeuden  by  synnen  eyde 

ende  eenen  papen  by  synnen  Missen: 

Die  is  van  drie  schelmen  beschissen^). 

Nicht  viel  selbständiger  ist  die  Olasschrift  aus  Sotterdam: 

am 

Die  een  wolf  vertrouwt  in*t  velt 

En  een  Jood  zyn  gelt 

En  een  Paap  zyn  ziel: 

Dat  is  wel  een  groote  KakhieP). 

Vergleicht  man  damit  den  älteren  Vierzeiler  derHulthemschen 

Handschrift: 

Nonnen  minne,  beghinen  tongbe, 

Morwe  eyere,  kinder  jonghe: 

Deze  viere  sekerlike 

Beseiten  meneghen  op  eertrike^), 

SO  erkennt  man  in  der  Anlage,  in  dem  charakteristischen  Schluß 


^)  Borchling,  Mittelniederdeutsche  Handschriften  2,  52.    Hochdeutsch 
Göttinger  Beiträge  2,  51.    Nr.  IX. 
9)  Opschriften  2,  15. 
')  Belgisch  Museum  1,  113. 


277 


und  den  Worten  „beghinen  tongbe**  allerdings  das  Motiv;  aber 
alles  andere  weicht  ab.    Ebenso  die  OlasBchrift: 

Op  drie  dingen  wilt  niet  veitrouwen, 
Oft  zal  u  namaals  deerlyk  rouwen: 
Op  e6n  vette  Heremyt,  devoot  in  schyn, 
Op  een  zieckelyke  Medicyn, 
Nog  op  een  arme  Alchimist: 
Ziet  dat  gy  hier  wel  op  gist^). 

Weniger  sicher  erscheint  es,  ob  in  einem  andern  Beispiel 
das  gemeinsame  Motiv  schon  priamelbaft  gewendet  war.  Dem 
erweiterten  Vierzeiler  ,W er  seinen  pulen  nicht  laicht'*)  entspricht 
zum  Teil  der  von  Hoff  mann  mitgeteilte  Sprach: 

Moes  sonder  smout, 
mellic  sonder  sout, 
minnen  sonder  cussen: 
dat  sal  den  duvel  lusten^). 

Allerdings  taucht  das  Motiv  auch  in  einem  unsaubem  Schnader- 
hüpfel  der  Kpuirra6ia  (4,  100.  Nr.  103;  vergl.  Pogatschnigg  und 
Herrmann  V,  89.  Nr.  425b.  Gundlach  S.  62.  Nr.  216.)  wieder 
priamelbaft  auf.  Doch  im  Hinblick  auf  nicht  priamelhafte  Ver- 
wendung dieses  Motivs  (OA  28,  111  ff.)  bleibt  der  Zweifel  be- 
stehen, der  allerdings  die  Gemeinsamkeit  des  Kemmotivs  nicht 
berührt. 

Oft  rücken  die  Einzelheiten  des  anzunehmenden  gemein- 
samen Priamel-Motivs  in  ganz  undeutliche  Ferne:  so  wenn  man 
den  mnl.  Vierzeiler: 

Wye  boven  maten  climt, 
Ende  op  sijn  bueren  altoes  grimt, 
Ende  alle  dinck  opt  hoechste  haelt: 
Soe  siet  men  dicwijl  dat  hy  daelt^) 

mit  deutschen  Beispielen  des  Motivs  von  törichter  Arbeit  (etwa 
Keller,  Alte  gute  Schwanke  Nr.  3  und  5  und  die  Ausgaben  e  f  g  h  k 
des  Narrenschiffs  Kap.  36  bei  Zarncke  8.  38A.)  zusanmienhält. 


0  Opschriften  1,  50.    Vergl.  Meijer,  Onde  nl.  Spreuken  S.  91. 
«)  Göttinger  Beiträge  2,  60.    Nr.  XXVIL 
^  Weimar.  Jahrbuch  1,  130  ff.    Nr.  82. 

^)  Tijdschrift  voor  Nederlandsche  Taal-en  Letterkunde  16,  307.    Nr.  6. 
Zingerle  8.  69.  129.  196. 


278 


Noch  eine  ganze  Beihe  solcher  Entsprechungen  läßt,  bis 
Entlehnung  nachgewiesen,  die  Vermutung  alter  Motiv-Oemeinsam- 
keit  zu;  freilich  ist  die  niederländische  Überlieferung  meist  jung  ^). 

Die  een  bok  zyn  wyngaart  beveelt, 

En  zyn  Moestuin  datier  hat  swyn  in  speelt, 

£n  zyn  huishouden  op  Meid  of  Knegt  laat  dryven: 

Die  ziet  men  zelden  wel  beklyven. 

Opschriften  1,  140  ~  Kell  er  Nr.  13.    Mones  Anzeiger  3,  202. 

Die  met  de  Honden  wel  kan  huilen, 
En  met  het  küssen  werpen  builen, 
Die  liegen  kan,  en't  feyt  verzaken: 
Die  zal  best  door  de  werelt  raken. 

Opschriften   2,  117 

entspricht  dem  Hauptmotiv  der  Bosenplütschen  Handwerkspriamel. 

Das  in  Bosenplüts  Priameln  wiederholt  behandelte  Motiv 
vom  unnützen  Hausgesind  ist  auch  in  den  Opschriften  2,  110 
vertreten:  F.  C.  Besteedster  von  Meysjens  en  Minne-moers,  gaf 
de  Meisjens  deze  les,  als  zy  in  haar  huur  gaan  zoude. 

DOgters,  die  tot  agten  slaapen, 
Een  veeltyds  door  de  Vensters  gaapen, 
Een  lang  voor  de  Spiegel  staan: 
Laeten  't  Huys-werk  ongedaan. 

Gegensätze,  wie  im  Priamel  ,Wer  sucht  in  eim  kutrolfglaß 
genß'  (Göttinger  Beiträge  2,  55.  Nr.  XVIII)  verbindet  eine 
Luyffel-Schrift  aus  Haselünne. 

Een  swarte  Swaan, 
Een  witte  Moriaan, 
En  een  beleefde  Drent: 
Die  heb  ik  nooit  gekent^). 

Schon  im  Mittelniedorländischen  sind  solche,  oft  dann  lang 
ausgedehnte,  Beihen  häufig:  z.  B.  in  der  Hulthemschen  Hand- 
schrift : 


^)  Dem  niederländischen  Vierzeiler  ist  jedesmal   ein  Hinweis   auf  das 
landläufigste  deutsche  Priamel-Beispiel  hinzugefügt. 
«)  Opschriften  2,  14.    Renner  8426  f. 


Oder: 


279 

Een  man  mechtich, 
Loes  ende  loghenechdch, 
Ende  die  es  van  haven  rijc: 
Dats  een  duvel  op  ertrijc^). 

Een  scoon  man  hoghe  gheboren, 
ende  die  na  gheen  doghet  en  wil  hören, 
ende  om  gode  niet  en  ghevet: 
het  es  scade,  dat  hi  levet^). 

Aus  derselben  Handschrift  stammt  der  Sprach: 

Een  lantshere  sonder  ghenaden, 
een  paep,  die  staet  na  verraden, 
een  machtich  man  fei  ende  rijc: 
dit  sijn  drie  duvels  op  aertrijc^). 

Eine  besondere  Ausgestaltung  des  (übrigens  sonst  schon  in 
sogenannt  unechten  Freidanksprächen  verwendeten)  Oegensatz- 
Motives  konstrastiert  allerhand  Wertloses,  Schadhaftes  und  Törichtes 
mit  voUkommnem  Häusrat  und  Hausgemach.  Es  wird  Zufall  sein, 
daß  gerade  mittelniederländische  Überlieferung  in  der  Hulthem- 
schen  Handschrift  das  älteste  Beispiel  liefert. 

Die  een  peert  heeft  dat  qualijc  gheet, 
Ende  een  wijf  die  achter  uut  sleet, 
Ende  op  elken  tee  twee  exteroghen: 
Die  man  leeft  seiden  sonder  doghen^}. 

Verwandt  ist  eine  mittelniederdeutsche  Fassung: 

En  wol  bewandert  wyflf, 

en  pert,  dat  up  den  haken  ys  styfT, 

unde  en  knecht,  de  vele  heren  hefft  gehat: 

darup  henge  nemant  synen  schat^). 


^)  Belgisch  Museum  1,  108. 

^  Altdeutsche  Blätter  1,  77.   Nr.  29.    Ho  ff  mann,  Immergrün.    Breslau 
1828.    S.  22.   Nr.  74. 

^)  A.  a.  0.  1,  77.   Nr.  30.    Gegenstück   un   Belgisch   Museum  6,  213. 

*)  Belg.  Mus.  1,  109. 

»)  Nd.  Jb.  3,  62.   Nr.  13.    Nd.  Reimbüchlein  274  ff. 


Bosenplüt  steht  nahe: 

Die  daer  heeft  een  paert  dat  hinket, 
ende  een  out  wijf  dat  stinket, 
ende  een  buis  sonder  dac: 
die  hebben  seiden  goet  ghemac'). 

Mehrfach  variieren  die  Opsohriften  uoser  Motiv. 
Die  daar  heeft  een  danssend  wyf, 
En  daar  toe  een  zeer  krank  lyf, 
En  een  doorgang  in  lyn  koomen: 
Die  leefl  zelden  zonder  hoornen*). 

Eine  andere  Qlasschrift  ist  noch  selbständiger: 

Die  lang  Koopman  wil  weicn,  blyven  eo  lyn. 

Die  moet  hem  wagten  voor  paarden,  haring  en  wyn ; 

Want  als  het  putrt  begint  te  hinkei), 

En  de  haring  begint  te  stinken, 

En  de  wjn  begint  te  lekken: 

Dan  moet  d«n  Koopman  vertrekkeii'). 

Ob  man  aach  ein  anderes,  aas  dem  besprochenen  ent- 
wickeltes, Einzelmotiv  schoD  hierher  setzen  soll,  kann  zweifelhaft 
sein;  jedenfalls  ist  es  eins  der  lehrreichsteo :  zeigt  es  doch, 
heute  nie  vor  Jahrhunderten  beliebt  uad  improvisatorisch  fort- 
gebildet, den  Zusammenhang  des  Priamels  mit  der  Stegreif- 
dichtQDg  des  Vierzeilers  von  beute.  Ich  stelle,  wie  oben,  die 
niederländische  Fassung  vorao;  es  ist  eine  Glasschrift. 

Die  daar  heeft  een  steenigen  akker, 

En  een  wyf  die  met  den  aars  is  wakker, 

En  daar  toe  een  stompe  ploeg: 

Die  werd  zyn  arbeid  zuur  genoeg*). 
Die    tnnd.    Fassungen    werden    in   anderem    Zusammenhange 
ihre  Stelle  finden.    Henisch  bezeugt  den  Vierzeiler  in  folgender 
Version: 

Wei  bat  ein  frech  pfeid,  jung  und  vacker, 
Und  einen  harten  iteinichlen  acker, 
Ein  bSMn  laun  und  gtumpfien  pflüg: 
Dem  Witt  lU  schaffen  ubiig  gnug^). 

[offmann,   Weimar.  Jb.    1,  130  ff.    Ki.  28.     Keller,  Schwfaik« 
Vers  1.  2.  7.  8. 

pschriften  1,  57.        *)  Opscbiiften  2,  38.         *)  Opschriften  1,  81. 
Tbl  S.  330. 


281 


Als  Schnaderhüpfel  ist  er  weit  verbreitet;    in   der  Schweiz: 

Wenn  eine-n-es  steinig«  Acherli  het 
Und  au  e  mutze  Püueg, 
Derzue-n-es  rUdigs  Fraueli: 
So  het  er  z'chratze  gnueg^). 

Im  Aargaa: 

Wenn  einer  en  steinigen  Acher  hat 
Und  en  hölzige  Pflueg, 
Und  e  bös  Frouweli  hat: 
So  ist  er  gschlage  gnueg'). 

Im  Vogtlande  singt  mans  als  Bunda  so: 

Wenn  aner  hot  a  stanigs  Feld, 
und  hot  an  stumpfen  Pflug, 
und  hot  a  biese  Fra  drzu: 
do  hot  er  Plog  genug  *). 

Aus  dem  Elsenzthal: 

Wer  ein  steinig  Äckerle  hott 
Unn  en  stumpige  Plug, 
Unn  e  bös  Weib  dazu: 
Der  hott  Kreuz  genügt). 

Steiermark  (Bayern). 

Wan  oanar  an  stoaninga  Aka  hat, 
Und  dazua  a  stumpfatn  Pflua; 
Und  wan  oan  sei  Diandl  Jungfa  wird: 
So  hat  er  a  z' jammern  grad  gnua^). 

Südlicher  Schwarzwald. 

Wer  a  stainiga  Acker  hätt 
Und  a  stutzga  Pfluag 
Und  a  böses  Weib  dahaim: 
Der  isch  gschlaga  ginuag^). 


')  Tobler,  Schweizerische  Volkslieder  1,  208.    Gros&tti  3»,  46.  Nr.  33. 
*)  Yon  Hörmann,  Schnaderhüpfeln^  S.  194.    Nr.  549. 
3)  Dunger  Nr.  760. 
*)  Gl  eck  S.  52. 

^)  Werle,   Almrausch  S.  247.    Vergl.  unten   das   bayerische  Tänzlein. 
^)  E.   H.    Meyer,   Indogermanische   Pflügegebräuche   (Zeitschrift   für 
Volkskunde  14)  S.  5  knüpft  an  Hesiod  Opera  et  die9  40$  m* 


282 
Braunschweig. 

Wem  stiwen  Acker  hat 

Unn  Stumpen  Plauch 

Un  dan  bösen  Kerel  (Tröpken  Kinder)  tau: 

Is  dat  nich  Plage  nauch?^) 

Die  Poesie  der  Spiunstabe  biegt  das  Motiv  um.  Im  Bocken- 
bfichlein  steht  unter  bayrischen  Tänzlein: 

Wenn  ahner  an  stanen  Acker  hot, 
und  zu  an  stumpfeden  Pfloug, 
wenn  ahn  sei  Schäzle  nimmer  mog: 
is  dös  nit  Jammers  genoug?^ 

In  Böhmen  ist  es  zum  Grundstock  eines  Doppel-Vierzeilers 
und  eines  längeren  komischen  Oedichts  geworden').  Der  Acht- 
zeiler  lautet: 

Wenn  aina  an  staininga  Acka  haut 
U  haut  an  hUlzana  Pflough 
U  haut  a  rechts  bäis  Wei  dazou: 
Dear  is  schon  gschlagn  grad  gnough. 
Dear  mou  st  selwa  Hulz  eintrogn, 
Dear  mou  si  selwa  Feia  schlogn, 
Dear  mou  si  selwa  haitzn  an, 
Mouß  selwa  Köchin  san. 

Gesungen  wird  heute  in  Nüstenbach: 

Wenn  einer  e  grasigs  Äckerl^  hat, 
Und  hat  e  stumpügs  Pflug, 
Und  hat  e  lausigs  Weib  zu  Haus: 
Der  hat  zu  kratze  gnug^). 

Mit  maßvoller  Benutzung  einzelner  Züge  solcher  Improvisations- 
dicbtung  hat  Bosenplüt  aus  diesen  Motiven  eine  ganze  Gruppe 


>)  Ebda  S.  5. 

")  Palaestra  4,  145. 

^  Hruschka  und  Toischer  S.  221.  Nr.  214  f.  In  Tiroler  Hochzeits- 
Yorsen  kehrt  das  Motiv  zu  dem  alten  Prinzip  der  Zweiteiligkeit  zurück: 
Wenn  aner  an  stanrigin  Acker  hat,  braucht  er  an  birchinin  Pflug;  wenn 
aner  an  altn  Tuifl  hat,  n acher  hat  er  genug.  Wenn  aner  an  Stadl  voll 
Hai  hat,  werd  im  di  Kuh  nit  mager;  wenn  aner  a  schiene  Schw&ster  hat, 
krig  er  glei  an  Schwager.     Zeitschrift  für  Volkskunde  10,  205.  403. 

^)  Marriage,  Volkslieder  aus  der  badisohen  Pfalz  S.  360,  Nr.  265; 
daselbst  weitere  Nachweise* 


283 

voD  Priameln  gebildet,  die  Stücke  vom  bösen  und  guten  Hausrat, 
Hausgemacb  und  Hausgesind  ^). 

Das  Gegensatz-Motiv  wird  durch  das  Motiv  des  Zusammen- 
gehörigen   ergänzt,    das   niederländisch  selbständig  fortentwickelt 

ist;  z.  B. 

Wanneer  de  Bierdrinker  is  by  de  Tonne, 

£n  de  Monnik  by  de  Nonnen, 

En  de  Paap  by  de  Bagynen: 

Dan  is  een  ider  by  de  zynen^). 

Zes  dingen  zynder  die  my't  herte  verblyden: 
Körte  Predicatien  en  lange  Maaltyden, 
Jonk  vleesch  en  oude  visch, 
Een  schoone  Vrou  en  wyn  op  den  disch^). 

Haal  dog  Rapen, 

Hoeren  en  Papen, 

Zoete  koek  en  brandewyn: 

Wil  wel  by  malkander  zyn*). 

In  der  lateinischen  Literatur  des  Mittelalters^)  dieser  Zeit 
nach  Spuren  gnomischer  Poesie  zu  forschen,  wird  verdienstlich 
sein,  aber  für  unsere  so  charakteristische  Form  kaum  Wert  haben, 
weil  bei  der  Verschiedenheit  des  deutschen  und  des  lateinischen 
Satzbaues  in  lateinischer  Umschreibung  die  priamelhafte  Form 
regelmäßig  sich  verflüchtigt.  Aus  vielleicht  priamelhaftem  Inhalt 
lateinischer  Hexameter^)  auf  deutsche  Priamelform  fürs  11.,  12. 
oder  13.  Jahrhundert  zu  schließen,  scheint  gewagt. 

Wenn  aus  größeren  Gedichten  Priamelvierzeiler  heraus- 
gelöst werden,  wie  wir  es  schon  bei  Wernhers  vonElmendorf 
und  Heinrichs  von  Melk  Gedichten  versuchten,   so   unterliegt 


»)  Keller  Nr.  16.  17.  Göttinger  Beiträge  2,  47.   Nr.  IV. 

«;  Opschriften  1,  11.        S)  Opschriften  1,  142.        *)  Opschriften  4,  57. 

^)  Schönbach,  Die  Anfange  des  Minnesanges  S.  3  f.  Gesammelte 
Aufsätze  S.  YIII.  Loewer  hat  für  Freidanks  Bescheidenheit  einige 
patristische  Schriften  mit  Nutzen  herangezogen;  aber  die  Yergleichung 
beschränkte  sich  mit  Recht  auf  den  Inhalt. 

6)  MSD3  XLIX  6  ff.  Carmina  Burana  S.  245.  Nr.  183,  3.  Selbst 
der  von  Koegel  I  2,  181  hervorgehobene  Spruch  des  Flor.  Vind.  dürfte 
der  Form  nach  kaum  anders  als  Dung  er,  Bundas  S.  289.  Nr.  1541  zu 
beurteilen  sein. 


284 

das  Verfahren  gewiß  mancherlei  Bedenken^).  Aber  da  müssen 
einmal  evidente  Beispiele  die  unsicheren  stützen.  Dann  verrät 
sich  die  Selbständigkeit  des  kleinen  Qebildes  auf  verschiedene 
Weise.  Einfache  klare  Bezeugung  seiner  Selbständigkeit  findet 
der  Vierzeiler  in  Zitaten,  wie  (bei  Hugo  von  Trimberg)  Vier- 
zeiler der  Bescheidenheit.  Dann  lassen  sie  sich  als  Interpolationen, 
in  der  Begel  ohne  rechten  Zusammenhang  mit  den  Texten  der 
Umgebung,  vielfach  ausscheidep.  In  andern  Fällen  zeugt  ander- 
weitiges Vorkommen  von  Selbständigkeit.  Bei  Werken,  deren 
Quelle  vorliegt,  erkennt  man  den  Vierzeiler  mehrfach,  wo  die 
Vorlage  versagt,  als  Zusatz.  Bisweilen  macht  ihn  der  durch- 
gehende Beim  kenntlich.  In  jedem  Fall  hat  er  sich  durch  innere 
Selbständigkeit,  seinen  epigrammatischen  Inhalt  und  charakteris- 
tischen Bau  auszuweisen.  Auch  äußerlich  beglaubigt  wird  der 
Vierzeiler  als  bewußte  Kunstform  der  Strophe,  wenn,  wie  in  der 
Bescheidenheit,  im  Benner,  in  der  Straßburger  Bearbeitung  des 
Narrenschiffs  vom  Jahre  1494  und  im  Fastnachtspiel,  mehrere 
absichtlich  an  einander  gereiht  werden.  Im  Benner  (17  586  ff) 
folgen  4,  ein  ander  Mal  2  aufeinander,  bei  Freidank  (Paul  2112  ff.) 
steht  ein  Priamelvierzeiler  hinter  zwei  andern  ausgeführten  Priamel- 
sprüchen  (2106  ff.).  Später  haben  wir  die  Kontrolle  an  den 
Priamel-Spruchbüchern;  diese  bezeugen  manchen  Vierzeiler  als 
Priamel.  Wirkliche  Priamel  und  solche  Vierzeiler,  denen  ein 
solches  oder  seine  Form  nur  zu  Orunde  liegt,  genau  zu  sondern, 
ist  meist  nicht  gut  möglich.  Da  sonstige  selbständige  Über- 
lieferung in  diesem  Zeitraum  noch  so  selten  ist,  war  es  notwendig, 
zunächst  alles  priamelhafte  bei  Fr  ei  dank  zu  berücksichtigen. 
Während  für  die  ältere  Zeit  einige  Vollständigkeit  anzustreben 
war,  gebot  die  Massenhaftigkeit  des  Materials  in  späteren  Perioden, 
sich  auf  das  Wesentliche  und  Typische  zu  beschränken. 

Die  Annahme  einer  einheimischen  Liebeslyrik  hat  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  mit  Möglichkeiten  und  Tatsachen  fremder 
Einwirkung  zu  rechnen,  eine  bodenständige  deutsche  Gnomik  ist 
nie  bestritten.  Man  war  sogar  freigebig  genug,  den  Germanen 
der  Urzeit  schon  die  Gattung  des  Priamels  zuzugestehen.     Wenn 

>)  Besonnen  hat  Steffen  ein  ähnliches  Verfahren  (Syenska  landsm&len 
XYI  2  und  Heft  66)  geübt,  weniger  zu  billigen  sind  Grasberge rs  Aus- 
fohrungen  S,  13  ü. 


285 


nun  auch  im  Ernst  davon  nicht  wird  die  Bede  sein  können,  so 
spricht  doch  alles  dafür,  daß  die  Improvisationsform  des  Priamel- 
vierzeilers  mindestens  ebenso  alt  ist,  als  die  deutsche  gereimte 
vierzeilige  Strophe.  In  volkstümlicher  Kleinkunst  und  geistlicher 
Poesie  sahen  wir  den  Priamelvierzeiler  bereits  vertreten,  vom 
12.  Jahrhundert  an  wird  er  immer  häufiger,  bis  am  Schluß  der 
in  diesem  Abschnitt  zu  behandelnden  Periode  Hugo  von  Trimberg 
beweist,  daß  die  beliebte  und  ausdrucksfähige  Form  sich  völlig 
in  der  didaktischen  Literatur  eingebürgert  hat. 

Nicht  auf  direktem  Wege  scheint  der  Priamelvierzeiler  sich 
den  Weg  in  die  Literatur  gebahnt  und  seinen  Platz  erobert  zu 
haben,  sondern  er  machte  wie  das  österreichische  StaudenliedP) 
den  Umweg  durch  das  Medium  kunstvollerer  Poesie.  Die  musi- 
kalische Welt  wurde  auf  die  Volksmusik  erst  aufmerksam,  seitdem 
Joseph  Haydn  auf  ihre  unerschöpflichen  Schätze  zurückgegriffen 
hatte.  Bevor  man  wagte  das  Schnaderhüpfel  dem  Lesepublikum 
zu  bieten,  hatte  es  in  den  Arien  der  Linde may er  und  Hafner 
sich  empfehlen  müssen.  Ebenso  der  Priamelvierzeiler  in  der 
mittelhochdeutschen  Literatur,  der  fast  zwei  Menschenalter  vor 
Freidank  im  älteren  Minnesang  erscheint. 

Zweifellos  war  die  uralte  gnomische  Dichtung  des  Volkes 
nach  Inhalt  und  Form  die  Voraussetzung  für  die  Qedichte  eines 
Herger,  Spervogel  und  aller  in  ihrem  Qeiste  schaffenden 
späteren  Dichter;  und  von  der  Grundlage  dieser  älteren  volks- 
mäßigen Gnomik  gibt  vielleicht  Freidanks  Bescheidenheit  wohl 
zuverlässiger  Zeugnis  als  der  Minnesang.  Daher  wird  auch  hier, 
wie  bei  der  Anordnung  der  späteren  Kapitel,  Freidank  vor 
Spervogel  den  Vortritt  haben.  Zu  ausschließlich  gepflegter 
Spruchart,  wie  in  den  Sapta9atakam,  ist  der  Vierzeiler  nicht  ge- 
worden, noch  weniger  eine  Kunstgattung,  wie  in  den  altfranzösischen 
Quatrains  moraux. 

Daß  Freidanks  Bescheidenheit  kein  einheitliches  Werk  ist^), 
dafür  zeugen  auch  Stoffe  und  Formen  der  verarbeiteten  Sprüche; 


0  Nagl  und  Zeidler  I  751. 

')  Paul,  Über  die  ursprüngliche  Anordnung  von  Freidanks  Be- 
scheidenheit I.  H;  besonders  II  286.  Ein  Zeugnis  für  den  kompilatorischen 
Charakter  Zs.  19,  104.  Es  scheint  der  Mangel  an  logischem  Aufbau  älteren 
Spruchsammlungen    eigen.  San  tob  de  Carrion  verfuhr  ähnlich  in  seinen 


286 

Gebet,  Lügendichtung ,  Quodlibet,  Fabel,  Bätsei,  Tischzucht, 
Kettenspruch,  Spielmannsreim,  haben  zur  Bescheidenheit  bei- 
gesteuert. Beichlicher  noch  das  Priamel,  auch  in  seiner  einfachen 
vierzeiligen  Form.  Gnomische  Vierzeiler  nicht  priamelhaften 
Charakters  sind  bei  Frei  dank,  wie  im  Cato,  im  Benner,  in 
der  ganzen  didaktischen  Literatur  sehr  häufige  und  ihre  Verwendung 
hat  sich  später,  z.  B.  in  Brants  Übersetzung  des  Cato,  zum 
Princip  herausgebildet'). 

Der  priamelhafte  Vierzeiler  ist  von  allen  Priamelformen  in 
der  Bescheidenheit  am  häufigsten  vertreten,  einigemal  analytisch 
und  steigernd,  meist  synthetisch  gebaut.  Die  synthetischen  Vier- 
zeiler sind  bis  auf  zwei  von  echt  volksmäßigem  Gehalt,  fast  alle 
von  trefflicher  epigrammatischer  Prägung 

Swer  inme  sacke  koufet, 
unt  sich  mit  t6ren  roufet, 
unt  borget  ungewisser  diet: 
der  singet  dicke  klageliet^. 

Als  selbständigen  Spruch  bezeugt  ihn  ausdrücklich  Hugo 
von  Trimberg  im  Benner  6197.  Das  Motiv  erscheint,  positiv 
gewendet,  am  einfachsten  in  einem  Fechtreim  des  Marxbruders 
Mathes  Greßmann  vom  Jahre  1579:  „Wer  daz  glück  hat, 
wird  vf  den  abent  singen  ^)^.  Am  Ende  des  15.  Jahrhunderts 
ist  in  der  Sammelhandschrift  FG  der  wenig  geänderte  Freidank- 
spruch mit  einem  ähnlichen  ganz  äußerlich  zusammengeschoben^). 
Noch  heute  ist  der  Freidankvers  in  der  Eifel  verbreitet,  aller- 
dings in  etwas  modificierter  Form: 

Wer  Kiesel  säet, 
Stoppeln  mähet, 
Im  Sacke  kauft, 


Proverbios  Morales.    Stein,  Untersuchungen  über  die  Pr.  M.  von  San  tob 
de  Carrion  S.  27  ff. 

*)  Vergl.  jetzt  auch  Ernst  Meyer,  Liebesbriefe  S.  31:  „Es  existierten 
im  Volke  zwei  — ,  vorwiegend  aber  vier  zeilige  Liebessprüche,  wie  wir  sie 
zum  Teil  im  Freidank  zu  einem  Kunstwerk  (?)  verbunden  vorfinden." 

»)  85,  5  ff.  Paul  2301  ff. 

3)  Schaer,  Die  altdeutschen  Fechter  S.  157.  Auf  diese  Bedeutung 
von  singen  geht  der  ausführliche  Artikel  des  deutschen  Wörterbuchs  X  1067  ff. 
nicht  ein. 

*)  Göttinger  Beiträge  2,  51.    Nr.  IX  a. 


287 

Und  sich  mit  Toren  rauft: 
Der  begebet  Ding, 
Die  töricht  sind  >). 

£in  Herausgeber  des  Frei  dank  hat  sich  darüber  gewundert, 

daß  man  mit  toren    nicht   raufen    soll,    und    will   kalwen    lesen; 

er    bedenkt   nicht,    daß  die  Narren  kahl  geschoren  werden.     Die 

Heidelberger   Handschrift   Cod.   Pal.   Germ.   98,  203b  (Bartsch 

S.  25)    hat    auch    ,narrenS    die    Wiener   Hs.    4192,  187    ,kalen' 

eingesetzt. 

Alter  wibe  mtnne, 

und  junger  liute  sinne 

und  kleiner  rosse  loufen: 

sol  nteman  tiure  koufen^). 

Ans  später  niederdeutscher  Vorlage  hat  W.  Grimm  folgende 
problematische  Variante  rekonstruiert: 

Junges  mannes  strit, 
und  altes  wibes  h6cbgeztt, 
und  kleines  pferdes  loufen: 
diu  sol  nieman  tiure  koufen'). 

Das  hier  verwandte  Motiv  stellt  in  Beihen  von  scheinbar 
sich  widersprechenden  Begriffen  wertlose,  unnütze  Dinge  zusammen, 
ein  Motiv  von  nie  erloschener  Triebiähigkeit.  Bald  wird,  wie  in 
Umdichtungen  des  ausgehenden  Mittelalters,  die  Wendung  des 
Kaufes  im  letzten  Vers  durch  eine  allgemeine  ersetzt;  z.  B.  bietet 
der  nd.  Magdeburger  Freidank  von  1460  (Grimm  Q): 

Papen  konbeit 

Unde  nunen  steticbeit 

Unde  ossen  telden: 

de  werden  gelovet  seiden^). 

Ähnlich  verfährt  eine  mitteldeutsche  Variante  desselben 
Jahrhunderts: 


*)  J.  H.  Schmitz,  Sitten  und  Bräuche,  Lieder,  Sprüchwörter  und 
Rätsel  des  Eifler  Volkes  1,  185.    Nr.  41. 

^)  85,  8afF.  W.  Grimm,  Kleinere  Schriften  4,  35  f.  Mones  Anzeiger 
8,  545.    Zu  3:  MSD^  XXVIL  2,  54. 

^)  Schriften  4,  34;   zwei  andre  S.  35. 

*)  Grimm,  Bescheidenheit^  199.  , steticbeit'  unsicher.  Wiggert, 
Zweytes  Scherflein  S.  78. 


288 

Der  monche  hobischeit, 
Der  pfafien  freidikeit, 
Und  der  kwe  ccelden: 
disse  dry  geroten  seiden^). 

Bald  taucht  die  Wendung  des  Kaufes  originell  umgebildet 
wieder  auf. 

Malle  Luy,  verrotte  Peeren, 

Boeken,  die  geen  deugd  en  leeren, 

£n  vuyl'  Eyeren  overhoop: 

Hoe  meer  om  geld,  hoe  quader  koop^}. 

Versetzt  sind  endlich  die  Akzente  wie  die  Einzelheiten  bei 
Wilhelm  Müller. 

Ein  Trost  in  drei  Nöthen. 

Wenn  morsche  Bäume  anfangen  zu  brennen, 
Wenn  faule  Pferde  anfangen  zu  rennen. 
Wenn  alte  Weiber  anfangen  zu  lieben: 
Gott  Lob,  noch  keines  hat's  lange  getrieben^). 

Kurzen  man  dSmüete, 
unt  r6ten  mit  güete, 
unt  langen  man  wisen: 
die  drie  sol  man  prtsen^). 

Das  Verdienst  dieser  volkstümlichen  Fassung  tritt  noch 
klarer  zu  Tage,  wenn  man  z.  B.  Brants  Facetus-Übersetzung 
(489  ff.)  vergleicht: 

Selten  demuetig  klein  lUt  syndt, 
wenig  getruw  rott  fUchs  man  findt, 
Den  wissen  freidikeit  gebrist, 
Eyn  langer  selten  witzig  ist. 


^)  Toppen,  Yolkstümliche  DichtungeD,  zumeist  aus  Handschriften  des 
15.,  16.  und  17.  Jahrhunderts  gesammelt.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der 
schönen  Literatur  der  Proyinz  Preußen.  Königsberg  1873.  S.  7.  ,geroten' 
ist  Konjektur  statt  ,gewten'. 

3)  Opschriften  2,  113. 

»)  Vermischte  Schriften.    Leipzig  1830.     S.  408.    Nr.  86. 

4)  85,  19  ff.  Handschrift  1847  der  Darmstädter  Hofbibliothek  (Germania 
32,  343)  Blatt  318b:  „Raro  breves  humiles  vidi  longosque  sapientes,  albos 
audaces  vidi  rubrosque  fideles." 


289 


Satirisch  klingt  der  Vierzeiler: 

S6  der  wolf  müsen  gät, 
unt  der  valke  keveren  vät, 
unt  der.künec  bürge  machet: 
so  ist  ir  Sre  geswachetf). 

Während  die  kritischen  Ausgaben  78,  1 7  ff.  einen  Sechszeiler 
bieten,  haben  die  Handschriften  der  zweiten  Ordnung  einen  Vier- 
zeiler erhalten,  den  W.  Grimm  vorzuziehen  geneigt  war. 

Swer  niht  weiz  unt  niht  vräget, 
unt  niht  kan  und  in  lerns  betraget, 
unt  hazzet  den,  der  rehte  tuot: 
disiu  driu  sint  t6ren  muot^). 

Der  Bibel  entstammt  der  Inhalt  des  sechsten  Beispiels  für 
den  Typus  A: 

Des  vogels  fluc,  des  visches  fluz, 
des  slangen  sluf»  des  donres  schuz, 
wie  geraten  süln  diu  jungen  kint: 
der  strdzen  uns  alle  fremede  sint^). 

Bei  der  Überlieferung  dieses  Vierzeilers  ist  bemerkenswert, 
daß  ursprünglich  (bei  Paul  Vers  2106  ff.)  drei  priamelartige  Sprüche 
hintereinander  folgen  (in  der  Grimmschen  Ordnung  stehen  69,  5  ff. 
zwei  solcher  Sprüche  hintereinander),  woraus  zu  schließen  ist, 
daß  man  im  13.  Jahrhundert  sich  der  besonderen  Eunstform  be- 


1)  73,  16  ff.  Renner  22  722  ff.  Wand  er  5,  364  mit  einem  r&tselhaften 
Citat  des  Liedersaals:  gemeint  ist  Nr.  92,  89  ff.  Mones  Anzeiger  8,  213. 
Vers  3:  ,und  der  chAnig  pub  macht^  (Innsbrucker  Hs.  Nr.  669). 

3)  Grimm  S.  241.  355. 

3)  Paul  2122  ff.  Grimm  128,  6  ff.  Vorrede  S.  CXIX.  Gervinus  2^,  24. 
ProY.  30,  18.  Ecclesiastes  11,  5.  Etwas  Selbstgemachtes  bei  Wander 
5,  1172.  2160;  Der  Zusammenhang,  den  R.  M.  Meyer,  Z.  f.  d.  A.  29,  230 
mit  volkstümlicher  Poesie  herzustellen  sucht,  erscheint  für  unsere  Stelle 
etwas  gezwungen;  im  übrigen  vergl.  Weinhold,  Die  altdeutschen  Ver- 
wünschungsformeln S.  686.  Ohne  Zusammenhang  mit  alten  Wunschformeln 
Renner  7926  ff.  Vergl.  18558  ff.  21213  ff.  Wie  wenig  priamelhaft  lateinische 
Fassungen  dieser  Bibelstellen  ausfallen,  lehrt  eine  Probe  des  13.  bis  14.  Jahr- 
hunderts aus  einer  Weingartener  Handschrift  (Mones  Anzeiger  7,  507):  Aera 
sulcat  avis,  coluber  petram,  mare  nayis;  haec  sunt  ignota.  minus  est  juyenis 
via  nota.  Vergl.  Die  Melker  Hs.  hg.  von  Leitzmann  16,  45  ff.  Zingerle 
S.  154  f. 

Ealing,  Priamel  19 


290 

Wüßt  war.     Was  die  Abhängigkeit  von  der  Bibel  betrifft,   so  ist 
nur  teilweise  der  Inhalt,  nicht  die  Form  entlehnt. 

Das  Thema  von  unmöglichen  Dingen  behandelt  in  Form  der 
Klostersatire  der  von  Grimm  als  interpoliert  bezeichnete,  aus 
der  Hs.  des  Liedersaales  (P)  stammende  Vierzeiler: 

Swenne  zom,  haz  unde  nit 
in  allen  kl6stern  gelit, 
unt  hinderrede,  verkertiu  wort: 
s6  ist  aller  ding  ein  ort^). 

Hätte  Pfeiffer  recht,  daß  Klagen  über  gesunkene  Klosterzucht 
erst  ins  14.  Jahrhundert  gehörten,  so  wären  auch  diese  Verse 
unecht.  Aber  derartige  allgemeine  höchst  anfechtbare  kultur- 
geschichtliche Erwägungen  verfangen  eben  nicht,  wie  die  Debatte 
über  Heinrich  von  Melk  zur  Genüge  gezeigt  hat.  Wenn  auch 
hier  das  Motiv  der  Unmöglichkeiten  bei  Zeitangaben  zum  ersten 
Mal  in  der  Priamel-Literatur  auftritt,  so  ist  die  Einkleidung  der 
Bescheidenheit  doch  ganz  zufällig;  Frei  dank  will  hier  speciell 
die  Klöster  treffen.  Das  allgemeine  Motiv  hat  die  Volksdichtung 
von  heute  bewahrt: 

Wann  Sunn  und  Mond  steaht, 
Und  die  Welt  untageht, 
Und  die  Trag  auferinnt: 
Nochar  liab  i  di  gschwind'). 

I  werd  di  schon  liebn, 
Wann  die  Zaunstecken  blUhn, 
Wann  die  Drau  aufwärts  rinnt, 
Nacher  lieb  i  di  gschwind^). 

Bai  Sunn  und  Mo  steht, 
Und  koa  Wind  nimmer  geht, 
Und  der  Bach  aufwärts  rinnt: 
Aftn  lieb  i  di  gschwind^). 


')  60,  9  ff.   Vergl.  60,  7  ff.   Renner  14391  ff.  und  MSD^  XXVII  2,  119. 

2)  Gundlach  S.  137.  Nr.  655. 

3)  von  Hörmann,  Sehn  aderhüpf  ein  3  S.  69.  Nr.  187. 

*)  Gundlach  S.  142.  Nr.  684.     Hauffen,   Die    deutsche    Sprachinsel 
Gottschee  S.  168 ff. 


291 

Wenn  Sunn  und  Mun  arschling  geht. 
Und  der  Schneck  spinnt, 
Und  der  Ochs  Esel  werd: 
Heirat  i  gschwind^). 

Durch  mnd.  und  mnl.  NachbilduDgen  ist  die  Selbständigkeit 
der  priamelhaften  Verse  176,  16  flf.  bezeugt: 

Edele,  zuht,  schcene  unde  jugent, 
witze,  richeit  ere  unde  tugent: 
die  wil  der  tot  nit  statte  lan, 
uns  kumt  das  wir  verdienet  hän^). 

Die  Dichtung  der  Höfe  wie  der  Spielleute  ging  bei  geist- 
licher Poesie  in  die  Schule^).  Wir  trafen  schon  ein  inhaltlich 
der  Bibel  entlehntes  Beispiel  des  Typus  A.  Die  analytisch 
gebauten  Vierzeiler  der  Bescheidenheit  sind  alle  biblischen  oder 
theologischen  Inhaltes.  Die  bekannten  vier  unersättlichen  Dinge 
der  Salomonischen  Sprüche  erscheinen  in  der  Form: 

Driu  dinc  niht  gesäten  kan: 
die  helle,  fiur,  den  gitigen  man: 
daz  vierde  gesprach  noch  nie  ,genuoc*, 
swie  vil  man  im  zuo  getruoc^). 

Was  das  vierte  sei,  hat  Freidank  aus  höfischem  Anstand 
verschwiegen:  os  vulvae.  Auch  die  andern  aufgezählten  Dinge 
stimmen  nicht  ganz  überein.  Der  Vult^atatext  lautet  hier  (30,  15): 
Tria  sunt  insaturabilia,  et  quartum,  quod  nunquam  dicit  ,sufficit': 
infernus  et  os  vulvae  et  terra,  quae  non  satiatur  aqua;  ignis 
vero  nunquam  dicit  ,sufficit'^).  Selbst  wenn  der  Spruch  schon 
Gemeingut  der  Gnomik  war^),  ging  er  doch  auf  die  Bibel  zurück. 
Auch  die  spätere  Gnomik  verfährt  frei  mit  diesem  Spruch.  Ver- 
kürzt hat  ihn  Thomasin  von  Girclaria.    Eine  Donaueschinger 


')  vonHörmann,  Schnaderhüpfeln  ^  S.  348.  Nr.  952.    Pogatschnigg 
und  Herrmann  P,  95.  Nr.  452  ff. 

')  Selbständig   im   niederdeutschen   Eeimbüchlein  1051  f.    und   in    den 
mnl.  Bjmspreuken,  hg.  von  Suringar,  2,  260.    Nr.  87. 

3)  Wilmanns,  Walther  S.  4. 

*)  Paul  1497  ff.  Grimm  69,  5  ff.  S.  CXVIII. 

^)  Vergleiche  Prov.  27,  20,  woraus  vielleicht  ,oculi  hominum  insatiabiles' 
benutzt  ist. 

^)  Kochholz,  Alemannisches  Kinderlied  S.  204 f. 

19  •• 


292 


(Hs.  94,  5  a)   und   eine   Wiener  Handschrift  (4120,  157  a)   bieten 
folgende  Gestalt: 

Dreu  ding  Diemant  ersatten  kan: 

die  hell,  das  feur,  den  geitigen  man. 

man  leidet  mer  arbait  hertigleich 

durch  die  hell  dann  durch  das  himmelreich '). 

Noch  freier  verfährt  ein  an  Alexanders  Namen  geknüpftes 
alemannisches  Einderrätsel  (Bochholz  Nr.  420.)  Die  Aufzählung 
mit  Zugabe  ist  nicht  nur  biblisch^),  sondern  allgemein  volkstümlich. 

Di  tre  cose  il  diavola  si  fa  insolata: 

di  lingua  d'advocati, 

di  dita  di  notaj, 

e  la  terza  h  riservata^). 

In  ganz  Kärnten  wird  gesungen: 

I  hab  n'r  drei  Stund, 
Drei  Stund  und  mehr  nit, 
A  guete,  a  schlechte, 
Und  de  dritte  geat  mit. 

Die  guete  is  ba  dir, 

Die  schlechte  daham, 

Die  dritte,  de  mitgeht. 

Wann  i  Nachts  von  dir  tram*). 

Ähnliche  Aufzählung  wird  in  einem  altfranzösischen  Spruch- 
gedicht  Des  Villains,  Villeniers,  Vilnastres  et  doubles  Villains 
geübt: 

Trois  vices  a  villain  parfaict, 
Folie  parole  et  villain  faict; 
Lc  tiers  mal  doit  finir  sa  vie, 
Car  il  est  faict  par  villenie^). 


*)  Vergl.  Freidank  66,  1.  Loewer,  Patristische  Quellen  Stadien  S.  31. 
Zu  Zeile  1  und  2  den  lateinischen  Pentameter  bei -Rochholz. 

2)  Liber  Ecclesiastici  23,  21.  25,  9.  26,  5;  25.  Prov.  6,  16.  30 
21;  29.  Loewer,  Patristische  Quellenstudien  zu  Freidanks  Bescheidenheit, 
S.  6.  12. 

»)  Wander  5,  1141.    Nr.  1520.    Siehe  Nr.  1560.  1581.  1692.  1729. 

*)  Pogatschnigg  und  Herrmann  1,66.  Nr.  289.  1,  264f.  Nr.  1178. 
Das  Original  ist  freilich  von  Joh.  Gabr.  Seidl.     Grasberger  S.  91. 

^)  Montaiglon,  Receuil  7,  70.  Willkürlichere  Aufzählung  bei  Oswald 
von  Wolken  stein  103,  19  ff.  Umschreibung  von  Zahlen  durch  Addition, 
Subtraktion  und  Multiplikation:   Detter  und  Heinzel,  Edda  2,  350. 


293 

WahrschciDÜch  der  Form  wegen  ist  an  diesen  Vierzeiler  in 
der  Bescheidenheit  ein  gleicher  angeschlossen: 

Mir  sint  stsetecliche  bi 

vil  starker  viende  dri: 

diu  werlt  unt  des  tiuvels  list, 

min  herze  der  dritte  vient  ist'). 

Demselben  theologischen  Gedankenkreise  gehört  der  Vier- 
zeiler an:  swer  driu  dinc  bedachte, 

der  vermite  gotes  sehte: 
waz  er  was,  unt  waz  er  ist, 
unt  waz  er  wirt  in  kurzer  vrist'). 

Von  steigernder  Form  des  Vierzeilers  hat  die  Bescheidenheit 
nur  ein  Beispiel,  dessen  selbständige  Überlieferung  durch  die 
ursprüngliche  Ordnung,  Hugo  von  Trimberg  und  die  Hul- 
themsche  Handschrift  bezeugt  wird.  In  Orimms  Text  eröffnet 
dieser  Spruch  das  Kapitel  ,von  trunkenheite^ 

Trunkenheit  ist  selten  guot, 
si  tobet  und  velschet  wisen  muot, 
si  ist  ein  roup  der  tugende  gar, 
si  ist  t6des  bilde;   nemet  es  war^). 

Weniger  glücklich  ist  die  Fassung  Hugos  von  Trimberg: 

Trunkenheit  ist  selten  guot, 
si  tobet  und  swachet  wisen  muot, 
si  ist  ein  roup  der  sinne  gar, 
des  t6des  bilde  nimt  si  war^). 

In  der  Mitte  zwischen  beiden  steht: 

Dronckenheit  es  seiden  goet, 
Want  si  den  wisen  dolen  doet; 
«  Ende  si  es  roeverse  der  zinnen 
Ende  bode  der  doot;   wildijt  bekinnen**). 

1)  69,  9  ff.  Paul  2107  ff.  Grimms  Anmerkungen  und  E^einere  Schriften 
4,71.  Wander  5,  1143.  Nr.  1577.  Reinhold  Koe  hl  er.  Kleinere  Schriften 
2,  141  ff.  678. 

^  22,  12.  Bezzenberger  z.  d.  St.  Innocentius,  De  contemptu 
mundi  1,  1.  Der  Babylonische  Talmud  hg.  von  Goldschmidt  7,  1158. 
Allerdings  sind  die  3  Gedanken  ebenso  rein  menschlich  wie  der  Spruch  der 
Toten  an  die  Lebenden.  Koehler,  Kleinere  Schriften  2,  27  ff.  Benner  1926. 
22660  ff.  23410.  24058. 

3)  Paul  791  ff.  94,  1  ff.  Boethe  zu  Beinmars  111.  Spruch.  Loewer 
S.  29.    Florilegium  Gottingense  Nr.  327. 

*)  10186  ff.  Vorher:  Da  von  sprach  her  Vridanc. 

^)  Suringar,  Bijmspreuken  2,  215.    Nr.  11. 


294 
Sprüche  wie  44,  17  ff.  können  kaum  als  priamelhaft  gelten: 

ünrehter  gewinne 

unde  unrehter  minne 

unde  untriuwen  ist  s6  vil, 

daz  sich  ir  niemen  schämen  wil. 

Daß  dies  wohl  kein  Priamelmotiv  war,  lehrt  die  formlose 
mnl.  Umschreibung^). 

Zerflossene  Form  kommt  in  der  Bescheidenheit  öfter  vor, 
z.  B.  Paul  883  ff.: 

Wisheit  überwindet  Übel: 
als6  twinget  vaz  der  kübel 
daz  ez  niht  rinnet  zaller  sit. 
witze  scheidet  manegen  strft. 

Bloß  äußerliche  Entwicklung  zeigt: 

Swi  grözer  schade  und  dar  zuo  schände 
sint  beide  in  eines  herren  lande, 
und  hdt  der  herre  fürsten  namen: 
er  mac  sich  wol  ir  beider  schämen^). 

Beicher  ausgebildete  Priamelform  und  Anderes,  was  wenig 
priamelhaft  erscheint,  wird  später  erörtert. 

Es  sind  nicht  viele  Vierzeiler  in  der  Bescheidenheit,  die, 
wie  die  ersten  vier,  die  volkstümliche  und  für  das  Priamel 
natürliche^  charakteristische  Form  wahren:  einfache,  selbständige 
Beihen,  nach  Form  und  Inhalt  in  sich  abgeschlossen,  ohne  daß, 
von  der  Zusammenfassung  abgesehen,  Syntax  oder  Metrik  äußer- 
lich aus  einer  Zeile  in  die  andere  übergreifen.  In  der  höfischen 
Kunst  kämpft  der  Qedanke  mit  der  primitiven  Form,  droht  sie 
zu  sprengen  und  füllt  sie  bereits  mit  doktrinärem  Inhalt,  so 
wenig  dieser  eigentlich  dem  Wesen  des  Priamels  entspricht. 
Während  der  priamelhafte  Vierzeiler  trotzdem  bei  Freidank 
meist  in  seiner  ursprünglichen  Gestalt  erscheint,  unterliegt  er 
in  den  Spruchbüchlein  der  Fahrenden  des  12.  Jahrhunderts  einer 
Umbildung :  er  muß  sich  gefallen  lassen,  den  metrischen  Systemen 
der  ältesten  wahrscheinlich  gesungenen  Didaktik  eingegliedert  zu 


*)  Suringar,  Rijmspreuken  2,  230.    Nr.  33. 

2)  78,  4  a  ff.    Ob    der  Spruch   au8  FG  aber  schon  ins  13.  Jahrhundert 
gehört,  ist  sehr  zweifelhaft. 


295 


werden^).  Die  musikalische  EuDSt  war  noch  wenig  imstande, 
die  Rompositionen  nach  dem  Charakter  der  Gattungen  individuell 
zu  behandeln^).  Aus  einem  künstlichen  Strophensystem  des 
älteren  Spervogel  läßt  sich  der  Vierzeiler  herauslösen: 

Swer  lange  dienet  da  man  dienstes  niht  verstdt,  • 
und  einen  ungetriuwen  miteslUzzel  hat« 
und  einen  valschen  nächgebür: 
dem  wirt  stn  spise  harte  sür^). 

Auch  in  den  einfachen  Strophen  Hergers  scheint  einmal 
die  Form  des  Vierzeilers  durchzublicken: 

Würze  des  waldes 

und  erse  des  goldes 

und  alliu  apgrUnde: 

diu  sint  dir,  hirre,  künde*). 

Epigrammatische  Nutzanwendung  mit  leise  angedeuteter  Klimax 
zeigt  der  Vierzeiler: 

Güsse  schadet  dem  brunnen, 
sam  tuot  dem  rifen  sunne, 
sam  tuot  dem  stoube  der  regen: 
armuot  hoenet  den  degen^). 

Sind  hier  die  parallelen  Glieder  inhaltlich  gleich,  so  versucht 
ein  Vierzeiler  des  14.  Jahrhunderts,  den  Mone  aus  einer  Löwener 
Handschrift  mitteilte^),  die  Steigerung  mit  demselben  Ziel  durch 
Gegensätze. 

Bedwanc  duet  goede  zeden  leren, 
zorghe  helt  den  man  in  eren, 
wijsheit  maect  den  man  gestade: 
armode  is  van  nauwen  rade. 

Mit  leichten  Verschiebungen  schließt  sich  daran  der  Vers 
der  Hulthemschen  Handschrift: 


')  ,E8  fragt  sich,  ob  nicht  die  Sprüche  auch  in  bloßer  rhythmischer 
Becitation  vorgetragen  werden  konnten/  Schönbach,  Anfänge  des  Minne- 
sanges S.  127. 

>)  Wilmans,  Walther  S.  294. 

3)  MF  21,  21.  Schönbach  hebt  in  den  Wiener  Sitzungsberichten  141, 
13  den  Improvisationscharakter  hervor. 

*)  MF.  30,  27.    Zs.  f.  deutsche  Philologie  23,  226.    Schönbach  S.  30. 

s)  MF.  30,  34.    Schönbach  S.  30. 

«)  Anzeiger  4,  207. 


296 

Grote  weide  plompt  den  sin; 
Sorgbe  brinct  wijsheit  in; 
Armoede  peinst  meneghen  list, 
Daer  die  weide  niet  op  en  ghist'). 

Von  jetzt  ab  verschwindet  der  Priamelvierzeiler  nicht  wieder 
und  ist  bald  in  der  Spruchdichtung  reich  vertreten.  Als  besonders 
bequem  bot  sich  seine  mühelose  Improvisationsform  dem  Inter- 
polator  an.  In  den  Gate  wurde  aus  einer  Tischzucht  der  Vier- 
zeiler interpoliert: 

Swer  sniubet  als  ein  lahs, 

unde  smatzet  als  ein  dahs, 

und  TÜsset»  s6  er  es7.en  sol: 

diu  driu  dinc  ziment  niemer  wol^. 

In  der  Bossauer  Tischzucht  lauten  die  entsprechenden  Verse: 

Swer  snüdet  als  ein  wazzerdahs 
Und  smackitzet  als  ein  lahs, 
So  er  izzet^  als  etelicher  pfligt, 
Wie  gar  sich  der  zuht  verwigt'). 

Des  Tannhäusers  Hofzucht  variiert: 

Swer  snüdet  als  ein  wazzerdahs, 
So  er  izzet,  als  etlicher  phliget, 
Und  smatzet  als  ein  Beiersahs, 
Wie  gar  der  sich  zuht  verwiget*). 

Eine  spätere  Fassung  des  15.  Jahrhunderts  hat  Geyer  re- 
konstruiert. 

Welcher  schnaudet  als  ein  dachs 
Und  schmatzet  als  ain  wasserlachs, 
Wo  er  pei  den  leuten  sitzet, 
Wie  gar  er  seiner  zucht  vergisset*)! 

Der  Cato-Vierzeiler  hat  den  Priamel-Parallelismus  voll- 
kommener   durchgeführt.      In    den    Quatrains    der   Tannhäuser- 


>)  Belg.  Mus.  1,  112. 

«)  Zarncke  S.  138.  Vors  329.  Vergl.  315  fF.  325  ff.  Hätzlerin  2, 
71,  96.  Za  den  Tischzachten  Milchsack,  Scheidts  Grobianus  S.  III  ff. 
Hauffen  QF.  66.  Germania  36,  118  ff.  Bömer  zu  Dedekinds  Grobianus 
8.  XI  ff. 

3)  Vers  43  ff.  bei  Geyer  S.  8. 

*)  Vers  61  ff.  Geyer  S.  10.  Über  das  Verhältnis  von  A  zu  C:  Martin 
im  Anzeiger  8,  309. 

*)  Geyer  S.  17.    Vers  107  ff. 


297 


Becension  stellt  sich  der  Priamelvierzeilor  ungezwungen  ein. 
Typus  A  erschien  in  dem  eben  gegebenen  Beispiel;  Typus  C 
liegt  in  dem  Eingangs vers  vor: 

Er  dUnket  mich  ein  zUhtic  man: 
Der  aUe  zuht  erkennen  kan. 
Der  keine  unzuht  nie  gewan 
Und  im  der  zUhte  nie  zeran'). 

Nicht  ganz  volkstümlich  klingt  ein  andrer  Priamelvierzeiler 
derselben  Becension: 

Swer  den  unfldt  von  der  nasen  nimt 
Und  von  den  ougen,  als  etlicher  tuot, 
In  diu  6ren  grifen  niht  enzimt, 
So  er  izzet:    diu  driu  sint  niht  guot'). 

Dagegen  dürfte  man  wohl  das  Motiv  als  volksmäßig  an- 
sprechen. 

In  der  Bossauer  Tischzucht  gehen  den  zitierten  drei  andre 
Vierzeiler    vorher  (Vers  31  ff.)  2 

Swer  sich  über  die  schUzzel  habt  * 

Und  gar  unsüberlichen  snabt 
Mit  dem  munde  rehte  als  ein  swin, 
Der  schol  bi  anderm  vihe  sin. 

Sumliche  bizent  ab  der  sniten 
Nach  gar  gebiurischen  siten 
Und  st6zents  in  die  schttzzel  wider: 
Dise  unzuht  lant  die  hübschen  nider. 

Sumliche  sint  s6  vraezic  gar, 
Daz  si  niht  nement  ir  mundes  war 
Und  bizent  in  ir  selber  hant: 
Solch  gitikheit  die  hübschen  lant. 

Becension  v  hat  sich  diese  Verse  nicht  entgehen  lassen: 

Welcher  sich  über  die  schüssel  habt 
Und  dar  zu  rüdischen  schnabt 
Mit  dem  munt,  als  ein  schwein, 
Der  sol  pei  andern  sauen  sein^}. 

Etlich  sint  als  frässig  gar 
Und  nement  niht  irs  mundes  war 
Und  peissent  sich  selber  in  die  hant: 
Solich  geitigkait  ist  ain  grosse  schant*). 


»)  Geyer  S.  9.  «)  Geyer  S.  11.    Vera  157  ff. 

8)  Geyer  S.  17.    Vers  108  ff.  *)  Vers  117  ff. 


298 


Einer  dieser  Vierzeiler  ist  zu  einem  guten  Sechszeiler  ge- 
worden: 

Etlich  peissent  ab  den  schnitten 
Nach  der  groben  pauren  siten 
Und  stossent  es  in  die  schüssel  wider 
Und  schmaltzigent  ir  vinger  gelider: 
Die  habent  pillich  der  weit  fluch, 
Wan  sie  sint  gröber  dan  kiteltuch^). 

Dieselbe  Eecension  mündet  in  zwei  Rosenplütsche  Priamel 
aus:  jSecht  wo  der  sun  für  den  vatter  geet'  und:  ,Secht  wo  der 
vatter  förcht  das  kind'.  Vorher  geht  der  Eeimvers  vom  Hausknecht, 
f&r  Hausmägde  und  Knechte  eingerichtet: 

Ir  haußmayd  und  ir  knecht, 

Merket  ewer  ampt  und  regel  recht. 

Dein  arbait  spat  und  frü  bedenck  u.  s.  w. 

Zurückhaltender  als  Freidank  steht  Thomasin  von  Ciclaria  ^) 
der  Form  dieses  volksmäßigen  Gebildes  gegenüber.  Er  läßt  in 
seinem  Welschen  Gast  den  priamelhaften  Vierzeiler  in  etwas 
undeutlichem  Bau  erkennen: 

Barmunge,  vorht,  minn  und  unminn, 
geheiz,  gäbe,  nit  und  unsin: 
disiu  dinc  brechent  gar 
des  gerihts  veder,  daz  ist  war^). 

Ähnlich  bald  darauf; 

Daz  vüeget  ouch  barmunge,  unsin, 
nit,  gäbe  geheiz,  minn  und  unminn, 
daz  ein  man  verliuset  gar 
sin  reht,  daz  ist  war*). 

Swer  mit  stro  viuwer  lischet, 
und  mit  horwe  hör  wischet, 
daz  dunket  mich  ein  goukelspil: 
swer  daz  kan,  der  kan  ze  vil^). 

Nur  der  Form,  nicht  dem  Inhalt  nach  priamelartig  ist 
folgender  Vierzeiler: 


«)  Vers  111  fF. 

')  Schönbach,  Anfänge  des  Minnesanges  S.  34  ff.  72. 
3)  12483  ff.  *)  12489  ff. 

')  12107  ff.    Disciplina  clericalis  p.  695  A  (Migne). 


6 
•  •  «  .• 


•  •    • 

•  ••• 


•     • 


299 


Daz  ist  noch  stset,  swaz  inder  lebet, 
kriuchet,  gat  vliug^t  ode  swebet, 
und  swaz  ist  niderhalbe  des  man: 
daz  muoz  vier  elemente  bän^). 

Auch  ein  analytischer  Vierzeiler  findet  sich: 

Nit  und  zorn  machent  dicke 
vil  trtieben  muot  und  krumbe  blicke, 
unnütze  rede,  dwerhen  ganc, 
seltsaene  gebserde  und  vil  gedanc^. 

Die  naive  Freude  an  breiter  Ausladung  der  parallelen  Glieder, 
wie  sie  der  volksmäßige  Vierzeiler  befriedigt,  weicht  bei  Tho- 
mas in  meist  der  Vorherrschaft  des  Gedankens,  der  die  Glieder 
zusammendrängt').  Fast  zu  durchgeistigt  ist  ein  mit  deutlichem 
Parallelismus  und  geringer  Steigerung  gebauter  Vierzeiler  Konrads 
von  Haslau: 

Ein  b6sheit  von  der  andern  wirt, 
ein  frumkeit  ouch  die  andern  birt, 
ein  schade  dicke  den  andern  bringet, 
ein  tugent  nach  der  andern  dringet^). 

Sprichwörtlichen  Charakter  dieses  Vierzeilers  bezeugt  Hugo 
von  Trimberg  16402  ff.,  Freidank  52,  18.  Boher,  41,  74  ff. 
und  das  niederdeutsche  ßeimbüchlein  (Seelmann  707  flf.)*). 

Die  synthetische  Normalform  kennt  Eonrad  auch: 

Swer  in  n6t  nach  eren  ringet 
und  sich  üf  rehte  fiiore  twinget 
und  vlizet  sich  der  besten  tugent: 
daz  frumet  sin  armuot  in  der  jugent*). 

Denselben  Charakter  der  für  höfische  Kreise  bestimmten 
Spruchdichtung  wahrt  der  Spiegel  der  Tugenden,  den  Haupt 
in  Sprachformen  des  13.  Jahrhunderts  hergestellt  hat^).  Auch 
in  diesem  Gedicht  weist  die  Freiheit,   mit  der  die  Überlieferung 


»)  2277  ff.  «)  683  ff. 

^  z.  B.  2833.  ,Yient,  vür,  spil,  tot  und  diebe,  die  kunnen  machen 
leit  von  liebe.* 

^)  Jüngling  463  ff.  Quelle  ist  Isidor,  Sent.  lib.  2,  23.  Migne  83, 
635.    Vergl.  Preidank  124,  5. 

»)  Vergl.  Zingerle  S.  102.  103.  107.  127. 

«)  Jüngling  1169  ff. 

^  Altdeutsche  Bl&tter,  1,  88  ff. 


300 

priamelbafte  Vierzeiler  in  deo  Handscbriflen  von  einer  Stelle  zor 
andern  versetzt  oder  ausläßt,  auf  eine  gewisse  Selbständigkeit 
dieser  kleinen  Qebilde  hin.  Ihre  Struktur  ist  hier  immer  die 
gleiche,  der  Ton  einförmig  lehrhaft. 

wzne  w^nec,  wiiie  vjl, 
sage  dai  beste,  daz  Ixesle  bil, 
besnh  dfn  woit,  dCn  Italien : 
dai  limet  den  wisen  allen. 

(Vera  157  ff.) 
wis  karc  wider  den  kargen, 
gpolle  des  müden  noch  des  argen, 
unt  nft  ouch  niht  den  riehen: 
96  lebestä  tugenttichen. 

(Vers  183  ff.) ') 
wia  ein  kini  an  der  eiche, 
wli  wise  mit  der  «präebe, 
wJE  TergeiicD  an  der  vfentschaft: 
vergib,  dat  ist  tugenlhaft. 

(Vera -211  ff.)») 
Vermit  höchvart  unde  ntt, 
haiie  niom  zuo  aller  zO, 
unde  trag  niht  lange  diaen  loni: 
so  ist  dfn  heue  wo!  geborn. 

(Vera  817  ff.)S) 
habe  leioez  herze,  guote  sile, 
luhl,  kiuscheit  da  mite, 
schäm  und  triuwe  du  niht  verU: 
s6  volget  dir  heil  und  ere  si. 

(Vera  359  ff;)*) 
vUi  dich  sch<Bner  gebsere, 
sage  niht  schalkes  maere, 
wis  biderbe  unt  wol  gezogen: 
%i  biat  lobes  unbelrogen. 

(19  ff)*) 

Zur  Abrundung  des  Bildes,  das  wir  uns  von  der  Überlieferung 
Htii  die  Wende  des  12.  Jahrhunderts  zum  13.  zu  machen  haben, 
^tttgon  die  dürftigen  Spuren  des  Priamelvierzeilers  in  sonstiger 
Itiiiiantia..  nini,tnng  ffenig  bei.     Scherer  traute  wohl  den  öster- 

aber  noch  zwei  Verse. 

ert,  die  Form  ist  leratört;    es  fragt  sich  auch,  ob  Vers 
11  311/13  bildet.    Haupt  intcrpungiert  hinter  212.    Dem 
amt  keine  Allgemeingfiltigkcit  zu;  vergl.  im  3.  Vera  ^mir'^ 
len  2  voib  ergeben  den  Verseil  ausgelassen. 
*)  B  weicht  Töllig  ab. 


301 


reichischen  Adligen  Improvisationen  zu^);  der  spätere  höfische 
Minnesang  aber  verschmäht  den  Vierzeiler  ebenso  wie  die  höfische 
Epik^)^  vielleicht  Wolfram  ausgenommen,  der  im  Willehalm 
280,  17  ff.  an  einer  von  den  Quellen  unabhängigen  Stelle  den 
Vers  improvisiert^): 

wan  jämr  ist  unser  urhap, 
mit  jdmer  kom  wir  in  das  grap, 
ine  weiz  wie  jenez  leben  erget: 
alsus  diss  lebens  orden  stet. 

Da  könnte  denn  doch  der  Priamelvierzeiler  eingewirkt  haben. 
Epigramme  sind  oft  mit  geschliffenen  Steinen  verglichen.  Wenden 
wir  den  Vergleich  auf  unsere  Vierzeiler  an,  so  dürften  wir  die 
höfischer  Standes-Dichtung  entstammenden  Exemplare  trotz  des 
wohl  zu  erkennenden  künstlichen  Schliffes  meist  doch  nur  als 
Halbedelsteine  bezeichnen.  Die  kleine  enge  Form  verlangt  realen 
Inhalt,  Blut  und  Leben.  Die  Abstraktion  ist  des  Priamels  Tod. 
Soll  abstrakter  vergeistigter  Gehalt  jene  Vorzüge,  wo  sie  fehlen, 
aufwiegen,  so  muß,  wie  bei  Goethe,  ein  ganz  bedeutendes  indi- 
viduelles Moment  Ersatz  bieten. 

An  die  Quelle  volkstümlicher  unverfälschter  Gnomik  leitet 
seine  Leser  Hugo  von  Trimberg.  Trotz  gelehrter  Anwandlungen 
kehrt  er  im  Alter  zu  deutscher  Poesie  zurück  und  schafft  unter 
Ohrensausen,  Augenschwäche  und  Beschwerden  des  Alters  in 
kümmerlichsten  Lebensverhältnissen  ein  Werk,  das  als  vollgültiges 
Zeugnis  für  volksmäßige  Überlieferungen  überaus  wertvoll  ist.  Auch 
für  den  Priamelvierzeiler.  Hugo  unterscheidet  in  seinem  Werke 
Wachs  und  Honigseim*): 

honicseim  bediutet  der  heiligen  lere, 
der  beiden  Sprüche  habent  ouch  Sre 
und  sint  manigen  enden  wert. 

Wir  wären  ihm  dankbar,  wenn  er  das  wertlosere  Wachs  be- 
vorzugt hätte;    aber  die  Quellenuntersuchung  kann  nur  in  einem 


0  Kleinere  Schriften  1,  702. 

^)  Wie  zu  erwarten,  kommt  priamelähnliche  Stilisierung  von  4  Zeilen 
vor  (z.  B.  Typus  A:  Armer  Heinrich  422  ff.  Willehalm  368,  17  ff.  Tristan 
3495  ff.,  Typus  C :  Erec  7339  ff.),  aber  kaum  je  als  bewußte  Kunstübung. 

3)  Über  Wolframs  Vortrag  spricht  Martin  im  Kommentar  S.  LXXIV. 

*)  24464  ff. 


302 


alles  erwägenden  Zusammenhange  erfolgreich  sein,  nnd   deshalb 
soll  und  kann  hier  Ehrismann  nicht  vorgegriffen  werden^). 

Den  priamelhaften  Vierzeiler  liebt  Hugo  sehr.    Vier  hinter- 
einander erscheinen  17586  ff.: 

Swer  niht  wil  lernen  und  lützel  kan, 
und  swer  stner  künste  nieman  gan, 
und  swer  genuoc  kan  und  Übel  tuot: 
die  drt  uns^lde  sint  niht  guot. 

Swer  hin  gibt  biz  daz  er  betein  g6t, 
und  liuget,  biz  nieman  im  gest^t, 
und  dröet,  biz  nieman  üf  in  ahtet: 
der  hat  sin  6re  niht  wol  betrahtet. 

Swer  sich  langer  kriege  rüemet, 
und  von  vil  wunden  sich  üf  tüemet, 
und  daz  er  habe  verspilt  vil  guotes: 
der  mac  wol  sin  tummes  muotes. 

Swer  rüemet  sich,  daz  er  niht  enkan, 
und  swer  niht  ahtet  üf  den  ban, 
und  pfaffen  und  geistliche  Hute  un6rt: 
der  lobe  got,  wirt  sin  heil  gemärt*)! 

An  den  ersten  Vierzeiler  fügt  er  wie  die  Volksimprovisation 
von  heute  die  Erläuterung  durch  einen  zweiten: 

Swer  werltliches  guotes  lUtzel  ahtet 
und  n&ch  ewigen  seiden  trabtet 
und  hat  einen  wol  erliuhten  muot: 
diu  driu  dinc  sint  besunder  guot. 

Vor  dem  ersten  ist  niht  erlicher, 
vor  dem  andern  ist  nibt  niizlicher, 
niht  volbrengelicher  vor  dem  dritten, 
daz  disiu  zwei  besliuzet  mitten  3). 

Gelehrte  Beflexion  zersetzt  die  Form: 

Rouch,  Übel  wip,  dUrkel  dach 
füegent  manic  ungemach, 
diz  schribet  der  wise  Sdlom6n: 
selic  ist,  der  sich  ziuhet  da  von. 


1)  Ehrismanns  unermüdlicher  Güte  verdanke  ich  die  Herstellung  der 
hier  gegebenen  Rennercitate. 

*)  Auch  drei  nicht  echt  priamelhafte  Vierzeiler  verbindet  Hugo  5301  flf. 
3)  21112  ff.  Vergl.Hru8chkaundToischerS.221.Nr.214f.obenS.226. 


303 

Diu  troufe  ist  boesiu  gewonheit, 

der  rouch  ist  unverstandenheit, 

unser  schedlich  vleisch  bediutet  daz  wip: 

disiu  driu  verderbent  sele  und  lip  '). 

Die  übrigen  werden  nach  den  drei  Typen  geordnet. 

Typus  A. 

Vorzügliche   Preidanksprüche  und  Freidankmotive  wiederholt 

und  variiert  er  mit  Wohlgefallen.     So  Freidanks  ersten  Priamel- 

vierzeiler: 

Man  spricht:    swer  in  dem  sacke  koufe 

und  ofte  sich  mit  tören  roufe, 

und  borge  sin  guot  ungewisser  diet: 

der  singe  vil  ofte  daz  klageliet^). 

An  einen  oben  wiedergegebenen  Freidanksprach  knüpfte  die 
2.  Zeile  des  Priamelvierzeilers  vom  Märzengrün,  der  im  15.  Jahr- 
hundert mehrfach  bezeugt  ist  und  bis  heute  fortlebt: 

Man  sprichet:    si  der  merze  grüene, 
und  ein  tummer  pfaffe  küehe, 
und  ein  jungiu  meit  zu  halt: 
die  werdent  selten  mit  6ren  alt^). 

Für  folgenden  Spruch  ist  oben  ein  älteres  Motiv  erschlossen: 

Herren  gunst,  aberillen  weter, 
frouwen  gemüete  und  riusen  eter, 
Würfel,  ros  und  vederspil: 
triegent  ofte,  swerz  merken  wil*). 

Nach  solchen  längst  festgewordenen  Vierzeiler-Typen  hat 
Hugo  nun  viele  neue  Sprüche  gebildet,  die  er  meist  mit  morali- 
sierendem Inhalt  erfüllt. 

Swelch  münich  üz  sinem  cl6ster  loufet 
und  in  der  werlde  sich  besoufet 
und  niht  durch  got  vert  wider  in: 
der  möhte  lieber  in  der  werlde  sin*). 


1)  20291  ff.  Stoffgeschichtliches  bei  Köhler-Bolte  2,  127.  Innocenz 
(Patrologia  217,  710  c)  1,  119:  Tria  sunt,  quae  non  sinunt  hominem  in  domo 
pennanere,  fumus,  stillicidium,  et  mala  uxor;  Die  Deutung  fehlt  hier.  Prov. 
27,  15  sind  nur  2  Dinge  genannt. 

2)  6197  ff.  3)  12456  ff.  *)  12474  ff.  *)  3050  ff. 


304 

Swem  triuwe,  zuht  und  bescheidenheit 
leident  und  wäriu  einveltikeit, 
und  die  sich  gar  verschemet  haben: 
die  süln  mit  boesen  herren  draben^). 

Erfreuen  die  mnl.  Vierzeiler,  die  gegen  mittelalterliche  Lebe- 
männer sich  richten,  durch  volle  Lebendigkeit,  gemischt  mit  ein 
wenig  Sarkasmus,  so  redet  aus  Hugo  der  Pedant: 

Swer  roubet,  luodert  unde  stilt, 
gesuochet,  borget  unde  spilt, 
und  niht  willen  hat  zu  gelten: 
der  sol  zu  himel  komen  selten  3). 

Wizzety  daz  tegellch  gegihte, 
und  vor  gerihte  valsch  getihte, 
und  alle  tage  krüt  mit  nihte: 
sint  driu  jSmerlich  gerihte  3), 

Swer  lebet  im  selber  ordenlich, 
Slnem  ebencristen  geselleclich, 
und  ouch  gein  got  diemüeteclich: 
des  s61e  ist  s^iic  6wiclich^). 

Eine  lateinische  Fassung  dieses  Spruches  ist  in  dem  Oedenk- 
buch  des  Hans  von  Mengershausen  aufgezeichnet:  Si  vis 
habere  bonam  vitam,  Ordinate  vivas  coram  te  ipso,  Socialiter  coram 
proximo,  Humiliter  coram  deo^). 

Trabtet  ein  riebe  man  umb  guot, 
und  hat  ein  armer  tratzen  muot 
und  hat  ein  alt  tumme  site: 
da  wonet  lützel  seiden  mite^). 

1)  6865  ff.  3)  7348  ff^    yergi.  oben  S.  275. 

3)  8721  ff.  (8721bff.  Ehrismann). 

^)  18064  ff.  Als  Sprach  des  h.  Bernhard.  Das  Motiv  der  durch  reichen 
Beim  verbundenen  Begriffe  ist  von  den  Mystikern  fortgebildet.  Bartsch, 
Quellenkunde  S.  313.  Hätzlerin  2,  61.  Germania  1888  S.  162.  Volkstüm- 
liche Verse,  deren  Schluß  Wörter  auf  ly  ausgehen,  Babees  Book  S.  58. 

^)  Spiel  und  Span  genberg,  Neues  vaterländisches  Archiv  oder  Bei- 
träge zur  allseitigen  Kenntnis  des  Königreiches  Hannover  und  des  Herzog- 
tums Braunschweig  1831,  2,  162. 

^)  20932  ff.  Im  Grunde  sind  es  die  Gedanken  des  Liber  Ecclesiastici 
25,  3.  Zu  Vers  2:  Loewer,  Quellenstudien  S.  27.  Zur  Dreiheit  der  Fehler 
Loewer  S.  88. 


305 

Die  wile  man  kirchen  und  antliz  suochet, 
die  wile  man  toufe  und  bihte  geruochet, 
die  wile  man  messe  und  predige  hoert: 
so  wirt  unser  geloube  niht  zestoert^). 

Wan  hier  und  met  und  starker  win, 
tanz,  spil  und  tummiu  frouwelin, 
und  viretegelichiu  müezikeit: 
tuont  vil  m6r  Übels  denne  guot  arbeit^. 

Das  Sprachmaterial  dieser  Art  ist  aber  bisweilen  weder  recht 
volksmäßig,  noch  echt  priamelhaft;  es  trägt  den  Stempel  des 
Individuellen,  nicht  des  Gemeingültigen. 

Sit  vride  and  barmherzikeit, 
wärheit  unde  gerehtikeit 
wonent  dem  obersten  rihter  bi: 
welch  rihter  ist  unrehtes  vri*)? 

Uozimlich  schimpfen,  unzimlich  sehen, 
unzimlich  k6sen,  unzimlich  spehen: 
machent  leider  sUnden  vil, 
der  ich  ein  teil  iu  künden  wil^). 

In  einem  andern  Fall  hat  willkürliche  Beflexion  ein  volks- 
mäßiges Motiv  verunstaltet.  Der  so  entstandene  Vierzeiler  ent- 
behrt des  Ebenmaßes  der  Form  und  nähert  sich  den  Beispielen 
des  Welschen  Gastes. 

Swie  gr6z,  swie  starc,  swie  rieh  des  guotes, 
swie  wol  gevriunt,  swie  rieh  des  muotes 
ist  ein  man,  hat  er  nicht  witze: 
so  muoz  er  als  ein  t6re  besitze^). 

Viele  Sprüche  bleiben  denn  auch  priamelhaft  unentwickelt. 
Vergl.  831  ff.  9500  ff.  10786  ff.  10818  ff  13324  ff.  15358  ff. 
17758  ff.  17816  ff. 


»)  21853  ff.     Gegenstück    17082  ff.     Fsp.  293,  10  ff.     Vergl.   das   all- 
gemeine Motiv  oben  S.  290. 

«)  22476  ff.  8)  87i7i>  ff.  4)  11774  ff. 

^)  2152  ff.    Das  Motiv,  inhaltlich  umgekehrt,  Göttinger  Beiträge  2,  18. 
Baling,  Priamel  20 


306 
Typus  B. 

Halp  visch,  halp  man  ist  weder  visch  noch  man. 
halp  pfaffe,  halp  leie  ist  weder  pfaffe  noch  man. 
gar  pfaffe,  gar  leie  ist  ordenlich: 
halp  diz,  halp  jenz  ist  effenlich^). 

Boethe  weist  in  Hugos  Versen  Nachahmung  Beinmars 
nach^).  Zu  Grunde  liegt  ein  Volksspruch,  der  heute  noch 
improvisatorisch  behandelt  wird;   z.  B. 

A  Schwalbn  macht  koan  Suma, 
A  Deandl  koan  Tanz; 
I  mag  net  das  Halbi, 
Was  i  wil,  wil  i  ganz  3). 

Halbs  und  halbs  hast  mi  gearn, 
Halbs  und  halbs  net. 
Sollst  mi  halb  und  halbs  aa  net  han, 
Liaba  goar  net^). 

Halb  und  halb  möchts  mi  schon, 
Halb  und  halb  nit, 
Halb  und  halb  mag  i  nit, 
Lieber  gar  nit'^j. 

Heimlich  ist  ein  betelmüs, 
heimlich  unört  wirt  und  hüs, 
heimlich  lestert  sippe  teil, 
heimlich  briuwet  der  s8le  unheil^). 

Ein  gröz  dinc,  swer  sin  vleisch  hie  twinget, 
ein  grcezer,  swer  wider  begerunge  ringet, 
daz  aller  groezte,  swer  eigen  willen 
13t  durch  got  und  sich  kan  stillen^). 


1)  17898  a  ff. 

3)  Reinmar  von  Zweier  129,  4.    Roethe  S.  603. 

3)  Werle,  Ahnrausch  S.  255.  144.  145. 

*)  Gundlach  S.  144.  Nr.  694.  Pogatschnigg  und  Herrmann, 
Deutsche  Volkslieder  aus  Kärnten  1',  97.    Nr.  462. 

6)  Pogatschnigg  und  Herrmann  P,  338.  ^r.  1594.  Vgl.  auch  Nd. 
Korrespondenblatt  23,  91.  93. 

6)  Renner  20657  ff. 

^  24128  ff.  mit  Berufung  auf  Gregorius.  Vergl.  zu  Freidank  64,  18 
und  Herders  Vierzeiler:   Tapfer  ist  der  Löwensieger. 


307 

Typus  C. 

Ein  herre  kn  6re  zimt  als  wol: 
als  ein  schoene  sal  mistes  vol, 
buoche  äne  loup,  houbt  äne  här, 
velt  äne  gras,  tier  zageis  bar^). 

Oenan  so  faßt  moderne  Vierzeiler-Improvisation  Ketten  von 
Vergleichen  pointiert  zusammen. 

Und  a  Liab  ohne  Freud: 
Is  a  Wagn  ohne  Rad, 
Is  a  Bam  ohne  Blat, 
Is  a  Bild  ohne  Gnad. 

Werle,   Almransch  S.  103.     Greinz   und   Kapferer,   Erste   Samm- 
lung S.  3. 

A  Bua  ohne  Geld: 

Is  a  Nuß  ohne  Kern, 
Wia  a  Kerzn  ohne  Liecht 
In  aner  Lateru. 
Pogatschnigg  und  Herrmann  2,  35.    Nr.  127. 

Auch  die  andern  Typen  sind  für  dieses  Motiv  entwickelt. 

A  Bam  ohne  Blüeh, 
Und  a  Wagn  ohne  Rad, 
Und  a  Lieb  ohne  Freud: 
Is  a  Bild  ohne  Gnad. 
von  Hörmann,  Schnaderhüpfehi'  S.  341.    Nr.  933^). 

A  Jahr  ohne  Mai, 
A  Zweig  ohne  Blatt, 
A  Lieb  ohne  Treu: 
Is  a  Bild  ohne  Gnad. 
Pogatschnigg  und  Herrmann  1',  384.    Nr.  1795. 

Und  a  BUchs  ohne  Hahn 
Und  a  Dirndl  ohne  Mann 
Und  a  Jaga  ohne  Schneid: 
Alle  drei  tbuan's  mir  leidl 
Greinz  und  Kapferer,  Erste  Sammlung  S.  62. 

A  Fisch  ohne  Schragn, 

A  Stuhl  ohne  Fuaß, 

's  Mentsch  ohne  Schneid: 

Is  net  guat,  wan  ma  muaß. 
Werle  S.  33. 


1)  970  fif. 

2)  Vergl.  Indische  Sprüche  übersetzt  von  L.  Fritze  Nr.  360. 


20' 


308 


Ein  andres  Schnaderbüpfel  verbindet  Steigerung  mit  Nutz- 
anwendung.  ^  ^^  ^^^  g„^„ 

Und  ka  Nacht  ohne  Stern, 
Und  ka  Herz  af  dei  Welt, 
Das  kan  anders  hätt  gern. 
Pogatschnigg  und  Herrmann  1,  365.   Nr.  1556. 

Das  führt  unmerklich  zu  einer  neuen  Improvisationswendung: 

Is  ka  Berg  ohne  Land, 
Und  ka  Bam  ohne  Lab, 
Ka  Mflhl  ohne  Stan, 
I  bleib  nit  allan. 

A.  a.  0.    2,  204.   Nr.  617.  P,  1.   Nr.  4. 

Is  koan  Bam  ohne  Lab, 
Is  koan  MUhl  ohne  Stab, 
Is  koan  Berg  ohne  Stoan : 
I  bleib  a  nit  aUoan. 

V.  HörmannS  S.  58.    Nr.  156. 

Variante  der  beiden  letzten  Verse: 

Und  koan  Haat  ohne  Schnuar: 

Und  kan  Dirn  ohne  Bua. 

A.  a.  0.  340.    Nr.  928. 

Auf  den   einfachen  Vergleich   reduciert  erscheint  das  Motiv 
bei  Werle,  Almrausch  S.  132: 

A  Hoazat  ohni  Musi 
Is  a  Liab  ohni  Freud; 
Und  das  is  a  guats  Fuata 
FUr  d'  Langwaligkeit^;. 

Wilhelm  Müller  hat  das  Motiv  sich  in  seinen  Epigrammen 
wieder  nicht  entgehen  lassen. 

Was  ist  das  Herz  ohne  Liebe? 
Wie  ein  Land  ohne  Herrn, 
Wie  die  Nacht  ohne  Stern, 
Wie  der  Becher  ohn    Wein, 
Wie  der  Vogel  ohn'  Hain, 
Wie  ohn'  Aug*  ein  Gesicht, 
Wie  ohn'  Reim  ein  Gedicht: 
So  ohne  der  Liebe  Scherz  und  Schmerz 
Das  Herz  2). 

1)  Wie  Prov.  11,  22. 

2)  W.  Müller,  Vermischte  Schriften  hg.  v.  Schwab.    Leipzig  IL  1880. 
Epigramme.    Erstes  Hundert.    Nr.  10. 


309 

Sus  slahe  wir  der  werlde  trumtnen: 
ein  touber  spottet  ofle  eins  stummen, 
ein  alter  töre  eins  jungen  tummen, 
ein  lamer  gickelt  fif  den  krummen^). 

Cristengeloube  sich  schier  zetrennet: 
swä  ein  orden  den  andern  bennet, 
swä  man  zu  priester  wihet  kint, 
swä  geistliche  Hute  vreislich  sint'). 

Wir  sölten  haben  zu  aller  stunde, 
driu  dinc:   gotes  lop  in  dem  munde, 
an  dem  libe  stner  marter  smerzen, 
siner  süezen  minne  viur  in  dem  herzen'). 

Einige  Drei-  und  Fünfzeiler  kommen  diesen  Beispielen  sehr 

nahe.  _.  . 

Typus  A. 

Wan  mete,  hier  und  guoter  win 
und  alle  tage  mit  voller  spise: 
machent  vil  manic  herze  unwise^). 

FUnde  wir  einen  tempel,  in  dem  wir  sezen, 

mit  spil,  mit  schimpfen  trunken  und  Izen, 

da  man  unsem  willen  tete 

und  unsers  guotes  uns  niht  bete: 

di  liefen  junge  und  alte  hin^). 

Vergl.  7086  ff.  10302  ff. 

Typus  B. 

Lazheit  hat  manige  tugent  vertriben, 
lazheit  verderbet  manigen  pfaifen, 
lazheit  machet  tdren  und  äffen: 
lazheit  und  boesiu  gewonheit 
verderbent  noch  die  kristenheit^). 

1)  Kenner  16106  ff. 

2)  17082  ff.  Eine  Umkehrung  des  Frei dank-Spruches  60,  9  ff.  Gegen- 
stück Renner  21853  ff. 

8)  22684  ff. 

*)  9397  ff.  Andere  Dreizeiler  ohne  entschieden  priamelhaften  Charakter 
21185  ff.  u.  ö. 

^)  5016  ff.  5043  ff.  Während  Hugo  solche  gewünschte  Dinge  in  das 
Reich  der  Vorstellungen  verweist,  ist  spätere  Dichtung  herzhafter  (Altdeutsche 
Blätter  1,  75.  Nr.  12.  Hätzlerin  2,  57,  208  ff.  Göttinger  Beiträge  2,  79, 
Nr.  65),  die  Yierzeilerpoesie  begehrlich  (Pogatschnigg  und  Herr  mann  1, 
42.    Nr.  197.    Dunger,  Rundas  Nr.  243). 

6)  16863  ff. 


312 


Vieles   andre  Sprichwörtliche   hat  Jakob  Cats   im   Spiegel   der 
alten  und  neuen  Zeit^)  zusammengestellt. 

Dagegen  folgt  die  lateinische  Übersetzung  der  Wiener  Hand- 
schrift 3192,  Bl.  10  offenbar  dem  deutschen  Priamel. 

Decipiunt  multos,  ut  dos  docaere  priores, 
Et  favor  haut  durans  principis  atque  ducum 
Et  miüiebris  amor,  nee  non  Aprile  serenum 
Stabile  ut  folium,  quod  rosa  pulchra  gerit, 
Nisus  et  accipiter  roulto  discrimine  equusque 
Tractatur,  tocies  tessera  vota  negat. 

Sententia. 
Herren  gunst,  abereilen  wetter, 
frawen  liebe  und  rosen  bletter, 
roß,  wirifel  und  iederspil: 
betriegend  manchen,  der  eß  glauben  wil. 

Dem  fün&ehnten  Jahrhundert  gehört  die  Fassung: 

Herren  gunst  und  apprel  wetter, 

Frawen  muot  und  rosen  pletter, 

Ross,  wttrffel  und  sedenspil: 

Die  trigen  mangen,  der  in  gelauben  wiP). 

Die  Fassung   des   letzten  Verses   scheint   ursprünglicher   zu 
sein,  als  die  Hugos.     Noch  Cats  kennt  das  Motiv  in   aer  sehr 


einfachen  Prägung  : 


Wintersche  nachten, 
Vrouwen  gedachten, 
En  gunste  van  Heeren: 
Siet  men  fast  verkeeren'). 


Der  Spruch  vom  Bayern-Wein,  jungen  Wölfen  und  Juden 
(22570  ff.)  scheint  formell  unfertig. 

Im  übrigen  ist  der  ßau  des  Priamel  Vierzeilers  bei  Hugo  oft  recht 
volkstümlich.  Die  Priamelform  liebt  auch  äußere  Gleichförmigkeit 
am  Ende  und  am  Anfang  der  Zeilen.  Durchgereimt  sind  8721  ff. 
17758  ff.  18064  ff.;  die  Wiederholung  des  Anfangswortes  durch 
zwei  oder  alle  Zeilen  verschmäht  Hugo  nicht  (20657  ff.  11774  ff. 


Mone  nicht  an;  die  506  f.  sonst  erwähnten  stammen  aus  dem  12.  bis  14.  Jahr- 
hundert.   MSD»  XXVII  208.  61.  2,  148  f. 

1)  S.  230  ff.    Yergl.   Zs.    f.   deutsche   Philologie  19,  457.     Preußische 
Jahrbücher  85,  365  ff.  und  Wand  er. 

8)  Clm.  4394,  192.    Catalogus  HI  2,  158  f. 
»)  Cats  S.  281. 


313 


17898  ff.)?  ^16  sie  Doch  die  Improvisation  des  heutigen  Schnader- 
hüpfels  mit  guter  Wirkung  übt*).  Individueller  Witz  fehlt; 
was  davon  vorhanden  ist,  gehört  der  Überlieferung.  Ein  glück- 
liches Bild  fällt  Hugo  ein,  wenn  er  ausfährt,  wie  wir  die  Ver- 
kehrtheiten der  Welt  mitmachen:  wir  schlagen  die  Trommel  der 
Welt  (16106  ff.).  Selten  wird  er  satirisch  (17082  ff.),  auch  wenn 
er  gegen  Halbheit  (17898  ff.),  Heimlichtuerei  (20657  ff.),  böse 
Herren  (6865  ff.),  Richter  (8717  ff.),  Mönche  (3050  ff.  17816  ff.), 
verkehrte  Rinderzucht  (9500  ff.)  eifert. 

Für  den  niederdeutschen  Priamelvierzeiler  des  13.  Jahrhunderts 
fehlen,  wie  es  scheint,  die  Belege.  Vorhanden  war  er  doch  wohl. 
In  durchgereimter  lockerer  Form  zeigt  ihn  Gottfried  Hagens 
mitteldeutsche  Beimchronik  (5326): 

Meineidigen  inde  logenere, 
vereder  inde  drogenere: 
verleisent  gerne  ir  werelt  ere, 
dar  zo  sint  si  gode  unmere. 

In  den  1 50  Jahren  literarischer  Überlieferung,  die  wir  soeben 
durchgemustert  haben,  sahen  wir  den  Priamelvierzeiler  in  stetiger 
Ausbreitung  sich  seinen  Platz  in  der  Literatur  sichern.  Im  Süden 
spärlicher,  aber  trefflich  vertreten,  blüht  er  am  üppigsten  in 
Mitteldeutschland,  dessen  lehrhafter  Neigung  er  entgegenkam. 
Der  deutschromanische  Thomasin  hat  kein  rechtes  Verständnis 
für  diese  eminent  volkstümliche  Form,  der  Verfasser  des  kleinen 
Lucidarius,  der  Dichter  des  Buchs  der  Bügen  und  viele  andre 
Süddeutsche  üben  sie  nicht.  Norddeutschland  ist  erst  durch 
ein  literarisches  Beispiel  vertreten,  nicht  als  ob  der  Priamel- 
vierzeiler dort  in  volkstümlicher  Dichtung 2;  gefehlt  haben  könnte, 
sondern  die  Dürftigkeit  mittelniederdeutscher  literarischer  Über- 
lieferung des  13.  Jahrhunderts  ist  schuld  daran,  wenn  er  nicht 
bezeugt  wurde. 

Der  Priamelvierzeiler  ist  so  praktisch  und  volksmäßig  von 
Natur,  daß  er  in  der  künstlicheren  Poesie  des  Minnesanges 
untergehen  muß.  Nur  der  älteste  Minnesang  wies  Spuren  von 
ihm  auf.  Die  Poesie  der  Bildung  ist  ihm  nicht  günstig,  sie 
droht  ihn  durch  Vorwiegen  des  Gedankens  aufzulösen  und  erzeugt 

')  Hauffen,  Zs.  für  Volkskunde  4,  15.    Grasberger  S.  59.  38. 
^)  yergl.  spätere  Freidank-  und  Bennerübersetzungen. 


314 


Gebilde,  die  etwas  zwitterhaftes  und  unbefriedigendes  haben. 
Selbst  bei  Hugo  von  Trimberg  sind  die  echt  volkstümlichen 
Exemplare  in  der  Minderzahl,  aber  gerade  diese  haben  ihre 
Lebenskraft  auf  viele  Jahrhunderte  hinaus  bewahrt. 

Die  Form  hat  etwas  Konstantes,  wie  alle  Volkspoesie,  und 
vereinigt  den  Charakter  einer  primitiven  Improvisation  mit  der 
Bestimmtheit  und  Stabilität  des  reifen  Alters  ^).  Die  Entwicklung, 
die  der  Vierzeiler  durch  die  Literatur  erfahrt,  konnte  allerdings 
seinen  Inhalt  unendlich  erweitern  und  vertiefen,  an  seine  lyrische 
Vorform  anknüpfend  das  Moment  der  Stimmung  mehr  zur  Geltung 
bringen,  aber  der  festgefügten  bereits  fertigen  Form,  abgesehen 
von  stilistischer  Verfeinerung  und  größerer  syntaktischer  Regel- 
mäßigkeit eigentlich  nichts  Wertvolles  hinzufügen.  Zauberformel, 
Segen,  Wunsch,  Gruß,  Rätsel,  Kinder  -und  Volksreim  bedienen 
sich  der  ungemein  bequemen  Form,  ohne  daß  der  Inhalt  mit  ihr 
stets  zu  einer  in  höherem  Grade  charakteristischen  Einheit  ver- 
schmilzt; ebensowenig  kann  die  mehr  oder  weniger  individuelle 
Verwendung  bei  höfischen  und  gelehrten  Dichtem  die  Grundlage 
für  Ausbildung  des  Priamelvierzeilers  als  specifischer  literarischer 
Gattung  schaffen.  Was  aber  in  dieser  Form  echt  volksmäßig- 
epigrammatischen  Inhalt  bietet,  das  hat  sich  auf  die  Folgezeit 
gerettet;  man  hatte  diesen  kleinen  glücklichen  und  vollendeten 
Gebilden  nachdenklicher  oder  heiterer  Volksphilosophie  eben  nichts 
hinzuzufügen. 

Sammelwerke  wie  Freidanks  Bescheidenheit  und  Hugos  Renner 
sind  im  14.  und  15.  Jahrhundert  nicht  mehr  unternommen,  und 
das  ist  der  Grund,  weshalb  die  Produktion  jetzt  zunächst  bei 
oberflächlicher  Betrachtung  weniger  reichlich  zu  werden  scheint. 
In  Wirklichkeit  ist  es  umgekehrt.  „Sowie  im  Laufe  des  14.  Jahr- 
hunderts die  mittelalterlichen  Dichtungskreise  sich  ausleben,  rührt 
sich  in  den  poetischen  Leistungen  der  Zeit  wieder  die  un verlorene 
Volksart.  Es  schlägt  der  Ton  durch,  es  entbindet  sich  der  Geist, 
darin  die  geschiedenen  Stände  sich  als  Volk  zusammenfinden  und 
verstehen*)."  „Now  for  the  first  time  sinco  the  decay  of  classic 
literature,  people  at  large  began  to  give  way  to  emotional  intro- 


')  Comparetti,  Der  Kalewala  S.  33. 
v2)  Uhland,  Schriften  3,  4. 


315 

spection;  now  for  the  first  time  they  dared  to  throw  oflf  the 
disguises  of  rank  and  Station  and  lay  bare  the  human  heart  which 
is  hidden  under  it  all.  —  It  is  as  though  the  circulation  of  the 
national  body  had  been  quickened  and  its  sensibilities  heightened, 
as  though  people  were  seeing  with  keeuer  eyes  and  listening  with 
more  receptive  ears,  as  they  were  gathering  the  thousandfold 
impressions  of  the  inner  and  outer  world^)." 

Vorderhand  wandelt  Süddeutschland  in  den  alten  Bahnen 
fort,  man  improvisiert  unermüdlich  über  die  einmal  angeschlagenen 
Motive.  Die  sogenannten  unechten  Freidankverse  leiten  zunächst 
vom  13.  Jahrhundert  ins  14.  hinüber. 

Keiser  mit  demuot, 
und  ritter  mit  guot, 
und  langen  man  wisen: 
der  lob  sol  man  prisen^). 

Freidank,  dem  dieser  Spruch  nachgebildet  ist  (85,  19), 
klagte  noch  nicht  über  die  verarmten  Ritter.  Von  W.  Grimm 
aus  mittelniederdeutscher  später  Vorlage  rekonstruiert  ist  folgen- 
der Vierzeiler: 

Alter  pfaffen  kuonheit, 

junger  nunnen  staetekeit 
und  ohsen  zelten: 
wirt  gelobet  selten  3). 

Aus  dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts  stammt  der  bayerische 
Freidank-Vierzeiler: 

Swer  über  haupt  vicht, 
und  in  dem  wazzer  drischt, 
und  welibt  auf  den  regenbogen: 
der  wirt  vil  dicke  betrogen*). 

Die  sorglose  metrische  Form  und  die  sprichwörtlichen  Wen- 
dungen sichern  diesen  Versen  wie  den  folgenden  den  volksmäßigen 
Ursprung: 

')Kuno  Francke,  Social  forces  in  German  Literature.  New- York 
1896.    S.  105.  118. 

*)  Liedersaal  Nr.  253,  43.  Auch  in  der  Hs.  des  Liedersaales  sind 
die  Vierzeiler  lose  in  größere  Spruchreihen  eingefügt. 

3)  a.  a.  0.  34.    Die  mittelniederdeutsche  Fassung  oben  S.  287. 

*)  Pfeiffer,  Freie  Forschung  S.  233.  Vers  3  ,und  der',  Grimm 
a  84.    Üatalogus  XXI,  2,  19.    Zingerle  S.  U9f. 


316 

Ez  sint  drtt  dinc  alleine 
aller  manne  gemeine: 
pfaffen  wip  und  spiler  win, 
begozzen  brot  magz  dritte  sin  *). 

Eine  vielleicht  ältere  rohe  Fassung  mit  bloßer  Assonanz 
wahrt  die  synthetische  Form^). 

In  der  Handschrift  des  Liedersaales  ist  mit  Benutzung  zweier 
Freidankyerse  (41,  6)  der  Vierzeiler  gebildet: 

Wer  gern  verlüset  und  gern  hilt, 
und  gern  fint  und  gern  stilt: 
wil  man  nennen  den  nach  recht, 
so  haist  er  ein  böser  knecht^). 

Dieselbe  Handschrift  bietet  noch  folgenden  Priamelvierzeiler: 

Ein  katz  und  ain  muz, 
zwen  han  in  aim  huz, 
ain  alt  man  und  ain  jung  wib: 
belibent  selten  an  kib*). 

Hier  sind  zwei  verschiedene  Fassungen  kontaminiert;  die 
eine  kontrastiert  einfach  Gegensätze,  die  zweite  stellt  jedesmal 
zwei  Bivalen  einander  gegenQber.  Diese  ist  rein  erhalten  in  dem 
picardischen  Proverbe,  in  nl.  und  englischer  Überlieferung;  jener 
folgt  auch  der  Vierzeiler  der  Hulthemschen  Handschrift: 

Daar  twe  hauen  sijn  in  een  huus, 
Ende  een  catte  ende  een  muus, 
Ende  een  oudtmann  ende  een  ionc  wijf: 
Dat  huus  steet  seiden  sonder  kijf*). 

*)  Mones,  Anz.  4,  58.  W.  Grimm,  Kleinere  Schriften  4,  33.  Bezzen- 
berger  109,  13a.    Renner  17536  ff. 

')  Diutisca  1,  325.    Assonanz  im  Schnaderhüpfel :  Grasberger  S.  34. 

^)  Grimm  S.  218.  Die  Verbesserung  ,nennen'  statt  ,nemen*  hat 
Grimm  yorgeschlagen.     Ich  habe   die  Stelle   im  Liedersaal  nicht  gefunden. 

*)  LS.  197,  11.  Göttinger  Beiträge  2,  52f.,  Nr.  13,  14.  Freidank 
138,13.  LS.  236,  71.  Vintler  8954  ff.  Ord-Bog  S.  180.  Zingerle 
S.  74,  169.  Zum  Motiv  Kpu7rcfl?5ia  4,  121.  Nr.  206  und  der  picardische  Spruch 
des  13.  Jahrhunderts  S.  76.  Reimbüchlein  2222  f.,  2438  ff.  Gundlach 
Nr.  758.  Wegen  er  S.  231.  Nr.  789.  Nur  modernisiert  und  verballhornt 
ist  der  Spruch  in  F  86b,  Sp.  2:  „Ein  kacz  vnd  racz  vnd  ein  maus  Vnd 
zwen  bannen  jn  eym  haws  Ein  jung  weip  vnd  ein  alter  man  Dj  sehen  selten 
gutlich  an  einander  an.** 

^)  Belgisch  Museum  1,  112.    Ähnlich  Meijer,  Oude  nl.  spreuken  S.  108* 


317 


Nabe  stehen  sich  andrerseits  die  Glasschrift: 

Twee  kalten  aan  een  muus, 
Twee  vrouwen  in  een  huis, 
Twee  honden  aan  een  been: 
Komen  zelden  over  een  ^). 

und  der  englische  Vierzeiler: 

Two  cats  and  a  Mouse, 
Two  Wives  in  one  House, 
Two  Dogs  and  a  Bone: 
Never  agree  in  one^). 

Een  Moeder    te  Sevenhoven,    vragde   haar  Son,   welke   die   strydige   dingen 
waren,  die  nooit  konsten  gepaart  worden:   daar  hy  op  antwoorde. 

Twee  Wolvcn,  by  een  Schaap, 
Twee  Geuzen,  by  een  Paap, 
Twee  Snyers,  by  een  Luis, 
Tween  Katten,  by  een  Muis^). 

Verblaßt,   fast  blind  geworden,   scheint  das  Motiv  in  einem 
Lübecker  Vers: 

Eija  Bruramsuse: 

Twee  Wegen  in  enen  Huse, 

En  uppe  Deel  un  en  upn  Böhn, 

En  lUtt  Dochter  un  en  lUtt  Söhn, 

Wenn  de  beden  ümrocr  gnnrrn: 

Da  kann  man  woU  wunnerlich  warden^). 

und  im  Schnaderhfipfel : 

Zwa  Berg  und  zwa  Tal, 
Und  zwa  Räpplan  in  Stall, 
Und  zwa  Buebn  af  a  Diendle: 
War  z'  viel  af  amaP). 

Zwa  Köpf  und  oan  Sinn, 
Zwa  Herzl,  a  Freud, 
Zwa  Biabl  treu  liabn: 
Lauta  Unmöglichkeit^). 


>)  Opschriften  3,  44. 

^)  Xanthippus  S.  155  des  Separatabdrucks. 

';  Opschriften  2,  39. 

*)  Schumann,  Nachtrag  S.  189.    Nr.  39b. 

^)  Pogatschnigg  und  Herrmann  1^,  141.    Nr.  696. 

«)  Ebenda  V,  144.    Nr.  712. 


318 


ZwcM  sdmeewdßi  Strtaipf, 
Zwo«  Ring  af  oan  Fingai: 
Is  a  sakrachcs  Dii^*). 


A  söhs  Büabl  Mahn, 

Dös  ba  rwoa  Diandln  leidt: 

Das  is  jnst  wias  Messa, 

Das  af  boad  Seitn  sdmeidt^. 


Vielleicht  lehnt  sich  an  die  Bescheidenheit  (49,  9)  ein  noch 
heute  ans  der  Eifel  bezeugter  Sprach  der  Straßborger  Hand- 
schrift vom  Jahre  1384: 

Müsige  hant, 

und  schönes  gewant» 

und  Hht  gewunnen  guot: 

Die  drü  dinge  die  machent  grosen  tibennuot'). 

Schmitz  gab  den  Vers  als  Sprichwort  des  Eifler  Volkes  so 
wieder: 

Blächtige  Hand, 

schönes  Gewand 

und  leicht  gewonnen  Gut  — 

machen  großen  Obennut  ^). 

Erst  ans  dem  15.  Jahrhundert  ist  als  Freidankvers  über- 
liefert: 

Vil  gegerd  und  nicht  gevangen, 

vil  gehört  und  nicht  verstanden, 
vil  gesait  und  nicht  gemerkcht: 
das  sint  alles  verloren  werich*). 

Wenig  weicht  eine  mnl.  Fassung  desselben  Jahrhunderts 
ab,  wahrscheinlich  zu  Brügge  aufgeschrieben: 


»)  Werle  S.  33. 

3)  Werle  S.  158. 

')  Diutisca  1,  326.  Normalisierte  Lautgebong  in  Wacker  nageis 
Lesebuch  P,  1168. 

^)  Sitten  und  Brftuche  u.  s.  w.  1,  185.    Nr.  42. 

^)  Grimm  4,  28.  Cato  51:  ,swer  liset  des  er  niht  verstät,  wie  gar 
er  sich  versümet  hat.'  Mehr  Temperament  zeigen  mnd.  und  romanische 
Sprüche  derart.    Reimbüchlein  1820.    Archiy  für  nenere  Sprachen  43,  69. 


319 

Vele  ghejaget  ende  niet  ghevanghen, 
Vele  ghehoort  ende  niet  verstanden, 
Vele  ghesien  ende  niet  te  merken: 
Dat  zijn  alle  verlooren  werken^). 

Von  späteren  Fassungen  sei  zur  Erläuterung  erwähnt: 

Vill  gejagt  und  nihts  gefangen, 
vill    gelessen  und  nihts  verstandten, 
vill  gehörtt  und  nihts  gemörckht: 
das  sein  3  verlohren  werckh'). 

Glas -Schrift. 

Wagten  en  niet  te  komen. 

Sonder  slapen  in't  bed  te  dromen, 

Dienen  en  noit  van  pas  te  maken: 

Zyn  drie  dingen  om  om  den  hals  te  raken^). 

Herder  brachte  diesen  Vierzeiler  in  folgender  Form  wieder 
in  Kurs:  ^r  i     •     .  r 

Viel  gejaget,  wenig  gefangen, 
Viel  gehört,  wenig  verstanden. 
Viel  gesehn,  nichts  gemerkt; 
Sind  drei  vergebliche  Werk*). 

Das  Kontrast-Motiv  dieses  Pseudo-Freidankspruches  benutzt 
der  Vierzeiler: 

Lieb  [han  und  ntit]  sehen, 

für  gon  und  nUt  jehen, 

ist  das  für  druren  guot: 

so  git  es  mir  mengen  hoen  muot^). 


*)  Priebsch,  Deutsche  Handschriften  in  England  1,  175. 

^)  Aus  dem  Reimbüchlein  des  Klosters  MüUn  bei  Salzburg.  Seufferts 
Yierteljahrsschrift  6,  446.  Wenn  auch  die  Niederschrift  dem  17.  Jahrhundert 
angehört,  sind  die  Bestandteile  doch  zum  Teil  viel  älter. 

')  Opschriften  1,  8. 

*)  Suphan  25,  519.  Nr.  7. 

')  Mones  Anz.  3,  291.  Es  folgt  der  Zusatz:  ich  verswig  und  lid 
und  vertrag,  biß  es  besser  werden  mag.  Hoffmann,  Findlinge 
S.  460.  Nr.  209.    Liedersaal  184,  3—6. 

Sitzen  und  gedenken, 

Ligen  auf  hörten  benken, 

Ist  das  für  truren  guot: 

So  hän  ich  oft  ein  guoten  muot. 

Cgm.  270,  220a.    Mones  Anz.  7,  500  ff.  No.  17, 
Beimbfichlein  795  ff.  YgL  1269  ff.  2214  f. 


310 


Ein  Vierzeiler  individueller  Form,  in  dem  sieb  Analyse  und 
Synthese  verbindet,  ist  folgender: 

Driu  dinc  sol  man  niht  üf  sparn: 
siechen  bihte  und  ir  bewarn, 
kindelin  toufen  und  selgerete: 
vil  sselic  were,  swer  di«  tete'). 

Nocb  individueller  ist  folgendes  Priamel  eingekleidet: 

Mir  Seite  ein  priester:   daz  beiriscb  win, 

Juden  und  jungiu  wölfelin 

allerbeste  sin  in  der  jugent, 

in  dem  alter  wehset  ir  untugent^). 

Hugo  fügt  hinzu: 

als  bat  noch  tugent  in  siner  jugent 
manic  mensche  und  in  sfm  alter  untugent. 

Ohne   rechte    Entwicklung   der   vorhandenen   Qlieder   bleibt 
es  in  zwei  aufeinander  folgenden  Beispielen  folgender  Art: 

Diu  heilige  schrift,  wazzer  und  gluot 
sch6nent  nieroannes  und  sint  doch  guot. 
swer  niht  der  heiligen  schrift  geloubt, 
rechtes  gelouben  er  sich  beroubt. 
Kunst  jugent,  friunde,  ere  und  guot 
verleitent  maniges  menschen  muot, 
daz  er  der  werlde  bi  gestet 
und  ndch  fleischlichem  sinne  g^t'). 

Drei  schöne  Bilder  verbindet  der  formell  recht  unentwickelte 
Vi  6  rz  ei  1er  * 

Alters  fröude  und  4bentschin, 
mUgen  wol  gelich  ein  ander  sfn, 
Si  troestent  wol  und  varent  hin, 
als  in  einem  regen  ein  mttede  bin^). 

Noch  formloser  bleibt: 

Swem  guot,  ^re,  wip  oder  kint 
lieber  denne  got  üf  erden  sint, 
der  ist  an  zwifel  ein  tummer  man 
und  betet  hie  sin  abgöte  an^). 


>)  20365  ff.  2)  22570  ff.  ^)  21827  ff. 

*)  10362  ff.  Vergl.  23009  ff.  Roethe,  Reinmar  S.  281.  J.  Grimm, 
Kl.  Schriften  1,  205. 

5)  11865  ff.  14406  ff.  Vergl.  die  Erläuterungen  des  1.  Gebotes  des 
Dekalogs.  Nicht  als  Priamel  anzusprechen  w&ren  (Uhl,  Die  deutsche 
Priamel  S.  287  ff.)  548  ff.  3677  ff.  10017  ff.  11774  ff.  18800  ff.  19419  ff.  20359  ff. 


311 

Hugo  von  Trimberg  verschmilzt  Volkstümliches  und  mittel- 
alterliche Bildung  zu  einer  Individualität,  in  der  sich  ernste 
Bedlichkeit,  behagliche  Trockenheit  und  eindringlich-lehrhafte 
Pedanterie  mischen.  Die  meisten  seiner  Vierzeiler  ergehen  sich 
in  allgemeinem  Moralisieren,  viele  haben  geistlich-gelehrten  Inhalt^); 
der  ßest  ist  volkstümlich^).  Das  Alter  solcher  Motive  volks- 
tümlicher Dichtung  ist  chronologisch  kaum  zu  bestimmen.  Wenn 
bei  Hugo  (970  ff.)  zum  ersten  Mal  im  Priamel-Vierzeiler  Zusammen- 
gehöriges mit  ,ohne'  erscheint,  so  haben  wir  es  doch  schon  in 
Zaubersprüchen  kennen  gelernt,  und  die  ältesten  Bätsei  benutzen 
das  Motiv  wie  der  sogenannte  Seifried  Helbling.  Moralisch 
gewendet  wird  es  in  geistlicher  Literatur,  besonders  in  der  Predigt. 
In  dem  Gyprian  zugeschriebenen  Tractatus  de  duodecim  abusioni- 
bus  saeculi  (Patrologia  ed.  Migne  4,  947  ff.)  wird  im  6.  Kapitel 
der  dominus  sine  virtute  behandelt,  wie  im  ersten  bis  zwölften: 
sapiens  sine  bonis  operibus,  senex  sine  religione,  adolescens  sine 
obedientia,  dives  sine  eleemosyne,  femina  sine  pudicitia,  christianus 
contentiosus,  pauper  superbus,  rex  iniquus,  episcopus  negligens,  plebs 
sine  disciplina^  populus  sine  lege.  Jünger  sind  törichte  Streiche, 
die  Freidank  (85,  5)  und  Hugo  (6197)  in  übereinstimmender 
Priamefform  zusammenstellen;  die  Form  wird  wohl  erst  im 
12.  Jahrhundert  geprägt  sein.  Kaum  so  alt  dürfte  die  priamel- 
hafte  Form  der  Sprüche  von  Märzengrün  (12456)  und  von 
Herrengunst  (12474)  sein.  Die  Einzelheiten  dieses  Vierzeilers 
sind  der  verschiedensten  Herkunft.  Lateinische  Sprüche  des 
12.  Jahrhunderts  lauten: 

Ridenti  domino   nee  coelo  crede  sereno  oder diffide  poloque  sereeno, 

ex  facili  causa  dominus  mutatur  et  aura^). 


So  sind  die  Vers  548  f.  aufgezählten  Substantiva  Umschreibung  für  Alle: 
der  Dreizeiler  ist  nicht  epigrammatisch,  ohne  selbständigen  Inhalt  und  ohne 
selbständige  Form.  Es  liegt  auch,  wie  der  Zusammenhang  ergibt,  kein 
Dreizeiler  vor.  In  der  Übersetzung  des  bekannten  lateinischen  Satzes  ist 
(3677  ff.)  weder  Parallelismus  noch  Pointe  zu  ersehen.  19419  ff.  erscheinen 
gehäufte  Subjekte  und  Objekte.    U.  s.  w. 

»)  21112  ff.  20291  ff.  8717  ff.  18064  ff.  24128  ff.  22684  ff.  7348  ff. 
3)  970  ff.  6197  ff  12456  ff.  12474  ff.  22570  ff.    Satirisch  17082  ff.    Geist- 
lich 22684  ff. 

')  Mones  Anz.  7,  507.     Das  Alter   der  Kloster -Neaburger  Hs.   gibt 


322 

14.  Jahrhundert  kurze  gereimte  Sprüche^),  so  gab  es  schon  zu 
Anfang  des  1 5.  Jahrhunderts  deutsche  prosaische  Einzelsprüche  in 
Triaden  und  Quatrains.  Mone  hat  Proben  davon  aus  der  Inders- 
dorfer  Handschrift  196  veröffentlicht^).  Manche  dieser  Sprüche 
sind  priamelhaft  bearbeitet^;  andere  schwanken  wie  die  Sprüche 
der  Straßburger  Handschrift  zwischen  Vers  und  Prosa;  z.  B. 

Alter  an  witz, 

weishait  an  werch, 

hochfart  an  reichtum, 

reichtum  an  ere, 

adl  an  tugent, 

herrschafil  .an  dienst, 

volle  an  zucht, 

stat  an  gericht, 

gewalt  an  nutz, 

jugent  an  forcht, 

fraw  an  schäm, 

geistlich  leben  an  fried: 

diese  zwelf  stücklach, 

di  machen  in  der  werlt  vi!  ungemach^). 

Den  Niederschlag  von  Predigt  und  Traktatliteratur  geben  die 
zahllosen  Sprüche  der  deutschen  Mystiker  wieder^),  welche  zum 


*)  wie  (Bartsch,  Qnellenkimde  S.  268  ff.)  Sinnsprüche  der  Tagenden 
nnd  Laster. 

^)  Anzeiger  7,  500.  Germania  33,  170  f.  Lateinische  Vorlagen  za  ein- 
zelnen im  Facetus  bei  Saringar,  Van  Zeeden  S.  34  f. 

>)  Göttinger  Beiträge  2,  81.  No.  LXIX.  Mone  No.  5.  Pacetns  27. 
Rasch,  Nichts  wehrt  A  II,  4;  No.  LXX.  Germania  33,  170.  Rasch  B  I; 
No.  LXXm.  Facetas  29;  No.  XCIX.  Facetus  87  and  Saringar  S.  57. 
Mone  Nr.  5  entspricht  der  No.  5  des  Braoder  Thüring  in  den  Sprachen 
deatscher  Mystiker  (Germania  3,  239),  als  Qaelle  wird  die  Predigt  bezeichnet. 
Zam  Schwanken  zwischen  Vers  and  Prosa:  Geffcken,  Bildercatechismas, 
Beilagen  S.  1  a.  ö. 

^)  Indersdorfer Handschrift  196,  24.  Leipziger  Hs.  H.  134b:  1  Weisheit. 
6  lant.  9  genad.  12  orden.  13  Die  zwelf  stück.  Die  pringen  der 
werlt  groß  angelück.  Vgl.  Gedenkbach  des  Hans  von  Mengershausen 
in  Spiels  Archiv  1831,  2,  162.  No.  8.  Reimbachlein  2491  ff.  Weim.  Jahrb. 
3,  424.  Goedeke,  Gengenbach  S.  424.  Petri  VI,  J.  Herder  25,  599  and 
Redli ch  688.  In  FG  85  b,  2  darchgereimt.  Nd.  Jb.  7,  9.  No.  IL  ühl  S.  251  f. 
Wanderhom  2,  790.  Altdeatsches  Herz  and  Gemüth  S.  5.  Borchling, 
Reisebericht  2,  112. 

")  Preger,  Geschichte  der  deutschen  Mystik  2,  133  ff. 


323 


großen  Teil  aus  Aufzählungen  gewisser  Gnaden,  Sünden,  Tugen- 
den, guter  Werke  u.  s.  w.  bestehen  und  in  späteren  Triaden  und 
Quaternionen  benutzt  sind.  So  trifft  der  Improvisationsvierzeiler 
mit  Formen  gelehrter  Didaktik  zusammen.  Bald  stellt  sich  in- 
haltlich neben  die  weltliche  altvolksttimliche  Überlieferung  gegen 
Ausgang  des  Mittelalters  eine  immer  mehr  erstarkende  geistlich- 
theologische mit  der  Tendenz,  ebenfalls  volkstümlich  zu  werden. 
Volkstum  und  christliche  Bildung  sehen  wir  allmählich  mit  ein- 
ander verschmelzen.  Was  Preidank  und  Hugo  vonTrimberg 
aus  scholastischer  und  mystischer  Theologie  verarbeiteten,  ist  meist 
nicht  ins  Volk  gedrungen ;  das  war  auch  noch  nicht  möglich ;  erst 
mußten  sich  die  Bettelorden  und  andere  Verbreiter  einer  praktisch- 
mystischen Frömmigkeit  der  Bildung  des  Volkes  annehmen.  Das 
14.  und  15.  Jahrhundert  fand  bereits  ein  anderes  Publikum,  hatte 
aber  auch  eine  Theologie  gezeitigt,  die  über  die  ältere  Scholastik 
und  die  romanische  Mystik  hinaus  den  Weg  zu  Eopf  und  Herz 
des  deutschen  Bürgers  gewann. 

Wenig  volkstümlich  sind  meistens  die  Beste  eines  Büchleins, 
das  sich  ,sand  Augustinus  spruch^  nennt,  erhalten  in  der 
Handschrifb  Cgm.  351,  173a.  Bartsch  hat  sie  ins  ältere  Mittel- 
hochdeutsche übertragen^).  Sie  stellen  einen  ganzen  Cyclus  von 
meist  vierzeiligen  Sprüchen  dar,  in  denen  jedesmal  drei  Tugenden 
und  drei  Untugenden  abwechseln,  und  erinnern  an  die  französischen 
Quatrains  moraux:  mit  mancherlei  Unterschieden.  Die  Quatrains 
gehen  nie,  wie  diese  sogenannten  Sprüche  des  Augustinus,  über 
die  Vierzahl  hinaus;  im  Französischen  herrscht  überall  mehr 
Reflexion,  Begel  und  Formgefühl,  weniger  Volkstümlichkeit.  Die 
Quatrains  sind  meist  direkt  lehrhaft  oder  gelehrt,  waren  viel  ge- 
lesen, in  Schulen  eingeführt  und  die  von  Pibrac,  Favre  und 
Matthieu  bis  ins  17.  Jahrhundert  im  Gebrauch^).  Man  ver- 
schmäht sichtlich  den  primitiven  Parallelismus  des  Priamels  zu 
gunsten  feinerer  syntaktischer  Mittel.  Ein  paar  Beispiele  mögen 
das  veranschaulichen. 


^)  In  der  Einleitung  zu  den  Meistcrliedern    der  Kolmarer  Handschrift 
S.  125  ff. 

^  Altdeutsche  Blätter  1, 267. 

21* 


314 

Gebilde,  die  etwas  zwitterhaftes  und  unbefriedigendes  haben. 
Selbst  bei  Hugo  von  Trimberg  sind  die  echt  volkstümlichen 
Exemplare  in  der  Minderzahl,  aber  gerade  diese  haben  ihre 
Lebenskraft  auf  viele  Jahrhunderte  hinaus  bewahrt. 

Die  Form  hat  etwas  Konstantes,  wie  alle  Volkspoesie,  und 
vereinigt  den  Charakter  einer  primitiven  Improvisation  mit  der 
Bestimmtheit  und  Stabilität  des  reifen  Alters  ^).  Die  Entwicklung, 
die  der  Vierzeiler  durch  die  Literatur  erfahrt,  konnte  allerdings 
seinen  Inhalt  unendlich  erweitern  und  vertiefen,  an  seine  lyrische 
Vorform  anknüpfend  das  Moment  der  Stimmung  mehr  zur  Geltung 
bringen,  aber  der  festgefügten  bereits  fertigen  Form,  abgesehen 
von  stilistischer  Verfeinerung  und  größerer  syntaktischer  Regel- 
mäßigkeit eigentlich  nichts  Wertvolles  hinzufügen.  Zauberformel, 
Segen,  Wunsch,  Gruß,  Rätsel,  Kinder  -und  Volksreim  bedienen 
sich  der  ungemein  bequemen  Form,  ohne  daß  der  Inhalt  mit  ihr 
stets  zu  einer  in  höherem  Grade  charakteristischen  Einheit  ver- 
schmilzt; ebensowenig  kann  die  mehr  oder  weniger  individuelle 
Verwendung  bei  höfischen  und  gelehrten  Dichtern  die  Grundlage 
für  Ausbildung  des  Priamelvierzeilers  als  specifischer  literarischer 
Gattung  schaffen.  Was  aber  in  dieser  Form  echt  volksmäßig- 
epigrammatischen  Inhalt  bietet,  das  hat  sich  auf  die  Folgezeit 
gerettet;  man  hatte  diesen  kleinen  glücklichen  und  vollendeten 
Gebilden  nachdenklicher  oder  heiterer  Volksphilosophie  eben  nichts 
hinzuzufügen. 

Sammelwerke  wie  Freidanks  Bescheidenheit  und  Hugos  Benner 
sind  im  14.  und  15.  Jahrhundert  nicht  mehr  unternommen,  und 
das  ist  der  Grund,  weshalb  die  Produktion  jetzt  zunächst  bei 
oberflächlicher  Betrachtung  weniger  reichlich  zu  werden  scheint. 
In  Wirklichkeit  ist  es  umgekehrt.  „Sowie  im  Laufe  des  14.  Jahr- 
hunderts die  mittelalterlichen  Dichtungskreise  sich  ausleben,  rührt 
sich  in  den  poetischen  Leistungen  der  Zeit  wieder  die  un verlorene 
Volksart.  Es  schlägt  der  Ton  durch,  es  entbindet  sich  der  Geist, 
darin  die  geschiedenen  Stände  sich  als  Volk  zusammenfinden  und 
verstehen^)."  „Now  for  the  first  lime  since  tho  decay  of  classic 
literature,  people  at  large  began  to  give  way  to  emotional  intro- 


')  Comparetti,  Der  Ealewala  S.  33. 
^3)  Uhland,  Schriften  3,  4. 


315 

spection;  now  for  the  first  time  they  dared  to  throw  oflf  the 
disguises  of  rank  and  Station  and  lay  bare  the  human  heart  which 
is  hidden  ander  it  all.  —  It  Is  as  though  the  cireulation  of  the 
national  body  had  been  qulckened  and  its  sensibilities  heightened, 
as  though  people  were  seeing  with  keener  eyes  and  listening  with 
more  receptive  ears,  as  they  were  gathering  the  thousandfold 
impressions  of  the  inner  and  outer  world^)." 

Vorderhand  wandelt  Süddeutschland  in  den  alten  Bahnen 
fort,  man  improvisiert  unermüdlich  über  die  einmal  angeschlagenen 
Motive.  Die  sogenannten  unechten  Freidankverse  leiten  zunächst 
vom  13.  Jahrhundert  ins  14.  hinüber. 

Kaiser  mit  demuot, 
und  ritter  mit  guot, 
und  langen  man  wisen: 
der  lob  sol  man  prisen^). 

Freidank,  dem  dieser  Spruch  nachgebildet  ist  (85,  19), 
klagte  noch  nicht  über  die  verarmten  Bitter.  Von  W.  Grimm 
aus  mittelniederdeutscher  später  Vorlage  rekonstruiert  ist  folgen- 
der Vierzeiler: 

Alter  pfaffen  kuonbeit, 

junger  nunnen  staetekeit 
und  ohsen  zelten: 
wirt  gelobet  selten  3). 

Aus  dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts  stammt  der  bayerische 
Freidank-Vierzeiler: 

Swer  über  haupt  vicht, 
und  in  dem  wazzer  drischt, 
und  welibt  auf  den  regenbogen: 
der  wirt  vil  dicke  betrogen*). 

Die  sorglose  metrische  Form  und  die  sprichwörtlichen  Wen- 
dungen sichern  diesen  Versen  wie  den  folgenden  den  volksmäßigen 
Ursprung: 

0  Knno  Francke,  Social  forces  in  German  Literature.  New- York 
1896.    S.  105.  118. 

*)  Liedersaal  Nr.  253,  43.  Auch  in  der  Hs.  des  Liedersaales  sind 
die  Vierzeiler  lose  in  größere  Sprachreihen  eingefügt. 

^)  a.  a.  0.  34.    Die  mittelniederdeutsche  Fassung  oben  S.  287. 

*)  Pfeiffer,  Freie  Forschung  S.  233.  Vers  3  ,und  derS  Grimm 
S.  84.    Oatalogus  XXI,  2,  19.    Zingerle  S.  n9f. 


316 

Ez  sint  drtt  dinc  alleine 
aller  manne  gemeine: 
pfaffen  wip  und  spiler  win, 
begozzen  brot  magz  dritte  sin*). 

Eine  vielleicht  ältere  rohe  Fassung  mit  bloßer  Assonanz 
wahrt  die  synthetische  Form^). 

In  der  Handschrift  des  Liedersaales  ist  mit  Benutzung  zweier 
Freidankyerse  (41,  6)  der  Vierzeiler  gebildet: 

Wer  gern  verlüset  und  gern  hilt, 
und  gern  fint  und  gern  stilt: 
wil  man  nennen  den  nach  recht, 
so  haist  er  ein  böser  knecht^). 

Dieselbe  Handschrift  bietet  noch  folgenden  Priamel Vierzeiler: 

Ein  katz  und  ain  muz, 
zwen  han  in  aim  huz, 
ain  alt  man  und  ain  jung  wib: 
belibent  selten  an  kib^). 

Hier  sind  zwei  verschiedene  Fassungen  kontaminiert;  die 
eine  kontrastiert  einfach  Gegensätze,  die  zweite  stellt  jedesmal 
zwei  Bivalen  einander  gegenüber.  Diese  ist  rein  erhalten  in  dem 
picardischen  Froverbe,  in  nl.  und  englischer  Überlieferung;  jener 
folgt  auch  der  Vierzeiler  der  Hulthemschen  Handschrift: 

Daar  twe  hanen  sijn  in  een  huus, 
Ende  een  catte  ende  een  muus, 
Ende  een  oudtmann  ende  een  ionc  wijf: 
Dat  huus  steet  seiden  sonder  kijf*). 

*)  Mones,  Anz.  4,  58.  W.  Grimm,  Kleinere  Schriften  4,  33.  Bezzen- 
bergerl09,  13a.    Renner  17536  ff. 

')  Diutisca  1,  325.    Assonanz  im  Schnaderhüpfel :  Grasberger  S.  34. 

^)  Grimm  S.  218.  Die  Verbesserung  ,nennen*  statt  ,nemen'  hat 
Grimm  vorgeschlagen.     Ich  habe   die  Stelle   im  Liedersaal  nicht  gefunden. 

*)  LS.  197,  11.  Göttinger  Beiträge  2,  52f.,  Nr.  13,  14.  Freidank 
138,13.  LS.  236,  71.  Vintler  8954  ff.  Ord-Bog  S.  180.  Zingerle 
S.  74,  169.  Zum  Motiv  Kpu7rc<3t8ia  4,  121.  Nr.  206  und  der  picardische  Spruch 
des  13.  Jahrhunderts  S.  76.  Reimbüchlein  2222  f.,  2438  ff.  Gundlach 
Nr.  758.  Wegen  er  S.  231.  Nr.  789.  Nur  modernisiert  und  verballhornt 
ist  der  Spruch  in  F  86  b,  Sp.  2:  „Ein  kacz  vnd  racz  vnd  ein  maus  Vnd 
zwen  bannen  jn  eym  haws  Ein  jung  weip  vnd  ein  alter  man  Dj  sehen  selten 
gutlich  an  einander  an.'' 

^)  Belgisch  Museum  1,  112.    Ahnlich  Meijer,  Oude  nl.  spreuken  S.  108* 


317 


Nabe  stehen  sich  andrerseits  die  Glasschrift: 

Twee  katten  aan  een  muus, 
Twee  vrouwen  in  een  huis, 
Twee  honden  aan  een  been: 
Komen  zelden  over  een  *). 

und  der  englische  Vierzeiler: 

Two  cats  and  a  Mouse, 
Two  Wives  in  one  House, 
Two  Dogs  and  a  Bone: 
Never  agree  in  one^). 

Een  Moeder    te  Sevenhoven,    vragde   haar  Son,   welke   die   strydige    dingen 
waren,  die  nooit  konsten  gepaart  worden:   daar  hy  op  antwoorde. 

Twee  Wolven,  by  een  Schaap, 
Twee  Geuzen,  by  een  Paap, 
Twee  Snyers,  by  een  Luis, 
Tween  Katten,  by  een  Muis^). 

Verblaßt,   fast  blind  geworden,   scheint  das  Motiv  in  einem 
Lübecker  Vers: 

Eija  Bruramsuse: 

Twee  Wegen  in  enen  Huse, 

En  uppe  Deel  un  en  upn  Böhn, 

En  lütt  Dochter  un  en  lütt  Söhn, 

Wenn  de  beden  Umrocr  gnnrrn: 

Da  kann  man  woll  wunnerlich  warden^). 

und  im  Schnaderhüpfel : 

Zwa  Berg  und  zwa  Tal, 

Und  zwa  Räpplan  in  Stall, 

Und  zwa  Buebn  af  a  Diendle: 

War  z'  viel  af  amal^). 

Zwa  Köpf  und  oan  Sinn, 
Zwa  Herzl,  a  Freud, 
Zwa  Biabl  treu  liabn: 
Lauta  Unmöglichkeit^). 


»)  Opschriften  3,  44. 

^)  Xanthippus  S.  155  des  Separatabdrucks. 

»;  Opschriften  2,  39. 

*)  Schumann,  Nachtrag  S.  189.    Nr.  39b. 

*)  Pogatschnigg  und  Herrmann  1^  141.    Nr.  696. 

6)  Ebenda  1^,  144.    Nr.  712, 


318 

Zwoa  kohlschwarz!  Schuachla, 
Zwoa  schneeweiß!  Strumpf, 
I  Zwoa  Ring  af  oan  Finga: 

Is  a  sakrisches  Ding^). 

A  sölts  BUabl  liabn, 

Dös  ba  zwoa  Diandln  leidt: 

Das  is  just  wias  Messa, 

Das  af  boad  Seitn  schneidt^). 

Vielleicht  lehnt  sich  an  die  Bescheidenheit  (49,  9)  ein  noch 
heute  aus  der  £ifel  bezeugter  Spruch  der  Straßburger  Hand- 
schrift vom  Jahre  1384: 

Müsige  hant, 

und  schönes  gewant» 

und  liht  gewunnen  guot: 

Die  drü  dinge  die  machent  grosen  übermuot^). 

Schmitz  gab  den  Vers  als  Sprichwort  des  Eifler  Volkes  so 
wieder: 

Mächtige  Hand, 

schönes  Gewand 

und  leicht  gewonnen  Gut  — 

machen  großen  Übermut^). 

Erst  aus  dem  15.  Jahrhundert  ist  als  Freidankvers  über- 
liefert: 

Vil  gegerd  und  nicht  gevangen, 

vil  gehört  und  nicht  verstanden, 
vil  gesait  und  nicht  gemerkcht: 
das  sint  alles  verloren  werich^). 

Wenig  weicht  eine  mnl.  Fassung  desselben  Jahrhunderts 
ab,  wahrscheinlich  zu  Brügge  aufgeschrieben: 


«)  Werle  S.  33. 
3)  Werle  S.  158. 

3)  Diutisca  1,   326.     Normalisierte  Lautgebung   in  Wackernagels 
Lesebuch  l^  1168. 

*)  Sitten  und  Bräuche  u.  s.  w.  1,  185.    Nr.  42. 

^)  Grimm  4,  28.     Cato  51:    ,swer  liset  des   er  niht  verstät,   wie  gar 
'    er    sich  yersümet   hat.'    Mehr  Temperament   zeigen   mnd.    und   romanische 
Spruche  derart.    Beimbüchlein  1820.    Archiv  für  neuere  Sprachen  43,  69. 


319 

Vele  ghejaget  ende  niet  ghevanghen, 
Vele  ghehoort  ende  niet  verstanden, 
Vele  ghesien  ende  niet  te  merken: 
Dat  zijn  alle  verlooren  werken  0. 

Von  späteren  Fassungen  sei  zur  Erläuterung  erwähnt: 

Vill  gejagt  und  nihts  gefangen, 
vill   gelessen  und  nihts  verstandten, 
vill  gehörtt  und  nihts  gemörckht: 
das  sein  3  verlohren  werckh^). 

Glas -Schrift. 

Wagten  en  niet  te  komen. 

Sonder  slapen  in't  bed  te  dromen, 

Dienen  en  noit  van  pas  te  maken: 

Zyn  drie  dingen  om  om  den  hals  te  raken^). 

Herder  brachte  diesen  Vierzeiler  in  folgender  Form  wieder 
in  Kurs:  ^  1     •     .  r 

Viel  gejaget,  wenig  gefangen, 
Viel  gehört,  wenig  verstanden, 
Viel  gesehn,  nichts  gemerkt; 
Sind  drei  vergebliche  Werk*). 

Das  Kontrast-Motiv  dieses  Pseudo-Freidankspruches   benutzt 
der  Vierzeiler: 

Lieb  [han  und  nüt]  sehen, 

fUr  gon  und  nUt  jehen, 

ist  das  fUr  druren  guot: 

so  git  es  mir  mengen  hoen  muot^). 


^)  Priebsch,  Deutsche  Handschriften  in  England  1,  175. 

')  Aus  dem  Reimbüchlein  des  Klosters  Mülln  bei  Salzburg.  Seufferts 
Yierteljahrsschrift  6,  446.  Wenn  auch  die  Niederschrift  dem  17.  Jahrhundert 
angehört,  sind  die  Bestandteile  doch  zum  Teil  viel  älter. 

^  Opschriften  1,  8. 

*)  Suphan  25,  519.  Nr.  7. 

')  Mones  Anz.  3,  291.  Es  folgt  der  Zusatz:  ich  verswig  und  lid 
und  vertrag,  biß  es  besser  werden  mag.  Hoffmann,  Findlinge 
S.  460.  Nr.  209.    Liedersaal  184,  3—6. 

Sitzen  und  gedenken, 

Ligen  auf  hörten  benken, 

Ist  das  für  truren  guot: 

So  bän  ich  oft  ein  guoten  muot. 

Cgm.  270,  220a.    Mones  Anz.  7,  500  ff.  No.  17. 
Beimbüchlein  795  ff.  Vgl  1269  ff.  2214  f. 


320 

Selbst  späte  Mystik  knüpft  beliebte   Sprüche  an  Freidanks 

Namen : 

Wiltu  sin  mit  ruowen  und  gemach: 

red  lützel,  verantwurt  nit  all  sach, 

vergib,  übersieh  und  gib  dinen  obren  vor, 

wo  bös  gesellschaft  si,  da  hüt  dich  vor^). 

Schon  im  13.  Jahrhundert  war  doktrinärer,  biblischer  und 
theologischer  Inhalt  reichlich  in  die  Form  der  Vierzeiler  einge- 
drungen, nnd  Hugo  von  Trimberg  berief  sich  neben  älteren 
Autoren  gern  auf  den  heiligen  Bernhard  und  den  vielgepriesenen 
Hugo  von  St.  Victor.  Begelmäßig  kennzeichneten  sich  solche 
Priamelvierzeiler  durch  geordnete  Aufzählung  und  Einteilung. 
Orientalische  Dichtung,  Bibel,  Predigt,  Traktate^),  Kirchenväter- 
und  Mystiker-Anthologien  liebten  Aufzählungen  oder  konnten  aus 
praktischen  Zwecken  der  Disposition  nicht  entraten.  Mit  der 
Ausbreitung  und  Vertiefung  der  religiös  -  volkstümlichen  Bildung 
machte  sich  das  Bedürfnis  nach  praktischen  Kompendien  geltend, 
und  so  entstanden  Zusammenstellungen,  wie  sie  die  Handschrift 
Cgm.  523,  208b  ff.  aufbewahrt  hat:  ,Das  ist  die  tauel  Erysten- 
licher  weißhayt'  %  In  der  Abschrift  1439  beendet  (Blatt  237b), 
behandelt  diese  Tafel  die  oberen  und  unteren  Kräfte  der  Seele, 
die  sieben  Todsünden,  die  zehn  Qebote,  die  sogenannten  evange- 

*)  Aus  dem  ,Betbüchlein  der  ewigen  Weisheit'  Mones  Anzeiger  3,  374. 
BezzenbergerS.  243.  Priebsch,  Deutsche  Handschriften  in  England  2, 148. 
Ebenso,  nur  etwas  verdorben  im  Keisebüchlein  von  1583,  Anhang.  Meier, 
Schwäbische  Volkslieder  S.  267.    Zu  2:  Vintler  8642;  zu  3:  Vintler  5516  f. 

3)  Vergleiche  den  oben  erwähnten,  dem  h.  Cjprian  und  Augustinus 
zugeschriebenen  Tractatus  de  duodecim  abusionibus  saeculi  und  von  späteren 
z.  B.  Seuse  S.  50.  58.  47.  52  ff.  u.  s.  w.  oder  Ingolds  Goldenes  Spiel  S.  XXIX. 
2,  1.  29.  3,  19.  5,  23.  9,  25.  10,  23.  15,  32.  19, 14  u.  s.  w. 

^)  Vgl.  von  Heinemann,  Handschriften  der  Herzoglichen  Bibliothek 
zu  Wolfenbüttel  II  4,  98  ff.  86.  3.  Aug.  fol.  2903.  und  11  4,  86  ff.  85.  Aug. 
fol.  2882.  Im  allgemeinen:  Geffcken,  Der  Bildercatechismus  des  15.  Jhs.  I. 
Leipzig  1855.  Zeitschrift  für  katholische  Theologie  28,  1  ff.  Zum  Titel 
,Tafel':  Der  Inhalt  des  Opusculum  tripartitum,  bestimmt  Johann  Gerson, 
solle  auf  Tafeln  geschrieben  und  in  Pfarrkirchen,  Schulen  und  geistlichen 
Stätten  angeheftet  werden.  Geffcken  S.  36.  Beilagen  S.  36.  Weber,  Die 
Bamberger  Beichtbücher  aus  der  ersten  Hälfte  des  15.  Jhs.  mit  einem  An- 
hange über  die  Bamberger  Pönitentialbücher.  Kempten  1885.  Bihtebuoch 
dabey  die  bezeichenunge  der  heil,  messe.  Beichtbuch  aus  dem  14.  Jh.  mit 
Glossen,  herausgegeben  von  Oberlin.    Straßurg  1784. 


S21 

tiscixexi  ftätd,  s^wölf  Früchte  des  heiligen  Öeistes;  desscm  sieblBfL 
Gaben,  die  Sünden  geg^n  den  heiligen  Geist,  die^  sieben  christlichen 
Tugenden,  die  sieben  Werke  der  leibli<;hen  Barmherzigkeit,  sieben 
;Werk  der  heilichen  parmherzigkait',  die  acht  Seligkeiten,  die  neun 
fremden  Sünden,  sechs  Arten  der  Nachrede  (,in  sechszerlay  weisz 
geschieht  nachrede^),  gibt  praktische  Anweisungen  und  Sprüche,  z.  B. 
,Die  machent  krieg  in  der  werlt  und  hader:  Schöne  weyber,  Ere 
und  ampte,  Gotzgab  und  pfrünt,  Guot  und  wilder  muot,  Üppigkeit, 
spot,  zorn,  neyd  und  haß'  (Blatt  211  bj.  Dann  folgen  Anweisungen: 
wie  erkennt  man  den  Geizigen,  Unkeuschen,  eine  fromme  Magd, 
einen  frommen  Knecht,  einen  frommen  Hauswirt,  eine  fromme 
Ehefrau,  den  rechten  Richter,  den  guten  Ratsherrn,  den  frommen 
Ritter,  den  weisen  Mann  u.  s.  w.,  oder  was  ist  der  Nutzen  des 
wohlverdienten  Ablasses,  wie  gibt  man  recht  Almosen,  welches 
sind  die  Schäden  des  Spiels,  des  Wuchers.  Man  sieht  also,  es 
gab  Katechismen  religiös -praktischer  Lebensweisheit,  und  wer 
einen  Vierzeiler  zusammenstoppeln  wollte,  brauchte  nicht  eben 
weit  zu  gehen,  um  Stoff  und  Form  zu  haben.  Eine  unerschöpf- 
liche halb  geistliche,  halb  populäre  Literatur  von  Traktaten, 
Sprüchen  und  Kompendien  war  aufgeschossen.  Die  Handschrift 
der  Tafel  der  christlichen  Weisheit  enthält  auch  volkstümliche 
Didaktik,  Freidank- ^)  und  Rennerverse,  nebst  eigenen  Zutaten: 
das  Werk  des  sogenannten  Bernhard  Freidank.  Unter  der 
Überschrift  Jeremias  steht  der  mystische  Spruch: 

Biß  gern  allain. 
Und  halt  dein  gedenk  rain, 
Hab  vor  äugen  gottes  gepotl: 
Über  all  ding  so  minne  got^). 

Mit  den  abenteuerlichsten  Verfassernamen  wird  geprunkt: 
Johel,  David,  Amon,  Bapplas,  Demetrius,  Damascenus,  Zephela, 
Demesund,  Averoes,  Albunosor,  Mesahel  stehen  neben  den  üblichen 
Augustinus,  Paulus,  Kato,  Freidank  und  vielen  andern  ^).   Liebte  das 


*)  F  r  e  i  d  a  n  k  40,  5  wird  S  e  n  e  c  a  beigelegt.   Pfeiffer,  Freie  Forschung 
S.  239  ff. 

9)  Blatt  132a.   Pfeiffer  Nr.  68.    (Ord-Bog  S.  297.) 

^)  Vgl.  Schönbach,   Studien  zur  Erzählungsliteratur  des  Mittelalters 
2,  27. 

Enling,  Priamel  21 


822 

14.  Jahrhundert  kurze  gereimte  Sprüche^),  so  gab  es  schon  zu 
Anfang  des  1 5.  Jahrhunderts  deutsche  prosaische  Einzelsprüche  in 
Triaden  und  Quatrains.  Mone  hat  Proben  davon  aus  der  Inders* 
dorfer  Handschrift  196  veröffentlicht^).  Manche  dieser  Sprüche 
sind  priamelhaft  bearbeitet');  andere  schwanken  wie  die  iSprüche 
der  Straßburger  Handschrift  zwischen  Vers  und  Prosa;  z.  B. 

Alter  an  witz, 

weishait  an  werch, 

hochfart  an  reichtum, 

reichtum  an  ere, 

adl  an  tugent, 

herrschafit  »an  dienst, 

Volk  an  zucht, 

stat  an  gericht, 

gewalt  an  nutz, 

jugent  an  forcht, 

fraw  an  schäm, 

geistlich  leben  an  fried: 

diese  zwelf  stttcklach, 

di  machen  in  der  werlt  vil  ungemach^). 

Den  Niederschlag  von  Predigt  und  Traktatliteratur  geben  die 
zahllosen  Sprüche  der  deutschen  Mystiker  wieder^),  welche  zum 


*)  wie  (Bartsch,  Quellenkimde  S.  268  ff.)  Sinnsprüche  der  Tagenden 
und  Laster. 

^)  Anzeiger  7,  500.  Germania  33,  170  f.  Lateinische  Yorlagen  zu  ein- 
zelnen im  Facetus  bei  Suringar,  Van  Zeeden  S.  34  f. 

8)  Göttinger  Beiträge  2,  81.  No.  LXIX.  Mone  No.  5.  Facetns  27. 
Rasch,  Nichts  wehrt  A  II,  4;  No.  LXX.  Germania  33,  170.  Rasch  B  I; 
No.  LXXTTL  Facetus  29;  No.  XCIX.  Facetus  87  und  Suringar  S.  57. 
Mone  Nr.  5  entspricht  der  No.  5  des  Bruoder  Thnring  in  den  Sprüchen 
deutscher  Mystiker  (Germania  3,  239),  als  Quelle  wird  die  Predigt  bezeichnet. 
Zum  Schwanken  zwischen  Yers  und  Prosa:  Geffcken,  Bildercatechismus, 
Beilagen  S.  1  u.  ö. 

^)  Indersdorf  er  Handschrift  196,  24.  Leipziger  Hs.  H.  134b:  1  Weisheit. 
6  laut.  9  genad.  12  orden.  13  Die  zwelf  stück.  Die  pringen  der 
werlt  groß  ungelück.  Vgl.  Gedenkbuch  des  Hans  von  Mengershausen 
in  Spiels  Archiv  1831,  2,  162.  No.  8.  Reimbüchlein  2491  ff.  Weim.  Jahrb. 
3,  424.  Goedeke,  Gengenbach  S.  424.  Petri  VI,  J.  Herder  25,  599  und 
Redlich  688.  In  FG  85  b,  2  durchgereimt.  Nd.  Jb.  7,  9.  No.  H.  ühl  S.  251  f. 
Wunderhom  2,  790.  Altdeutsches  Herz  und  Gemüth  S.  5.  Borchling, 
Reisebericht  2,  112. 

^)  Preger,  Geschichte  der  deutschen  Mystik  2,  133  ff. 


323 

großen  Teil  aus  ÄufzähluDgen  gewisser  Gnaden,  Sünden,  Tagen- 
den, guter  Werke  u.  s.  w.  bestehen  und  in  späteren  Triaden  und 
Quaternionen  benutzt  sind.  So  trifft  der  Improvisationsvierzeiler 
mit  Formen  gelehrter  Didaktik  zusammen.  Bald  stellt  sich  in- 
haltlich neben  die  weltliche  altvolkstümliche  Überlieferung  gegen 
Ausgang  des  Mittelalters  eine  immer  mehr  erstarkende  geistlich- 
theologische mit  der  Tendenz,  ebenfalls  volkstümlich  zu  werden. 
Volkstum  und  christliche  Bildung  sehen  wir  allmählich  mit  ein- 
ander verschmelzen.  Was  Freidank  und  Hugo  von  Trimberg 
aus  scholastischer  und  mystischer  Theologie  verarbeiteten,  ist  meist 
nicht  ins  Volk  gedrungen ;  das  war  auch  noch  nicht  möglich ;  erst 
maßten  sich  die  Bettelorden  und  andere  Verbreiter  einer  praktisch- 
mystischen Frömmigkeit  der  Bildung  des  Volkes  annehmen.  Das 
14.  und  15.  Jahrhundert  fand  bereits  ein  anderes  Publikum,  hatte 
aber  auch  eine  Theologie  gezeitigt,  die  über  die  ältere  Scholastik 
und  die  romanische  Mystik  hinaus  den  Weg  zu  Kopf  und  Herz 
des  deutschen  Bürgers  gewann. 

Wenig  volkstümlich  sind  meistens  die  Beste  eines  Büchleins, 
das  sich  ,sand  Augustinus  spruch^  nennt,  erhalten  in  der 
Handschrift  Ggm.  351,  173a.  Bartsch  hat  sie  ins  ältere  Mittel- 
hochdeutsche übertragen^).  Sie  stellen  einen  ganzen  Gyclus  von 
meist  vierzeiligen  Sprüchen  dar,  in  denen  jedesmal  drei  Tugenden 
und  drei  Untugenden  abwechseln,  und  erinnern  an  die  französischen 
Quatrains  moraux:  mit  mancherlei  Unterschieden.  Die  Quatrains 
gehen  nie,  wie  diese  sogenannten  Sprüche  des  Augustinus,  über 
die  Vierzahl  hinaus;  im  Französischen  herrscht  überall  mehr 
Reflexion,  Begel  und  Formgefühl,  weniger  Volkstümlichkeit.  Die 
Quatrains  sind  meist  direkt  lehrhaft  oder  gelehrt,  waren  viel  ge- 
lesen, in  Schulen  eingeführt  und  die  von  Pibrac,  Favre  und 
Matthieu  bis  ins  17.  Jahrhundert  im  Oebrauch^).  Man  ver- 
schmäht sichtlich  den  primitiven  Parallelismus  des  Priamels  zu 
gunsten  feinerer  syntaktischer  Mittel.  Ein  paar  Beispiele  mögen 
das  veranschaulichen. 


^)  In  der  Einleitung  zu  den  Meisterliedem    der  Kolmarer  Handschrift 
S.  125  ff. 

3)  Altdeutsche  Blätter  1, 267. 

21  ♦ 


324 

Si  tu  le  sens  de  ce  monde  savoyes, 
Ou  temps  present  et  point  d'argent  n'avoyes, 
Et  tu  feüsses  aussi  bon  com  saint  Pol, 
Si  tu  n'as  riens:    on  te  tendra  pour  foP). 


Dagegen: 


Wer  ich  geporn  von  Judas  art, 

Und  wer  der  pöst,  der  je  wart, 

Und  wer  mein  muoter  ain  huor  und  main  vater  ain  dieb: 

Ich  hett  gelt,  ich  wer  danest  lieb  '). 

Hours,  lyon,  chat,  singe  et  chien, 
Les  V  bestes  aprenion  bien; 
Mais  on  ne  puet  par  nul  engien 
Mauvaise  femme  aprenre  bien'). 

Auch  BeimküDste,  noch  so   bescheidener  Art^)   verschmäht 
gegenüber  den  Qnatrains  unser  deutscher  Vierzeiler,  z.  B. 

Enfant  qui  veult  estre  courtoys. 
Et  ä  toutes  gens  agreable, 
Et  principalement  a  table, 
Garde  ces  regles  en  fran^oys. 

Das  Buch  der  Sprüche  S.  Augustins  beginnt: 

Augustinus    spricht  also,    das  got  an  dem  menschen   nicht  so  vil  gevellet 

als  drei  tugent: 

das  erste  cheusch  in  der  jugent, 

das  ander  genügsame  mässichait, 

das  drit  gedult  in  widerwertichait^}. 


»)  Altd.  Blätter  1,  276. 

^)  Göttinger  Beiträge  2,  18.  ümkehrong  Florilegium  Gottingense 
No.  116. 

3)  Altd.  Blätter  a.  a.  0.    Liber  Ecclesiastici  25,  23. 

*)  Altdeutsche  Blätter  1,  266.    Contenance  de  table. 

^)  Angesichts  der  Tatsache,  daß  die  Sprache  der  Erbauungsschriften) 
wie  wir  oben  sahen,  und  mystische  Literatur  zwischen  Prosa  und  Vers  hin 
und  herschweben  (BemydeGourmont,  Le  Latin  mystique.  Paris  1892. 
S.  325  ff.  hat  das  für  die  Imitatio  Christi  gezeigt),  halte  ich  die  radikale 
Textkritik  Bartschs  nicht  für  gerechtfertigt.  Manche  Kapitel  De  con- 
temptu  mundi  von  Linocenz  m.  sind  teilweise  durchgereimt;  z.  B.  1,  11. 
1,  14.  Ebensowenig  konnte  ich,  wie  Panzer  in  der  Zs.  f.  d.  Phil.  34,  75 ff. 
wieder  verlangt,  aus  Reimen  und  Formeln  einer  Prosalegende  nur  auf  ein 
Gedicht  als  Quelle  Kisteners  schließen. 


825 

Drei  untugent. 

An  drein  sUnden  leit  Schadens  vil: 
der  uncheusche  im  alter  pflegen  wil, 
der  reich  ist  an  guet, 
und  hochvart  in  armuet^). 

Jetzt  folgen  ein  Zebnzeiler  und  ein  Ächtzeiler;  alsdann: 

Drei  tugent. 

Swer  in  glUcke  fUrhtet  got  (midet  spot?) 
und  gedingen  hdt  in  got, 
und  willic  lidet  gotes  zuht  — 
di  dri  habent  gr6ze  vernuft. 

So    lautet   der   kritische  Text  bei  Bartsch;  in  der  Hand- 

Schrift  stfiht  * 

Wer  in  gelUck  furchtet  got, 

und  gedingen  hat  in  got, 

und  willichleich  leidet  gotes  sucht: 

die  drei  habent  grosse  vernufft. 

In  diesem  Falle  läßt  sich  Bartschs  Herstellung  aus  drei 
Wiener  Handschriften  (3026,  10^  3650,  1»;  4117,  48»)  kon- 
trollieren und  als  mißlungen  erweisen.  Da  lautet  der  Vierzeiler 
in  völliger  Übereinstimmung  der  Handschriften: 

Wer  in  gelttck  fürchtet  got, 
Und  hoft  zu  im  in  aller  not, 
Und  willikleich  leidet  gotes  zucht: 
Die  dreu  pringent  grosse  frucht. 

Diesem  wohlgefügten  Text  gegenüber  erkennt  man  in  Vers  2 
der  einen  von  Bartsch  benutzten  Handschrift  nur  Verderbnis. 
Ferner  macht  es  das  Vorkommen  dieses  einzelnen  Vierzeilers 
außerhalb  der  ,Sprüche  Augustins'  wahrscheinlich,  daß  diese  erst 
später  aus  mündlicher  verdorbener  Oberlieferung  zusammengestellt 
sind.  Dann  wäre  also  das  Büchlein  nicht  Quelle  unseres  Priamel- 
Vierzeilers.  x^        ..      . 

Drei  untugent. 

Wer  in  ungelUck  zagleich  tuet, 
von  chlainen  tugenden  hat  Ubermuet, 
und  über  sein  übel  frävel  treit: 
die  dreu  sint  gote  harte  leit^). 


0  Benutzt  ist  hier  wie  sp&ter,  wo  sie  zu  billigen  war,  Bartschs  Her- 
stellnng.    Ecclesiast.  25,  3. 

^)  Yen  Bartsch  sehr  verbessert. 


326 

Drei  tugent 

In  eren  diemuetichait, 

in  annuet  guetlich  miltichait, 

in  verstantnUss  geistliche  ainvaltichait : 

an  den  drein  leit  grosse  werdichait. 

Drei  untugent. 

Verpargen  schätz,  verpargneu  chunst, 
die  sind  unwirdig  aller  gunst^}, 
und  in  reichtung  unparmherzichait : 
die  dreu  sint  got  hart  laid. 

Drei  tugent. 

Der  in  grosser  tugent  sich  selber  versmächt, 
und  gotes  gab  mit  dank  empfecht 
und  guetes  fUrsatz  stätes  phligt: 
mit  (den  drein  ^)  tugenten  er  sigt. 

Es  folgen  zwei  Sechszeiler  und  als  Schloß  der  zerstörten 
Sprachsammlung : 

Drei  untugent. 

Wer  versmächt  gueten  rat, 
und  sein  torhait^)  für  sinne  (hat) 
wer  sich  frewet,  so  er  übel  tuet: 
diese  dreu  sint  niemant  guet. 

Drei  tugent. 

In  der  jugent  gevölgichait, 

in  dem  alter  rat  und  verständichait, 

in  allen  dingen  mas  und  beschaidenhait : 

die  dreu  pringent  grosse  wirdichait. 

Nur  einer  von  diesen  Vierzeilern  hat  größere  Verbreitung  ge- 
funden; die  andern  verdienten  es  auch  kaum,  sind  sie  doch  ziem- 
lich mühselig  zusammengezimmert,  ohne  Oeist  und  Leben.  Von 
direkter  Benutzung  zitierter  Gewährsmänner  kann  fast  nie  die 
Bede  sein;  oft  sind  sie  fingiert.  Der  erste  Spruch  z.  B.  wird  in 
einer  Predigt  des  Bruoder  Thüring,  d.  h.  in  einem  daraus 
gezogenen  Spruch,    dem   h.  Oregorius   zugeschrieben  und  anstatt 


*)  Liber  Ecclesiastici  20,  32.    Frei  dank  147,  9.     Strauch  zu  Mar- 
ner  XV  51.    Laiendoktrinal  S.  62.    Wander  4,  110. 

2)  Von  Bartsch  ergänzt. 

3)  Bartsch;  Hs.  salichait. 


327 

dreier  Tugenden  werden  vier  aufgezählt^).  Bemerkenswert  war 
es,  daß  auch  volkstümliche  Gnomik  in  diese  mystischen  Sprüche 
eindrang. 

Folgender  später  Luther  zugeschriebene  Vierzeiler  zeichnet 
sich  durch  ein  niedliches  Bild  aus: 

Sünde  vermiden  si  din  schrin, 
Gedult  in  liden  lege  darin, 
Guot  für  boes  das  lege  darzuo; 
Freud  in  armuot:  nuo  schlüß  zuo'). 

Weniger  ursprünglich  gibt  die  große  Wolfenbütteler  Sammel- 
handschrift den  Spruch  wieder: 

Die  sundt  vermeid,  das  ist  ein  schrein; 

gedult  in  leiden  leg  darein; 

als  gut  fUr  übel  leg  darzu; 

pis  frolich  in  armut  spot  und  fru'). 

Der  redselige  Verfasser  oder  Schreiber  setzt  in  dem  ,Schatz 
der  andechtigen  sele^  (Diß  ist  aller  Schatz  der  andechtigen  zele, 
den  sie  uß  heiliger  schrift  hat,  Wiener  Handschrift  3009,  35  a) 
noch  hinzu: 

,und  halt  der  evangelien  satz :  das  ist  der  seien  türster  schätzt 

Hier  lautet  der  Schluß  des  Stückes: 

Sttnd  vermiden, 
Geduld  in  liden, 
Boes  für  guot^), 
Freud  in  armuot, 
-    Der  evangelien  satz: 
Ist  der  seele  schätz. 
Amen. 

Unser  Vierzeiler  ist  das  Original  für  den  von  Preger  nach 
G.  Schmidt  wiedergegebenen  Spruch: 


0  Geimanis  3,  240.  No.  9. 

^)  Wiener  Hs.  3009,  35  a.  Ungewöhnlich  ist  das  Bild  des  Schreines 
nicht:  LS.  178,  313  ff. 

>}G119b.  Dazu  Beimbüchlein  1806  ff.  Borchling,  Reisebericht  2,81. 
Hohenzollem- Jahrbach  3,65.    Xanthippus,  Preußische  Jahrbücher  86,  90. 

^)  Die  Handschrift:  ,far  lydenS 


328 

,Neig  dich  in  Leiden':    das  lass  sein 

Dein'n  Schrein; 
Und  ,minnc  die  Feinde', 

Das  leg  darein; 

,Meid  dein  Freund' 

Das  leg  dazu; 
,Sei  geduldig  in  Widerwärtigkeit', 

Und  schließ  wieder  zu*)! 

Diese  spätere  Fassung  ^j  ist  mit  üblem  Erfolg  ausgeweitet, 
und  das  alte  Original  verdient  sicher  mehr  als  sie  die  aner- 
kennende Bezeichnung  sinnig  und  volkstümlich. 

Ein  verwandtes  Bild  verwendet  der  bayerische  Vierzeiler: 

Ain  Word  für  dein  äugen, 
ain  schloß  für  deinen  mund, 
lass  deine  oren  verdamen: 
so  wird  dein  sei  gesund'). 

Hier  mögen  sich  einige  Sprüche  desselben  Gedankenkreises 

anschließen. 

Bis  gerne  allein, 

acht  dich  selber  klein  und  halt  dich  rein, 

und  buwe  uf  nit,  daz  do  möge  zergan: 

wilt  du  uf  bloßer  warheit  bestan*). 

Im  Cgm.  523,  l32a  ist  der  Spruch  vom  Typus  A  zum  Typus 
B  hinübergeführt  ^). 

Mensch,  laß  din  eigenwillikeit, 
blib  fest  in  widerwertikeit, 
durcbbrich  die  unerstorbenheit: 
so  wirt  dir  gleich  lieb  unde  leit^). 


^)  Geschichte  der  deutschen  Mystik  2, 136. 

^)  wie  andere,  z.  B.  bei  Lohe,  Altdeutsche  Sinnsprüche  S.  49. 

^  Mones  Anzeiger  8,  545;    Cgm.  809. 

*)  Wackernagel,  Kirchenlied  2,317.  Nr.  481c.  Wackernagel  hat 
unnötig  ,Wis'  geändert.    Vgl.  Bartsch,  Quellenkunde  S.  315. 

*)  Oben  S.  321.  Erweiterung  aus  Cod.  Pal.  Germ.  348  hei  Bartsch, 
Katalog  1,186h.    Xanthippus,  Preuß.  Jb.  85,  152. 

ß)  Wackernagel  2,  318.  Nr.  481  e  aus  einer  Pergamenths.  der  Wasser- 
kirchhibliothek  zu  Zürich.  An  diesen  Vierzeiler  sind  dann  aber  doch  die 
Plusverse  der  Straßburger  Hsn.  gehängt. 


329 


Zit  verlieren  selten, 

nit  widersprechen  in  schelten, 

in  liden  dankperkeit: 

bringet  den  menschen  in  die  höchste  volkumenheit'). 

Fast  alle  diese  von  mystischer  Beligiosität  beeinflußten  Vier- 
zeiler entstanden  auf  alemannischem  Gebiet;  spärlicher  und 
weniger  formvollendet  setzt  sich  diese  Literatur  im  Ostschwä- 
bischen sowie  im  Bayerisch-Österreichischen  fort.  Eine 
sehr  wichtige,  wunderliche  Spruchsammlung  befindet  sich  im 
Britischen  Museum,  Blütenlesen  aus  mehreren  Jahrhunderten  der 
Spruchdichtung,  nicht  so  sehr  des  Inhalts  wegen  merkwürdig 
(der  weicht  von  sonstigen  Anthologien  wenig  ab^),  als  wegen  der 
Dichternamen,  die  über  den  einzelnen  Stücken  stehen,  wenn  auch 
kaum  ein  einziger  Name  literarische  Eigentumsrechte  zu  begrün- 
den vermag:  diese  Überschriften  zeugen  nämlich  von  großer 
Kenntnis  derjenigen  Literatur,  die  man  im  15.  Jahrhundert  auf 
ostschwäbischem  Boden  las,  liebte  und  schätzte.  Aber  auch  Gott, 
Kirchenvätern,  Propheten,  Philosophen,  Helden  und  Heldinnen 
mittelhochdeutscher  Epen  sind  solche  Verse  in  den  Mund  gelegt. 
Eine  Bl.  133a  begonnene  Spruchreihe  enthält  wohl  durchweg 
Vierzeiler,  darunter  wahrscheinlich  wenige  priamelhafte:  so  der 
erste : 

Gott  der  herre  spricht. 

# 

Wer  getaufft  ist  und  in  rechtem  glauben  statt, 
Und  wer  mich  und  sein  nechsten  lieb  hatt, 
Und  hie  leidet  durch  mich  ungemach  und  pein: 
Der  wirdet  behalten  und  ewig  bei  mir  sein^). 

Vielleicht  demselben  bayerisch-schwäbischen  Gebiet  gehören 
einige  Verse  gleicher  Prägung  aus  einer  Donaueschinger  Hand- 
schrift an. 


^)  Ebenda  Nr.  481  f.  Erweiterungen  werden  uns  später  begegnen. 
Gegenstück:  Göttinger  Beiträge  2,  97.  Nr.  100. 

8)  Priebsch,  Deutsche  Handschriften  in  England  2,  147.  Nr.  175. 
Der  Beginn  der  Blatt  133  a  einsetzenden  Reihe  kehrt  im  Keisebüchlein  von 
1584  hinter  dem  130.  Spruch  wieder. 

^  Priebsch  2,  148.  Man  vergleiche  aus  dem  Beisebüchlein  noch 
etwa  die  Albertus  Magnus  und  Cato  zugeschriebenen  Priamelvierzeiler,  um 
die  Geringfügigkeit  solcher  Leistungen  zu  ermessen.  Vorläufig  war  mir  die 
Handschrift  unerreichbar. 


336 

Bestehen  manche  volkstümliche  Gedichte  aus  Schönheifs- 
Beschreibung  oder  ihrer  Parodie,  so  pflegt  anch  einstrophige 
Stegreifpoesie  solche  Motive  gerne. 

Einen  Wortwitz  mit  beliebter  Zahlensteigemng  gibt  der  fol- 
gende ostschwäbische  Fünfzeiler: 

Ain  ai  ist  ain  munt  vol, 

ain  prtistlin  ist  ain  hant  vol, 

[ain  weib  ist  ain  arm  vol], 

ain  ars  ist  ain  schoß  vol: 

ain  fut  ist  ain  nimmer  voP). 

Es  kann  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  Vers  3  eingeschoben  ist; 
er  stört  die  Oradatio. 

Schon  früher  beschäftigte  uns  seiner  Form  wegen  der  bayerische 

Spruch:  Pinissen  mos, 

und  magreu  ros, 

und  praun  fud  an  weißen  peichen: 

di  dreu  seit  niemand  scheichen^. 

Der  werbende  Bursche  singt  heute  in  Tirol: 

Diendl,  dei  Treu, 
und  dei  Aufrichtigkeit, 
und  dein  schöne  Manier: 
hat  mi  herbracht  zu  dir^). 

Häufiger  sind  in  diesem  Stadium  der  Liebe  epigrammatische 
Beschreibungen  der  Geliebten;  Dutzende  solcher  Schnaderhüpfel 
fangen  an  mit  dem  Wandervers: 

Mei  Diendle  is  sauber^). 

•  »)  Cgm.  379,  95a.  270,  203b;  mit  Änderungen:  Futilitates  S.  6.  Zur 
Zahlensteigerung  KpuirrdSca  4,  93.  Nr.  64.  Garnerius  S.  780,  wo  es  auch 
heißt:  Jjes  femmes  disent:  Un  oeuf  n'est  rien  etc.,  mais  elles  s'entendent 
bien^    Meier,  Schwäbische  Volkslieder  S.  95  f. 

Drei  mal  ist  gar  nit  viel, 
Sechsmal  ist  noch  so  viel. « 
Siebenmal  muß  au  voU  sein, 
Schatz,  du  gehörst  mein. 
Gundlach  Nr.  27.     von  Hörmann  Nr.  911.     Politis  2,  602.     Wander 
u.^d.  W.  Ei. 

«)  P  331  b.   Zu  Vers  3  KpuTrrflfSta  4,  93.  Nr.  66. 

»)  von  Hörmann3  S.  75.  Nr.  207.  Hruschka  undToischer  S.  335. 
Nr.  601  nebst  Nachweis. 

*)  Pogatschnigg  und  Herrmann  P,  Uff.  Kpuirrd8ta  4,95.  103. 
Dunger,  Rundas  S.  13ff.    Werle,  Almrausch  S.  446  f. 


881 

Clamitat  in  celum  vox  sanguinis  et  zodomorum 
Vox  oppressoram  merces  detenta  laboruro. 

Czu  himel  ruffen  vnd  räch  geren 

Vier  swer  sunden  auff  erden 

Manslechtig  vnd  stummen  sunden  hon  gethon 

Dy  armen  vnderdrucken  vnd  freuelich  Halten  auff  ir  verdintes  Ion  *) 

Ad  papam  feriens  cierum  falsarius  vrens 
Ecclesias  simon  audens  celebrare  ligatus. 

Wer  prister  beraubet  oder  kircben  brennet 
Der  geystliche  ding  ym  kauffen  wendt 
Der  messe  helt  yn  verbanttem  leben 
Das  mag  der  habest  alleyne  vergeben'). 

Secretasque  preces  et  opus  pietatis  amato 
Omnia  peccata  plangat  contricio  vera. 

In  deynem  gebethe  suche  heimliche  gemach 
Czu  guten  wercken  sey  dir  gach 
Mit  warer  rewe  ^Ue  deine  sunde  beweyn 
Wiltu  deyn  leben  machen  reyn'). 

Sperne  voluptates  ludos  spectacula  mundi 
Desere  consortcm  prauum  populique  tumultum. 

Wiltu  von  sunden  weichen  icht 
Fleuch  woUust  spil  vnd  weltlich  geschigt 
Vor  boßer  geselschaft  dich  bewar 
Vnd  auch  vor  tummer  leut  schar  ^). 

Confessor  mitis  affabilis  atque  benignus 
Sit  sapiens  iustus  ac  dulcis  compaciensque. 

Der  beichtiger  almal  wesen  sol 
Gutig  senffte  vnd  gelimpfes  vol 
Süsser  worth  gerecht  vnd  weyß 
Mitleyden  haben  das  ist  eyn  preyß^). 

Aus  einer  Bamberger  Hs.,  deren  Überlieferung  bis  in  das 
Ende  des  14.  und  den  Anfang  des  15.  Jahrhunderts  zurückleitet, 
sei  hinzugefügt: 


^)  Penitencionarius  Bl.  3b.  Geffcken,  Beilagen  8.195.   Weber  8.18. 

')  Penitencionarius  Bl.  3  b.  Geffcken,  Beilagen  8.  195. 

3)  Penitencionarius  Bl.  2  a.  Geffcken,  Beilagen  8.  189. 

^)  Penitencionarius  Bl.  2a.  Geffcken,  Beilagen  8.  189. 

*)  Penitencionarius  Bl.  5  a.  Geffcken,  Beilagen  8.  191, 


328 

iNeig  dich  in  Leiden*:   das  lass  sein 

Dein'n  Schrein; 
Und  ,minne  die  Feinde', 

Das  leg  darein; 

,Meid  dein  Frennd' 

Das  leg  dazu; 
fSei  geduldig  in  Widerwärtigkeit*, 

Und  schließ  wieder  zu*)! 

Diese  spätere  Fassung^)  ist  mit  üblem  Erfolg  ausgeweitet, 
und  das  alte  Original  verdient  sicher  mehr  als  sie  die  aner- 
kennende Bezeichnung  sinnig  und  volkstümlich. 

Ein  verwandtes  Bild  verwendet  der  bayerische  Vierzeiler: 

Ain  Word  für  dein  äugen, 
ain  schloß  für  deinen  mund, 
lass  deine  oren  verdamen: 
so  wird  dein  sei  gesund'). 

Hier  mögen  sich  einige  Sprüche  desselben  Gedankenkreises 

anschließen. 

Bis  gerne  allein, 

acht  dich  selber  klein  und  halt  dich  rein, 

und  buwe  uf  nit,  daz  do  möge  zergan: 

wilt  du  uf  bloßer  warheit  bestan*). 

Im  Cgm.  523,  l32a  ist  der  Spruch  vom  Typus  A  zum  Typus 
B  hinübergeführt*). 

Mensch,  laß  din  eigenwillikeit, 
blib  fest  in  widerwertikeit, 
durchbrich  die  unerstorbenheit: 
so  wirt  dir  gleich  lieb  unde  leit^). 


^)  Geschichte  der  deutschen  Mystik  2, 136. 

^)  wie  andere,  z.B.  bei  Lobe,  Altdeutsche  Sinnspruche  S.  49. 

')  Mones  Anzeiger  8,  545;    Cgm.  809. 

*)  Wackernagel,  Kirchenlied  2,317.  Nr.  481c.  Wackernagel  hat 
unnötig  ,Wis'  geändert.    Vgl.  Bartsch,  Quellenkunde  S.  315. 

^)  Oben  S.  321.  Erweiterung  aus  Cod.  Pal.  Germ.  348  bei  Bartsch, 
Katalog  1,186b.    Xanthippus,  Preuß.  Jb.  85,  152. 

^)  Wackernagel  2,  318.  Nr.  481  e  aus  einer  Pergamenths.  der  Wasser- 
kirchbibliothek zu  Zürich.  An  diesen  Vierzeiler  sind  dann  aber  doch  die 
Plusyerse  der  Straßburger  Hsn.  gehängt. 


329 


Zit  verlieren  selten, 

nit  widersprechen  in  schelten, 

in  liden  dankperkeit: 

bringet  den  menschen  in  die  höchste  volkumenheit^). 

Fast  alle  diese  von  mystischer  Beligiosität  beeinflußten  Vier- 
zeiler entstanden  auf  alemannischem  Oebiet;  spärlicher  und 
weniger  formvollendet  setzt  sich  diese  Literatur  im  Ostschwä- 
bischen sowie  im  Bayerisch-Österreichischen  fort.  Eine 
sehr  wichtige,  wunderliche  Spruchsammlung  befindet  sich  im 
Britischen  Museum,  Blütenlesen  aus  mehreren  Jahrhunderten  der 
Spruchdichtung,  nicht  so  sehr  des  Inhalts  wegen  merkwürdig 
(der  weicht  von  sonstigen  Aothologien  wenig  ab^),  als  wegen  der 
Dichternamen,  die  über  den  einzelnen  Stücken  stehen,  wenn  auch 
kaum  ein  einziger  Name  literarische  Eigentumsrechte  zu  begrün- 
den vermag:  diese  Überschriften  zeugen  nämlich  von  großer 
Kenntnis  derjenigen  Literatur,  die  man  im  15.  Jahrhundert  auf 
ostschwäbischem  Boden  las,  liebte  und  schätzte.  Aber  auch  Gott, 
Kirchenvätern,  Propheten,  Philosophen,  Helden  und  Heldinnen 
mittelhochdeutscher  Epen  sind  solche  Verse  in  den  Mund  gelegt. 
Eine  Bl.  133  a  begonnene  Spruchreihe  enthält  wohl' durchweg 
Vierzeiler,  darunter  wahrscheinlich  wenige  priamelhafte:  so  der 
erste : 

Gott  der  herre  spricht. 

Wer  getaufit  ist  und  in  rechtem  glauben  statt, 
Und  wer  mich  und  sein  nechsten  lieb  hatt, 
Und  hie  leidet  durch  mich  ungemach  und  pein: 
Der  wirdet  behalten  und  ewig  bei  mir  sein^). 

Vielleicht  demselben  bayerisch-schwäbischen  Gebiet  gehören 
einige  Verse  gleicher  Prägung  aus  einer  Donaueschinger  Hand- 
schrift an. 


^)  Ebenda  Nr.  481  f.  Erweiterungen  werden  uns  später  begegnen. 
Gegenstück:  Göttinger  Beiträge  2,  97.  Nr.  100. 

^)  Priebsch,  Deutsche  Handschriften  in  England  2,  147.  Nr.  175. 
Der  Beginn  der  Blatt  133  a  einsetzenden  Reihe  kehrt  im  Reisebüchlein  von 
1584  hinter  dem  130.  Spruch  wieder. 

^  Priebsch  2,  148.  Man  vergleiche  aus  dem  Reisebüchlein  noch 
etwa  die  Albertus  Magnus  und  Cato  zugeschriebenen  Priamelvierzeiler,  um 
die  Geringfügigkeit  solcher  Leistungen  zu  ermessen.  Vorläufig  war  mir  die 
Handschrift  unerreichbar. 


334 


Kurzer  Bestand. 

Das  Feuer  im  Stroh, 
Das  Wasser  im  Siebe, 
Auf  dem  Nagel  der  Floh, 
Die  Geduld  bei  der  Liebe: 
Sag  an,  wems  gefällt, 
Was  am  längsten  sich  hält*}. 

Wie  das  heutige  Schnaderhüpfel  hat  der  Priamelvierzeiler 
des  14.  Jahrhunderts  seine  Wanderverse,  die,  durcheinander  ge- 
schoben, ohne  lyiühe  neue  Exemplare  ergeben.  Den  Anfang  (Vers 
1  und  2  umgestellt)  teilt  unser  in  Straßburg  aufgezeichneter  Vier- 
zeiler mit  dem  bekannten  Spruch: 

Bicht  an  rüw, 

frünt  an  trüw, 

buol  an  stettikeit: 

sind  dri  verloren  arbeit'). 

Kebitz  wiederholt  ihn  mit  der  Einleitung: 

Wo  du  nit  treu  vindest  pei, 

da  laß  von,  wie  lieb  es  dir  sei : 

wann  peicht  on  reu, 

und  lieb  on  treu, 

und  feur  on  prend: 

die  treu  hand  pald  ein  end'). 

Mit  zwei  oben  zitierten  Versen  Kebitzens  und  dem  Vier- 
zeiler des  Benners  ist  in  F  38b  ein  neues  Stück  kompiliert: 

Herren  dienst  und  auch  aperillen  wetter, 
Frauen  lieb  und  rosen  pletter, 
Kinder  häuf  und  der  werlt  freud, 
Lob  und  rom  und  wie  man  geud. 
Armer  leud  hoffart  nimpt  auch  ein  ent 
Pald  wie  der  schatten  an  der  went. 

Wieder  anders  verfährt  mit  überliefertem  Material  der  ost- 
schwäbische Spruch: 


>)  Vermischte  Schriften  2,  457.  Nr.  94. 

3)  Liedersaal  186,  17. 

^)  Mones  Anz.  8,  545.  Nr.  4.    Münchener  Sitzungsberichte  1891.  S.  678.  \ 

Von  Kebitzens  Autorschaft  (Keinz  S.  679)   kann   natürlich  wieder   keine  | 

Bede  sein.  i 


335 

Lieb  aun  trew, 
peicht  aun  rew, 
peten  aun  Innigkeit: 
sein  drei  verlorn  arbait*). 

oder  der  mnl.  Vierzeiler: 

Biechten  sonder  rouwe, 
ende  vriendt  sonder  trouwe, 
ende  ghebet  sonder  innichheyt: 
Dats  al  verloren  arbeyt'). 

Oanz  geistlich  -  mystisch  geworden  ist  der  Spruch  in  andern 

Fassungen: 

Bycht  on  ruwe, 

Liebe  on  truwe, 

Bidde  on  innekeit: 

Ist  verlorn  arbeit^). 

Bichten  sunder  berouwe, 
Leifhaven  sunder  trowe, 
Bedden  sunder  inicheit: 
Is  alle  verloren  arbeit*). 

Bichten  sonder  rouwe» 
lieff  hauen  sonder  truwe, 
und  beden  sonder  innicheit: 
dat  is  verloren  arbeit*). 

Minne  sonder  trouwe, 
Biechte  sonder  rouwe, 
Bedinglie  sonder  innecheit: 
Dats  al  verlorn  aerbeit«). 


*)  Mones  Anzeiger  7,  50L  Ähnlich  Cod.  Pal.  Germ,  229,  132  (Kata- 
log 2,  35.) 

«)  Dresdener  Hs.  M  33  a,  5  b. 

»)  Bartsch,  Quellenkunde  S.  337.  Nr.  27. 

*)  Zeitschrift  für  vaterländische  Geschichte  und  Altertumskunde,  hg. 
von  Geisherg  und  Giefers.  N.  F.  8.    Munster  1857.  S.  310. 

*)  Geistliche  Gedichte  des  14.  und  15.  Jhs.  vom  Niederrhein,  hg.  von 
Schade  S.  103;  aus  dem  alten  Druck  der  Eatherinen  Fassie. 

«)  Belg.  Mus.  6,187.  Suringar.  Mnl.^ Rijmspreuken  2,  191.  Vgl. 
oben  Kap.  HI,  S.  79  f. 


33g 


Bestehen  manche  volkstümliche  Gedichte  aus  Schönheit^- 
Beschreibung  oder  ihrer  Parodie,  so  pflegt  auch  einstrophige 
Stegreifpoesie  solche  Motive  gerne. 

Einen  Wortwitz  mit  beliebter  Zahlensteigerung  gibt  der  fol- 
gende ostschwäbische  Fünfzeiler: 

Ain  ai  ist  ain  munt  vol, 
ain  prüstlin  ist  ain  hant  vol, 
[ain  weih  ist  ain  arm  vol], 
ain  ars  ist  ain  schoß  vol: 
ain  fut  ist  ain  nimmer  voP). 

Es  kann  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  Vers  3  eingeschoben  ist; 
er  stört  die  Qradatio. 

Schon  früher  beschäftigte  uns  seiner  Form  wegen  der  bayerische 
Spruch:  pinissen  mos, 

und  magreu  res, 

und  praun  fud  an  weißen  peichen: 

di  dreu  seit  niemand  scheichen^. 

Der  werbende  Bursche  singt  heute  in  Tirol: 

Diendl,  dei  Treu, 
und  dei  Aufrichtigkeiti 
und  dein  schöne  Manier: 
hat  mi  herbracht  zu  dir^). 

Häufiger  sind  in  diesem  Stadium  der  Liebe  epigrammatische 
Beschreibungen  der  Qeliebten;  Dutzende  solcher  Schnaderhüpfel 
fangen  an  mit  dem  Wandervers: 

Mei  Diendle  is  sauber^). 

•  »)  Cgm.  379,  95a.  270,  203b;  mit  Änderungen:  Futilitates  S.  6.  Zur 
Zahlensteigerung  KpuTrrdcBta  4,  93.  Nr.  64.  Garnerius  S.  780,  wo  es  auch 
heißt:  Jjes  femmes  disent:  Un  oeuf  n'est  rien  etc.,  mais  elles  s'entendent 
bien'.    Meier,  Schwäbische  Volkslieder  S.  95  f. 

Drei  mal  ist  gar  nit  viel, 
Sechsmal  ist  noch  so  viel.  • 
Siebenmal  muß  au  voll  sein, 
Schatz,  du  gehörst  mein. 
Gundlach  Nr.  27.     von  Hörmann  Nr.  911.     Politis  2,  602.     Wander 
u.^d.  W.  Ei. 

«)  P  331b.    Zu  Vers  3  KpuictdfSta  4,  93.  Nr.  66. 

8)  von  Hörmann3  S.  75.  Nr.  207.  Hruschka  und  Toischer  S.  335. 
Nr.  601  nebst  Nachweis. 

*)  Pogatschnigg  und  Herrmann  P,  14fF.  KpuirröfSia  4,95.  103. 
Dunger,  Rundas  S.  13ff.    Werle,  Almrausch  S.  446  f. 


337 


Dann  kommen  die  Vorzüge  der  Erwählten  an  die  Seihe,  von  den 
Augen  und  den  Grübchen  im  Kinn  bis  zu  den  intimsten  Beizen, 
oft  in  der  ausgelassensten,  lustigsten  Karikatur,  oft  in  zügelloser 
Derbheit. 

So  verfährt  der  Priamel Vierzeiler: 

Schoiner  äugen  anplick, 

Tütlein  hert  und  ars  dick, 

Haiß  fut  und  mündlin  rot: 

Pringent  mengen  man  in  not^). 

Zu  vergleichen  sind: 

Deine  hochroatn  Wanglan, 
Deine  goldfarbn  Haar, 
Deine  lichtblown  Äuglan: 
Verfühm  mi  gar. 

Deine  kohlschwarzn  Augn, 
Dei  gilbilats  Haar, 
Und  dei  klanverdrats  Herz: 
Das  yerfUhret  mi  gar. 

Dei  wunderschens  Äugerl, 
Dei  kohlschwarzes  Haar, 
Dei  gar  so  liebs  Gschau: 
Das  verführet  mi  gar'). 

Mit  die  feurign  Blick, 
Die  aufglUehn  af  d'  Nacht, 
Hast  du  mir  mei  Herzl 
In  Flammen  gebracht '). 

Und  wie  der  verlassene  Bursch,  dem  die  Geliebte  untreu 
geworden,  im  Galgenhumor  sein  Alleluja^)  singt,  schließt  auch 
ein  armes  vom  Kirchendienst  geplagtes  Schreiberlein  denselben 
Spruch  in  wenig  veränderter  Fassung : 

Schöner  frawen  plick, 

herte  tütlein  und  erß  dick, 

heiß  mautzen  und  mündlen  rot: 

die  bringen  manchen  guten  gesellen  in  not. 

»)  Cgm.  379,  218b.    Putilitates  S.  5. 

2)  Pogatschnigg  und  Herrmann  l»,  67.  Nr.  319. 

3)  Ebenda  Nr.  317. 

*)  von  Hörmann^  S.  157.  Nr.  443.  Pogatschnigg  und  Herrmann 
1',  358.  Nr.  1685.  2,  43,  Nr.  169.  Greinz  und  Kapferer  2,  51.  Hruschka 
und  Toischer  S.  356.  Nr.  774. 

Euling,  Priamel  22 


1 


338 


Alleluial    hilff  mir  aus  nötenl 

I 

I 


Ora  pro  nobis  wil  mich  töten  ^). 

Im  Übrigen  ist  nichts  irriger  als  die  Meinung,  das  Priamel 
an  sich  habe  eine  Vorliebe  für  Unanständigkeiten;  der  Priamel- 
vierzeiler  ist  an  sich  ebenso  wenig  unanständig,  als  der  Vierzeiler 
überhaupt  oder  etwa  das  BätseP);  aber  wie  Volksdichtung  über- 
haupt ersetzt  das  Priamel  den  Witz  oft  durch  die  simple  Unan- 
ständigkeit, doch  ohne  Verständnis  für  die  infame  Mischung  von 
Oestank  und  Parfüm  zu  besitzen,  welche  die  kultivierte  Zote  so 
ekelhaft  macht.  Im  Gegenteil  ist  der  Priamelvierzeiler  dieser 
Zeit  meist  von  durch  und  durch  gesunder  Natürlichkeit,  seine 
Empfindung  nüchtern  und  praktisch;  seltener  streift  er  Uhlands 
stille  Tiefen  des  Gemütes. 

Einen  hausbackenen  guten  Vierzeiler  hat  Boner  76,  55  über- 
liefert, vielleicht  selbst  improvisiert. 

wer  umb  ein  phenning  git  ein  pbunt, 
und  ein  phert  umb  einen  hunt, 
und  umb  ein  helbling  kriegen  kan: 
der  dunkt  mich  nibt  ein  wtser  man. 

Elsässisch  derb  in  Form  und  Inhalt  scheint  der  Spruch: 

Hoch  gesessen, 
und  tief  geschissen 
uf  einen  breiten  stein: 
ist  der  su  unheiP). 

Die  Stockholmer  Vogelsprache  erläutert  das  Motiv: 

De  svaleke. 
Vacke  hoghe  gheseten, 
Und  dar  by  ovele  ghegheten, 
Dat  ys  eyne  tucht  to  have, 
Der  ick  nicht  sere  en  lave*). 

Welcher  drastisch  anschaulichen  Wirkung  alemannische  Vier- 
zeiler-Improvisation schon  im  beginnenden  15.  Jahrhundert  fähig 
ist,  beweisen  Strophen  Michel  Scherers: 


»)  Lnneburger  Hs.  2.  (Göttinger  Beiträge  2,  10 d)  223b.      W.  Meyer, 
Die  Handschriften  in  Göttingen  2,  497. 

2)  Wossidlo,  Mecklenbui'ger  Volksüberlieferungen  I.    S.V. 

3)  Diutisca  1,  324. 

*)  Nd.  Jb.  14,  137.  142,  26. 


339 

Das  Volk  das  schrei, 
Der  pfafTe  sang: 
Man  begruop  den  man: 
Die  glocke  klangt). 

Hier  hat  sich  schon,  wenn  auch  vielleicht  nicht  streng  priamel- 
haft^),  das  Genrebild  eingestellt,  die  Zierde  der  Schnaderhüpfel- 
poesie  unserer  Tage.  In  der  schweren  Kunst,  mit  wenigen  Strichen 
ein  Bildchen  von  höchst  lebendigem  Gehalt  zu  entwerfen,  sucht 
die  Vierzeiler-Improvisation  ihresgleichen.  Da  selbst  Grasberger 
nur  auf  Groteskes  derart  eingegangen  ist^),  mögen  dafQr  einige 
teils  priamelhafte,  teils  nicht  priamelartige  Belege  zeugen. 

Bei  der  erstn  Httttn  is  koan  Nachtquartier, 
Bei  der  zweitn  HUttn  is  mar  d'  Sentin  z'schiacb, 
Bei  der  dritten  HUttn  war  ma  d'  Sentin  grecht: 
Sitzt  da  Jaga  drin  mit  seini  Knecht. 

Werl 6,  Almrausch  S.  16. 

Bald  Uempert  di  Glockn, 

Bald  tröpfelt  da  Schottn, 

Bald  gramlt  da  Stier: 

Koan  Fried  is  da  nia. 

Werle,  Almrausch  S.  11. 

Jetz  waß  i  nit,  plnngezt  die  Glockn, 
Oder  tropfezt  der  Schoten, 
Oder  muDggezt  die  Kueh, 
Oder  juchezt  mei  Bue. 

yon  Hörmann,  Schnaderhnpfeln>  S.  246.  Nr.  686. 

Wie  wispelt  die  Goasl, 

Wie  rumpelt  der  Wagn, 

Und  ietz  kimmt  ja  mei  Btiebl, 

I  kenn'n  am  Fahm. 

Ebenda  S.  282.  Nr.  781. 


0  Germania  20,  340.  B&chtold  berichtet  da  über  eine  Pariser  Hand- 
schrift Konrads  von  Ammenhausen,  die  der  Schreiber,  gelangweilt  durch 
seine  Arbeit,  gelegentlich  zur  Abwechselung  mit  Yolksreimen  und  Priameln 
durchflocht.  „Ich  Michel  Scherer  schreip  dis  buoch  noch  gottes 
geburt  1418  jer;  bittent  got  für  in,  gesessen  uf  sant  Steffans 
plon  zuo  Strosburg^.  Ergänzungen  bei  Vetter,  Das  Schachzabelbuch 
Kunrats  Ton  Ammenhausen.    Frauenfeld  1892.    S.  LII— LIII  Tafel  (Nr.  14). 

^)  Man  müßte  sonst  im  3.  Yers  das  gemeinsame  Bindeglied  sehen  wollen. 

^)  Naturgeschichte  des  Schnaderhüpfels  S.  60. 

22* 


340 

Ban  OfnthUrl  hat  er  aussigschaut, 
Mitn  Kochlöffl  hat's  'n  aufighaut, 
Mitn  SchUrhakl  hat's  'n  einigrent: 
Und  der  dumi  Kerl  hat's  do  net  kent. 


Werle  S.  255. 


Mit  dö  Augengläser  hat's  'n  angeschaut, 
Mitn  Kochlöffl  hat's  'n  aufighaut, 
Mit  da  Fuierzangan  hat's  'n  brennt: 
Und  der  dummi  Kerl  hat's  nit  kennt. 

Greinz  und  Kapferer  1,  90. 

Mei  Weib  hat  mi  mitn 
SchUrhakln  ausgjagt; 
Z'  Nachts  nimt's  goar 
D'  Ofngabl,  hat's  gsagt. 


Werle  S.  255. 


Mei  Schatz  is  a  lanka, 

A  lankar,  zaundttra, 

A  buklata  Hund: 

Aba  ba  Tanzn  hübsch  rund. 

Dei  angschnibne  Weis, 
Und  der  tolfuaßat  Gang, 
Dei  Plattn,  dei  Schottn: 
Der  währt  ma  schier  zlang. 

O  Du  mei  Herzerl,  mei  Tauserl; 
Hast  an  Kopf  wiar  a  Mauserl 
Und  a  Herz,  a  woachs, 
Krumpi  FUaß  wiar  a  Dachs. 

Und's  Diandl  hat  a  Pratzei, 
Und  a  Gsichtei  hat's  a, 
Als  wan  'n  Kachbam  sei  Ochs 
Driibar  abö  grutscht  wa. 


Werle  S.  261. 


Werle  S.  201. 


Werle  S.  263. 


Werle  S.  262. 


Die  Kellrin  von  Woadring, 
Hat  gar  an  schian  Gang, 
Mitn  oan  Fuaßl  macht's  KUahgras, 
Mitn  andern  rechent's  zsamm, 

Greinz  und  Kapferer  2,  16.      Pogatschnigg  und  Herrmann  1, 
22  f.    Fsp.  261,  5  ff.  513,  19  ff. 

Und's  Dirndl  is  a  Köchin, 
Kocht  uns  a  Muaß, 
Sie  hockt  afn  Pfannastiel, 
RUahrt  mitn  Fuaß. 

Greinz  und  Kapferer  1,  114.      Vgl.  M.  Beimbüchlein  1691  ff.    1800  ff. 


341 


Heidideldum :    mei  Weib  is  Icrümin, 

Hat  an  böasn  Zeachn, 

Tappt  die  Stubn  au  a; 

Thuat  gar  gwalti  fluachn. 

Ebenda  1,  122. 

Mei  Deandl  is  a  saubras  Bröckl, 
A  Nasn  hats  wia  a  Groschnwecki, 
A  Maal  hats  wia.a  Ofenloch: 
Gern  hab  is  doch. 

D'  Strumpf  YoUa  Löcha 
Und  schiaftrettne  Schuah, 
Aba  große  Tournür: 
Solche  Madl  gibts  gnua. 

Es  rauscht  was,  es  kimmt  was, 
Verstohln  auf  mi  zua, 
Ho  glabt's  is  mei  Büabal: 
Derwei  is's  a  Kuah. 
Schnadahüpfl  aus  Oberbayern.    Miesbach  1891.    S.  27  f. 

Gang  i  eine  ins  Wäldle, 

Hat  mi  schier  verdrossen, 

Hab  gmeint,  i  schieß  ein  Hirschle, 

Hab  ein  Kuh  getroffen. 

Gundlach  Nr.  958. 

Aft  tramt  ma,  Du  warst 

Mitn  Busserln  glei  da, 

Wan  i  wach  wia,  so  küss  i 

Mein'  Polstazipf  a. 

Werle  S.  219. 

Min  kUssi  hett  ich  ghalsen  schon, 

Ich  wand  ich  het  sie  selber  da. 

Wil  si  mich  Schimpfes  nicht  erlan, 

Ich  glob  ich  werd  von  senen  gra. 

Hugo  von  Montfort  XVIII  13flf. 

Auf  der  Alm  han  i  gschlaflfo, 

Auf  der  Alm  hats  mi  gfreut, 

Hab  gmoant  i  hals  d'  Schwoagrin: 

Hab  d'  Waschbank  umgkeit. 

Gundlach  Nr.  467. 

Bei  der  Nacht  hats  mr  tramt, 

Hab  is  lachn  müeßn, 

Han  i  glabt  is  der  Schatz, 

Is  de  Katz  boan  Füeßn. 

Pogatschnigg  und  Herrmann  1',  36.    Nr.  182. 


342 


Mir  san  gsössen  beinand, 
Hast  a  Glasl  umkeut: 
Wird  a  Kindstauf  bald  wem, 
Sagn  dö  gspoaßinga  Leut. 

Kaltenbrunner.    Gnndlach  Nr.  725. 

Han  amal  an  Schatz  ghabt, 
Kan'n  net  vagessn, 
Denk  alwal  dran, 
Wan  ma  Suppn  essn. 
Werle  S.  219.     Zum  Motiv  Gummere,  Beginnings  S.  413. 

Mitm  Maul  schweigt  sie  still, 

Mitn  Augn  redt  sie  viel, 

Mit  da  Hand  schiabt  s'  mi  weg, 

Wann  's  moant,  i  waar  z'keck. 

Gundlach  Nr.  485. 
s'  Diendle  ist  krank. 

Liegt  dahoam  auf  der  Bank, 

Kirnt  der  Bader  dazua. 

War  ihr  lieber  der  Bue. 

von  Hörmann^  S.  110.  Nr.  307. 

Mei  Diendle  is  sauber 

Im  Suntag-Gwandln, 

Und  vor  lauter  Lieb  fibbem 

Die  FUrtachbandln. 

von  Hörmann^  S.  114.  Nr.  316. 

Hübscher  Bue,  feiner  Bue, 

Schnür  mr  mei  Mieder  zue. 

Daß  i  amal  sagen  kann: 

Du  bist  mei  Bue. 

Ebenda  Nr.  318. 
Z'  Abenster  bin  i  gsessn 

Mitn  Diendl  aufn  Herd, 

Hab  aufs  Hamgehn  vergesen, 

Habs  Betläutn  nit  gehört. 

Ebenda  S.  118.  Nr.  328. 

Wenn  is  Diendl  halsen  thue, 

Druckts  ihre  Äugln  zue, 

Thuet,  als  obs  schlafen  that 

Und  lost  fein  stat. 

Ebenda  S.  131.  Nr.  367. 
Beim  Bett  ist  sie  gsessen. 

Beim  Fensterl  is  's  gloahnt. 

Wie  der  Bue  nit  kommen  ist, 

Hats  Hascherl  gwoant 

Ebenda  8. 171.  Nr.  482. 


343 


Den  gleichen  genrebildartigen  Charakter,  wie  der  erste  Vier- 
zeiler, hat  Scherers  Spottreim  auf  das  Eonstanzer  Konzil: 

Wer  zehen  wurste  wol  bereit, 

Und  zuo  jeder  wurst  ein  wecken  gekeit, 

Und  darzuo  eine  Hasche  mit  win: 

Do  mohte  daz  kuntzilium  zuo  Kostanz  sin'). 

Der  dritte  Priamelvierzeiler  Michel  Scherers: 

Unmuot  duot  we, 
Armuot  noch  vil  me'). 
Doch  geselle  nit  verzage: 
Glücke  kumet  alle  tage^) 

ist  für  chronologische  Festlegung  einer  der  bekanntesten  Motiv- 
Beihen  von  Wichtigkeit;  zahlreiche  Sprüche  desselben  Grundtypus 
führen  vom  Beginn  des  15.  Jhs.  bis  in  die  Gegenwart,  Verse,  an 
denen  wie  Luther,  Herder  und  Karoline  Schlegel  sich  die 
Generationen  eines  halben  Jahrtausends  immer  neu  erbaut  haben. 
Stets  handelt  es  sich  um  den  Typus  A.  Eine  der  Grundformen  ist 
zu  erkennen ,  wenn  man  zur  Ergänzung  des  Schererschen  Verses 
den  noch  aus  demselben  Jahrhundert  in  der  Wiener  Hs.  3027 
331b  bezeugten  Vierzeiler  heranzieht: 

Sweig,  meid,  leid  und  vertrag, 
nicht  vil  leuten  deinen  chumer  klag, 
doch  nicht  verzag: 
gelück  chumbt  alle  tag^). 

Bedet  aus  diesem  Verse  Trost  im  Unglück,  so  empfiehlt  seine  Um- 
kehrung im  Glücke  Mäßigung.  Schloß  der  erste  Vers:  ,Glück 
kommt  alle  Tage*,  so  endet  der  andere  mit  der  Warnung:  ,Un- 
glück  kommt  baldS     Was  voraufgeht,  wechselt  in  bunter  Mischung 


»)  Germania  20,  339. 

^)  Heinrich  Seuse  (Denifle)  I,  191:  „Lipliche  Übung  die  tnot  we. 
Aber  ains  gelassnen  menschen  undergang  noch  tusent  stund  me. 

3)  Germania  20,  339. 

*)  ,geluckt'  Hs.;  Bruchstücke:  Nd.  Jb.  15,  16.  Z.  f.  d.  A.  34,  53.  Nr.  34. 
Wander,  4,47.  UhlS.  250.  Reimbüchlein  2228  jff.  3646  ff.  ZingerleS.47.57, 
Einfacher  Mones  Anz.  3,  32.  Nr.  2.  292.  Varianten:  Beisebüchlein  Nr.  107 
Uhl  S.  312.  254.  Xanthippus,  Preuß.  Jb.  85,  582.  Brandes,  Glosse  S.  252. 
Die  Wiener  Hs.  3009,  134  b  gibt  einen  prosaischen  Kommentar  dieses  Spruches 
natürlich  nicht  nach  Epiktet.    Herder  25,  599.  29,  513. 


344 


durcheiDandergeschobeDen  Spruchmaterials.  Es  ist  vielleicht  wieder 
nur  ein  tückischer  Zufall,  daß  diese  ümkehrung  oberdeutsch 
gerade  im  15.  Jh.  handschriftlich  nicht  bezeugt  zu  sein  scheint. 
An  hochdentscher  Herkunft  ist  wohl  um  so  weniger  zu  zweifeln, 
als  der  Spruch  auch  von  Geiler  von  Keisersberg  gern  gebraucht 
wurde.  Den  die  Grundform  umkehrenden  Typus  stellen  mittel- 
niederdeutsche, mittelniederländische  und  neuhochdeutsche  Fassun- 
gen dar^).     Es  genügt  hier  eine  anzuführen: 

Die  wel  is.  die  blijve, 

die  wat  weet,  die  swijghe, 

die  wat  heeft,  die  houdet: 

verlies  comt  boude"). 

Selbständige  spätere  Ausweichungen  aller  Art  erweisen,  wie  dieses 
Motiv  immer  flüssig  geblieben  ist.  Alle  Kombinationen  über 
Geilers,  Luthers  oder  Anderer  Autorschaft  erledigen  sich  durch 
diesen  Sachverhalt. 

Als  Inschrift  erscheint  der  Priamelvierzeiler  seit  Ende  des 
14.  Jhs.,  zunächst  in  den  sogenannten  Jahreszahlrätseln  ^).  Auf 
eine  im  Jahre  1356  in  Basel  wütende  Feuersbrunst  und  Pest 
bezieht  sich: 

Ein  ringe  und  sin  dorn,  CIC 
TrU  roßisin  erkorn,  CCC 
Ein  simmeraxst  und  der  gelten  zal:  LVI 
Da  fiel  Basel  Uberal^). 

Ain  rink  mit  aim  dorn 
vier  roßeisen  ußerkom. 
swae  kreus  und  dreier  fändel  zal: 
wart  HohenzoUer  zerstört  gar. 
d.h.  1423^). 


')  Zeitschrift  des  historischen  Vereins  für  Niedersachsen  1850  S.  314, 
aus  der  Ebstorfer  Handschrift.  Nd.  Reimbüchlein  2190  ff.  1879  f.  Weimarisches 
Jahrbuch  1,  130ff.  Nr.  16.  Uhl  S.  313.  Xanthippus  86,85.  Seufferts 
Yierteljahrschrift  4,  379  ff.  1, 189. 6, 441.  Dr eselly,  Grabinschriften,  Sprüche 
auf  Martersäulen  und  Bildstöcken  etc.,  dann  Hausinschriften,  Wirtshaas- 
schilder, Trinkstubenreime,  Geräte-Inschriften  u.  a.  Salzburg  o.  J.  (1898) 
S.  121.  Nr.  619. 

«)  Hoffmann  Nr.  16. 

8)  Zeitschrift  für  Volkskunde  10, 187  ff. 

«)  Ebenda  S.  189. 

^)  S.  190.  Steiff,  Geschichtliche  Lieder  und  Sprüche  Württembergs 
S.  14.  Nr.  2. 


345 

Ain  A  mit  aim  J  gestickt, 
daurzu  vier  hufisen  geschmitt, 
und  ain  zimmerackst  mit  der  aposteln  zal: 
geschach  die  niderlag  im  Neckartal. 
d.h.  14621). 

Als  Tor  -  Inschrift  fanden  wir  einen  Vierzeiler  von  epi- 
grammatischer Schärfe  am  Weißentorturm  in  Straßburg  1418 
angebracht.  Der  Priamelvierzeiler  vom  Rathaus  zu  Wernigerode, 
bald  1492,  bald  1498  datiert,  scheint  nur  in  moderner  Form 
erhalten : 

V 

Einer  achts. 
Der  andre  verlachts, 
Der  dritte   betrachts : 
Was  machts  ?') 

Besser  geordnet  ist  der  Spruch  als  Hausinschrift  in  Oberbayern: 

Einer  achts, 
Der  ander  betrachts, 
Der  drit  verlachts: 
Was  machts  l  ^) 

Im  16.  Jahrhundert  nimmt  die  Sitte  der  Haussprüche  und 
Inschriften  mit  der  Blüte  des  Profanbaus,  insbesondere  der  Holz- 
architektur einen  gewaltigen  Aufschwung^;.  Wirtshausinschriften 
des  15.  Jahrhunderts  besagten: 


1)  Mones  Anzeiger  3,  232.  Steif  f  S.  46.  Im  Jahre  1600  schrieb  man 
dem  Freiherm  von  Paar  als  Spottreim  einen  Vierzeiler  über  die  Tür,  wie 
Grasberger  S.25  meint,  das  älteste  steirische  Schnaderhüpfel.  Ein  anderes 
Schnaderhüpfel  hat  der  Fürst  von  Plcß  im  großen  Saale  seines  1867  neu 
erbauten  Jagdschlosses  anbringen  lassen.  vonPadherg,  Hausinschriften  ' 
S.  118.  von  Hörmann  ^  S.  339.  Nr.  927. 

^  von  Padberg  »  S.  37.    Mones  Anzeiger  2,  261. 

»)  Dreselly    S.  99  Nr.  494.    S.  137.  Nr.  711  auf  einer  bemalten  Truhe. 

*)  Curtze,  Die  Hausinschriften  im  Fürstentum  Waldeck.  Arolsen  1871. 
S.  4ff.  S eel mann,  Reimbüchlein  S.  VI.  Suterm eis t er,  Schweizer  Haus- 
Sprüche.  Zürich  1860.  S.  Iff.  Während  wir  ein  C.JGr  und  0  JL  besitzen, 
fehlt  ein  CJGerm. 


346 

Die  gest,  die  ungern  bezaln, 
US  dem  kese  machen  schaln, 
Bartholomeus  us  dem  brode:^) 
die  hab  ich  in  mime  huse  node^}. 

Gegen  Hausfreunde  richtet  sich  Sebastian  Brants  Vierzeiler: 

Wer  brennend  kol  jnn  gören  leidt, 
Vnd  schlangen  jnn  sym  büsen  treyt, 
Vnd  jn  synr  teschen  zücht  eyn  muß: 
Solch  gest  lont  wenig  nutz  jm  huß'). 

Das  Gegenstück  zu  dem  alten  .Wirtsspruch  liefert  der  moderne 
elsässische  weit  verbreitete  Vierzeiler  des  Typus  C: 

Solche  Gäste  liebe  ich, 

Die  erbar  discurriren, 

Die  gut  und  redlich  zalen  mich, 

Und  frölich  abmarschiren*). 

Oben  sahen  wir,  daß  ein  Priamel  des  15.  Jhs.  1681  als 
Wirtshausspruch  angewandt  wurde*). 

Bei  der  Übersicht  über  die  sonstige  Produktion  des  15.  Jhs. 
mögen  zunächst  die  eigentlichen  Priamelspruchbücher  ausge- 
schlossen werden;  es  empfiehlt  sich,  sie  nachher  zusammen  zu 
behandeln. 

Dem  formalen  Ungeschick  Hugos  von  Montfort  lag  der 
Vierzeiler  bequem;  bisweilen  wirkt  dabei  dann  die  Priamelform 
ein,  so  daß  eine  Spielart  des  Priamelvierzeilers  entsteht.     Z.  B.: 


^)  d.  h.  die  Butter  dick  aufstreichen.  Zs.  f.  Volkskunde  8,  439  f. 
Latendorf,  Agricolas  Sprichwörter  S.  222,  65. 

')  Aus  einer  Frankfurter  Hs.  des  15.  Jhs.  Mones  Anz.  N.  F.  2,  34. 
3,  104.    Hätzlerin  S.  42.    Mones  Anz.  2,  229.  13,  140. 

3)  Narrenschiff  33,  91  ff.    ühl  S.  339.    Wand  er  1,  609.  Nr.  133. 

*)  Alemannia  7,  229  ff.  Volkstümliches  aas  dem  Elsaß  I,  Sprüche  in 
Wirtsstuben,  Nr.  7.  Meier,  Schwäbische  Volkslieder  S.  267;  über  der  Haus- 
tür des  Adlerwirts  in  Amtzell.  Deutsche  Haussprüche  aus  Tirol.  Gesammelt 
von  W.  0.  Innsbruck  1871.  S.  37.  Falck,  Art  und  Unart  in  deutschen 
Bergen.    Berlin  1890.    S.  52.  84.  86. 

^)  Vielleicht  bezieht  sich  auch  auf  Inschriften  T  a  u  1  e  r  s  Tadel :  „Njmandt 
benüget ,  jderman  gedencket,  wie  er  vil  müge  gesammen,  vnd  bawen  große 
heÜBzer  ynd  malen  die  mit  affenhait  ynd  darein  tziehen  sj  wunder  vnd  irer 
sinnen  lust**  u.  s.  w.  beiHasak,  Der  christliche  Glaube.  Begensburg  1868. 
S.  348. 


347 

Wer  nicht  muot  hat  Ton  wiben 
Und  hat  sie  nicht  in  eren, 
Guot  lob  tuot  von    im  schiben: 
Sin  Unglück  wirt  sich  meren. 
(XXXIII  89  ff.) 

Also  sond  ir  die  sach  verstan, 
Und  frölich  sin  mit  eren, 
Got  vor  allen  dingen  lieb  han: 
Üwer  glück  das  wirt  sich  meren. 
(XXXVin  109  ff.) 

Formlos  dagegen  bleiben  die  Saligia: 

O  wip,  gula  und  git, 

Wes  band  ir  dwelt  verfüeret, 

Hoffart,  zorn,  hass  und  nitl 

Das  sind  sibn  stück,  der  todes  sünde  snüere. 

(xxxvm  103  ff.) 

Heinrich  Wittenweiler  überliefert: 

Gemachtez  haus,  gescribens  buoch, 
Beschlaffens  weib,  versnitten  tuoch, 
Dar  zu  hefen  alter  plunder: 
So  wolfeil  sind»  es  ist  ein  wunder. 
(Bing  31c,  35  ff.) 

Maus  im  sak. 
Und  laus  im  nak, 
Mäusz  im  haus  und  feur  im  kübel: 
Die  bezalent  iren  wirten  übel. 
(Bing23d,  9ff.>). 

Gleichzeitig  mit  der  Durchbildung  einer  eigenen  bürger- 
lichen Kultur  gewinnt  das  Improvisationsgebilde  des  Priamel- 
vierzeilers  immer  mehr  an  inhaltlicher  Vielseitigkeit.  Die  Haupt- 
masse der  gnomischen  Anthologien  des  16.  Jahrhunderts  ist  wohl 
noch  mittelalterliches  Gut;  trotzdem  sei  hier  die  Beschränkung 
auf   handschriftlich  fürs  15.  Jahrhundert  Bezeugtes  festgehalten. 

Am  ergiebigsten  ist  von  den  nicht  eigentlichen  Priamel- 
handschriften  die  Wiener  Hs.  3027  (P);  sie  belegt  manchen 
später  unzähligemal  wiederholten  Spruch. 


1)  Vgl.  Uhl  S.  396.  Vers  3:  Diep?  Freidank  47,  18.  141, 15, 


348 


Ain  mal  mit  eren. 

zwai  tuet  freuntschafl  vercheren, 

das  dritt  mit  schand, 

das  viert  mues  lassen  ain  pfand  *). 

Alt  äffen, 

jung  pfaffen, 

wilt  pern: 

sol  ain  man  in  sein  haus  nit  ehern  ^. 

Wer  helst  an  lust, 
und  trinkt  an  durst, 
und  ist  an  hunger: 
der  stirbt  also  junger^). 

Mittelniederländisch : 

Die  drinckt  sonder  durst, 
cust  sonder  lust, 
ende  eedt  sonder  honghere: 
sterft  seuen  iaren  te  ionghere^). 

Klaine  vischel, 

schmaleu  tischel, 

engeu  stübel: 

daz  zimbt  an  edeln  fürsten  übel^). 

Trew  und  wahrhait, 

mild  und  parmherzigkait: 

da  peleib  stät  an, 

so  gesigstu  deinen  veinten  an^). 

Wer  falken  und  habich  zu  tauben  tuet, 
und  wolf  zu  schaffen,,  tuet  nimer  guet, 
jung  roaid  bei  pösen  weihen 
mugen  in  die  leng  nit  keusch  peleiben  ^). 


1)  P  330b.  Vers  4:  ,pfand  mit  schänden.'    Wander  1,  792. 

3)  P331a.  Keller,  Altd.  Hsn.  Tübingen  1872.  S.  29  aus  Ottners 
Hs.  Vers  3:  ,alt  bem'.  Wand  er  u.  d.  Wörtern  Affe,  Pfaffe,  Bär.  Mones 
Anzeiger  3,  32,  Nr.  16.  Reimbüchlein  XV  f.  Hoffmann,  Spenden  1,  30. 
Wander  5,  720  lateinisch.  Opschriften  1,  147.  Dann  iunge  pfaffen  |  alt 
äffen  |  eichomer  |  vnd  raben,  Soll  kain  weyser  man  in  seinem  hauß  haben. 
Was  nutz  Ton  almiisen  kumpt  o.  0.  u.  J.,  S.  6. 

3)  P  331  a.  Wand  er  3, 171.  Kpwr(£8ta  3, 345.  Reimbüchlein  S.XIX.Nr.44. 

*)  Meijer,   Oude   nederlandsche   sprenken.     Groningen    1836,   S.  93. 

5)  P331a.  6)  P  332  b. 

^)  P  333b.  Vers  4;  mugen  jnjn. 


349 

Es  sind  Bennerverse:  12  520  f.  12  530  f.,  die  man  hier  in 
schwacher  Steigerung  zu  verbinden  sucht.  Wie  wenig  fest  die 
Form  geworden  ist,  lehrt  ein  Vergleich  mit  einer  andern  Fassung: 

Ein  turteltaube  beim  raben, 

Ein  mägetletn  beim  jungen  knaben, 

Die  sein  gewiss  so  wol  behüt, 

Als  wenn  man  schaffe  zum  wolffe  thut^). 

Um  die  Wende  des  Jahrhunderts  sind  noch  folgende  einzelne 
Vierzeiler  schriftlich  aufgezeichnet: 

Peter  nickel,  falbe  rösz, 

Stiele  pech  und  tiefife  m6sz, 

HoUerin  wied,  rött  pärtt  und  oerlein  pogen: 

Thon  di  guot,  so  sol  mansz  loben  ^). 

Aigner  nucz, 

Alter  haß, 

Un weiser  rat: 

Des  verderbt  offt  mannige  gutte  stat^). 

Sauer  sechen  hilft  nit. 
Schon  reden  kann  ich  nit. 
Gelt  hilft,  daz  hab  ich  nit: 
Puolschafft,  schyt  dich  der  ritt^)l 

Nach  Alemannien  weist  der  Vierzeiler: 

Nadel  in  der  täschen, 
Wasser  in  der  fläschen, 
in  dem  winter  ain  schinhuot: 
bedütet  groß  armuot^). 


»)  Toppen  Nr.  42.  S.  80. 

3)  Mones  Anz.  8,  546.  Nr.  20.  Aus  Cgm.  809  (1490—1524).  Catalogus 
S.  137.  W.  Meyer,  Die  Handschriften  in  Göttingen  2,  310.  Erweitert  in 
F.  Oöttinger  Beiträge  2,73.  Nr.  53;  ygl.  Keller,  Schwanke  S.  74.  Zin- 
gerle  S.  124  f. 

^  Mones  Anz.  8,  546  f.  Nr.  32.  3,  294.  2,  261.  Niederdeutsches  Jahr- 
buch 16, 4.  Zeitschrift  des  historischen  Vereins  für  Niedersachsen  1849, 
8.  327.    Unten  S.  357. 

*)  Mones  Anz.  7,  500 ff.  Nr.  18  aus  Kuppitschens  Hs.  Nd.  Reim- 
bfichlein  2158  ff.    Diutisca  1,  324.    Zingerle  S.  36. 

^)  Karlsruher  Handschrift  (Ottner).  Längin  Nr.  183.  S.  102.  Keller, 
Altd.  Hsn.    Tübingen  1872.    S.  29.    Keller -Sleyers  S.  35  (63). 


350 


Im  südwestlichen  Deutschland  ist  der  Sprach  noch  hente 
unverändert  heimisch.    Die  schweizerische  Form  lautet: 

Nadle  in  der  Tasche, 
Wasser  in  der  Flasche, 
Im  Winter  e'n  Schatthitft: 
Ist  e  grosse  Armuet*). 

Aber  auch  im  Norden  ist  er  bekannt;  z.  B.  in  dänischer 
Fassung: 

Meget  Vand  in  Flasken, 
Jngen  Penge  i  Tasken, 
One  Vinteren  Kroppen  bar: 
Er  TIS  Armod  haard*). 

Von  der  Beliebtheit  des  Vierzeilers,  selbst  zu  der  Zeit,  als 
Bosenplfits  Priamel  schon  in  Bayern  viel  bekannt  sein  konnten, 
zeugt  das  Bfichlein,  das  sich  Hans  Kebicz  anlegte.  Da  ist  der 
Priamelvierzeiler  (einige  sind  bereits  angeführt)  mehrfach  ver- 
treten, bald  ernst,  bald  heiter,  bigott  und  lasciv.  Auf  Originalität 
kam  es  dabei  nicht  an. 

Seider  ein  posser  haller  gilt  eim  guoten  geleich, 

und  der  guot  dem  posen  muost  entweichen, 

und  im  der  pös  vorgat: 

so  ist  ez  nit  wunder,  daz  ez  übel  in  der  weit  stat^). 

Nach  dem  Motiv  mit  ,seit'  wird  heute  noch  improvisiert: 

Seit  de  Baurebible 
Runde  Hitle  trage, 
Darf  e  Bauremädle 
Gar  Icei  Wörtle  sage. 

Seit  de  Bauremädle 
Lange  Röckle  trage, 
Darf  e  Baurebible 
A  kei  Wörtle  sage^). 


.1)  Wander  3,  857.   Nr.  24. 

*)  Ord-Bog  S.  56.  Aodere  Nachweisungen  bei  Wand  er  4,  1817. 
Nr.  398. 

3)  Pfeiffer  in  Mones  Anz.  8,  545.  Vgl.  Schmeller  BWB  2\  168. 
Eeinz  in  den  Münchener  Sitzungsberichten  1891,  S.  678. 

«)  Marriage,   Volkslieder  aus  der  badischen  Pfalz   8.  379.   Nr.  286. 


Vergleiche: 


351 

Pfaffen  fraidikait 
junkfra  gailhait, 
merzen  pluot: 
die  tond  selten  guot'). 

Pfaffen  kyen, 

Mertzen  gryen, 

Metzen  zu  geile  behende: 

Nemen  selten  ein  gut  ende'). 

Juncfrauwen  claffer  vnde  pfaffen  küne, 
Hüner  flog  vnd  mercze  grüne: 
Diess  vier  yn  mynem  müt 
Seiden  han  eyn  ende  gut  3). 

Seit  man  macht  ritter  an  part, 

und  plüet  füd  sard, 

und  pfaffen  ungelert, 

seider  hat  sich  die  weit  fast  verkert^). 

Das  Motiv   haben  wir  auch  schon  als  Freidankmotiv  kennen 

gelernt. 

• 

Trefflich  hat  Sebastian  Brant  das  lateinisch  ausgeführt; 
die  deutsche  Übersetzung  läßt  die  im  Vierzeiler  enthaltenen  volks- 
tümlichen Motive  deutlich  erkennen. 

Sidt  bludte  meytlin  wurden  wertt, 
Vnd  rytter,  die  nit  brachen  swert, 
Vnd  rattes  herren  one  berdt, 
Prelät  vnd  pfaffen  vngelert, 
Der  kunst  vnd  tugend  nyemans  gert, 
Vnd  recht  mit  vnrecht  wurt  versert, 
Vnd  sand  für  tugend  wurd  geerdt, 
Vnd  man  all  glyder  gotts  verswerdt, 
Beschysz,  Tutruw  sich  täglich  mert, 
On  nott  wurt  menschlich  blüt  verrert: 


^)  Mones  Anzeiger  a.  a.  0.  Nr.  1. 

3)  Serapeum  28,  231. 

3)  Borchling,  Mnd.  Hsn.  3,  17.  —  Der  Spruch  ist  dorch  die  lateinische 
Fassung  des  Florilegium  Gottingenso  Nr.  15  schon  für  das  14.  Jahrhundert 
bezeugt:  Glericus  ad  bella  pronus,  lasciua  puella,  Martius  in  flore:  caret 
homm  finis  honore.    Zum  Motiv  Opschriften  1,  66. 

^)  Mones  Anzeiger  a.  a.  0.  Nr.  12. 


352 

Hant  sich  all  stät  vnd  grad  verkert 
Vnd  würt  mit  plag  die  weit  verrcrt*). 


Vergleiche: 


Synt  dat  die  beeren  ghyngen  te  ghelde, 
ende  men  den  ackerman  ter  orloghe  stelde, 
ende  priesters  machte  sonder  baert, 
ende  men  blote  voten  niet  en  spaert, 
ende  men  haetsen  droech  ende  kniuen, 
ende  men  raet  nam  aen  die  wiuen, 
ende  dat  den  joncxsten  den  outsten  leerde, 
ende  dat  recht  met  ghelde  vorkeerde, 
ende  die  dagghen  hingen  op  de  vede: 
niet  fynt  en  vaest  pays  in  kerstenhede  *). 

Die  geringe  Kunst  volksinäßiger  Reimerei  erlebte  einen  Auf- 
schwung, als  die  Buchdruckerkunst  die  Verbreitung  populärer 
Literatur  ungeheuer  erleichterte.  Man  darf  es  wohl  auch  als 
einen  Beweis  für  die  Beliebtheit  des  Vierzeilers  ansehen,  daß  der 
Straßburger  Interpolator  des  Narrenschiffs  (1494');  Zarncke 
S.  LXXXni  128)  Brants  dreizeilige  Mottoverse  zu  Vierzeilern 
umgestaltete,  unter  denen  einige  gute  Priamel  sind.  Aus  der  nd. 
Übersetzung,  die  hierauf,  freilich  als  eine  nach  Zarnckes  urteil 
ganz  originale  Arbeit^)  beruht,  gingen  dann  zahlreiche  Priamel  in 
nd.  Spruchsammlungen  über.  Dem  nicht  talentlosen  Interpolator 
gelingen  auch  sonst  manche  Kleinigkeiten,  z.  B. 

Vergangens  sol  man  gdencklich  achten, 
Das  künfftig  sol  man  vor  betrachten, 
Das  gegenwürtig  ordinieren: 
So  mag  man  ein  recht  leben  fyeren^). 


*)  De  causis  depravationis  rernm  omnium  bei  Zarncke,  NarrenschifF 
S.  153;  vgl.  S.  XXXVI. 

3)  Dresdener  Hs.  M  33  a,  5  a. 

^)  Benutzt  ist  das  Weimarer  Exemplar. 

*)  S.  206.    Brandes,  Die  jüngere  Glosse  zum  Keinke  de  Vos  S.  XX. 

5)  Das  nüv  schiff  Bl.  c  IUI.  ▼•  Zarncke  S.  14.  Uhl  S.  391.  Lim- 
bach S.  59.  Nr.  54.  Neues  yaterländisches  Archiv  von  Spiel  und  Spangen- 
berg  1831,  2,  162.  Nr.  6:  „Vir  prudens  presencia  disponit  Futura  prospicit 
Et  preterita  recordabitur" ;  aus  dem  Gedenkbuch  des  Hans  von  Menge rs- 
hausen  1416  —  1483. 


353 

Wer  lyden  mag,  das  man  in  göycd, 
Oder  man  inn  die  schüch  im  seich, 
Oder  setzt  hörner  vif  die  oren: 
Der  hat  ein  reygen  mit  den  doren^). 

Ein  guter  stiger  darff  ouch  glück, 
Die  guten  Schwimmer  trincken  dick. 
Die  guten  Stecher  ouch  offt  feien, 
Das  man  eim  rennet  durch  sin  kelen'). 

Möcht  einer  sin  frtind  all  verderben, 
Das  er  ir  gut  möcht  bald  hererben, 
Oder  sie  in  eim  lessei  erdrencken  : 
Mancher  würd  sich  nit  lang  bedencken^). 

Der  Bearbeiter  beschließt  das  Kapitel  mit  einem  Vierzeiler: 

Den  eitern  soll  man  myltikeit, 

Den  frunden  deinstlich  sin  bereit, 

Rechtün  gen  aller  weit  vfF  erd : 

Dz  heißt  eins  wisen  menschen  gberdt*). 

Schwerlich  selbständig  ist  der  Vierzeiler: 

Ein  frantzos  sin  sach  vor  zu  rieht. 
Ein  lombard  ist  gut  in  der  gschiht: 
Die  tütschen  machen  ir  anslag, 
Wan  mans  nit  widerbringen  mag. 

Es  folgt  nämlich: 

Vnd  sind  gar  wis  noch  der  geschieht. 

Dar  vor  gedencken  sie  sy  nicht. 

Des  spott  man  ir  in  manchem  gdicht^). 

Von  den  Mottoversen  seien  erwähnt: 

Wer  nitt  vor  gürtt  ee  dann  er  ryt, 
Vff  künfifcig  vnfall  rüstet  nüt, 
Vnd  sich  versieht  vor  hin  inn  zyt: 
Des  spott  man,  feltt  er  an  ein  sytt^). 


')  Das  nüv  schiff  Bl.  f  Vv.  Zarncke  S.  34. 
«)  Das  nüv  schiff  Bl.  i  I.     Zarncke  S.  47. 
')  Das  nüv  schiff  Bl.  c  II  ▼•  Kessel? 
*)  Das  nüv  schiff  Bl.  c  m.   Kap.  10. 

^)  Das  nüv  schiff  Bl.  c  III.    Ammon,  Geiler  von  Keisersbergs  Leben, 
Lehren  und  Predigen.    Erlangen  1826.    S.  216. 
•)  Das  nüv  schiff  Bl.  c  IUI. 
Baling,  PrUmeL  23 


354 

Wer  spricht  das  gott  barmhertzig  sy 

Allein,  vnd  nit  gerecht  dar  by 

Vnd  das  er  hab  das  hymelrich 

Den  gensen  gemacht :  der  ist  in  glich  ^). 

Biilich  in  künfftig  armüt  feit: 
Wer  stetz  noch  schleck  vnd  füllen  stelt, 
Vnd  mit  der  vollen  rott  sich  helt, 
Oder  den  prassern  zu  geselt'). 

Wer  allzit  gern  von  wißheit  hört, 
Vnd  mit  begird  die  flißlich  lert, 
Gentzlich  zd  ir  sich  allzyt  kört: 
Der  wtirt  in  ewikeit  geert^). 

Wer  sieht  ein  andern  vallen  hart, 
Vnd  er  sich  nit  dest  baß  bewart, 
Sunder  der  narrenkapp  nach  fart: 
Der  grifft  dem  roraff  an  den  bart^). 

Als  bewußte  Kunstübung  erweist  sich  die  Verwendung  des 
Priamelvierzeilers,  wenn  mehrere  hinter  einander  folgen. 

Der  gyttig  ist  glich  wie  ein  hundt: 
Der  ein  stück  brots  entpfoht  in  mundt, 
Oder  fleisch,  vnd  verschluckt  dz  gantz, 
Vnd  wart  bald  \ff  ein  ander  schantz. 

Der  gyttig  ist  niit  dann  ein  kyst: 
Dar  vff  der  landsfürst  ettwan  vischt, 
Dar  vß  der  röuber  sich  ernert, 
Yeder  mit  pfysen  dar  vber  fert^). 

Daß  bei  Sebastian  Brant  selbst  „die  ganze  deutsche  Volks- 
poesie seinerzeit^,  wie  Zarncke  meinte,  „in  Acht  und  Bann stand^, 
kann  man   doch   wohl   nicht  gut  behaupten,   wenn  man  bedenkt. 


>)  Das  nÜY  schiff  Bl.  c  VI.  Aufschrift  an  einem  Hause  in  der  Nähe 
des  Arber  mit  Abweichungen:  Marterl.  2.  Sammlung.  München,  Schupp, 
o.  J.  S.  17. 

^)  Das  nüv  schiff  Bl.  d  IL 

3)  Das  nüv  schiff  Bl.  e  II >. 

*)  Das  nüv  schiff  Bl.  h  11. 

^)  Das  nüv  schiff  Bl.  a  YII  v-  Am  Schluß  des  32.  Kapitels  werden  die 
beiden  Priamel:  ,Wer  lyden  mag  das  man  in  göych'  und  ,Wer  brennend 
koln  in  geren  leidt'  nur  durch  zwei  zweizeilige  Sprüche  getrennt. 


355 

wie  sehr  er  von  der  volkstümlichen  Qnomik  abhängig  ist^);  auch 
was  den  Priamel Vierzeiler  betrifft,  steht  er  unter  ihrem  Einfluß. 
Er  verschmäht  dessen  Motive  gar  nicht.  Zwei  Belege  dafür  be- 
gegneten schon  oben;  sie  lassen  sich  mehren. 

Wer  sorget  ob  die  gänsz  gent  blosz 
Vnd  fägen  will  all  gasz  vnd  strosz 
Vnd  eben  machen  berg  vnd  tal: 
Der  hat  keyn  fryd.  ruw,  vberal*). 

Dann  narren  rott,  vnd  büler  wergk^ 
Eyn  statt  gebuwen  vif  eym  bergk 
Vnd  strow  das  ja  den  schuhen  lyt: 
Die  vier  verbergen  sich  keyn  zyt'). 

Meistens  füllt  sich  allerdings  die  volksmäßige  Form  mit  ge- 
lehrt reflektierendem  Inhalt: 

Hett  Phaeton  syn  faren  gelon 
Vnd  Icarus  gemacher  gton 
Vnd  beid  gefolgt  jrs  vatter  rott: 
Sie  wem  nit  jn  der  jugent  dot^). 

Wer  heymlich  ding  nit  schwigen  kan, 
Wer  dut  mit  btrogcnheit  vmb  gan 
Vnd  spannt  syn  lefltzen  wie  eyn  tor: 
Do  hüt  eyn  yeder  wis  sich  vor*). 

Wer  heylen  will  mit  eym  vngent 
AU  triefend  ougen,  rott,  verblent, 
Purgyeren  will  on  wasserglasz: 
Der  ist  eyn  artzt  als  Zuhsta  was^). 


»)  Zarncke  S.  LXXVII. 

«)  Narrenschiflf  24,  27  ff.  Zarncke  S.  341.  Zingerle  S.  11.  189.  103. 
Wander  1,  1326.  Nr.  5  ff.  31  f.  199.  243.  DW  u.  d.  W.  Gans.  Meijer, 
Oude  nl.  spreuken  S.  92:  „Hierom  ende  daerom  gaen  de  ganssen  baeruoets''. 
Hermann   von   Sachsenheim,  Spiegel  195,  31  f.     Holland  und  Keller. 

»)  39,  21ff.  Zarncke  S.  375.  Vgl.  104,  40  fif.  Zarncke  S.  452.  Scheible, 
Kloster  6,  430.  Wander  5,  1170.  1,  615.  Nr.  297 ff.  341.  1,  646.  Nr.  1055  ff. 
Martin^  und  Lienhart,  Wörterbuch  der  Elsässischen  Mundarten  1,  651. 
Leitzmann,  Gerhard  von  Minden  S.  XXII.  Pogatschnigg  und  Herr- 
mann 1»,  154.  Nr.  757: 

Die  Lungen  in  Häfen, 

Die  Lieb  in  an  Haus, 
Sie  laßt  si  nit  bergen, 
Schaut  umatum  braus. 
*)  40,  21  ff.        5)  51,  9  fif.        6)  55,  22  ff. 

23* 


356 

Wer  me  veriert  dann  er  gewynnt 
Vnd  borget  vil,  so  jm  zerrynnt 
Wer  zUcht  syn  frow  eym  andern  vor: 
Der  ist  eyn  narr,  gouch,  esel,  thor^). 

Mitteldeutschland  ist  für  den  Beginn  des  14.  Jahrhunderts 
durch  Hugo  von  Trimberg,  fürs  15.  Jahrhundert  durch 
Nürnberger  Produktion  am  glänzendsten  vertreten.  Was  außer- 
dem von  diesen  Eingebungen  des  Augenblicks  auf  mitteldeutschem 
Gebiet  erhalten  ist,  bleibt,  abgesehen  von  Entlehnungen  und 
überall  verbreiteten  Sprüchen,  ganz  vereinzelt  und  fragmentarisch. 
Aus  dem  nordöstlichen  Kolonisationsgebiet,  das  uns  oben  eine 
Variante  eines  Freidankspruches  lieferte,  sei  der  unbeholfene  Vers 

erwähnt: 

Zungen  binden,  herzen  twingen, 

underwillen  oberwinden, 

alle  ding  zu  dem  besten  keren: 

zo  ist  aller  togende  nimmere^). 

Ganz  geistlich  ist  ein  andrer  gehalten: 

Deinen  toidt  und  Christus  sterben, 
Valscheit  der  leut  hie  uff  erden, 
Dasz  grichte  gottes  und  heische  pein: 
Lasz  allzeit  vor  deinen  äugen  sein  3). 

« 

Aus  einer  vom  Jahre  1500  datierten  Hs.  der  Magdeburger 
Schöppenchronik  füge  ich  hinzu: 

Wer  einer  der  beste,  so  er  ie  gewarth. 

Und  seine  mutter  derselbigen  arth, 

Auch  sein  vater  ein  dieb: 

Hette  er  geldt,  so  wurde  er  gehaldenn  lieb*). 


>)  78,  22  ff.    Zum  Motiv  s.  oben  S.  275. 

»)  Z.  f.  d.  A.  13,  567  aus  einer  Königsberger  Hs.  Vgl.  S.  507.  Da 
selbst  S.  566  andere  nicht  priamelhafte  Vierzeiler.  Toppen,  Volkstümliche 
Dichtungen.  Königsberg  1873  S.  73  vermutet  ohne  Not  ,nnsern  willen*. 
Vollständiger  hat  diesen  Spruch  Pfeiffer  in  Mones  Anz.  8,  547.  Nr.  36  aus 
Cgm.  809  mitgeteilt. 

3)  Zeitschrift  des  Harzvereins  für  Geschichte  und  Altertumskunde  1869, 
2,  102. 

*)  Aufseß  Anz.  2,  228.    Vgl.  oben  S.  324  einen  Spruch  des  Sulz  er s. 


357 

Wer  den  wolff  nicht  forcht  zu  weinachtenn, 
Und  den  gebaur  zu  vastenachte, 
Und  den  pfaffenn  in  der  marterwochenn : 
Deme  sinth  seine  sinne  gar  zubrochenn  ^). 

Vornim  und  mergke, 
Treib  und  wergke, 
Höre  und  fursche  durch  dich 
Und  laß  übergehen^). 

Ein  wenig  besser  steht  es  um  niederrheinische  Über- 
lieferung. Auf  einem  Trierer  Folioblatt  haben  sich  die  Trümmer 
einer  Spruchrede  des  15.  Jhs.  erhalten.  Originale  Priamelvier- 
zeiler  sind  nicht  darunter,  nur  Übersetzungen  und  Bearbeitungen. 

Eigen  notz 

heimelich  hasz, 

und  ein  junk  rait: 

verderbent  manchen  goden  staet^). 

Selbständiger  erscheint  ein  niederdeutscher  Spruch: 

Egen  nütte, 

vorwitte, 

und  lange  wile: 

maken  den  loep  vaken  aver  vele  mile^}. 

Ohne  Verständnis  für  die  Priamelform  verfuhr  der  lehrhafte 
Bearbeiter  dem  schönen  Spruch  ^Schweig,  meid,  leid  und  vertragt 

°  ^  •  Swyge,  lyt  und  verdrach, 

Nyt  eder  man  dynen  kommer  enclage: 

Du  mochtes  dem  clagen  dyn  leyt, 

Er  wilde,  das  yß  were  noch  also  breyt*). 

Mit  nl.  und  nd.  Überlieferung  teilt  das  Trierer  Blatt  fol- 
genden Spruch  des  Typus  0: 

Idt  is  nu  der  werelt  staet: 
Do  myr  ere,  ich  doen  dyr  quaet, 
Hylft  mych  off,  ich  werfifen  dich  neder, 
Do  myr  ere,  ich  sehenden  dich  weder*). 

^)  A.  a.  0.  S.  229.        =)  Ebenda;  verdorben. 

3)  Germania  19, 304.  Hochdeutsch  s.  oben  S.  349.  Brande  s,  Glosse  S.  293. 
Wander  3,  1080.  Nr.  23. 
*)  Reimbüchlein  815. 

*)  Germ.  19,  303.    Vgl.  Reimbüchlein  2502  ff. 
^  Germ.  19,  303. 


358 


Dem  Typus  B.  nähert  sich  der  am  Gregoriustage  gesungene 

Vierzeiler : 

Caritas  liet  nu  in  großer  noit, 

Justicia  ist  gestorben  doit, 

Tristicia  is  usserkorn, 

Fides  hat  gancz  den  globen  verlorn^). 

Diese  niederrheinischen  Sprüche  mögen  zunächst  auf  mittel- 
niederländisches Gebiet  hinüberführen,  dessen  Produktion  vor 
der  niederdeutschen  ins  Auge  zu  fassen  sich  empfiehlt,  weil  die 
mnl.  Überlieferung  teilweise  etwas  älter  zu  sein  scheint.  Die 
volksmäßige  Spruchdiclitung  kommt  in  mnd.  und  mnl.  Literatur 
erst  ein  volles  Jahrhundert  später  zur  Geltung  und  dauert  dem 
entsprechend  auch  ungefähr  hundert  Jahre  länger  als  die  hoch- 
deutsche. Während  diese  sich  schon  früh  in  prosaische  Sprich- 
wörtersammlungen auflöst,  blüht  die  mnd.  und  mnl.  Spruchpoesie 
noch  lange  fort.  Fahrende  mögen  Freidanksprüche  nach  den 
Niederlanden  gebracht  haben  ^).  Zahlreiche  Übertragungen  und 
ümdichtungen  solcher  Sprüche  der  Bescheidenheit  sind  uns  schon 
begegnet.  Wichtiger  aber  war  der  gemeinsame  Besitz  an  gno- 
mischen priamelhaften  Motiven,  die  fortzubilden  der  nie  verstummte 
Volkswitz  sich  angelegen  sein  ließ.  Den  Niederländern  und  Nieder- 
deutschen kam  dabei  ihr  berühmter  trockner  Humor  zu  statten; 
und  so  liefert  dieser  Zweig  der  Vierzeilerliteratur  manchen  neuen 
Treffer,  schlagend,  gesalzen,  präzis  und  bis  heute  lebenskräftig. 
Manches  begegnet  noch  in  den  immer  neu  aufgelegten  Koddigen 
en  ernstigen  Opschriften.  Die  reichste  Fundgrube  derartiger 
Poesie  ist  die  vielgenannte  Hulthemsche  Hs.,  eine  bisher  un- 
bekannte die  Hs.  M  33  a  der  Königlichen  Bibliothek  zu  Dresden. 

Jaarschriften,  den  deutschen  Jahreszahlrätseln  entsprechend 
und  doch  in  der  Form  von  ihnen  abweichend,  überliefert  die 
Brüsseler  Hs.  Nr.  837—845. 


0  von  Heinemann,  Wolfenbüttler  Hsn.  II  4,  366.  32.  4.  Aug.  4to 
(3365).  15.  Jh.  Köhler,  Kleinere  Schriften  2,  75 ff.  3,  642.  Borchling 
Mnd.  Hs.  1,175.  298.  2,125.  Priebsch,  Deutsche  Handschriften  in  Eng-' 
land  1,  175.  Zum  Gregoriusfest :  Drechsler,  Sitte,  Brauch  und  Volks- 
glaube in  Schlesien  1,  62  ff. 

2)  Wackornagel,  Gesch.  d.  d.  Lit.  V  150.    Tijdschrift  5,  310 ff. 


350 

Nemt  van  enre  Meesen  thoeft,  1315 
Ende  van  drien  Crayen,  des  ghelooft, 
Ende  thoeft  van  drien  Vincken: 
Daer  muechdi  de  dier  tijt  bij  gedincken^). 

Men  screef  M.  CCC.  VIII  ende  een:  1309 
Doe  brande  men  der  zieken  nienich  een, 
De  lieden  wouden  zij  vergheven, 
Daerorome  worden  zij  verdreven. 

M.  CCC.  XX  ende  acht: 

So  waest  dat  men  te  Cassel  vacht, 

Daer  Vrancrijc  wan  ende  Viaendren  verloes, 

Des  sal  men  ghedincken  altoes^). 

Een  gesp  op  een  tess, 

Vier  ooren  aen  een  vles, 

En  een  balck  in  een  huys: 

Lach  Hertoch  Karel  vor  Nuis^).     1475. 

Jahrhunderte  lang  beliebt  waren  Sprüche  über  der  Welt  Lauf 
und  Stand,  durchweg  nach  Typus  G  gebaut,  jedes  der  parallelen 
Glieder  in  charakteristischer  Konstruktion*)  zwei  Gegensätze  ver- 
einend. Wir  trafen  schon  auf  eine  niederrheinische  Nachahmung 
dieses  Vierzeilers.    Im  Mnl.  ist  er  früh  bezeugt. 

Wetti,  hoe  de  werelt  staet? 
Doet  mi  goet,  ic  doe  u  quaet; 
Doet  mi  ere,  ic  doe  u  lachter; 
Trect  mi  vore,  ic  sette  u  achter*). 

Der  niederrheinischen  und  sonstigen  deutschen  Überlieferung 
steht  eine  sehr  späte  Version  der  in  Zutfen  entstandenen  Weimarer 
Hs.  von  1537  näher. 


*)  Napoleon  de  Pauw,  Mnd.  Gedichten  en  Fragmenten.  Gent  1893. 
S.  637. 

3)  A.  a.  0.  S.  636.  638. 

^)  Yeteris  aevi  Analecta  seu  vetera  monumenta  hactenus  non  yisa  ed. 
Antonius  Matthaeus.     Ed.  secunda.  Ilt.  Hagae-Comitum  1738.    S.  654. 

^)  Zarncke  zum  Narrenschiff  33,8. 

^)  Ans  der  Hu Ithom sehen  Hs.  im  Belg.  Mus.  6,  186  mit  der  Variante 
S.  202:  Wetti  waer  mede  de  werelt  omme  gaet?  Suringar,  Bijm- 
spreuken  2,  9.  Die  Dresdener  Hs.  M.  33a,  Bl.  5b  hat  als  Vers  1:  ,Siet  wat 
hier  ghescreven  staet'  und  im  letzten:  ,set  mj  voreS  Xanthippus, 
Preuß.  Jb.  86,  93  f. 


360 

DU  is  nn  der  werelt  staet: 
ic  doe  dy  goet,  du  doest  my  qnaet; 
ic  hefie  dy  op,  du  werpst  my  neder; 
ic  ere  dy,  du  schendest  my  weder  ^). 

Im  Oöttinger  Liebesbrief  vom  Jahre  1458,  den  Hermann 
Konemund  zum  Zweck  einer  raffinierten  Erpressung  an  Kard 
Hallis  schrieb,  ist  der  ältere  Spruch  völlig  individuell  verarbeitet. 

In  allen  werden  goden  stad: 
Dede  ek  iw  goyt,  gy  deden  my  qaat; 
Borde  ek  niy  up,  gy  setteden  my  neder; 
Erde  ek  iw,  gy  sehenden  my  weder'). 

Auch  die  Fassung  des  niederdeutschen  Beimbüchleins  ist  nicht 
ohne  Selbständigkeit;  ein  Vorzug  dieser  mnd.  Version  besteht 
darin,  daß  sie  zu  der  satirisch  wirksameren  Gegenüberstellung 
von  Du  und  Ich  znrücklenkt,  während  die  beiden  letzten  Beispiele 
der  Überlieferung  das   ,Du :  Ich'  zu  ,Ich  :  Du'  umgekehrt  hatten. 

Dith  is  nu  der  Werldt  staet: 
Do  mi  gudt,  ick  do  di  qwadt; 
Heve  mi  op,  ick  stöte  di  nedder; 
Ere  mi,  ick  sehende  di  wedder^. 

Den  Frauen  gilt  der  Vierzeiler: 

Vrauwen,  die  scaerlaken  draghen, 
Ende  selve  hären  vloer  vaghen» 
Ende  camecate  sonder  cnapen: 
Hier  sta  ic  op  ende  gapen^). 

In  der  Dresdener  Hs.  M.  33  a,  Bl.  5  b  weichen  die  beiden  letzten 
Verse  ab: 

ende  camelote  coersen  sonder  knape: 
hier  na  staen  ic  op  ende  gape. 

Genrebildartig  behandelt  auch  der  folgende  Spruch  seinen 
Gegenstand,  den  in  moderner  Vierzeilerpoesie  so  beliebten  Typus 
des  Pechvogels  ohne  Geld:' 


')  Weimarisches   Jahrbuch  I,  130 ff.  Nr.  34.      Meyer,   Die   gereimten 
Liebesbriefe  S.  83f.    te  Winkel,  Tijdschrift  5,  312. 
»)  X,  1  ff.    Germania  10,  385  ff. 
»)  Reimbnchlein  2457  ff.    Mones  Anz.  7,  500.  Nr.  27. 
«)  Hulthemsche  Hs.  im  Belg.  Mus.  1,195.   Yaderl.  Mns.  2, 148, 


361 


Schamel  ghesellen  sonder  ghelt, 
Diemen  dan  niet  boerghen  en  wilt, 
ende  node  haer  pande  vertheeren: 
Dat  syn  gods  marteleyre '). 

Eid  sinniges  Volksliedmotiv  nutzt  das  Priamel: 

Waer  ic  so  wit  als  een  swane, 
ende  conde  ic  minnen  als  een  hane, 
ende  conde  der  nachtegalen  sanc: 
so  waer  ic  in  aller  vrouwen  bedwanc'). 

Anlehnung  an  hochdeutsches  Vorbild  ist  möglich;  entsprechende 
Vierzeiler  sind  nachzuweisen. 

War  ich  so  weis  als  wie  ein  Schwan, 
Und  dUrft  so  oft  als  wie  ein  Hahn, 
Und  könnt  so  oft  als  wie  ein  Spatz  3): 
So  war  ich  aller  lIuTnicpetc  Schatz^). 

Könnt  ich  schwimmen  wie  ein  Schwan, 
Krähen  wie  ein  Gockelhahn, 
Karessiren  wie  ein  Spatz: 
War  ich  aller  Mädchen  Schatz  >). 

Aber  selbständige  Entwicklung  des  gemeinsamen  Motivs  ist 
nicht  ausgeschlossen,  wie  folgendes  Beispiel  bestätigt. 

Op  't  Krat  van  een  Haarlemmer  Wagen. 

Had  ik  het  bloet  van  een  Haan, 

De  schoonheit  van  een  Swaan, 

Gelt  nog  goet  zou  my  niet  ontbreken, 

De  Juffers  zouden  't  in  myn  zak  stecken^). 

Ein  Sechszeiler  der  Bescheidenheit  (78,  17  ff.),  von  dem  oben 
S.  289  die  Bede  war,  ist  in  der  Oberlieferung  der  Hu Ithem sehen 
Handschrift  auf  vier  Verse  reduziert. 


1)  Dresd.  M.  33  a,  Bl.  5  b. 

*)  Hoffmann,  Weim.  Jb.  1,  130ff.  Nr.  22.  Birlingeru.  Crecelius, 
Wunderhom  2,113.  Uhland,  Volkslieder  V  127.  Nr.  88, 8;  Schriften  4,85. 
Erk-Böhme,  Liederhort,  1,  424.  Meier,  Schwäbische  Volkslieder  S.  16. 
Nr.  79.    Gundlach  S.  49.  Nr.  144. 

»)  Wander  4,  670,  22. 

*)  S.  190  des  Helmsdörferschen  Stammbuches  im  Panlusmuseum  zuWorms. 

*)  Dreselly,  Grabinschriften  u.  s.  w.  8.  138.  Nr.  719.  Inschrift  an 
einem  Ofen  zu  Ottenbrunn. 

•)  Opschriften  2,  86, 


3(?2 


Die  niet  en  can  ende  niet  en  vilt  leren, 
Ende  van  eren  comt  tonneren, 
Ende  niet  enen  soten  verdraecht: 
Wijst  desen,  daer  men  sotten  vraecht*). 

Das  zweiteilige  Motiv,  dem  Kontrastmotiv  venrandt,  durch 
Psendo-Freidanksprüche  bezeugt,  greift  auch  auf  andre  Vierzeiler 
über')  oder  verwischt  in  anderen  Fassungen. 

Die  niet  en  can  noch  en  weet, 
Ende  niet  en  heeft  noch  en  gheneert, 
Ilet  es  anschijne  oppenbare, 
Dat  hem  es  nahende  ennoede  zware'). 

Für  den  ungemein  verbreiteten  Spruch  vom  Freund  in  der 
Not  ist  ein  mnl.  Vierzeiler  der  älteste  mir  bekannte  Beleg. 

Een  vriendt  ter  noet, 
ende  een  vrient  ter  doot, 
ende  een  vriendt  achter  nigghe: 
Dat  is  een  vaste  brugghe^). 

Selbständig  erscheint  der  spätere  Freundschaftsspruch: 

Rechte  vrientschap  ende  die  ghepast 
besloten  in  twee  harten  vast, 
die  niet  en  mindert,  mer  altijt  past: 
nae  sulker  vrientschap  mijn  harte  tast^). 

Der  Einrichtung  eines  mittelalterlichen  Wirtshauses  entspricht 
die  Inschrift: 


Sijt  willecomen»  god  weet: 

Dat  ghij  brijnc,  is  u  bereet, 

Dat  ghij  fynt,  moechdij  begheren, 

Dat  ghij  hebt,  moecht  dij  verteeren*). 


')  Belg.  Mos.  6,  187.  Nach  demselben  Motiye  ist  eis  selbst&ndiger 
Sechszeiler  der  Hnlthem sehen  Hs.  gebildet.  Serrare,  Yaderlandsch  Mus. 
2,  193.   Vers  481  «f. 

<)  Z.  B.  Altdeutsche  Blätter  1,  76.  Nr.  24,  1.  Zs.  f.  d.  A.  34,  49. 

3)  Belg.  Mus.  6,  195.  Dresd.  Hs.  M  33a,  Bl.  5b  Vers  1;  ,endeniet 
en  leerte 

')  M  33a,  5b.  Die  Hs.  schreibt  ,acter  und  wasteS  Eoker  S.  344. 
Mones  Anz.  2,  228.  Keimbüchlein  100 ff.  2325 ff.  Vgl.  Zingerle  S.  39  und 
die  Sprichwörterlexika. 

')  Aus  der  Weimarer  Hs.  Ho  ff  mann  Nr.  27.  Ein  andrer  Spruch,  den 
Hoff  mann  in  den  Altdeutschen  Blättern  1,  75  Nr.  12  mitteilt,  nimmt  in- 
haltlich und  formell  eine  neue  Wendung. 

^)  Dresd.  M  33a,  Bl.  5b   Altd.  Blätter  1,  75.  Nr.  8.  Vers  3:   ,dat  ghi 


363 


Eine  neue  Wendung  des  Motivs  ,HaIb  und  halb^  kommt  in 
folgender  Art  zustande: 

Halff  quaet  halff  guet, 

Halff  gheck  halff  vroet, 

HalfiF  eer  halff  scande: 

Dat  is  die  zede  van  den  lande  *). 

Zwischen  ernster  Satire  und  dem  Bettelspruch  schwankt: 

Tfi  den  melden,  fi  den  goeden» 
Tfi  den  hoofschen,  fi  den  vroeden, 
Tfi  hen  allen,  di  nu  leven: 
Sonder  die  ghelt  mögen  gheven'). 

Gute    Beispiele    des    Typus  B    liefert  die    Wiener   Hs.,  die 
Bäumker  großenteils  veröffentlicht  hat'). 

Hi  is  geck,  die  hem  te  vele  onderwynt, 
Hi  is  geck,  die  hem  te  vaste  uerbindt, 
Hi  is  geck,  die  tsyn  niet  en  genoecht, 
Hi  is  geck,  die  hem  mh  gecken  voecht^). 

Tot  steruen  syn  wy  alle  geboren, 
Sternen  is  ons  leuen  al, 
Steruen  is  ons  toe  behoeren: 
Mer  wel  te  steruen  is  guet  geuaP). 

Späterer  Überlieferung  gehören  folgende  Beispiele  an: 

Tscheers  qualic  ghewet, 

den  baert  qualic  ghenet, 

en  ruide  banden: 

doen  menighen  man  cryseltanden  ®). 


siet^  Der  minnen  guet  hg.  von  Yerwijs  S.  47.  Nr.  43.  Gaston  Paris, 
Yillon  S.  55:  „Les  tavemiers  ne  donnaient  qu'ä  boire;  si  on  voulait  manger 
chez  eux,  11  faillait  apporter  ses  provisions''.  Reimbachlein  1740  ff.  Mones 
Anz.  7,  500.  Nr.  45. 

>)  Nd.  Korrespondenzblatt  23,  91.  93. 

')  Hulth.  Hs.  Belg.  Mus.  6,  194.  Die  Dresd.  Hs.  M  33a,  Bl.  5a  kehrt 
in  Vers  1  und  2  ,den  mjlden'  nnd  ,den  hoefschen'  um.  Auch  Reim- 
büchlein 2056—59.  2158  ff.  2393  ff.  könnten  Bettelsprnche  sein. 

5)  Nd.  Jb.  13,  104ff       *)  106, 7ff.        »)  107,  23ff. 

^)  Meijer,  Oude  nederlandsche  Spreuken  S,  70, 


364 

Die  met  Stade  vult  synen  dann, 
synen  necke  van  passe  haudt  warm, 
en  syn  wyf  verre  van  synder  sye: 
leeit  in  ghesondichye  ^). 

Die  moet  sin  mit  brillen, 
purgieren  met  pillen,. 
ende  boeleren  met  medecyne: 
syn  leuen  werdt  hem  pyne*). 

Gheen  vrueght, 

gheen  iueght, 

gheen  excellentie: 

voor  een  gheruste  conscientie^). 

Es  sind  aber  oft  mehr  Quatrains  moraux  als  volksmäßig 
gebaute  Priamelvierzeiler,  die  man  liebte.  Nur  einige  wenige 
seien  aus  der  Menge  solcher  nicht  recht  priamelhafler  Sprüche 
hervorgehoben. 

Heelen,  peynsen,  dinken  ende  verbeyden, 

Die  diese  IUI  can  umbeleyden, 

hij  mach  seker  syn,  van  dien 

hen  sal  duecht  van  dien  geschient). 

De  roenege  up  enen  anderen  sprect, 
gevroet  -  i  wat  dat  hem  gebrect, 
ende  wat  hem  vormaels  wäre  geschiet: 
hi-swege  ende  sprake  up  anderen  niet^). 

Te  tide  verdraghen,  te  tide  wreken, 
te  tide  swighen,  te  tide  spreken : 
die  dit  can,  die  mach  met  eren 
te  hove  gaen  ende  keren^). 

Darf  man  von  heutiger  Produktion  auf  die  Gabe  der  Improvi- 
sation bei  den  niederdeutschen  Stämmen  im  Mittelalter  schließen, 


•)  Ebenda  S.  73.    Uhl  S.  393.        «)  Meijer  S.  82.        »)  S.  107. 

*)  Dresd.  M  33  a,  Bl.  6  a. 

*)  Ans  der  Brüsseler  Handschrift  319  in  Mones  Anz.  3,292.  Mones 
Quellen  und  Forschungen  1,  481. 

^)  Aus  der  Hulthem sehen  Hs.  Belgisch  Museum  6,  212.  Serrare, 
Yaderlandsch  Museum  2,  174.  Vers  113 ff.  Mone,  Übersicht  der  nieder- 
ländischen Yolksliteratur  älterer  Zeit.  Tübingen  1838.  S.  312.  Hier  auch 
längere  Sprüche  des  gleichen  Inhalts. 


365 


so  hat  der  Stegreif- Vierzeiler  auch  bei  ihnen  nicht  ungünstige 
Daseinsbedingungen  vorgefunden.  Freidankverse  kommen  hier 
an  erster  Steile  in  Betracht. 

Weil  das  Priamel  frei  verändert  wird,  sind  auch  die  soge- 
nannten Freidankverse  nicht  an  einen  Originaltext  gebunden  und 
können  nicht,  wie  Wilhelm  Grimm  es  tat,  für  den  ,echten'  Frei- 
danktext in  Anspruch  genommen  werden.  Grimms  Übersetzungen 
ins  Mittelhochdeutsche  des  beginnenden  13.  Jahrhunderts  sind 
problematisch.  Die  Überlieferung  der  folgenden  Sprüche  gehörte, 
wie  wir  sahen,  erst  dem  15.  Jahrhundert  an. 

Junghes  mannes  strit, 

unde  oldes  wyves  hochtid 

unde  cleynes  perdes  lopent: 

de  schal  neman  to  dure  kopen. 

Papen  konheyt, 

unde  nunen  steticheyt, 

unde  ossen  telden: 

de  werden  gelovet  seiden^). 

Obgleich  die  Bescheidenheit  zu  der  mittelniederdeutschen 
Spruchdichtung  mit  am  meisten  beigesteuert  hat,  nahm  Fr  ei  dank 
doch  keine  so  autoritative  Stellung  ein,  daß  man  ihm  etwa  sein 
Eigentum  wahrte;  im  Gegenteil  legte  man  seine  Sprüche  wieder 
bekannten,  unbekannten  und  fingierten  Gewährsmännern  in  den 
Mund.  Die  Freidanksprüche  des  Bremischen  Ratsstuhls  werden, 
bis  auf  zwei,  andern  Männern  zugeschrieben,  dem  Seneca,  Horaz, 
Alanus,  Paulus,  Ambrosius,  Hieronymus,  Tobias,  Cicero, 
Macer^).  Meist  sind  sie  natürlich  namenlos,  wie  in  der  Halber- 
städter Hs.,  die  an  ihrem  ersten  Spruch  zeigt,  wie  aus  einem 
nicht  priamelhaften  biblischen  Freidankspruch  ein  guter  Priamel- 
vierzeiler  geworden  ist. 

Dar  de  konnynck  yst  eyn  kynth, 
unde  de  frouwe  hefft  dat  bewynthp 
unde  dat  hoff  arbeydeth  nha  gelt: 
de  lande  synth  selszen  gestellt'). 

1)  Bezzenb erger  S.  236.    Oben  S.  287. 

«)  HugoE.MeyerZ.f.d.A.27,33ff.ÜberdieQuellenimallgemeinenS.43ff. 

3)  Nd.Jb.  2,29.  Freid.  72,  1.  Grimm  S.  XXXV»  349.  Bezzenberger 
S.  357.  Abweichende  nd.  Umschreibungen  des  Bibelcitats  bei  Brandes, 
Glosse  S,  282. 


366 


Man  vergleiche: 

Lant  und  liute  geirret  sint, 
swa  der  kUnec  ist  ein  kint 
und  sich  die  fUrsten  vlizent, 
das  si  vruo  enbizent. 

Ebenso  ist  es  einer  andern  Freidankstelle  ergangen;  die  volks- 
mäßige Priamelform  dringt   im   Verlauf  der  mnd.  Überlieferung 

sichtlich  vor. 

Sülcke  Gesellen  beger  ick  nicht: 

De  Frölick  sint,  wen  mi  leidt  geschieht, 

Und  de  mi  sülvest  nedder  drücket, 

Ock  nicht  uphelpet,  so  mi  was  ungelücket  ^). 

Andere  mnd.  Freidankvierzeiler  genügen  höheren  formalen  An- 
sprüchen nicht;  geläufig  sind  sie  bis  ins  16.  Jahrhundert  geblieben, 
Agricola  und  Diez  brachten  sie  aufs  neue  in  Kurs. 

Adel,  tucht,  schone  gesta|t  und  jöget, 
wißheit,  rikedom,  laster  und  doget: 
de  leth  de  dodt  alle  nicht  bestan. 
na  unsem  vordenste  kumpt  dat  Ion'). 

Ein  ältere  mnl.  Übersetzung  war  formell  nicht  anders  verfahren: 

Coenheit,  edelbeit,  hovescheit,  joecht, 

wijsheit,  njcheit,  ere  ende  doeght, 

die  en  wilt  de  doot  niet  sparen, 

wine  moeten,  daer  \(i  verdienen,  varen^). 

Zu  einem  Vierzeiler  ist  ein  längerer  Spruch  der  Bescheidenheit 

°  '  Got  hat  driu  leben  geschaffen: 

gebüre,  ritter  unde  pfaffen; 
das  vierde  geschuof  des  tiuvels  list, 
daz  dirre  drier  meister  ist: 
daz  leben  ist  wuocher  genant, 
daz  slindet  liute  unde  lant^). 

Godt  hefft  Veer  dinge  geschapen: 

den  Adel,  Buren  und  Papen, 

dat  veerde  sind  Wokeners  genant, 

de  schinden  Borge,  Stede,  Dörper  und  Landt^). 


»)  Reimb.  1295  ff.    Freidank  64,  8 ff.    Brandes,  Glosse  S.  252. 
3)  Reimbüchlein  1051  ff.    Freidank  176,  16.    Brandes,  Glosse  S.  261. 
Vers  1839. 

3)  Suringar,  Rijmspreuken  2,  260.  Nr.  87. 

*)  27,  1. 

^)  Reimbüchlein  1569  ff.     Brandes,  Glosse  S.  241  (Agricola). 


367 

Hier  zeigt  sich  niederdeutsche  Vorliebe  für  Einfachheit,  die  leicht 
der  reicher  entwickelten  Kunst  des  Hochdeutschen  gegenüber 
etwas  dürftig  erscheint. 

Nicht  minder  beliebt  waren  Hugos  von  Trimberg  Vier- 
zeiler; z.  B. 

Heren  gunst  und  rosen  bieder, 

frouwen  gemueth  und  Aprilis  wedder, 
worpell,  karten  und  seydenspyel: 
de  synt  unstede,  wers  geloven  wyP). 

Hatten  Hugos  Eugen  oft  noch  individuelle  Bedeutung,  so 
erweiterte  spätere  Tradition  den  Vierzeiler  zu  allgemein  gnomischer 
Geltung.     Hugo  schrieb: 

Gitigkeit,  luoder  und  unkiusche, 

muotwille  und  unzimlich  getiusche, 

hant  mangen  hem  als6  besezzen, 

daz  si  der  wise  enbänt  vergezzen, 

in  der  hie  vor  edel  herren  sungen: 

von  Botenloube  und  von  M6rungen')  u.  8.  w. 

Daraus  wurde  im  Niederdeutschen  des  16.  Jhs.: 

Giricheit,  Vullerie  und  unküsch  wandel, 
Mothwille  und  untemlick  handel: 
hebben  mennigen  Herrn  also  beseten, 
dat  se  der  Wißheit  gar  hebben  vorgeten^). 

Ein  Bennermotiv  scheint  folgendem  Vierzeiler  zu  Grunde  zu 
liegen: 

Tidt,  stede  und  stünde, 

Veldt,  Hasen  und  Hunde; 

Maken  mennigen  wilden  Man, 

Dat  mercke  wol,  de  dat  marcken  kan^). 

Auch  von  der  Bescheidenheit  und  vom  Benner  abgesehen,  ist  . 
die  Literatur  der  mittelniederdeutschen  Priamelvierzeiler  in  weitem 
Umfange  von  hochdeutscher  abhängig.     Die  besten  hochdeutschen 
Beispiele    sind   vielfach   schon  in    nd.   Übersetzungen   mitgeteilt, 
Übertragungen  aller  Art  sind  zahlreich.    Das  Verdienst  der  meisten 

^)  Nd.  Jb.  2,  31.  aus  einer  Halberstädter  Hs.  Andere  Fassungen  bei 
Brandes,  Glosse  S.  242. 

«)  1210  ff. 

3)  Reimbüchlein  1483  ff.  Brandes,  Glosse  243,  66  (Agricola). 

«)  Beimbüchlein  2176  ff.  Kenner  12536  f.  10575  f.  Henisch  bei 
Wander  5,554.    Vgl.  Reimb.  2628 ff.    Koker  S.  374. 


368 


Sprficbe  dieser  Art  besteht  nur  in  Tollstäodiger  AneignoDg,  Weiter- 
bilduDgen  sind  spärlicher. 

Junge  Papen, 

Olde  Apen 

Und  wilde  Beeren: 

Schal  nemandt  jn  syn  hass  begeren*). 

Nun   aber  hängt  niederdeutscher  Humor   sein  Schwänzchen 
daran: 

Denn  de  Papen  laten  na  einen  Sproke 
Und  de  DoTel  einen  roke. 

Eine    entsprechende  Zusammenstellung   bot   die  Stockholmer 
Vogelsprache  Nr.  42: 

De  dane. 
We  S3m  hos  wil  hebben  snver. 
De  wäre  syck  Tor  papen  und  dunen. 
De  dirae  gheyt  schyten  amme  den  thient 
Unde  de  pape  nmme  syn  serdent'). 

Hasen  lunge, 

Karpen  tunge 

Und  Barbren  mnlchen: 

Hefft  vortert  min  geidt  uud  Gülchen'). 

Wohl  auch  hochdeutscher  Herkunft  ist  der  Beim: 

Den  gülden  am  klänge, 

den  vagel  am  sänge, 

den  minschen  an  geberden  und  worden : 

erkent  men  an  allen  erden*). 

Die   hochdeutschen  Entsprechungen   zu  folgenden  Vierzeilern 
lernteu  wir  schon  kennen: 


»)  Werldtspröke  Nr.  19. 

»)  Nd.  Jb.  14,  132.    Vgl.  144. 

3)  Reimbtichlein  885  f.  Hochdeutsch  Waldis  (Kurz)  2,  124.  25.  Wan- 
der 2,  380.    Uhl  8.  380.  383. 

*)  Archiv  des  historischen  Vereins  für  Niedersachsen  1850.  S.  314;  aus 
einer  P]bstorfer  Hs.  Freidank  140,  9f.  82,  10  f.  Vintlej  9390  ff.  Zin- 
gerle  S.  44.  29.    Uhl  S.  316.  322.  352.  377.     Oben  S.  240. 


369 


Vele  wete  vnde  weynich  zage, 

Antworde  nicht  vppe  alle  vrage, 

Westu  wat,  dat  wert  wol  schyn, 

Wes  wat  vnde  lath  eynen  andern  ock  wat  syn^). 

Wete  vele  unde  weynich  saghe, 
antword  nich  up  alle  fraghe, 
halt  vor  gudt  ydermann: 
wat  westu,  wat  eyn  ander  kan'}? 

Selbständigeres  bietet  ein  mystischer   westfälischer   Sprach 
desselben  Motivs: 

Swighen  und  denken, 

anschowen  sunder  wenken, 

merken  sunder  klaffen: 

kann  vele  dogede  und  fredes  geschaffen'). 

Blinde  tho  vormiden  is  ein  Schrin, 
Gedult  im  lidende  legge  dar  in, 
Woldath  vor  arch  do  dar  tho, 
Frouwde  in  armoth:  nu  do  tho^). 

•   Eine  hertzen  &n  syne  lust, 
Und  drincken  ane  synen  ddrst, 
Ock  ethen  ane  hunger: 
Levet  de  lang,  so  nimpt  ydt  my  wunder*). 

Becht    beliebt     war    auch    bei    den    Niederdeutschen    der 
Spruch: 


')  Borchling,  Mnd.  Hsn.  2, 114.  Aus  einer  Stockholmer  Hs.  des 
15.  Jhs.  Vers  3  und  4  ließen  sich  nach  der  Mnnchener  Yogelsprache  45,  4 
im  Nd.  Jb.  14, 145  und  nach  einer  Inschrift  (Zeitschrift  des  historischen 
Vereins  für  Niedersachsen  1849  S.  285.  Nr.  14)  rekonstruieren;  ,WanS  wofür 
,Wes'  aus  der  Inschrift  eingesetzt  ist,  könnte  noch  an  den  Anfang  des 
3.  Verses  gebracht  werden. 

^  Über  der  Einleitung  zum  Stader  Statut.  Nd.  Korrespondenzblatt 
2,  80.    Z.  f.  d.  A.  27,  39. 

^  Zeitschrift  für  vaterländische  Geschichte  und  Altertumskunde  1857 
S.  310.    Zu  Vers  1:  Brandes,  Glosse  S.  269  V.  2694. 

«)  Beimbüchlein  1806.  Oben  S.  327.    Borchling,  Mnd.  Hsn.  2,81. 

4  Werldtspröke  44.    Oben  S.  348. 
Knline;,  Priamel  24 


370 

Schwyge,  lyde  und  ock  vordrag, 
Dyn  herteleidt  nicht  eim  ydern  klag, 
An  Gödt  dem  HEREN  nicht  vortzag: 
He  gifft  und  helpet  alle  Dag^. 

Lidt,  midt,  swigh  und  vordrage, 
Dine  nodt  nemandt  klage, 
An  Godt  dinen  schepper  nicht  vortzage: 
Dan  gelücke  kumpt  alle  Dage^). 

Älter  ist  folgende  aus  einer  Stockholmer  Hs.  des  15.  Jahr- 
hunderts von  Borchling  mitgeteilte  Version: 

Swich  vnde  lith, 

Dat  wart  syn  tyd, 

Hebbe  dult  vnde  vordrach: 

Dencke,  wen  yd  dy  wedder  vallen  mach  3). 

Nur  Varianten  des  Motivs  sind: 

Wes  willich  und  demödige  dich, 
Und  mit  gedult  vele  aversich, 
Nim  an  tho  dancke,  wat  men  di  doeth: 
Datsüive  bringt  di  ehr  und  gudt^). 

Schwich,  lidt  unde  midtl 

GOTT  giflft  de  tidt, 

De  di  vorfröwt. 

Folg  der  Lehr:  sülcks  di  nicht  riiwt*). 

Eine  schöne  Ausführung  des  Spruches  gibt  Sebastian  Brant 
in  seinen  Epigrammen*^),  die  vielfach  sozusagen  ^gebildete^  Para- 
phrasen alter  Volksweisheit  enthalten.  Dem  mittelalterlichen  Ge- 
dankenkreise steht  die  nl.  Ausführung  der  von  Bäumker  publi- 
zierten Wiener  Pergamenths.  näher: 


>)  Werldtsproke  77.  Wander  1,  1606,  30.  Brandes,  Glosse  S.  252. 
(Agricola). 

2)  Reimb.  1287. 

3)  Mnd.  Hsn.  2,  114. 
*)  Reimbüchlem  3573. 

^)  3646.  Vgl.  Nd.  Jb.  2,25:  Wiltn  leuen,  sone,  na  ane  schult 
Swich,  merke,  höre  und  hebbe  dult.  Eitner,  Das  deutsche  Lied  des 
15.  und  16.  Jhs.  2,  34.  Nr.  49.  Zeitschrift  des  historischen  Vereins  for 
Niedersachsen  1850.     S.  311  f. 

6)  Zarncke,  Narrenschiff  S.  158.  Nr.  47.  Ähnlich  Reimbüchlein  2502  ff. 
Nd.  Jb.  13,  107,  7—12.    Brandes  Zs.  f,  d.  A.  34,53. 


371 


Dyn  lyden  en  sulstu  niemant  clagen 
Daiü  Jhesu,  die  salt  di  helpen  dragen; 
Die  menige  seyt  syn  liden  voert 
Den  ghenen,  die  dat  gheerne  hoert, 
Hem  weer  leet,  cbt  anders  waer. 
Aldus  maect  hi  hem  selven  te  maer 
Ende  wordt  dan  Tele  te  myn  geacht, 
Het  is  een  manlike  cracht, 
Dat  een  syn  liden  wel  can  dragen 
Verborgen,  sonder  yemant  te  clagen 
Ende  toenen  yan  buten  aisulk  gebaer. 
Recht  off  in  hem  gheen  liden  en  waer  *). 

Weise  und  schön  nennt  Wehr  mann  die  in  einer  Lübecker 
Hs.  gefundenen  Verse: 

He  is  wys,  de  kan  vordraghen, 

unde  liden  vordreet  al  sunder  klaghen 

unde  darby  holden  syn  gebere, 

oft  liden  vordreet  neyn  liden t  were^. 

Dieser  Vierzeiler  entspricht  einem  mnl.,  Aristoteles  zuge- 
schriebenen Verse  der  Hulthemschen  Hs.: 

Een  mensche  die  wel  can  verdraghen 
sijn  leet  verborghen  sonder  claghen, 
ende  toene  in  hem  een  goet  ghebare, 
oft  gheen  liden  in  hem  en  wäre, 
die  dit  wel  ghedhoen  can, 
leeft  in  eren,  eest  wijf  öf  man^)« 

Das  von  Scherer  für  den  Beginn  des  15.  Jahrhunderts  be- 
zeugte hochdeutsche  Motiv:  ,ünmuot  duot  we,  Armuot  noch  vil 
me^  verbindet  sich  mit  dem  Prinzip  des  Kettenspruchs.  Das 
ergibt  den  Vierzeiler  des  Typus  B: 

Gudt  maket  modt, 
Modt  bringet  avermodt, 
Avermodt  bringet  armodt, 
Armodt  gantz  we  doth^). 

1)  Nd.  Jb.  13,  108,  38  ff.    Vgl.  109,  4  ff. 

»)  Nd.  Jb.  8,  8. 

^)  Serrure,  Yaderlandsch  Museum  2, 195.  Vers  529 ff. 

«)  Reimb.  2186  ff.  Vgl.  2442  ff.  Köhler,  Kleinere  Schriften  2,  66  ff. 
Zarncke,  Narrenschiff  S.  157.  Nr.  36.  Oldecop  110,24.  Zs.  des  bist. 
Vereins  für  Niedersachsen  1849  8.323.  1850  S.  311. 

24  • 


372 


Nach  gängigen  Motiven  wird  ans  dem  Stegreif  gereimt: 

Ein  Jaermarckt  ane  Deve, 

Ein  sch5ne.  Frouw  ane  leve. 

Ein  Bfidel  ane  Geldt: 

Desse  dre  dinge  vindt  men  seiden  yn  der  Weldt'). 

Ein  Garden  ane  Boem, 

Ein  sch6n  Guel  ane  Thoem, 

Ein  Rftter  ane  ein  Swerdt: 

De  dre  synt  nicht  veel  Geldes  werdt*). 

Synt  dat  papen  vogede  worden, 
Monyke  hulpen  sik  vth  den  orden» 
Landes  heern  nicht  bleuen  bij  worden: 
Synd  is  de  werlt  seer  versoerden'). 

Seedcr  dat  yt  waert, 
Dat  men  papen  wijgede  Yngelaert 
Und  lade  te  lydder  sloch  sonder  gebort, 
Und  blote  kutten  schoer: 
Heefil  sick  de  werlt  seer  verkart^). 

De  dar  hefit  ene  steneghen  acker» 
Und  eyn  wyff  myt  den  lenden  wacker, 
Deme  syn  dynck  denne  nycht  en  doch: 
De  hefilt  ungheluckes  ghenöch*). 

Mannich  man  hefft  enen  stenegen  acker. 
Und  sijn  wijff  mjrt  dem  eerse  wacker, 
Und  eene  stumpe  ploech, 
Und  eme  sijn  dynck  nicht  en  doch: 
Uorwaer  de  hefit  unlackes  genoch^. 


•)  Werldtspröke  Nr.  52.    Vgl.: 

Een  iaermarct  sonder  dief, 
een  schoene  maeght  sonder  lief, 
een  schare  met  coren  sonder  mosen, 
een  oade  pelse  sonder  lasen, 
een  oadt  wyf  sonder  scheiden: 
dese  vyf  dinghen  vindt  men  seiden. 
Meijer,  Oude  nl.  Spreuken  S.  87.    Herrigs  Archiv  112,  15  f. 

«)  Werldtspröke  Nr.  46. 

^  Nd.  Jhb.  14, 141.  Nr.  19  worden]  Hs.  ,weren'. 

*)  141.  Nr.  17. 

^)  Nd.  Jb.  14, 133.  Nr.  49.    Oben  S.  280. 

«)  Nd.  Jb.  14, 143.  Nr.  37. 


878 

Misse  to  hören  en  leitet  nicht, 
almisse  to  geven  en  armet  nicht, 
unrechte  guet  en  dyet  nicht, 
logen  to  spreken  en  riket  nicht  ^). 

Oesundheits-  und  Lebensregel  kleiden  ihre  Weisheit  gern  in 
die  Improvisationsform  des  Priamels,  auch  wenn  sie  in  der  (den 
Inschriften  so  nahe  verwandten)  Vogelsprache  auftreten. 

We  des  nachts  wil  vele  drinken, 
Und  nicht  mede  ethen  von  den  Schinken, 
Des  awens  ghan  an  der  ulen  vlacht: 
Den  besteit  gerne  de  watersucht "). 

We  des  morghens  vro  upsteyt 
Unde  dorch  lusten  spasseren  gheyt 
Unde  leth  na  ghades  kerken: 
De  wyl  der  boven  orden  Sterken'). 

Solche  Vierzeiler  können  selbständig  sein. 
Orobianische  Parodie  bleibt  nicht  aus: 

Suep  di  vuU  und  legg  dy  nedder, 
Sta  up  und  vAUe  dy  wedder: 
Also  schrifit  Alexander: 
Eine  vulle  vordrifilt  de  ander*). 


^)  Zs.  f.  yaterländische  Geschichte.  Münster  1857.  S.  310.  Vgl.  oben 
S.  349.  Protestantisch  umgedichtet  Zs.  des  historischen  Vereins  for  Nieder- 
Sachsen  1850  S.  309.  Werldtsprdke  Nr.  47.  Wander  1,50.  3,638.  Brandes, 
Glosse  S.  87.  268.  Wander  3,  1702,  36.  2, 1357,  4.  Zeitschrift  f.  Volks- 
kunde 8,51.      Simprecht  Krölls  Handschrift  Cod.  Pal.  germ.  795,  47b: 

Glas  schön  bin  ich  nit, 
Hofflich  bulen  kan  ich  nit, 
Lieplich  ansechen  hilft  mich  nit, 
Fraintlich  angreiffen  dar  ich  nit. 
Gelt  helf  michl    das  hab  ich  nit: 
Unfal,  das  meinen  bulen  der  ritt  schidtl 

Esehenburg,  Denbn&ler  S.  460.  Nr.  12. 

»)  Nd.  Jb.  14, 129.  Nr.  16.    Werldtspröke  Nr.  94,  93. 

>}  A«  a.  0.  185.  Nr.  61.  Im  allgemeinen  vgl.  Wander  1,  166,  22 ff. 
Trinkregel  21. 

^)  Werldtspffdke  45.  Hochdeutsches  ans  Aegidius  Albertinus  bei 
Zarncke»  Narrenschiff  GXVn.    Zs.  t  d.  Phil.  9,  210. 


872 


Nach  gängigen  Motiven  wird  aus  dem  Stegreif  gereimt: 

Ein  Jaermarckt  ane  Deve, 

Ein  sch/^ne.  Frouw  ane  leve» 

Ein  BAdel  ane  Geldt: 

Desse  dre  dinge  vindt  nnen  seiden  yn  der  Weldt'). 

Ein  Garden  ane  Boem, 

Ein  8ch6n  Guel  ane  Thoem, 

Ein  R&ter  ane  ein  Swerdt: 

De  dre  synt  nicht  veel  Geldes  werdt'). 

Synt  dat  papen  vogede  worden, 
Monyke  hulpen  sik  vth  den  orden, 
Landes  heern  nicht  bleuen  bij  worden: 
Synd  is  de  werlt  seer  versoerden^). 

Seeder  dat  jrt  waert, 
Dat  men  papen  wijgede  vngelaert 
Und  lüde  te  rydder  sloch  sunder  gebort, 
Und  blote  kutten  schoer: 
Heefft  sick  de  werlt  seer  verkart^). 

De  dar  he0b  ene  steneghen  acker, 
Und  eyn  wyfT  myt  den  lenden  wacker, 
Deme  syn  dynck  denne  nycht  en  doch: 
De  hefft  ungheluckes  ghenöch*). 

Mannich  man  hefit  enen  stenegen  acker, 
Und  sijn  wijff  myt  dem  eerse  wacker, 
Und  eene  stumpe  ploech, 
Und  eme  sijn  dynck  nicht  en  doch: 
Uorwaer  de  hefft  unluckes  genoch^. 


>)  Werldtspröke  Nr.  52.    Vgl.: 

Een  iaermarct  sonder  dief, 
een  schoene  maeght  sonder  lief, 
een  schüre  met  coren  sonder  musen, 
een  oude  pelse  sonder  lusen, 
een  oudt  wyf  sonder  scheiden: 
dese  vyf  dinghen  vindt  men  seiden. 
Meijer,  Oude  nl.  Spreuken  S.  87.    Herrigs  Archiv  112,  15  f. 

«)  Werldtspröke  Nr.  46. 

»)  Nd.  Jhb.  U,  141.  Nr.  19  worden]  Hs.  ,weren'. 

*)  141.  Nr.  17. 

^)  Nd.  Jb.  14, 188.  Nr.  49.    Oben  S.  280. 

«)  Nd.  Jb.  14, 148.  Nr.  87. 


375 


Das  lehrt  die  vollständigere  Fassung: 

We  daer  wyl  vysche  meygen, 
Und  an  sjmen  acker  stene  segen, 
Und  de   den  doden  schijten  drecht, 
Und  syn  gelt  an  hören  lecht: 
Des  bistu  secker  unde  wis, 
Dat  yd  al  te  male  verloren  is'). 

Zerstört  ist  die  Form  folgenden  Verses: 

Zypnllen  und  knobelock, 

schone  frouwen,  bemewyn,  lendenrock, 

rath  tho  stinck  stinc  dat  ock^). 

Formell  unentwickelt  scheinen: 

Wol  dar  wil  hebben  ein  reine  Huss, 
Der  late  M6ncke  und  Papen  daruth. 
Denn  Möncke,  Muse,  Mutten  und  Maden 
Scheiden  seiden  &n  groten  schaden'). 

Wer  solche  bey  jm  hausen  leßt, 
Der  het  auch  warlich  gerne  Gest: 
Denn  Mönche,  Motten,  Meuse,  Maden, 
Die  scheiden  selten  one  schaden*}. 

Es  bleibt,  wenn  man  alle  zweifelhaften  Beispiele  abzieht,  noch 
eine  bescheidene  Anzahl  solcher  übrig,  deren  niederdeutschen 
Ursprung  man  zeigen  oder  vermuten  kann;  z.  B.: 

£n  wol  bewandert  wyff» 

en  pert,  dat  up  den  haken  ys  styff, 

unde  en  knecht,  de  vele  heren  hefft  gehat: 

darup  henge  nemant  synen  schat^). 

Die  Beime  bezeugen  niederdeutsche  Heimat 

Der  geystliken  unorlicheyt, 

des  hofwerkes  unhovescheyt, 

in  steden  unde  dorpen  uneyndrechticheyt : 

merket,  wat  dut  schaden  deyt^). 


>)  Nd.  Jb.  14,  144.  Nr.  45.  Jb.  3,  22,  21  ff.  25,  120.  Diutisca  1,  325. 
Germania  1857,  147  f.  Z.  f.  d.  Fhü.  9,  194  f.  Manuel  hg.  von  Baechtold 
S.  166.    Wander  5,  1156. 

»)  Nd.  Jb.  2,  29. 

^  Werldtspröke  Nr.  18. 

*)  Waldis  2,71,  45. 

*)  Nd.  Jb.  3,  62.  Nr.  12.    Nd.  Reimbüchlein  274.    Motiv  oben  S.  279  f. 

•)  Nd.  Jb.  3,  64. 


876 

We  sjne  vinger  in  alle  hole  stykt, 
Allent  dat  he  bort  vnde  zAd  besprykt, 
Vnde  sine  vote  van  dem  pole  strecket: 
Dat  were  nen  wunder,  he  worde  gecket*). 

We  nu  god  holt  vor  oghen, 
Vnde  swighen  kan  vnde  doghen, 
Vnde  wil  en  islik,  dat  zin  is,  gheven: 
De  mach  lange  in  eren  leven'). 

De  der  gemenheit  dent, 
Fflrsten  und  heren  syn  gelt  lent, 
Darto  vele  vAre  wil  bftten: 
De  mot  lyden  suer  unde  s6te^). 

Eine  Reihe  treffender  Priamelvierzeiler  überliefern  die  soge- 
nannten Vogelsprachen,  die  sich  schon  mehrfach  als  wichtig  für 
die  gnomische  Überlieferung  erwiesen  haben. 

Wor  de  magbet  ovele  meth, 
Unde  de  knecht  sijk  an  der  schrifft  vorghet, 
Unde  de  werdynne  to  rekent  gherne: 
Dar  schal  men  vormyden  de  thaveme^). 

Aus  diesem  Oenrebild  betrügerischer  Wirtschaft  hat  die  Er- 
weiterung des  Münchener  Druckes  etwas  ganz  anderes  gemacht, 
das  Bild  einer  verkommenen  Wirtsfamilie. 

Waer  dat  ys  een  astorich  weert, 

Und  Tele  kynder  vmxne  den  hert, 

De  frouwe  nycht  wyl  koken,  dat  men  eet, 

Unde  de  maget  luttick  in  de  kanne  met 

Unde  daer  to  rekent  gerne: 

Dat  maket  snel  een  woste  taverae^). 

Dem  keifenden  Hausherrn  gilt  der  Vers  des  Buchfinken: 

Wor  de  werth  grensen  gh&d 
In  deme  huse  sunder  underl&d 
Uppe  syn  wyf!  unde  uppe  ynghesynde: 
Dar  is  seiden  wath  ghudes  inne*). 


0  Nd.  Jb.  2,  25.    Lübben,   aus   einer  Emdener  Hs.,   die  Vers  2  hat: 
hört  züd  vnde^;  die  Besserung  rührt  von  Lübben  her. 
»)  Nd.  Jb.  2,  26. 

^  Brandes,  Glosse  S.  128  (3943).  278. 
*)  Nd.  Jb.  14,  132.  Nr.  41.        «)  Nd.  Jb.  14,  140.  Nr.  11. 
•)  Nd.  Jb.  14,  184.  Nr.  54. 


377 

Selten  kommt  ein  Wortspiel  vor: 

Offte  my  eyn  bove  myt  eneme  boven  schulde, 
Unde  de  sulve  bove  nych  vor  my  en  ghulde, 
Unde  were  doch  ergher  bove  wen  ick: 
Des  sulven  boven  vordrote  myk'). 

,De  heger  of  maerkloff'  tadelt  den  Unwahrhaften: 

We  vele  wyl  legen 
Unde  syck  daer  up  dreegen, 
Unde  ys  daer  by  valsch  und  spee: 
Och  welk  een  scalk  is  hei 

Wie  Goethes  Vierzeiler  „Im  neuen  Jahre  Glück  und  Heil!** 
ist  der  gelungene  Vers  gebildet: 

Hoge  torne  und  klockenklanck, 
To  groten  schepen  roder  lanck, 
To  qwader  reysen  gude  wege, 
Den  quaden  wijuen  grote  siege')! 

Als  dictum  Caroli  Magni  stehen  über  der  Ossenbruggeschen 
iChronick  des  Johannes  Elinckhamer  vom  Jahre  1588  die  Verse: 

De  ehre,  de  dy  Godt  gifft,  nicht  fluich. 
Damit  doch  em  dat  sine  nicht  entuich, 
Doe  selbst,  vorschaffe  alles  we  es  soll: 
Den  so  geit  et  dy  vnd  den  dinen  woP). 

In  der  Blütezeit  der  mnd.  Literatur  gewinnt  die  anspruchs- 
lose Form  des  Priamel Vierzeilers  bedeutenden  Einfloß;  gerade  sie 
scheint,  dem  demokratisch  schlichten  Geist  des  nd.  Volkes  kongenial, 
geringerer  poetischer  Begabung  sich  am  bequemsten  erreichbar 
erwiesen  zu  haben. 

Viele  von  Sebastian  Brants  dreizeiligen  Motto versen  sind 
bekanntlich  aus  dem  Narrenschiff  in  niederdeutsche  Spruchdichtung 
übergegangen;  nicht  in  der  Originalform,  sondern  nach  der  Straß- 
burger Überarbeitung  von  1494  im  Nyen  schip  van  Narragonien 
als  Vierzeiler  erweitert  und  priamelhaffc  abgerundet.  In  einigen 
Fällen  ist  die  Selbständigkeit  der  nd.  Bearbeitung  gering: 


»)  Nd.  Jb.  14,  137  Nr.  75. 

»)  Nd.  Jb.  14,  139.  Nr.  8.    Prov.  26,  8. 

3)  Spiels  Archiv  1882.  n  198. 


378 

De  syk  vp  gewalt  yn  deine  rade  vorleth, 
Vnde  veler  ordel  syck  vormeth, 
Den  mantel  na  deme  winde  draget: 
De  sw  he  yn  den  ketel  yaget'). 

Wer  sich  vff  gwalt  im  ratt  verlast, 
Vnd  feyler  vrteil  sich  nit  moßt, 
Den  mantel  henckt,  wo  wynt  her  blöst: 
Der  selb  die  suw  inn  kessel  stosst'). 

We  nicht  de  rechte  kunst  studeret, 
Vnde  na  der  schrifft  syk  nicht  regeret, 
Wat  vnnüttes  ys  he  dat  gerne  leret: 
Des  syn  ys  meer  wen  halff  vorkeret^). 

Wer  nit  die  rechte  kunst  studiert, 
Vnd  würt  am  narren  seil  gefiert, 
Vnd  nach  der  gschrifit  sich  nit  regiert: 
Der  selb  dem  gouch  die  schellen  rürt^). 

Wer  nit  die  rechte  kunst  studiert 
Derselb  jm  wol  die  schellen  Hirt 
Vnd  wurt  am  narren  seyl  gefürt*). 

We  vp  syn  fromheyt  holt  alleyn, 
Deme  nemant  gud  ys  yn  der  gemeyn, 
Vnde  ordelt  yederman  vnreyn: 
De  stot  syck  vaken  an  den  steyn  *) ! 

Schon  erheblicher  ist  die  Abweichung  in  folgendem  Falle 

Wer  öfflich  schlecht  sin  meinung  an, 
Vnd  kah  heimlichs  nützt  behan, 
Jo  spannt  sin  garn  für  yeder  man: 
Vor  dem  man  sich  licht  hietten  kan?). 


')  Dat  nye  schip  yan  Narragonien.  Rostock  1519.  Bl.  IX b.  vp]  vh  (!). 
Brant,  Narrenschiff  Mottoyers  zu  Kap.  2. 

^  Das  nüy  schiff  yon  Narragonia.    Straßbarg  1494.   Bl.  aV^* 

^  Nye  schip  Bl.  L  a.    Reimb.  2763  ff. 

^)  Das  nüy  schiff  Bl.  f  I. 

&)  Brant  Kap.  27. 

*)  Nje  schip  Bl.  Lila.  Das  nüy  schiff  Bl.  f  11  ▼•  Die  Übereinstimmong 
ist  fast  eine  wörtliche.  Brant  Kap.  29. 

V)  Das  nüy  schiff  Bl.  h  I  ▼. 


379 


De  alle  sine  sake  openbar  ansleyt, 
Spannet  sin  garn,  dar  eyn  yslick  geyt, 
Kan  nicht  vorswigen  hemelicheyt: 
Den  gesehnt  recht,  wo  yd  em  oek  geyt^). 

Meistens  hat  der  Bearbeiter  mit  sichtlichem  Behagen  an  der 
spezifischen  Priamelform  und  unverkennbarer  Begabung  für  den 
Improvisations- Vierzeiler  seine  Sprüche  um-  und  neugeschaffen. 
Das  mögen  mit  Hinzufügung  der  hochdeutschen  Entsprechungen 
Beispiele  veranschaulichen. 

Wol  des  nachtes  vp  der  gatzen  geyth, 
Vnd  vp  der  luten  effte  bungen  sleyth, 
Vnd  dar  ock  sinen  flyt  to  deyt: 
De  ys  de  ape  van  rypenschcyt"). 

Wer  viel  lust  hat,  wie  er  hoffier 
Nachts  vff  der  gassen  vor  der  thUr, 
Den  glust,  das  er  wachend  erfrür, 
Vnd  ouch  die  narrenkapp  vast  rilr^). 

Wer  vil  last  hat  wie  er  hofier 
Nachts  vff  der  gassen  vor  der  thiir 
Den  glust,  das  er  wachend  erfrür^). 

De  hyr  mit  dorheyt  vmme  geyt, 
Vnde  ys  nicht  to  deme  guden  bereyt, 
Vorsümet  den  wech  der  salicheyt: 
Dat  wil  em  niwen  yn  ewicheyt*). 

Vil  dünt  in  dorheit  hie  beharren, 
Vnd  ziehen  vast  ein  schweren  karren. 
Die  wil  sie  sich  nit  went  bewaren. 
Dort  wurt  der  swer  wag  naher  (aren*). 

Vil  dnnt  jnn  dorheyt  hye  beharren 
Vnd  ziehen  vast  eyn  schweren  karrhen 
Dort  wUrt  der  recht  wag  naher  faren  ^). 

I)  Nje  schip.  Bl.  LXIIIb.    Brant  Kap.  39. 

^  Nje  schip  Bl.  XCUa.  Reimhüchloin  2973  ff.  Eine  vollständige  Liste 
der  Entlehnungen  gibt  Brandes,  Glosse  S.  L — LIII.  Übersetzung  ans  Petri 
bei  Wander  5,  1300. 

»)  Das  nüv  schiff  Bl.   V  ▼• 

«)  Brant  Kap.  62. 

5)  Nye  schip  Bl.  LtXVa.    Reimb.  2859ff. 

')  Das  nÜT  schiff  Bl.  i  I  y. 

^  Brant  Kap.  47. 


870 

Schwyge,  lyde  und  ock  vordrag, 
Dyn  herteleidt  nicht  eim  ydern  klag, 
An  Godt  dem  HEREN  nicht  vortzag: 
He  gifft  und  helpet  alle  Dag^). 

Lidt,  midt,  swigh  und  vordrage, 
Dine  nodt  nemandt  klage» 
An  Godt  dinen  schepper  nicht  vortzage: 
Dan  gdücke  kumpt  alle  Dage^). 

Älter  ist  folgende  aus  einer  Stockholmer  Hs.  des  15.  Jahr- 
hunderts von  Borchling  mitgeteilte  Version: 

Swich  vnde  lith, 

Dat  wart  syn  tyd, 

Hebbe  dult  vnde  vordrach: 

Dencke,  wen  yd  dy  wedder  vallen  mach^). 

Nur  Varianten  des  Motivs  sind: 

Wes  willich  und  demodige  dich, 
Und  mit  gedult  vele  aversich, 
Nim  an  tho  dancke,  wat  men  di  doeth: 
Datsüive  bringt  di  ehr  und  gudt^). 

Schwich,  lidt  unde  midt! 

GOTT  gifft  de  tidt, 

De  di  vorfrßwt. 

Folg  der  Lehr:  sülcks  di  nicht  ruwt^). 

Eine  schöne  Ausfuhrung  des  Spruches  gibt  Sebastian  Brant 
in  seinen  Epigrammen^),  die  vielfach  sozusagen  «gebildete*'  Para- 
phrasen alter  Volksweisheit  enthalten.  Dem  mittelalterlichen  Ge- 
dankenkreise steht  die  nl.  Ausführung  der  von  Bäumker  publi- 
zierten Wiener  Pergamenths.  näher: 


1)  Werldtsproke  77.  Wander  1,  1606,  30.  Brandes,  Glosse  S.  252. 
(Agricola). 

«)  Reimb.  1287. 

3)  Mnd.  Hsn.  2,  114. 

*)  Reimbüchlem  3573. 

^)  3646.  Vgl.  Nd.  Jb.  2,25:  Wiltu  leuen,  sone,  nn  ane  schalt 
Swich,  merke,  bore  und  hebbe  dult.  Eitner,  Das  deutsche  Lied  des 
15.  und  16.  Jhs.  2,  34.  Nr.  49.  Zeitschrift  des  historischen  Vereins  for 
Niedersachsen  1850.    S.  311  f. 

6)  Zarncke,  Narrenschiff  S.  158.  Nr.  47.  Ähnlich  Reimbüchlein  2502  ff. 
Nd.  Jb.  13,  107,  7—12.    Brandes  Zs.  L  d.  A.  34,  58. 


371 


Dyn  lyden  en  sulstu  niemant  clagen 
Dan  Jhesu,  die  salt  di  helpen  dragen; 
Die  menige  seyt  syn  liden  voert 
Den  ghenen,  die  dat  gheeme  hoert, 
Hern  weer  leet,  Sat  anders  waer. 
Aldus  maect  hi  hem  selven  te  maer 
Ende  wordt  dan  vele  te  myn  geacht, 
Het  is  een  manlike  cracht, 
Dat  een  syn  liden  wel  can  dragen 
Verborgen,  sonder  yemant  te  clagen 
Ende  toenen  van  buten  aisulk  gebaer, 
Recht  off  in  hem  gheen  liden  en  waer '). 

Weise  und  schön  nennt  Wehr  mann  die  in  einer  Lübecker 
Hs.  gefundenen  Verse: 

He  is  wys,  de  kan  vordraghen, 

unde  liden  vordreet  al  sunder  klaghen 

unde  darby  holden  syn  gebere, 

oft  liden  vordreet  neyn  liden t  were^. 

Dieser  Vierzeiler  entspricht  einem  mnl.,  Aristoteles  zuge- 
schriebenen Verse  der  Hulthemschen  Hs.: 

Een  mensche  die  wel  can  verdraghen 
sijn  leet  verborghen  sonder  claghen, 
ende  toene  in  hem  een  goet  ghebare, 
oft  gheen  liden  in  hem  en  wäre, 
die  dit  wel  ghedhoen  can, 
leeft  in  eren,  eest  wijf  öf  man^)« 

Das  von  Scherer  für  den  Beginn  des  15.  Jahrhunderts  be- 
zeugte hochdeutsche  Motiv:  ,Unmuot  duot  we,  Armuot  noch  vil 
me^  verbindet  sich  mit  dem  Prinzip  des  Eettenspruchs.  Das 
ergibt  den  Vierzeiler  des  Typus  B: 

Gudt  maket  modt, 
Modt  bringet  avermodt, 
Avermodt  bringet  armodt, 
Armodt  gantz  we  doth^). 

>)  Nd.  Jb.  13,  108,  38  ff.    Vgl.  109,  4  ff. 

»)  Nd.  Jb.  3,  8. 

^  Serrare,  Yaderlandsch  Maseum  2,  195.  Yers  529 ff. 

«)  Reimb.  2186  ff.  Vgl.  2442  ff.  Köhler,  Kleinere  Schriften  2,  66  ff. 
Zarncke,  Narrenschiff  S.  157.  Nr.  36.  Oldecop  110,24.  Zs.  des  bist. 
Vereins  für  Niedersachsen  1849  S.  323.  1850  8.311. 

24* 


372 


Nach  gängigen  Motiven  wird  aas  dem  Stegreif  gereimt: 

Ein  Jaermarckt  ane  Deve, 

Ein  sch6ne.  Frouw  ane  leve, 

Ein  Büdel  ane  Geldt: 

Desse  dre  dinge  vindt  men  seiden  yn  der  Weldt*). 

Ein  Garden  ane  Boem, 

Ein  sch6n  Guel  ane  Thoem, 

Ein  RAter  ane  ein  Swerdt: 

De  dre  synt  nicht  veel  Geldes  werdt'). 

Synt  dat  papen  vogede  worden, 
Monyke  hulpen  sik  vth  den  orden» 
Landes  heern  nicht  bleuen  bij  worden: 
Synd  is  de  werlt  seer  versoerden^). 

Seeder  dat  yt  waert, 
Dat  men  papen  wijgede  vngelaert 
Und  lüde  te  rydder  sloch  sunder  gebort, 
Und  blote  kutten  schoer: 
Heefft  sick  de  werlt  seer  verkart^). 

De  dar  hefift  ene  steneghen  acker, 
Und  eyn  wyff  myt  den  lenden  wacker, 
Deme  syn  dynck  denne  nycht  en  doch: 
De  hefft  ungheluckes  ghenfich*). 

Mannich  man  hefft  enen  stenegen  acker, 
Und  sijn  wijff  myt  dem  eerse  wacker. 
Und  eene  stumpe  ploech, 
Und  eme  sijn  dynck  nicht  en  doch: 
Uorwaer  de  hellt  unluckes  genoch^. 


>)  Werldtspröke  Nr.  52.    Vgl.: 

Een  iaermarct  sonder  dief, 
een  schoene  maeght  sonder  lief, 
een  schüre  met  coren  sonder  musen, 
een  oude  pelse  sonder  lusen, 
een  oodt  wyf  sonder  scheiden: 
dese  vyf  dinghen  vindt  men  seiden. 
Meijer,  Oude  nl.  Spreuken  S.  87.    Herrigs  Archiv  112,  15  f. 

«)  Werldtspröke  Nr.  46. 

^  Nd.  Jhb.  14,  141.  Nr.  19  worden]  Hs.  ,weren'. 

*)  141.  Nr.  17. 

^)  Nd.  Jb.  14, 133.  Nr.  49.    Oben  8.  280. 

«)  Nd.  Jb.  14, 143.  Nr.  37. 


878 

Misse  to  hören  en  lettet  nicht, 
almisse  to  geven  en  armet  nicht, 
unrechte  guet  en  dyet  nicht, 
logen  to  spreken  en  riket  nicht  ^). 

Oesundheits-  und  Lebensregel  kleiden  ihre  Weisheit  gern  in 
die  Improvisationsform  des  Priamels,  auch  wenn  sie  in  der  (den 
Inschriften  so  nahe  verwandten)  Vogelsprache  auftreten. 

We  des  nachts  wil  vele  drinken, 
Und  nicht  mede  ethen  von  den  schinken, 
Des  awens  ghan  an  der  ulen  vlucht: 
Den  besteit  gerne  de  watersucht  ^. 

We  des  morghens  vro  upsteyt 
Unde  dorch  lusten  spasseren  gheyt 
Unde  leth  na  ghades  kerken: 
De  wyl  der  boven  orden  Sterken  s). 

Solche  Vierzeiler  können  selbständig  sein. 
Grobianische  Parodie  bleibt  nicht  aus: 

Suep  di  vuU  und  legg  dy  nedder, 
Sta  up  und  vflUe  dy  wedder: 
Also  schriflit  Alexander: 
Eine  vuUe  vordrifft  de  ander  ^). 


1)  Zs.  f.  yaterl&ndische  Geschichte.  Münster  1857.  S.  310.  Vgl.  oben 
S.  349.  Protestantisch  umgedichtet  Zs.  des  historischen  Vereins  för  Nieder- 
sachsen 1850  S.  309.  Werldtspröke  Nr.  47.  Wander  1,50.  3,638.  Brandes, 
Glosse  S.  87.  268.  Wander  3,  1702,  36.  2, 1357,  4.  Zeitschrift  f.  Volks- 
kunde 8,51.      Simprecht  Krölls  Handschrift  Cod.  Pal.  germ.  795,  47b: 

Glas  schön  bin  ich  nit, 
Hofflich  bülen  kan  ich  nit, 
Lieplich  ansechen  hilft  mich  nit, 
Frainüich  angreiffen  dar  ich  nit, 
Gelt  helf  michl    das  hab  ich  nit: 
Unfal,  das  meinen  bulen  der  ritt  schidtl 

Eschenbnrg,  Denkmftler  S.  460.  Nr.  12. 

»)  Nd.  Jb.  14, 129.  Nr.  16.    Werldtspröke  Nr.  94,  93. 

>)  A«  a.  0.  185.  Nr.  61.  Im  allgemeinen  vgl.  Wander  1,  166,  22  £f. 
Trinkregel  21. 

*)  Werldtspröke  45.  Hochdeutsches  aus  Aegidius  Albertinus  bei 
Zarncke,  Narrenschiff  GXVQ.    Zs.  t  d.  Phil.  9,  210. 


374 


Ans  alten  Liebesbriefstellern  stammt: 

Allen  luden  godlich, 
Wenich  luden  heymilich, 
Sigh  vor  dich: 
De  love  is  myslich'). 

Daran  setzen  sich  im  Liebesbrief  verschiedene  andere  Verse  wie : 


Oder: 


Oder: 


Swygen  dat  is  kunst, 
Claffen  dat  brynget  Ungunst. 

De  trwe  de  is  eyn  selten  gast, 
We  se  hebbe,  de  hode  se  vast'). 


Sehe  vor  dick! 

Trüwe  ys  misslicki 

Trflwe  ys  ein  seltzam  Gast, 

Wol  se  vindt,  de  holde  se  vast^. 

Solche  Verse  wurden  als  Fensterspruch  und  Inschrift  beliebt  *). 

An  feinerem  FormgefQhl  stehen  die  nd.  Sprüche  den  hoch- 
deutschen nach.  Zwischen  Drei-  und  Vierzeiler  schwanken  mehrere 
sprichwortähnliche  Vierzeiler. 

Eyn  bock, 

und  eyn  kock, 

eyn  tuI  ey  und  eyn  buckinck: 

stincken  ock  nicht  eyn  listinck^). 

Bttwent  und  kiff, 
Koste  und  schöne  wiff: 
Nemen  penninge  und  liff^). 

Den  Best  eines  volleren  Priamels  enthält  die  Stockholmer 
Vogelsprache  in  dem  Vers  der  Wildente: 

De  enen  doden  schyten  drecht, 
Und  syn  ghelt  an  böse  wyve  lecht, 
De  mach  dat  iummer  wesen  wys, 
Dat  syn  arbeyt  halff  verloren  ys^}. 

0  Ernst  Meyer,  Liebesbriefe  S.  83.  Vers  3  und  4  auch  einzeln. 

«)  A.  a.  0. 

^  Werldtsproke  25.  Brandes,  Glosse  S.  247.  Wand  er  4,  505  f. 
Zarncke  zum  Narrenschiff  69,  21  f.    Mones  Anz.  2,228. 

*)  Wander  4,  102  f. 

*)  Nd.  Jb.  2,29  ey]  ,vul  eys'.  Dafür  Mones  Anz.  13,  400:  ,Ein 
Ho  er*    Zur  Form  vgl.  Werldtspröke  Nr.  79. 

«)  Reimbüchlein  2294.    Mones  Anz.  13,  400. 

^  Nd.  Jb.  14,  131.  Nr  27.    Eeimb.  1975  ff. 


375 


Das  lehrt  die  vollständigere  Fassung: 

We  daer  wyl  vysche  meygen, 
Und  an  sjmen  acker  stene  segen, 
Und  de   den  doden  schijten  drecht, 
Und  syn  gelt  an  hören  lecht: 
Des  bistu  secker  unde  wis» 
Dat  yd  al  te  male  verloren  is^). 

Zerstört  ist  die  Form  folgenden  Verses: 

Zypnllen  und  knobelock, 

schone  frouwen,  bernewjrn,  lendenrock, 

rath  tho  stinck  stinc  dat  ock^). 

Formell  unentwickelt  scheinen: 

Wol  dar  wil  hebben  ein  reine  Huss, 
Der  late  M6ncke  und  Papen  daruth. 
Denn  M6ncke,  Muse,  Mutten  und  Maden 
Scheiden  seiden  an  groten  schaden'). 

Wer  solche  bey  jm  hausen  leßt, 
Der  het  auch  warlich  gerne  Gest: 
Denn  Mönche,  Motten,  Meuse,  Maden, 
Die  scheiden  selten  one  schaden*). 

Es  bleibt,  wenn  man  alle  zweifelhaften  Beispiele  abzieht,  noch 
eine  bescheidene  Anzahl  solcher  übrig,  deren  niederdeutschen 
Ursprung  man  zeigen  oder  vermuten  kann;  z.  B.: 

£n  wol  bewandert  wyff, 

en  pert,  dat  up  den  haken  ys  styff, 

unde  en  knecht,  de  vele  heren  hefft  gehat: 

darup  henge  nemant  synen  schat^). 

Die  Beime  bezeugen  niederdeutsche  Heimat. 

Der  geystliken  unorlicheyt, 

des  holwerkes  unhovescheyt, 

in  steden  unde  dorpen  uneyndrechticheyt : 

merket,  wat  dut  schaden  deyt^). 


0  Nd.  Jb.  14,  144.  Nr.  45.  Jb.  3,  22,  21  ff.  25,  120.  Diutisca  1,  325. 
Germania  1857,  147  f.  Z.  f.  d.  Phil.  9,  194  f.  Manuel  hg.  Ton  Baechtold 
8.  166.    Wander  5,  1156. 

»)  Nd.  Jb.  2,  29. 

^  Werldtapröke  Nr.  18. 

*)  Waldis  2,71,  45. 

B)  Nd.  Jb.  3,  62.  Nr.  12.    Nd.  Reimbüchlein  274.    MotiT  oben  S.  279  f. 

«)  Nd.  Jb.  3,  64. 


386 


Ein  Leberreim  hat  einen  schwachen  Vierzeiler  des  Typus  C 
erhalten: 

Wol  eine  Hoere  nimpt  tho  Echt: 
De  kümpt  int  Hanreyer  geschlecht, 
Moth  doch  syn  dag  ein  Hanrey  blyun, 
Hefft   ein  bösz  Kleinod  an  sym  Lyff^). 

Frünt  in  der  not, 

frünt  in  den  doet, 

un  eyn  frünt  achter  rügge: 

dat  syn  dre  veste  brügge, 

worden  ok  alle  syne  vyende  flügge  ^).^ 

Einen  Fünfzeiler  enthält  auch  das  Badbuch: 

Geistliken  Stadt,  geistlik  wark, 
Unde  dat  so  geholden  strenge  und  staik, 
Geistlike  cledere  ande  geistliken  raet, 
Unde  begaen  gude  werke  unde  gude  datt: 
Ein  iewelk  geistlik  persone  dit  vorsta'). 

Daß  man  bei  Bote  auch  von  verkürzten  Priameln  reden  könnte, 
lehren  Stellen  wie: 

Veithasen  un  hunde, 
Luststede  un  stunde 
Maket  mennygen  weydeman^), 

wenn  man  diesen   Spruch   mit   dem  oben  S.  367   besprochenen 
vergleicht. 

Niederdeutsche  Derbheit  spricht  aus  dem  Vierzeiler: 

Wen  de  Prester  syne  böker  vorsmadet, 
un  de  schöne  maget  ören  krantz, 
un  de  fauwe  synen  langen  swantz: 
dar  is  geschetten  in  den  dantz^). 

Von  den  Vierzeilern  des  Badbuches  scheint  einer  individuell 
in  seiner  Ausführung: 


>)  Nd.  Jb.  10,  74.  Nr.  59. 

3)  Koker  S.  344.  ^InHackmanns  Text  sind  Zeile  1  und  2  zusammen- 
gedruckt. Richtig  Nd.*  Reimbüchlein  100 ff.  Mone  2,  228.  Wander  1, 
1182,  230.    Den  mnl.  Spruch  s.  oben  S.  362. 

3)  Radbuch  2,  115.    Vgl.  1,  83.  2,  57.  8,  79. 

*)  Koker  S.  374.  Ähnlich  etwa  S.  316:  „Un  blanke  spete«,  S.  330: 
„Eyn  yunck  wert**. 

»)  Koker  S.  377. 


887 


Wann  ein  wiff  schal  raden  unde  regheren, 
Unde  over  rade  unde  richte  remurmereren, 
Unde  de  wunipel  is  baven  dem  sweerde: 
Dar  hefTt  dat  eyn  selzeen  gheveerde  *). 

Der  zweite  behandelt  ein  beliebtes  Zählmotiv. 

Dar  eyn  here  unde  syn  rad 
Twe  schelke  by  sik  had, 
Wil  de  here  alze  de  twe: 
So  wert  der  schelke  wol  dre^). 

Auch  Jakob  Scracz'),  Botes  Nachahmer,  bringt  einen 
Priamelvierzeiler  an: 

Wede  olde  schoe  läppet  vnde  vlicket, 
Jo  men  jn  ein  braken  rad  mer  kile  sticket, 
Jo  men  oelde  huse  mer  roeget: 
Jo  se  mer  kneteren  vnde  kroeget*). 

Während  die  gelehrte  mittellateinische  Dichtung,  wie  wir 
sahen  (Kap.  IV,  5),  eigene  Wege  ging,  läuft  lateinische  Über- 
lieferung, die  sich  gegen  die  Volksdichtung  der  Landessprache 
im  wesentlichen  nur  aufnehmend  verhält,  auch  der  immer  üppiger 
sich  entwickelnden  Yierzeilerpoesie  ununterbrochen  parallel  ^).  Für 
alle  Priamelformen  des  Vierzeilers  hat  unsere  Typensammlung 
mittellateinische  Belege  geboten,  Zauberspruch  und  Gruß  waren 
darunter  vertreten,  andere  Sprüche,  aus  dem  Deutschen  übersetzt,  sind 
mehrfach  schon  mit  berücksichtigt,  bei  hexametrischen  Zeilen  ist 
inbetreff  einer  etwaigen  Vorlage  keine  Sicherheit  zu  gewinnen^). 


1)  Radbuch  7,  56. 

2)  Radbuch  9,  69.  Nd.  Jb.  2,  31.  Göttinger  Beiträge  2,  79.  Nr.  66. 
Prov.  17, 21.    V on  H ör m ann ,  Schnaderhüpfeln 3  S.  12.  Nr. 29.   S.  279.  Nr.  772. 

3)  Unsere  Kenntnis  dieses  Schriftstellers  wird  durch  eine  Hs.  des 
Britischen  Museums  erweitert,  datiert  yon  1543,  1544  (nicht  1443.  1444; 
nach  einer  gütigen  Mitteilung  von  R.  Priebsch).    R.  Prieb  s  ch  2,  139.  Nr.  162. 

*)  Nd.  Jb.  25,  120.    Vgl.  S.  118. 

We  des  morgens  vro  vpsteit 
Vnde  mit  honger  slapen  geit 
Vnde  eeth  syn  Brod  mitt  vngemaecke, 
Denne  yd  got  günt,  gifit  he  yd  oeme  in  dem  slape. 
^)  Über  mlat.  Dichtung  und  Lyrik  Vogt  im  Grundriß  11^253. 
^)  Z.  B.  bei  den  Hexametern  des  Florilegium  Gottingense.    Lehrreich 
etwa  Nr.  217  mit  Voigts  Anmerkung. 

25* 


378 

De  syk  vp  gewalt  yn  detne  rade  vorleth, 
Vnde  veler  ordel  syck  vorcneth, 
Den  mantel  na  deme  winde  draget: 
De  sw  he  yn  den  ketel  yaget'). 

Wer  sich  vff  gwalt  im  ratt  verlast, 
Vnd  feyler  vrteil  sich  nit  nnoßt, 
Den  mantel  henckt,  wo  wynt  her  blöst: 
Der  selb  die  suw  inn  kessel  stosst'). 

We  nicht  de  rechte  kunst  studeret, 
Vnde  na  der  schrifft  syk  nicht  regeret, 
Wat  vnnüttes  ys  he  dat  gerne  leret: 
Des  syn  ys  meer  wen  halff  vorkeret^). 

Wer  nit  die  rechte  kunst  studiert, 
Vnd  würt  am  narren  seil  gefiert, 
Vnd  nach  der  gschrifft  sich  nit  regiert: 
Der  selb  dem  gouch  die  schellen  rürt^). 

Wer  nit  die  rechte  kunst  studiert 
Derselb  jm  wol  die  schellen  rftrt 
Vnd  wurt  am  narren  seyl  gefürt*). 

We  vp  syn  fromheyt  holt  alleyn, 
Deme  nemant  gud  ys  yn  der  gemeyn, 
Vnde  ordelt  yederman  vnreyn: 
De  stot  syck  vaken  an  den  steyn  *) ! 

Schon  erheblicher  ist  die  Abweichung  in  folgendem  Falle 

Wer  öfflich  schlecht  sin  meinung  an, 
Vnd  kan  heimlichs  nützt  behan, 
Jo  spannt  sin  garn  für  yeder  man: 
Vor  dem  man  sich  licht  hietten  kan^. 


')  Dat  nje  schip  van  Narragonien.  Rostock  1519.  Bl.  IXb.  vp]  yh  (!). 
Brant,  Narrenschiff  Mottoyers  zu  Kap.  2. 

^  Das  nüy  schiff  yon  Narragonia.    Straßburg  1494.   Bl.  aVy* 

3)  Nje  schip  Bl.  La.    Reimb.  2763  ff. 

*;  Das  nüy  schiff  Bl.  f  I. 

»)  Brant  Kap.  27. 

^)  Nje  schip  Bl.  Lila.  Das  nüy  schiff  Bl.  f  II  ▼•  Die  Übereinstimmung 
ist  fast  eine  wörtliche.  Brant  Kap.  29. 

»)  Das  nüy  schiff  Bl.  h  I  y. 


379 

De  alle  sine  sake  openbar  ansleyt, 
Spannet  sin  garn,  dar  eyn  yslick  geyt, 
Kan  nicht  vorswigen  hemelicbeyt: 
Den  gesehnt  recht,  wo  yd  em  oek  geyt^). 

Meistens  hat  der  Bearbeiter  mit  sichtlichem  Behagen  an  der 
spezifischen  Priamelform  und  unverkennbarer  Begabung  für  den 
Improvisations- Vierzeiler  seine  Sprüche  nm-  nnd  neageschafifen. 
Das  mögen  mit  Hinzufügung  der  hochdeutschen  Entsprechungen 
Beispiele  veranschaulichen. 

Wol  des  nachtes  vp  der  gatzen  geyth, 
Vnd  vp  der  luten  efYle  bungen  sleyth, 
Vnd  dar  ock  sinen  flyt  to  deyt: 
De  ys  de  ape  van  rypenscheyt"). 

Wer  viel  lust  hat,  vrie  er  hofüer 
Nachts  vir  der  gassen  vor  der  thUr, 
Den  glust,  das  er  wachend  erfrUr, 
Vnd  ouch  die  narrenkapp  vast  rtir^). 

Wer  vil  lust  hat  wie  er  hofier 
Nachts  vir  der  gassen  vor  der  thUr 
Den  glust,  das  er  wachend  erfrür^). 

De  hyr  mit  dorheyt  vmme  geyt, 
Vnde  ys  nicht  to  deme  guden  bereyt, 
Vorsümet  den  wech  der  salicheyt: 
Dat  wil  em  ruwen  yn  ewicheyt*). 

Vil  dünt  in  dorheit  hie  beharren, 
Vnd  ziehen  vast  ein  schweren  karren, 
Die  wil  sie  sich  nit  went  bewaren. 
Dort  wurt  der  swer  wag  naher  faren*). 

Vil  dunt  jnn  dorheyt  hye  beharren 
Vnd  ziehen  vast  eyn  schweren  karrhen 
Dort  würt  der  recht  wag  naher  faren  ^). 

»)  Nye  schip.  Bl.  LXIIIb.    Brant  Kap.  39. 

3)  Nje  schip  Bl.  XCIIa.  Beimbüchloin  2973  ff.  Eine  vollständige  Liste 
der  Entlehnungen  gibt  Brandes,  Glosse  S.  L — Lin.  Übersetzung  aus  Petri 
bei  Wander  5,  1300. 

^  Das  nüv  schiff  Bl.   V  ▼• 

«)  Brant  Kap.  62. 

5)  Nye  schip  BL  LiXVa.    Reimb.  2859ff. 

•)  Das  nuv  schiff  BL  i  I  v. 

^  Brant  Kap.  47. 


880 

Wor  de  suw  de  kröne  drecht, 
Vnde  wor  de  narre  syth  yn  deme  recht, 
Schendige  worde  vnde  ghebere  ringe  wecht: 
Dar  sulaest  groffheyt  bouen  wyßhejrt  wecht  >) 

Wttst  scbamper  wort  anrejrtzung  gitt 
Vnd  stört  gar  ofit  die  gutten  syt; 
Dugent  lert  sich  davon  ouch  oitt. 
So  man  zu  vast  die  suwglock  schytt'). 

Wüst,  schamper  wort,  anreytzuDg  gytt 

Vnd  st6rt  gar  offt  die  guten  syt 

So  man  zu  vast  die  suwglock  scbtttt^). 

Ganz  selbständig  verfährt  der  ud.  Bearbeiter  auch  in  dem 

Vierzeiler:       _^     .  ,   ^  , 

De  smen  syn  so  hefit  gesielt 

Vnde  wollusticheyt  sick  vth  uorwelt, 

Vnd  em  neen  dinck  ock  beter  beuelt: 

De  ys  alrede  der  hellen  togeselt*). 

Bemerkenswerter  ist  folgender  Vierzeiler: 

De  wasschet  de  teygel  wol  to  degen^), 
De  syne  frouwen  wachtet  yn  allen  wegen: 
Dat  water  yn  den  borne  wil  dregen, 
De  hauwsprinken  wartet  he  vor  den  regen*). 

Wo  größere  Selbständigkeit  waltete,  ergab  sich  bisher  durch 
Vergleich  mit  den  Vorlagen,  daß  der  niederdeutsche  ümdichter 
mit  Bewußtsein  die  Priamelform  in  den  Spruch  erst  hineinge- 
arbeitet hat:  hier  zeigt  er  sich  auch  mit  dem  Verfahren  der 
Improvisation  vertraut,  das  beim  heutigen  Schnaderhüpfel ,  wie 
oben  gezeigt,  den  Abschluß  in  die  zweite  Zeile  bringt  Brant 
hatte  ihn  schulmässig  an  den  Schluß  gesetzt: 

Der  hAtt  der  hewschreck  an  der  sunn 
Vnd  schüttet  wasser  jn  eyn  brunn 
Wer  hüttet  das  syn  frow  blib  fmm'). 

>)  Nye  schip  BI.  CYa.    Reimb.  8003  ff. 
^  Das  nfiy  schiff  Bl.  o  I  y. 
^  Brant  Kap.  72. 

^)  Nye  schip  Bl.  LXXIXb.    Brant  Kap.  50.    Beimb.  2891  ff. 
*)  Das  Motiv  weist  Loewer,  Fatristische  Quellenstudien  zu  Freidanks 
Bescheidenheit  S.  25  aus  Isidor  nach. 
«)  Nye  schip  Bl.  LVb. 
^  Narrenschiff  Kap.  82. 


381 
Ähnlich  der  Straßbnrger  Bearbeiter  vom  Jahre  1494: 

Der  biett  der  hewschreck  an  der  sünn 
Vnd  schittet  wasser  in  ein  brunn 
Vnd  wescht  die  zygel  vrob  vnd  vrob: 
Wer  hieltet  das  syn  frow  bltb  fiiim'), 

Der  Narrenspiegel  verzichtete  ganz  auf  priamelartige  Wirkung : 

Der  schüttet  wasser  in  ein  brunn 
wer  hütet  dz  sein  fraw  bleib  frumm. 
Es  darff  sein  nit  oder  hilfft  nit, 
ein  frumme  fraw  verwart  jr  schritt'). 

Es  ist  das  Motiv  des  B ose np lutschen  Priamels  ,Ein 
schweinshirt,  der  da  hut  pei  kom^  das  bei  Burkard  Waldis 
1,  280,  35  kurz  so  gestaltet  wird: 

Wer  einen  Ziegel  weiß  wiU  waschen, 
Das  lere  Stroh  im  Tenne  dreschen, 
Dem  Windt  das  wehen  will  verbieten, 
Vnd  einr  vnkeoschen  Fruwen  hAten, 
Ein  fliessend  Wasser  wil  verstopffen: 
Derselb  verleußt  beid  Maltz  vnd  Hopffen. 

Der  Wolffenbüttler  Aesop  nennt  es  (98,  1 1 7  fif.)  ,ein  oltsproken 
wort*: 

de  waschet  tegelstene 
und  de  sines  wives  hot, 
set,  de  wert  der  lüde  spot. 

In  die  dritte  Zeile  geraten  ist  der  Abschluß: 

Wor  de  klocke  van  ladder  ys, 

Vnde  de  knepel  eyn  voßstert  ys. 

De  klanck  nicht  veme  gehdret  ys: 

Mit  meele  alle  munde  stoppen  ys  vnwys^. 

Eyn  glock  on  klüpfel,  gibt  nit  thon 

Ob  dar  jnn  hangt  eyn  fuchszschwantz  schon 

Dar  vmb  losz  red  für  oren  gon^). 

Der  Zusatz  des  niederdeutschen  Vierzeilers  fügt  sich  aber 
dem  Oanzen  nicht;  er  ist  mißraten. 


»)  Das  nfiv  schiff  Bl.  f  V. 
^  Karren  Spiegel  M  Uli. 
^  Nye  schip  Bl.  LXVIb. 
«)  Brant  Kap.  41. 


382 

Ein  glock  on  klyppfel  gibt  nit  thoiii 
Ob  dar  in  hangt  ein  fuchschwantz  schon. 
Man  muß  das  mel  in  secken  Ion. 
Dar  vmb  laß  red  für  oren  gon^). 

Der  einem  ydern  de  wulle  kan  understrouwen, 
Vnd  den  weldigenn  de  negel  klouwen, 
Vnd  kan  spreken,  dat  ein  yder  höret  gerne: 
De  rooth  smeichlen  und  legen  na  und  verne'}. 

Die  Straßburger  BearbeitQDg  von  1494  weicht  völlig  ab»  und 
das  Original  verrät  hier  wieder  keine  Spur  von  vierzeiliger 
Priamelform. 

De  alle  tyt  sodane  narheyt  dryfit, 
Vnde  wil  nicht  löuen  der  hilgen  schriflft, 
Gude  lere  vorachtet  vnde  dar  by  blyfft: 
Hyr  mede  he  sick  van  gode  ghyfft^). 

Wer  yedem  narren  glouben  will 

So  man  doch  h6rt  der  geschrifft  so  vil 

Der  schickt  sich  wol  jns  narren  spiM). 

Wer  yedem  narren  glouben  will, 
So  man  doch  hat  der  gschrifft  so  vil, 
Durch  aber  gloub  louflft  hundert  mil, 
Der  schickt  sich  wol  inns  narren  spyl^). 

Dede  vogel  vnde  hunde  yn  de  kerken  voret. 
Dar  mennich  gud  mynsche  den  denst  godes  h6ret, 
Predekye,  misse  vnde  lesent  vorstöret: 
Manckt  de  grötesten  narren  de  sulfste  höret^). 

Wer  vogel,  hund,  jnn  kyrcben  fiurt 

Vnd  ander  lUt,  am  betten  jrrt 

Der  selb,  den  gouch  wol  stricht  vnd  schmyert^). 

Wer  vogel  hund  in  kirchen  fiert 

Vnd  ander  lUt  am  betten  irrt, 

Der  selb  den  güch  wol  stricht  vnd  schmyrt, 

Biß  er  den  naren  die  schellen  riert^). 


1)  Das  nÜY  schiff  Bl.  h  III. 

^  Brandes,  Glosse  S.  149  (4299).  282.  Reimb.  825  ff.   Brandes  S.  267. 

8)  Nye  schip  Bl.  XXVUIa. 

«)  Brant  Kap.  11. 

»)  Das  nÜY  schiff  Bl.  C  UI. 

^)  Nje  schip  Bl.  LXXa. 

7)  Brant  Kap.  44. 

»)  Das  nÜT  schiff  Bl.  h  Y  v. 


383 


Den  yn  dat  fuer  sin  moetwille  brinckt, 
Edder  nicht  sinen  narhafTiigen  sin  bedwinckt, 
Vnde  he  mit  willen  yn  den  bornen  sprinckt: 
Deme  schüt  yo  recht,  eflft  he  vordrinckt^). 

Wän  jn  das  fUr  syn  müttwill  bringt 

Oder  sunst  selbs  jnn  brunnen  springt 

Dem  gschicht  recht  ob  er  schon  erdrinckt'}. 

Wenn  inn  dz  für  sin  mUtwill  bringt, 

Oder  der  narr  im  also  winckt, 

Das  er  on  not  inn  brunnen  springt, 

Dem  gschicht  recht,  ob  er  schon  ertrinckt^). 

Wan  de  olderen  yn  vntucht  leuen, 

Vnd  vp  ere  kindere  nicht  merken  euen, 

Wen  se  ene  quade  exempel  geuen: 

De  kindere  sick  denne  yegen  d6gede  streuen^). 

Do  werdent  kynd  den  eitern  glich 
Wo  man  vor  jnn  nit  schämet  sich 
Vnd  krug  vor  jnn,  vnd  häfen  bricht*). 

Weme  de  sackpype  fraude  kortwyle  gifft 
Luten  vnde  harpen,  vnde  lere  der  schrifft 
Vorachtet  he,  vnde  van  syck  driffi: 
De  sulue  eyn  narre  wol  stedes  blyflft.*) 

Wem  sackpfiffen  frettd,  kurtzwil  gytt 
Vnd  acht  der  harpff  vnd  luten  nytt, 
Der  gh6rt  wol  vfF  den  narren  schlytt  ^). 

Die  Straßburger  Bearbeitung  fugt  hierzu  nur  den  Vers: 

Vnd  zschiff  oder  wagen  ouch  far  mit^). 

De  alle  de  werk  wyl  vmme  meten, 
Vnde  wyl  alle  lande  vnde  stede  wetten, 
Vnde  doch  sick  suluen  doet  vorgetten: 
De  ghyfFt  vaken  eyneme  narren  ethen'). 


1)  Nye  ßcbip  Bl.  LXXIb. 

>)  Brant  Kap.  45. 

3)  Das  nfiv  schiff  Bl.  h  VI  y. 

*)  Nye  schip  Bl.  L  XXVHIb. 

5)  Brant  Kap.  49.  Das  nüv  schiff  Bl.  i  V  und  k  II  weicht  völlig  ab. 

«)  Nye  schip  Bl.  LXXXIIIb. 

')  Brant  Kap.  54. 

»)  Das  nüv  schiff  Bl.  k  IUI  v. 

»)  Nye  schip  Bl.  XCVH  a. 


884 

Wer  vBz  misszt  hymel,  erd,  vnd  mer 
Vnd  dar  jnn  sucht  lust,  freüd,  ynd  1er 
Der  lug,  das  er  dem  narren  wer^). 

Die  Priamelform  bot  hier  allerdings  schon  der  Straßburger 
Bearbeiter,  nicht  aber  die  pointierte  ethische  Natzan Wendung: 

Wer  vßloft  all  land  nach  vnd  ver» 
Ouch  uß  mist  hymel,  erd  vnd  mer 
Vnd  darinn  sucht  lust,  freüd  vnd  1er: 
Der  lüg,  das  er  dem  narren  wer*). 

De  al  sinen  trost  seth  vp  dat  ghelt, 
Vnde  yo  dat  vor  dat  beste  helt, 
Neen  dinck  ock  dar  bouen  stelt: 
An  deme  wert  narheyt  groff  vormelt'). 

Die  narren  freüwt  nttt  jnn  der  weit 
Es  sy  dann,  das  es  schmeck  noch  gelt 
Sie  gh6ren  aach  jnns  narren  feilt  ^). 

Die  Straßburger  Bearbeitung  schiebt  hinter  dem  2.  Vers  ein: 

Sie  sigen  for  oder  nach  gemelt^). 

De  lange  yn  sinen  sunden  steyt. 
Denket  nicht  vp  godes  rechticheyt, 
Fruchtet  nicht  god,  wat  he  oeck  deyt: 
Eyn  snel  vntydich    doet  sodane  gern  sleyt^^). 

Wer  meynt  gott  well  jnn  stroffen  nyt 
Dar  vmb,  das  er  beyt  lange  xyt 
Den  schlecht  der  tunder  dyck  noch  htit^) 
Das  selbig  sint  wol  dorecht  lUt 

fägt  der  straßburger  Interpolator  hinzu  ^). 

Gelegentlich  findet  sich  ein  Vierzeiler  aus  dem  Inneren  eines 
Kapitels;  z.  B. 


>)  Brant  Kap.  66. 

9)  Das  nÜY  schiff  El.  m  IIL 

«)  Nye  schip  Bl.  CXXIIIa. 

^)  Brant  Kap.  83. 

^)  Das  nÜY  schiff  Bl.  p  UI  v. 

•)  Nye  schip  Bl.  CXXVIIIa. 

7)  Brant  Kap.  86. 

«)  Das  nÜT  schiff  Bl.  q  I. 


385 

Boler  werck  vnd  narren  raet, 
Eyne  stat  de  vp  eynem  berge  staet, 
Vnde  stro  dat  yn  deme  schoe  licht; 
Desse  veer  kan  men  behüden  nicht'). 

Auch  der  Typus  B  erscheint  in  fast  freier  Improvisation: 

Eyn  spelre  hinket  an  siner  hufil, 
Eyn  spelre  mannighe  tyd  versufft, 
Eyn  spelre  wert  vaken  vorblufft, 
Eyn  spelre  hefft  gantz  kleyne  vornufft*). 

Vil  hant  zu  spyl  so  grossen  glust 
Dz  sie  keiner  kurtzwil  achten  sust, 
Vnd  merckent  nit  kUnfftig  verlust 
Des  haben  sy  in  hüsern  gbrust^). 

Bei  Brant  fehlt  nur  der  letzte  Vers^). 

„Brant  hatte  es  zuerst  verstanden,  dem  grotesken  Humor 
des  Bürgerstandes,  der  so  wild  emporgewuchert  in  den  Fastnachts- 
spielen, die  gravitätische,  ehrfurchtgebietende  Bolle  eines  weisen 
Zuchtmeisters  zuzugesellen:  so  ist  er  für  alle  Dichter  des  16.  Jahr- 
hunderts  der  von  ihnen  allen  geehrte  Altmeister  geblieben^, 
meinte  Zarncke^);  der  niederdeutsche  Bearbeiter  hat  das  Schul- 
mäßig-gelehrte wieder  etwas  zurückgedrängt  und  den  Humor  nicht 
verkümmern  lassen,  ohne  der  Lehrhaftigkeit  Abbruch  zu  tun. 
So  nimmt  diese  mittelniederdeutsche  Poesie  noch  vielfach  diejenige 
Stufe  ein,  welche  durch  Brant  und  Hans  Sachs  in  Ober-  und 
Mitteldeutschland  überwunden  war. 

Selbständige  Ausbildung  erfährt  der  Vierzeiler  durch  Hermen 
Bote.  Die  Vierzeiler,  die  er  seinem  Eoker  einflicht,  sind  durch 
die  Beimbrechung  um  ihre  Abrundung  gekommen;  z.  B. 

We  de  eyne  beeren  nympt  to  echte, 
und  tovoren  dar  wyl  grote  van  sprecken, 
und  dama  umme  hauen  un  steken: 
Dene  mach  me  vor  eynen  schalck  reken^). 


1)  Nye  schip  Blatt  LXV  b.   Narrenschiff  39,  22.   Das  nüv  schiff  Bl.  h  II. 
Nd.  Korrespondenzblatt  4,  84.     Oben  S.  355. 

3)  Nye  schip  Bl.  CXVa.        8)  Das  nüv  schiff  Bl.  oVy. 
*)  Brant  Kap.  77.  *)  Narrenschiff  S.  CXTU;         «)  Koker  S.  348. 

Enllng,  Priamtl  25 


386 


Ein  Leberreim  hat  einen  schwachen  Vierzeiler  des  Typus  G 
erhalten: 

Wol  eine  Hoere  nimpt  tho  Echt: 
De  kUmpt  int  Hanreyer  geschlecht, 
Moth  doch  syn  dag  ein  Hanrey  blyun, 
Hef!t  ein  bösz  Kleinod  an  sym  Lyff^). 

Frünt  in  der  not, 
frünt  in  den  doet, 
un  eyn  frünt  achter  rügge: 
dat  syn  dre  veste  brügge, 
worden  ok  alle  syne  vyende  flUgge'). 

Einen  Fünfzeiler  enthält  auch  das  Badbach: 

Geistliken  stadt,  geistlik  wark, 
Unde  dat  so  geholden  strenge  und  stark, 
Geistlike  cledere  unde  geistliken  raet, 
Unde  begaen  gude  werke  unde  gude  datt: 
Ein  iewelk  geistlik  persone  dit  vorsta'). 

Daß  man  bei  Bote  auch  von  verkürzten  Priameln  reden  könnte, 
lehren  Stellen  wie: 

Veithasen  un  hunde, 
Luststede  un  stunde 
Maket  mennygen  weydeman^), 

wenn  man  diesen   Spruch   mit   dem  oben  S.  367   besprochenen 
vergleicht. 

Niederdeutsche  Derbheit  spricht  aus  dem  Vierzeiler: 

Wen  de  Prester  syne  böker  vorsmadet, 
un  de  schöne  maget  ören  krantz, 
un  de  fauwe  synen  langen  swantz: 
dar  is  gescheiten  in  den  dantz'^). 

Von  den  Vierzeilern  des  Badbuches  scheint  einer  individuell 
in  seiner  Ausführung: 


»)  Nd.  Jb.  10,  74.  Nr.  59. 

3)  Ecker  S.  344.  ^In  Hackmanns  Text  sind  Zeile  1  und  2  zusammen- 
gedruckt. Richtig  Nd.  Reimbüchlein  100 ff.  Mone  2,  228.  Wander  1, 
1182,  230.    Den  mnl.  Spruch  s.  oben  S.  362. 

S)  Radbuch  2,  115.    Vgl.  1,  83.  2,  57.  8,  79. 

«)  Eoker  S.  374.  Ähnlich  etwa  S.  316:  „Un  blanke  spete'',  S.  330: 
„Eyn  yunck  wert". 

»)  Koker  S.  377. 


887 


Wann  ein  wiff  schal  raden  unde  regheren, 
Unde  over  rade  unde  richte  remurmereren, 
Unde  de  wumpel  is  baven  dem  sweerde: 
Dar  hefft  dat  eyn  selzeen  gheveerde  *). 

Der  zweite  behandelt  ein  beliebtes  Zählmotiv. 

Dar  eyn  here  unde  syn  rad 
Twe  schelke  by  sik  had, 
Wil  de  here  alze  de  twe: 
So  wert  der  schelke  wol  dre^). 

Auch  Jakob  Scraez^),  Botes  Nachahmer,  bringt  einen 
Priamel Vierzeiler  an: 

Wede  olde  schoe  läppet  vnde  vlicket, 
Jo  men  jn  ein  braken  rad  mer  kile  sticket, 
Jo  men  oelde  huse  mer  roeget: 
Jo  se  mer  kneteren  vnde  kroeget^). 

Während  die  gelehrte  mittellateinische  Dichtung,  wie  wir 
sahen  (Kap.  IV,  5),  eigene  Wege  ging,  läuft  lateinische  Über- 
lieferung, die  sich  gegen  die  Volksdichtung  der  Landessprache 
im  wesentlichen  nur  aufnehmend  verhält,  auch  der  immer  üppiger 
sich  entwickelnden  Vierzeilerpoesie  ununterbrochen  parallel  ^).  Für 
alle  Priamelformen  des  Vierzeilers  hat  unsere  Typensammlung 
znittellateinische  Belege  geboten,  Zauberspruch  und  Oruß  waren 
darunter  vertreten,  andere  Sprüche,  aus  dem  Deutschen  übersetzt,  sind 
mehrfach  schon  mit  berücksichtigt,  bei  hexametrischen  Zeilen  ist 
inbetreff  einer  etwaigen  Vorlage  keine  Sicherheit  zu  gewinnen^). 

1)  Radbuch  7,  56. 

3)  Radbuch  9,  69.      Nd.  Jb.  2,  31.      Göttinger  Beitrage  2,  79.  Nr.  66. 

Prov.  17,21.    von  Hörmann,  Schnaderhüpfeln3  S.  12.  Nr.29.  S.  279.  Nr.  772. 

^)  Unsere   Kenntnis    dieses    Schriftstellers   wird   durch   eine   Hs.    des 

Britischen   Museums    erweitert,   datiert  von  1543,  1544   (nicht  1443.  1444; 

nach  einer  gütigen  Mitteilung  yon  R.  Priebsch).    R.  Prieb seh  2,  139.  Nr.  162. 

*)  Nd.  Jb.  25,  120.    Vgl.  S.  118. 

We  des  morgens  vro  vpsteit 
Vnde  mit  honger  slapen  geit 
Vnde  eeth  syn  Brod  mitt  vngemaecke, 
Denne  yd  got  günt,  gifft  he  yd  oeme  in  dem  slape. 
*)  Über  mlat.  Dichtung  und  Lyrik  Vogt  im  Grundriß  11^  253. 
^)  Z.  B.  bei  den  Hexametern  des  Florilegium  Gottingense.    Lehrreich 
etwa  Nr.  217  mit  Voigts  Anmerkung. 

25  ♦ 


388 


So  spiegelt  sich  der  deutsche  Priamelvierzeiler  vielfach  in  latei- 
nischer Überlieferung;  meist  sind  es  wohl  Schulübungen  am  corpus 
vile.  Schon  im  14.  Jahrhundert  sind  solche  Übersetzungen  vor- 
handen. 

Keine  genaue  deutsche  Entsprechung  findet  der  Spruch  der 
Wiltener  Hs.  aus  dem  14.  Jahrhundert: 

Cursus  asellorum  celer  atque  fides  monachorum, 
lex  baptismalis  meretricis  et  monialis 
desistunt  esse  tunc,  quando  sit  necesse^). 

Si  canis  applaudat,  meretrix  hilarem  tibi  vultum 
praebeat,  inclinat  monachus,  si  femina  plorat, 
amplexus  iteret  tibi  miles:  ne  movearis^) 

scheint  die  wortreiche  erweiternde  Umschreibung  eines  Spruches, 
wie  ihn  aus  späterer  Zeit  Ziugerle  S.  75^)  anführt.  Den  be- 
kannten Spf uch  von  den  drei  Üingen,  die  den  Mann  aus  dem 
Hause  treiben,  umschreiben  die  wenig  priamelmäßigen  Hexameter : 

A  funio,  stiUante  domo,  nequam  muliere 

te  remove,  tria  namque  solent  haec  saepe  nocere^). 

Eine   Steigerung,   wie   sie  in  den  Seligpreisungen  und  deren 
ümkehrung  geübt  wird,  enthält: 

Carorum  tristis  discessus,  tristior  istis 
corporis  et  animae,  tristissimus  a  deitate^). 

Inueterata  peti  non  simea  debet  in  aedes: 
Ursus  siluestris,  presbyter  et  iuuenis 

lautete  des  jungen  Peter  Schott  Übersetzung  des  gegen  Affen, 
Pfaffen  und  Bären  gerichteten  Vierzeilers^). 


1)  Wiener  Sitzungsberichte  54,  307.    Vgl.  310. 

2)  Mones  Anzeiger  4,  363.  Nr.  19.  Die  meisten  der  von  Mone  hier 
benutzten  Handschriften  gehören  dem  westlichen  Grenzgebiet  Deutschlands 
an ;  es  wäre  also  auch  die  Möglichkeit  französischer  Vorbilder  nicht  zu  leugnen. 

3)  Viel  Internationales  bieten  die  Sprichwörterlexika. 

*)  Mones  Anz.  4,  364.  Nr.  27.  MSD'XXVII  232.  2,  150 f.  Köhler, 
Kleinere  Schriften  2,  127. 

5)  Mones  Anz.  4,  364.  Nr.  30. 

6)  Alemannia  5,  267.  Uhl  S.  327.  Mehr  bei  Wein  kau  ff  in  der  Ale- 
mannia S.  265  ff. ;  in  Stammbüchern  und  Handschriften  des  16.  bis  18.  Jhs. 
Kurz,  Deutsche  Bibliothek  3,  86,4.  Anm. 


389 

Schulmäßigen  Charakters  ist  auch  der  aus  Braut  übersetzte, 
in  pompösen  Asklepiadeen  einherschreitende  NTierzeiler,  mit  dem 
Jodocus  Badius  Ascensius  das  Narrenschiff  eröffnet: 

Qui  libros  tyriis  vestit  honoribus, 
Et  blattas  abigit  puluerulentulas, 
Nee  discens  animum  litterulis  colit: 
Mercatur  nimia  stultitiam  stipe  *). 

Bald  finden  lateinische  Übersetzungen,  wie  die  Agricola-Über- 
tragung  Qlandorps,  ihren  Leserkreis. 

Unabhängig  von  einander  sind  die  Fassung  des  Priamels  von 
Dingen,  die  dem  Auge  schaden  (Qöttinger  Beiträge  2,61.  Nr.  61) 
und  der  Vers: 

Ista  nocent  oculis:  faba,  laus,  piper,  allia,  cepe, 
Vina,  Venus,  fumus,  nocturna  repletio  ventris, 
Puluis,  scriptura,  flatus,  uigilatio,  cura^). 

Die  Anregung,  die  von  dem  Inhalt  mittellateinischer  Lite- 
ratur ausging,  war  überaus  reich  und  nachhaltig;  selbst  für 
Schnaderhüpfel  Stielers  und  Kobells,  den  Spruch  des  so- 
genannten Magister  Martinus  von  Biberach  und  den  Straß- 
burger Interpolator  des  Narrenschiffs  hat  diese  lateinische  Lite- 
ratur den  Stoff  geliefert.  Wie  auch  die  reichere  Priamelform 
mittellateinisch  ausgebildet  ist,  wird  sich  später  zeigen. 


Die  hohe  Kultur  der  deutschen  Städte  des  ausgehenden 
Mittelalters,  deren  bunt  bewegtes  Leben  und  leidenschaftliche 
Kämpfe,  deren  Qebäude  und  Kunstdenkmäler  epigrammatische 
.Improvisationen  überall  in  Fülle  hervorlockten,  hat  auch  in  dem 
kleinen  poetischen  Gebilde,  dessen  Schicksale  wir  verfolgen,  reich- 
liche Spuren  hinterlassen.  Allerdings,  der  Vierzeiler  mußte  sich 
anbequemen  und  machte  die  Wandlungen  mit,  denen  die  Volks- 
dichtung in  den  Städten  unterworfen  war:  er  wurde  geistreicher 
und  salziger.    Es  sind  nicht  nur  erfreuliche  und  förderliche  üm- 


0  Zarncke  S.  218. 

2)  Clm.  4408,  145  a.  Catalog  III  2,  161.  Andere  Fassungen  im  Flori- 
leginm  Gottingense  Nr.  303  (Voigt  in  den  Romanischen  Forschungen  3,  309) 
und  im  Regimen  Sanitatis  Salemitanum  (D nutzer  S.  24)  235  ff.  Opschrif- 
ten  1,  38. 


390 


formungeD,  die  er  erfuhr.  Wir  beobachten  dasselbe,  wenn  das 
Volkslied  zum  Gassenhauer  wird.  Dieser  treibt  ja  ,,in  der  Peri- 
pherie der  Vorstädte,  wo  Stadt  und  Land  an  einander  grenzen, 
am  liebsten  sein  Wesen.  Gelehrig  nimmt  er  da  die  Untugenden 
beider  an.  Witz  und  Schlagfertigkeit  ist  ihm  von  Haus  eigen, 
aber  die  bunten  städtischen  Eindrücke  machen  ihn  bald  die  freie 
Natur  vergessen.  Es  reizt  ihn,  an  den  politischen  Händeln  und 
socialen  Beibnngen  teilzunehmen,  und  seine  Abenteuer  sind  viel 
mannigfaltiger  und  bedenklicher  als  Fensterin,  Tanz  und  das 
bischen  Hanggeln  und  Hobeln.  Wo  das  Schnaderhüpfel  natürlich 
und  derb  ist,  wird  der  Gassenhauer  gern  leckerhaft,  anzüglich 
und  unflätig.  Aber  er  erlebt  mehr  und  weiß  zu  erzählen  .... 
Seine  Geltung  ist  zwar  von  kurzer  Dauer  und  sein  Geschmack 
wechselt;  denn  der  reschere  und  keckere  schlägt  den  zahmen^).'' 
In  der  Beurteilung  solcher  Einflüsse  herrscht  heute  der  elegische 
Grundton  eines  sentimentalen  Pessimismus  vor^),  von  den  gewiß 
edelsten  Gefühlen  und  Stimmungen  getragen;  aber  wenn  man 
gar  von  dem  Pesthauch  der  Civilisation  redet,  wie  der  Verfasser 
einer  Studie  über  die  litauischen  Dainos^),  so  schießt  das  weit 
übers  Ziel.  Ohne  diesen  „Pesthauch^  der  Civilisation  verspürt 
zu  haben,  hätte  Donalitius  den  Schritt  von  primitiver  litauischer 
Volksdichtung  zum  Literaturpoeten  nicht  machen  können,  und  der 
Wiener  Gassenhauer  hat  Haydn,  Mozart  und  Beethoven  zu 
den  köstlichsten  musikalischen  Genrebildern  inspiriert.  Auch 
diese  Einflüsse  städtischer  Kultur  dienen  der  Entwicklung  der 
Volksdichtung,  so  unangenehme  Begleiterscheinungen  sie  zeitigen 
mögen.  Wozu  soll  man  beklagen,  daß  der  Quell  zum  Bache,  der 
Bach  zum  Flusse,  der  Fluß  zum  Strome  wird? 

Die  Anlässe  zur  Ausbildung  der  vierzeiligen  Priamelimpro- 
visation   waren  so   unerschöpflich   mannigfaltig,    wie   das  mittel- 

^)  Grasberger,  Naturgeschichte  des  Schnaderhnpfels  S.  14.  B.  yon 
Math  in  dem  Sammelwerk  Die  österreichisch  -  ungarische  Monarchie  in 
Wort  und  Bild,  2/^  Abteilung,  Niederösterreich  (Wien  1886),  S.  251,  und 
Pogatschnigg  in  demselben  Werke:  Abteilung  Kärnten  und  Erain  (Wien 
1891)  S.  149. 

^Bruinier,  Das  Deutsche  Volkslied  S.  21  ff.  Borinski,  Deutsche 
Poetik  S.  20. 

^  L.  Nast,  Die  Volkslieder  der  Litauer.  Gymnasialprogramm  von 
Tüsit  1893  S.  39. 


891 

alterliche  städtische  Leben  überhaupt.  Wahrscheinlich  wurden 
solche  Versehen  noch  vielfach  gesungen.  Zu  Fastnacht  war  es 
Handwerksleuten,  Handwerksknechten  und  Dienstknechten  nach 
einer  Nürnberger  Polizeiverordnung  des  14.  Jahrhunderts  erlaubt, 
durch  die  Stadt  zu  „rayen'^  und  mit  Pfeifern  zu  gehen,  und  zwar 
j,an  herren  vasnacht,  am  gailn  montag  vnd  an  der  rechten  vas- 
nacht*)."  In  einer  Saalfelder  Verordnung^)  wird  eingeschärft, 
nur  „suberliche  und  hubische  lit"  beim  Reihen  vorzusingen,  mit 
Strafandrohung  im  Übertretungsfall  für  den  Vorsänger  und  für 
Nachsingen. 

In  den  erhaltenen  Niederschriften  der  Fastnachtsspiele 
ist  die  Form  des  Vierzeilers  nicht  selten.  Das  28.  Stück  der 
Kell  er  sehen  Sammlung  besteht,  die  Bede  des  Precursors  und 
die  des  Ausschreiers  ausgenommen,  nur  aus  vierzeiligen  Sprüchen; 
jeder  der  1 5  Bauern  bringt  in  einem  Vierzeiler  seine  Unanständig- 
keiten vor.  Priamelhafte  Vierzeiler  begegnen  seltener.  Bösen- 
plüt  selbst  bringt  im  Fastnachtsspiel  von  den  Zwei  Eheleuten 
(163, 15)  den  Vierzeiler  an,  aus  dem  er  eins  seiner  bekanntesten 
14  zeiligen  Priamel  herausentwickelt  hat.  Die  Ehefrau  gibt  da 
dem  fortgehenden  Manne  die  Worte  mit  auf  den  Weg: 

Dann  einer,  der  ein  frumes  weip  hat, 
und  der  wil  hüeten  früe  und  spat, 
furcht  sie  got  nicht  und  irs  mannes  zorn: 
so  ist  all  hut  an  ir  verlorn. 

Fast  wörtlich  übereinstimmend  schließt  das  Priamel  vom 
Schweinshirten,  der  in  der  Nähe  eines  Getreidefeldes  hütet.  Das 
Motiv  ist  volksmäßig;  noch  im  Schnaderhüpfel  ist  es  unverkennbar. 

Am  Fenster  an  Vogel, 
A  Katz  vor  an  Glas, 
Und  a  Madel  recht  hiiatn: 
Dös  is  weiter  koa  Spaß.') 


0  Siebenkees,  Materialien  zur  Nürnberger  Geschichte  2, 276 ;  Böhme, 
Geschichte  des  Tanzes  1,  113. 

*)  bei  Wackernagel,   Geschichte   der   deutschen  Literatur  P  332,  9. 

^  Greinz  und  Kapferer  1,23.  von  Hormann,  Schnaderhüpfeln ' 
8.225.  Nr.  630.  Oben  S.  381  Hulthemsche  Hs.  Belg.  Mus.  1, 109:  ,Twe 
dinghen  s^n'  etc.  »  Altd.  Blätter  1,276:  ^Deux  choses  sont'  etc. 


392 

In  demselben  Spiel  kontrastiert  Bosenplüt  Ehemann  und 
Ehefran  in  ähnlich  gebauten,  syntaktisch  sehr  locker  zusammen- 
gefugten Yersgebilden;  das  zweite  ist  zum  Funfzeiler  ausgewachsen. 

Ein  eeman,  der  sein  futer  außtregt 
und  das  für  fremd  pUbin  darlegt, 
der  bringt  seinem  weib  heim  die  spreuen: 
so  muß  sie  die  vraßen  keuen. 

Ein  eefrau,  die  da  ist  unstet, 

und  ein  andern  man  zu  ir  let, 

dem  selben  erpeut  sie  es  dreu  mal  paß, 

und  tut  im  auf  ein  lauters  faß: 

und  geit  irm  man  ein  trübe  neig^). 

In  dem  Bosenplütschen  Dreizeiler: 

Einer,  der  über  Rein  ist  gefaren, 

den  Übel  durst  und  wasser  wU  sparen, 

ist  der  nicht  ein  rechter  gauch?^) 

steckt  dasselbe  Priamelmotiv  wie  in  dem  Schnaderhüpfel: 

Wer  an  Apfel  schält  und  er  ißt  ihn  nit, 
Wer  a  Dirndle  Habt  und  er  küßt  se  nit, 
Wer  ins  Wirtshaus  geht  und  trinkt  kan  Wein: 
Muaß  a  rechter  Batzenlippel  sein^. 

Am  derbsten  erscheint  das  Motiv  in  einem  Beispiel  der 
Kryptadia  ^j,  am  feinsten  in  einer  modernen  Inschrift  am  Batzen- 
häusl  in  Bozen  verarbeitet^). 

Deutlich  hat  der  Verfasser  des  27.  Fastnachtsspiels  ^)  das  Motiv 
entwickelt: 

Aber  der  über  Rein  ist  gefaren, 

den  durst  und  wil  das  wasser  spam 

und  hungerig  in  eim  Obstgarten  seß 

imd  vor  faulheit  kein  apfel  eß, 

und  donach  hunger  und  durst  wolt  clagen: 

wer  wolt  im  das  in  gut  dar  schlagen? 

Gegen  Bosenplüt  als  Verfasser  spricht  hier  auch  der  Um- 
stand, daß  Bosenplüt  volksmäBige  Motive  fast  immer  umzubilden, 
nie  sie  unverarbeitet  anzubringen  scheint. 


»)  167, 15  ff:    QF  77,  154.  192. 

«)  322,  8.    Sterzinger  Spiele  2,  71  ff.        3)  Grasberger  S.  65. 

*)  4, 100.    Nr  103.         »)  v.  Padb  erg  S.  61.         «)  Michels  S.  1981 


393 

Öfter  schwankt  der  Priamelvierzeiler  des  Fastnachtsspiels  in 
den  Fünfzeiler  über: 

Dann  wer  do  drischet  vor  dem  schnit, 
und  ee  wil  pachen,  dan  er  knit, 
und  ee  wil  heizen,  dan  er  feurt: 
ob  der  sein  mtte  ein  teil  verleurt, 
des  schaden  niemant  klagen  sol  *). 

Auch  hier  spricht  ein  Freidankcitat  gegen  Rosenplüt.  Mit 
einem  derben  Fünfzeiler  als  Schlager  schließt  Bosenplüts  Spiel 
,Wie  die  fraaen  ein  kleinot  aufwurfenS  das  von  den  Priamel- 
Sprechern  ganz  gründlich  aasgeplündert  ist. 

Dann  wer  der  seit  kein  recht  tut, 
und  sich  vil  pöser  ding  fleißet 
und  mitten  an  den  weg  scheißet 
und  zu  lest  sehen  weip  und  man: 
der  kumpt  ungescholten  nit  darvon^). 

In  der  Revue  vom  Heiraten  (702,  20 ff.))  das  trotz  seiner  Ver- 
derbnisse auf  Bosenplüt  zurückweist^),  endet  der  sechste: 

Do  gedacht  ich:   Wenn  du  ein  solchs  test, 
so  du  als  lang  gefast  hest, 
und  erst  an  einer  mucken  anpeißen: 
so  wolt  der  teufel  dich  wol  pescheißen. 

Ein  wahrscheinlich  Bosenplüt  scher  Witz,  den  dann  die 
Priamelsprecher  so  ausbauten: 

Ein  frumme  frau  an  eren  stet, 

und  die  gar  lang  gevastet  het, 

und  erst  an  einer  mucken  wölt  anpeißen: 

die  wölt  der  teufel  wol  bescheißen^}. 

Ein  Gegenstück  liefert  das  in  denselben  Handschriften 
(8  177*.  E406^)  überlieferte  Verschen: 

Ein  frumme  frau  mit  frolichem  mut, 
und  die  ir  er  hat  wol  behut, 
und  die  got  lieb  hat  und  iren  man: 
die  tregt  wol  auf  der  em  ein  krön. 


0  130,  26  ff.    130, 10  f.  Freid.  100,  20  f.    Boethe  zu  Reinmar  272, 1. 
«)  137,  4 ff.    319,  25  ff.  »)  Michels  S.  205  f. 

*)  B  177b.    E  406*. 


394 

In  eiiMT  Bede  des  Ausschreiers  im  Bosenplütsdieii  92.  Spiel: 
9  Die  Maköcken  pnS  yasnacht^  kommt  der  Yierzefler  Tor: 

Pumnica,  pfeifcD,  sagen  und  sukgen, 
Ksscn  md  trinken^  tanscn  imd  spfiiigcn 
mit  sclidneo,  bfibschen  fraocn  do: 
die  yiat  man  heint  all  liaaen  im  Pokslo. 

(727,  ISfEl) 

Ahnlich  im  95.  Spiel: 

Hfibsclilich  sagen  and  fröfich  sii^en, 
imd  mit  den  jnnkfirancn  tsmxcn  md  spnngen, 
des  wil  ich  mich  aDs  in  der  jogent  nieten: 
das  aher  wiit  mir  wol  feirabend  pieten. 

(787,  13  ff.) 

Ein  mittelniederdentscher  Sprach  sagt  ?on  der  Weltlast: 

Dantxen,  singen  and  springen, 

Ock  mit  schönen  Frowen  ringen; 

Weer  dat  der  Carth&ser  Oiden, 

So  weer  ick  Ycyriangst  ein  Monck  worden^). 

Wie  bei  Bosenplüt  schließt  der  Verfasser  des  Fastnachts- 
spiels Tom  König  aas  Schnokenlant')  (651,  4  ff.)  eine  Bede  mit 
Priamelvierzeüer: 

Wer  also  prangieren  und  ho&rt  kan, 

nnd  lest  sein  frauen  am  hunger  gan, 

and  der  sein  selbs  eer  also  swecht: 

das  ist  recht,  ob  man  den  im  tomier  schlecht 

Aach  die  Verse  (Nr.  58.  517,  23  ff.) 

Ein  anner  sol  sich  einer  armen  remen. 
Ein  reicher  sol  ein  reiche  nemen, 
Flint  nnd  plint,  lam  und  lam: 
Ein  ide  gattung  gehert  zusam 

stellen  einen  Vierzeiler  dar,   eine  Variation   des  Motivs  von  Zu- 
sammengehörigem '). 

Aas  dem  90.  Fastnachtsspiel  lassen  sich  als  Vierzeiler  heraus- 
lösen : 


>)   Werldt8pr6ke  Nr.  17.  >)  Michels  S  211  f. 

^   Gnndlaeh  Nr.   753.      ron  Hdrmann,    SdmaderhnpfehiS   S.  45. 


395 

Alls  pfeifen,  harpfen  und  lauten  schlagen 
und  enge  schühlein  an  tragen 
und  meinen  puln  nimer  liep  zu  haben: 
dasselb  wil  ich  nu  alles  begraben^), 

wobei  deutlich  ein  Priamel  Bosenplüts  durchklingt ^. 

Tanzen,  stechen  und  spaziern, 
und  des  nachts  auf  der  gassen  hofiern, 
und  was  man  von  der  hubscheit  sagt: 
dasselb  mir  alles  mishagt^). 

Aber  es  darf  nicht  verschwiegen  werden,  daß  in  beiden  Fällen 
noch  zweizeilige  Zusätze  erfolgt  sind. 

Hans  Folz^),  von  Geburt  kein  ,6roßstädterS  wie  Bosen- 
plüt,  stand  direkter  volkstümlicher  Überlieferung  noch  näher. 
So  gebraucht  er  auch  den  Vierzeiler. 

Im  Fastnachtsspiel  vom  König  Salomon  und  Markolf  (538, 18ff.) 
singt  ein  Bauer  das  Lied  von  Markolf,  das  mit  einem  nicht 
priamelhaften  Vierzeiler  beginnt,  mit  einem  Priamel  vierzeiliger 
Form  schließt: 

Wo  sich  der  rab  dem  adler  gleicht, 
Der  fuchs  dem  leben  nit  entweicht, 
Und  das  die  eul  des  greifen  remt: 
Also  wirt  hoffart  auf  das  letzt  beschemt. 

Die  Stelle  ist  wichtig  für  die  Verwandtschaft  des  Priamels 
mit  der  lyrischen  Strophe.  Die  scenarische  Anweisung  lautet: 
„Ein  bauer  greint  den  reimen,  der  ander  paur  und  lacht  den 
reimen,  der  dritt  paur  singt  das  lied  von  Markolfo,  der  vierd 
paur  flucht  den  reimen.^  Ein  wirkliches  Lied  sind  auch  die 
Verse  des  dritten  Bauern  absichtlich  nicht;  man  hat  doch  wohl 
daran  zu  denken,  daß  der  Schauspieler  rohen  Bauemsingsang 
nachäfft.     Abschnitte   sind  nach  Vers  538,  22  und  32  erkennbar. 

Während  Bosenplüt  im  Fastnachtsspiel  den  Vierzeiler  hand- 
habt, verschmäht  er  ihn  absichtlich  in  seinen  selbständigen  Priameln. 
Er  ist  zu  leichte  Ware  für  den  Dichter,   der  die  Gattung  als 


1)  719,  22.  3)  Göttinger  Beiträge  2,  58.    Nr.  XXIV.         »)  720,  16. 

*)  Hampe  in  den  Mitteilungen  des  Vereins  for  Geschichte  der  Stadt 
Nürnberg  12,  102  ff.  Boos,  Geschichte  der  Bheinischen  Stftdtekultur  in^ 
834  ff. 


396 

solche  in  die  literarische  Spliäre  erheben  will.  Aber  Gelungenes 
derart  blieb  doch  beliebt,  ein  wirklicher  Schlager  pflanzte  sich 
lange  fort. 

In  dem  Sprnchbüchlein,  dessen  Inhalt  ansdrücklich  als 
Priamelred  bezeichnet  wird,  fehlt  neben  zahlreicheren  Beispielen 
des  entwickelteren  Priamels  auch  der  Vierzeiler  nicht.  Die  Über- 
lieferung dieser  Handschrift  ist  fQr  den  Priamelcharakter  unsers 
kleinen  Gebildes  ebenso  wichtig  als  entscheidend,  nicht  minder 
fftr  den  Zusammenhang  mit  dem  Nürnberger  Fastnachtsspiel.  Ihm 
entstammt  gleich  der  erste  hier  (Blatt  4^)  erhaltene  Vierzeiler. 

Mein  lieb  liebet  mir  fUr  Schnecken, 
für  linsen  essen  und  salz  schlecken, 
für  essig,  gift  und  für  gallen: 
wie  roocht  es  mir  dann  pas  gefallen? 

Das  scherzhafte  Motiv  ist  altvolksmäßig,  die  groteske  Parodie 
der  ernsten  Liebesbeteuerung  und  des  Preises  der  Geliebten  im 
epigrammatischen  Vierzeiler.  Im  Liebesbrief  des  13.  Jahrhunderts 
erklärt  schon  der  Liebende,  daß  ihm  die  Geliebte  über  die  ganze 
Welt  gehe^);  ein  späterer  Liebesbriefsteller  ^)  versichert:  Du  bist 
mir  lieber  denn  alle  die  Welt!  Auch  die  edelste  und  innigste 
Fassung  dieses  Motivs  ist  alt-traditionell.    Wenn  das  Frankfurter 

Liederbuch »)  sagt:  gchönes.  lieb,  halt  fce. 

wie  der  baam  seine  estel 

so  haben  wir  einen  um  Jahrhunderte  älteren  Beleg  für  den  Kern 
des  herrlichen  Vierzeilers: 

Und  i  liab  di  so  fast, 
wia  der  Bam  seine  Äst, 
wia  der  Himmel  die  Stern, 
krat  so  han  i  di  gem*)I 

Ausdrucksvolle  Variationen  umspielen  das  Thema.  Bei  Bud- 
weis  wird  gesungen: 


1)  Meyer  S.  57. 

^)  Bartsch,  Die  Handschriften  der  Bibliothek  zu  Heidelberg  I.  S.  198. 
Nr.  401. 

^  Uhland,  Schriften  4,85.  Jetzt  Kopp,  Zeitschrift  far  Yolksknnde 
12,  45  ff. 

')  Grasbergej,  Naturgeschichte  des  Schnaderhnpfels  S.  37.  Werle, 
Almrausch  S.  274.    Pogatschnigg  und  Herrmann  1',  65.   Nr.  310. 


397 

Ih  hob  dir  in  d'  Äuglein  gschaut, 
D'  Äuglein  worn  trUab; 
Und  i  hob  dirs  not  zsogn  traut, 
Daß  ih  di  liab. 

Oba  ih  liab  di  so  fest, 
Wia  da  Bam  seine  Äst; 
Wia  da  Äpfl  seine  Kern, 
Grod  so  hob  ih  di  gcrn^). 

In  Schwaben  heißt  es: 

Mein  Schatz  halt  i  fest 
Wie  der  Baum  seine  Äst, 
Wie  der  Äpfel  seine  Kern, 
Drum  hab  i'  n  so  gern^). 

Das  Motiv   vom  Apfel  und   Kern  hat  Franz   von   Eobell 
aufgegriffen : 

Und's  Diendl  hat  gsagt. 
Und  sie  hätt  mi  so  gern, 
Als  wie  vo  die  Kerschn 
Und  Zweschbn  die  Kern. 
Die  Sakera-Diendln, 
So  Sans  allisamm 
Und  erst  recht  foppens  oan, 
Bals  oan  obandlt  hamm^). 

In  solchen  Vergleichen   ist   nun    die   volkstümlichü  Fantasie 
schier  unerschöpflich. 

Wahr  is,  scheani  Sterndia 
Geits  oni  End! 
Aba  Du  bist  roa  liaba 
Wias  ganz  Firmament"^). 

Becht   prosaisch,    aber    gut   gemeint   ist   der    philisterhafte 
nassauische  Vers: 

Von  drüben  komm  ich  rUber, 
Wos  wunderschön  ist, 
Und  mein  Schatz  ist  mir  lieber, 
Als  Geld  auf  dem  Tisch ^). 


1)  Uruschka  und  Toischer  S.  160.    Dazu  S.  278.    Nr.  42.  43a. 
3)  Meier,  Schwäbische  Volkslieder  S.  19.   Nr.  93. 
^)  Fr.  von  Kobell,   Gedichte   in   oberbayerischer  Mundart.    München 
1862.    S.  326     Nr.  14.  15. 

*)  Werle,  Almrausch  S.  183. 
,     5)  Wolfram  S.  282  ff.    Nr.  28. 


398 


Stelzhammer  spinnt  das  Thema  zu  einem  Duett:  ,Dö 
närrisch  Liab'^)  aus: 

Er: 
I  han  di  liaber  als  Hans  und  Hof, 
Und  als  mein  Bött,  in  den  i  schlof; 
I  han  di  liaber  als  Roß  und  Wagn, 
So  liab,  i  kann  das  go  not  sagnl 

Sie: 
Ih  han  die  liaber  wos  d'  Goas  und  Kuoh, 
Und  geb  sah  Mihlö  nuh  so  gnua; 
I  han  di  liaber,  wos  Schmale  und  Rahm, 
So  liab,  o  mein,  du  glaubst  as  kam. 

Er: 
I  han  di  liaber  als  d'  Kugelstad, 
Wanns  glei  siebn  nöi  Kögel  had; 
I  han  di  liaber  als  Bier  und  Most, 
Wann  d'  Halbe  ah  an  Batzen  kostt. 

Sie: 
I  han  di  liaba  wos  d'  Haohsatstubn, 
Und  gehts  ah  nuh  so  lustig  um; 
I  han  di  liaba,  wos  Zuger  und  Möth, 
Du  magst  mas  glaubn  iast  oda  nötl 

Er: 
I  han  di  liaba  als  d'  Kreuzkapelln, 
Ols  's  Fegfoi  zsammt  dö  arma  Seein; 
I  han  die  gern,  wiar  i  d'  Muada  han 
Und  —  schier  nuh  liaber  ann  und  dann. 

Sie: 
I  han  di  gern  wia  man  Raosenkranz  — 
Na,  Michl,  nal   na  dert  nöt  ganz; 
Du  bist  ma  liaba  als  Gothen  und  Göth, 
Nur  sagen  mußt  as  neamden  nötl 

Schon  hier  bemerkt  man  die  Wendung  zum  Humor,  der  in 
mitteldeutscher  Improvisation  bald  die  Lyrik  ganz  überwuchert. 
Im  Vogtland  versichert  der  Bursch: 

Mei  Schatz  is  mr  lieber 
als  Rosemarie, 
um  tausend  Ducaten 
gib  ich  ne  net  hi. 

1)  S.  79.   Nr.  83.    Ein  Ähnlicher  Wettstreit  im  Fastnachtsspiel  133,  fiO, 


899 


Tausend  Ducaten 
dös  is  a  schönns  Geld, 
mei  Schatz  is  mr  lieber, 
als  wie  de  halbe  Welt. 

oder: 

als  Geld  afn  Tisch  ^}. 

Oleich  setzt  die  lustige  Parodie  mit  Litotes  ein: 

Ball  ruber,  ball  nüber, 
ball  af  dr  Chaussee, 
mei  Schatz  is  mir  lieber 
wie  a  Schälla  Kaffee^. 

O  du  schöne  Sonneblume, 
du  hast  mir  mei  Herz  genumme, 
du  liegst  mir  in  meiner  Haut, 
wie  de  Worscht  in  Sauerkraut 3). 

Auf  diesem  Gebiet  treibt  parodierender  Humor  die  üppigsten 
Bläten,  z.  B.  in  Nassau: 

Ei  du  schöne  Sonnenblume, 
Du  hast  mir  mein  Herz  genomme, 
Du  liegst  mir  in  meinem  Sinn, 
Wie  der  Kern  im  Kümmerling. 

O  du  liebe  Klapperschlange, 
Du  hast  mir  mein  Herz  umfange, 
Du  liegst  mir  in  meiner  Haut, 
Wie  die  Wurst  im  Sauerkraut. 

O  meine  liebe  Zuckersüße, 
Du  thust  mir  mein  Herz  ausgieße. 
Drum  ist  es  ganz  durchaus  naß  ' 

Wie  ein  altes  Regenfoß. 

Ei  du  schöne  Nachtviole, 
Du  hast  mir  mein  Herz  gestohle, 
Maid,  mein  Herz  brennt  lichterloh, 
Wie  ein  Büschel  Erbsenstroh  ^). 


0  Danger,  Bundas  Nr.  37  ff. 

>)  Nr.  237. 

»)  Nr.  230.  =  Meier,  Schwäbische  Volkslieder  S.  20.  Nr.  104.  Gund- 
lach  Nr.  800.  Werle,  Almrausch  S.  274.  Pogatschnigg  und  Herrmann 
1»,  74.   Nr.  355.    S.  343.    Nr.  1623. 

«)  Wolfram  S.  175.   Nr.  176.    Yergl.  die  Nachweise  ebenda. 


412 

An  solche  Überlieferung  erinnert  die  Haasinschrift  am 
Thuner  See: 

Ich  komme,  ich  weiß  nicht  von  wo, 
Ich  bin,  ich  weiß  nicht  was. 
Ich  fahre,  ich  weiß  nicht  wohin: 
Mich  wundert,  daß  ich  so  fröhlich  bin^)? 

Bührend  nnd  ergreifend  redet  auch  einmal  der  gute  Hugo 
von  Trimberg: 

wir  mliezen  sterben  und  wizzen  doch  niht, 

wie,  wa  oder  wenne  daz  geschiht. 

wunder  ist,  daz  ie  kein  mensch  üf  erden 

vr6  ist  oder  vr6  kan  werden: 

des  geburt  mit  jämer  ist  bevangen, 

sin  leben  betwungen  mit  sorgen  zangen, 

sin  ende  begriffen  mit  herzeleide  ^). 

Hugo  von  Montfort  hat  das  mortalisch  Böse^)  ebenso  tief 
empfunden: 

Sölt  ich  nu  ewenklich  leben. 

So  muest  ich  imer  clagen, 

So  hat  mir  got  och  geben 

Die  selben  sorge  muoß  ich  teglich  tragen. 

Das  ich  wol  weiß  min  sterben 
Und  weiß  nicht  weihe  stund; 
Ich  muoß  hin  in  die  erden, 
Min  sei  von  minem  mund^). 

Alle  Gestaltungsversuche,  die  bis  ins  14.  Jahrhundert  gemacht 
wurden,  blieben  hinter  der  höchsten  Wirkung*)  zurück,  bis  die 
einfache  Improvisationskunst  des  volkstümlichen  Priamelvierzeilers 
sich  des  fliegenden  Motives  bemächtigte.  Wie  der  Kiesel  im  6e- 
birgsbach  wurde  die  Form  unablässig  gerundet,  geglättet  und 
geschliffen.  Spuren  dieses  Prozesses  sind  in  Fassungen  des  15. 
und  16.  Jahrhunderts  noch  vorhanden^).    Die  Form,  der  Walthers 


»)  Germania  6,  371.  ^)  Renner  23  276.  23  322. 

^)  Spicker,  Yersuch  eines  neuen  Gottesbegriffs.  Stuttgart  1902. 
S.  254  f.  333. 

*)  XXVm  353  ff. 

5)  Goethe  meint:  „Jede  Produktivität  höchster  Art,  jedes  bedeutende 
Aper(;u,  jeder  große  Gedanke,  der  Frucht  bringt  und  Folge  hat,  steht  in 
Niemandes  Gewalf 

«)  Köhler  3,  441  f.    Sandyoss  S.  105 f. 


401 


dasselbe  Fastnachtsspiel  an;  und  darauf  folgt  ein  Vierzeiler,   der 
nur  Zote  ist: 

Es  ist  ein  gemeiner  sit, 

das  der  zers  und  der  schmidt 

allwegen  müssen  stan, 

so  sie  zu  der  arbeit  sUlIen  gan*). 

Neu  war  der  ,Witz'  nicht  mehr,  er  war  wenigstens  schon 
hundert  Jahre  alt.  Das  bezeugt  eine  Fassung  des  Liedersaales 
Nr.  199,  25').  Das  schmutzige  Bild  kehrt  natürlich  auch  im 
Fastnachtsspiel  wieder  (616,  26  flf.).  Der  Sprecher  fühlt  sich  als 
Spaßmacher  verpflichtet,  derartige  rohe  Surrogate  der  Komik  ein- 
zumischen. In  Sprüchen  des  Liedersaales  ist  das  ein  beliebtes 
Verfahren^),  ein  Spruch  ist  ganz  auf  den  Gegensatz  von  Ernst 
und  solchem  , Scherz'  aufgebaut*).  Im  Newen  Grillen  Schwärm 
des  17.  Jahrhunderts  ist  es  noch  Princip  geblieben^).  Ähnliches 
erlauben  sich  die  Sprecher  des  15.  und  16.  Jahrhunderts;  Fatz- 
werk  gehört  zu  ihrem  Beruf;  erhaltene  Verse  dieser  Gattung 
kommen  mehr  auf  Rechnung  der  Vortragenden  und  Schreiber  als 
der  Dichter.  Wie  der  Sprecher  seinen  Priamel- Vortrag  durch 
Unanständigkeiten  anfängt  oder  beschließt,  so  wählt  er  auch 
einmal  zum  Schluß  den  Lügenspruch,  mit  dem  er  sich  selbst 
ironisiert.  Das  erste  Priamelbuch  der  Münchener  Handschrift 
Cgm  713  schließt: 

Ich  bin  gewesen  in  dem  land, 
Da  das  gelt  wegst  aus  dem  sand, 
Und  das  gelt  wegst  auf  dem  ror: 
Wer  das  gleubt,  der  ist  ein  tor^). 

Ein  geeigneter  Wink  mit  dem  Zaunpfahl:  die  Zuhörer  sollen 
zahlen. 

Noch  heute  liebt  der  Lügenspruch  den  Improvisations-Vier- 
zeiler. 

Ihr  Leutia,  glabt  mrsch  sicherlich, 
senn  wahrlich  kanne  Lügn,  ja  Liign: 
de  Kuh  sitzt  in  dem  Schwalbennest, 
hot  zwanzig  gunge  Ziegn'). 

1)  N  4b.    Fsp.  1455,  12.  «)  Vgl.  KpüTrca'Sia  4,  80.   Nr.  1. 

3)  Nr.  198.  199.  238.  *)  Nr.  197. 

^)  Weimarisches  Jahrbuch  3,  126  ff. 

6)  Blatt  25  a.    Über  Bettelsprüche  oben  S.  363. 

7)  Dunger,  Rundas  Nr.  1382  ff. 

Euling,  Priamel  26 


402 

Ich  tnid  mei  Voter 
sei  a  ornüichs  Paar  Narm: 
fohme  Summer  in  Schlitten» 
und  ne  Winter  mit  Karm. 

BUable,  woaßt  was? 

Dö  Katz  is  mei  Bas, 

Da  Hund  is  mei  Vetta, 

Und  morgen  werd  schean  Wetta^)! 

Von    PriamelvierzeilerD    bezeugt    das    Sprachbüchlein    noch 

folgende: 

Wenn  man  ein  einfeltigen  betreugt, 

und  so  man  auf  ein  frommen  leugt 

und  veintschaft  zwischen  eeleuten  macht: 

der  dreier  arbeit  der  teufel  lacht  ^). 

Auch  dieser  Vierzeiler  ist  durch  Bosenplüts  Hände  gegangen, 
was  freilich  der  von  Keller  hergestellte  Text^)  nur  unvollkommen 
zeigt.  Vielleicht  ist  das  Motiv  traditionell,  wie  folgende  Inschrift 
in  einer  Borstube  zu  Badomeuschel  lehrt: 

Wer  den  Gerechten  beleugt, 

Und  den  Armen  betreugt. 

Und  zwischen  Eheleuten  Hader  macht, 

Der  arbeitet,  daß  der  Teufel  lacht^). 

In  N  folgt  nun: 

Wann  das  ein  weiser  eins  narren  spott, 
und  ein  frommer  sich  gesellt  zu  pöser  rott, 
wer  das  den  zweien  wol  anlegt: 
derselb  kein  Weisheit  in  im  tregt^). 

Alsdann  das  schon  gedruckte  Priamel  gegen  den  kargen 
Mann:   „Ein  man  dem  er  und  gut  zufleußt ^);^    endlich  ein  auch 


^)  Greinz  und  Eapferer  1,  92. 

^  Blatt  5a/b.    B  176b.    F  52a. 

3)  Pap.  161,  27  ff.  Vergl.  die  Lesarten  aus  W.  In  jedem  Fall  ist 
nach  162,  2  eine  Interpunktion  zu  wählen,  die  erkennen  l&ßt,  daß  163,  4 
den  Abschluß  der  Periode  bildet.    QF  77,  192. 

*)  Altdeutsches  Herz  und  Gemüt  S.  123. 

5)  Blatt  5  b.    B  177  a. 

«)  Blatt  5  b.  Hundert  Priameln  Nr.  XXXIII.  Zum  Ausdruck  Vers  1: 
Fsp.  197,  29.  206,  34;  Vers  4  Eolm.  Handschrift  83,  13.    Fsp.  1156,  19,  3. 


403 


in  B  und  in   der  Handschrift  Harrers   erhaltener  Sprach,  der 
Freidanks  Bescheidenheit  benutzt^). 

Wenn  ein  reicher  ein  armen  verschmecht, 
und  wenn  ein  greif  ein  mucken  vecht, 
und  wenn  ein  keiser  pöse  münze  schlecht: 
die  drei  haben  sich  selber  geschwecht^). 

Unter  den  Federproben  am  Schluß  des  Büchleins  steht: 

Der  teufel  und  unglückh, 

und  alter  weiber  tückb: 

reitten  oft  m  anigen  man, 

das  er  nit  fUr  sich  khomen  khan^). 

Vierzehn  Vierzeiler  hinter  einander  gibt  die  Priamelsammlung 
der  Handschrift  B  176a  ff. ^).  Mehrere  davon  sind  wenig  be- 
kannt, meist  freilich  schwache  kaum  priamelartige  Nachahmangen 
in  dem  angeschlagenen  Ton. 

Ein  fromer  man,  der  frölich  ist, 
und  ungern  in  dem  haderpuch  list, 
der  gelaub  nit  alles,  das  er  hört: 
er  wird  anders  von  den  leutcn  betört^). 

Noch  schwächer  und  gar  nicht  priamelhaft  geraten  ist  die 
Kopie  eines  schon  bekannt  gemachten  Spruches  (Hundert  Priameln 
Nr.  XXXE): 

Wann  einer  eim  gütlich  hat  getan, 
ob  er  nicht  spricht,  das  im  got  lan, 
noch  lest  es  got  nicht  unbesalt,  * 
des  gut  bezalt  er  hundertvalt 


0  73,  16. 

«)  Vgl.  E  406b.  B  177a.  P  52a  1.  Keller  Fsp.  1371,  Nr.  108  mit 
irriger  Lesung  ,arzmeyS 

3)  Blatt  6  a. 

*)  Die  Anf&nge  hat  Keller  yerzeichnet.  Fsp.  1371,  Nr.  99—113. 
Nr.  99  =  Hundert  Priameln  Nr.  XXIX.  Nr.  100  =  XXX.  Erweitert  in  F. 
Nr.  101  =  Hundert  Fr.  Nr.  XXXI.  Erweiterung  aus  F  bei  L  es  sing  11,  667. 
Nr.  103  =  Hundert  Pr.  Nr.  XXXII.  Gegenstück  zu  Freidank  131,  5  ff! 
LS.  3,  568,  49  ff.  Brandes,  Glosse  S.  254.  Zur  Lesart  ,sack^  vergleiche 
Seemüller  zu  Helbling  5,  16.  46.  Nr.  105  =  Nr.  XXXIU;  s.  oben. 
Nr.  106  steht  oben  abgedruckt  aus  BN.  Desgleichen  Nr.  107.  109.  113. 
Nr.  108  s.  unten. 

»)  BL  176  a.    E71b. 

26  • 


404 


Nach  oben  aus  BE  mitgeteiltem  Muster  verfahren  die 
Vorsehen: 

Ein  frome  frau  in  elichem  stant, 
die  nie  gevallen  ist  in  schant, 
stöst  sie  ir  man  in  schänden  graben: 
so  muß  er  sich,  beschissen  haben  ^). 

Ein  frome  frau,  do  es  wol  umb  stet, 

die  auf  der  eren  Straßen  get, 

die  sol  ir  man  davon  nit  wenden: 

so  kan  sie  klaffers  mund  nit  sehenden^). 

Ein  man  der  mit  eim  ißt  und  trinkt, 
und  im  sein  ere  lempt,  das  sie  hinkt: 
der  isset  rehraub  und  trinkt  sUnd, 
das  tun  al  lUgenhaftig  münd^). 

Ebenso  schwach  und  minderwertig  sind  viele  Vierzeiler  der 
großen  Sammelhandschrift  FO,  die  später  in  der  gnomischen 
Industrie  des  16.  Jahrhunderts  wiederkehren;   z.  B. 

Welch  man  eim  kost  und  Ion  mus  geben, 
der  nichtz  wil  tun,  es  sei  im  dan  eben, 
und  meint  im  ste  vil  dings  nit  zue: 
der  seh,  das  er  sich  des  ab  tue^). 

Welch  knecht  des  tages  müssig  gangen  hat, 
und  des  nachts  dester  ee  aus  gat, 
und  denkt  »es  müe  recht  wen  es  welle: 
für  kein  frumkeit  ich  im  das  zeP). 

In  Wunschform  kleidet  sich  folgender  Spruch: 

Got  geb:   das  ich  lang  leb, 
das  ich  wenig  hab  und  vil  geb, 
und  vil  wiß  und  wenig  sag, 
und  antwort  nit  auf  alle  frag^). 


')  Bl.  177  a  Vers  4:  ,sie'.    E  406  a. 

2)  Bl.  177b.  V.  2:  Die  nye  gevallen  ist  yn  schant.     E  406a. 

3)  Bl.  177  b.    E  405  b. 

*)  F.  Bl.  49 II  b.  Spalte  2.  ,Wie  sich  einer  der  eehalten  wol  abthun'. 
Einen  Vierzeiler  dieser  Art  hatte  Eschenburg,  Denkmäler  S.  415.  Nr.  XL  VI 
abgedruckt. 

^)  F.   Bl.  49 II  b.  Sp.  2.     ,Wie  einer  des  tages  mussig  get'. 

6)  F.   Bl.  52  b.    Eschenburg  Nr.  LXII. 


405 

£s  ist  Variation  des  Spruches: 

Red  nit  vil  und  mach  es  war, 
porg  nit  vil  und  zall  das  par, 
und  wiß  auch  vil  und  wenig  sag, 
und  antwort  nit  auf  alle  frag^). 

Als  Hausvers  in  Wendelsheim  wird  der  Spruch  sehr  praktisch: 

Vil  wissen  und  wenig  sagen, 
Nicht  antworten  auf  alle  Fragen, 
Was  du  redest,  daß  mache  war, 
Was  du  kaufst,  bezahle  baar^j! 

Die  niederrheinische  Fassung  des  15.  Jahrhunderts  steht 
der  gleichzeitigen  hochdeutschen  nahe: 

Wyß  vyl  uod  wenych  sage, 
Antwert  nyt  aller  frage, 
Borgh  wenych  und  bezall  das  gar. 
Rede  wenych  und  halt  das  wayr^). 

Ein  anderer  Vierzeiler  der  Hs.  G.  erweitert  ein  Sprichwort*). 

Vor  knechtes  zung  und  kinder  spil. 
Vor  hunds  maul,  als  ich  sagen  wil, 
Vor  großen  fueßen  und  lispenden  lauten: 
Hut  dich  wol,  thue  ich  dir  bedeuten*). 

Manche  Priamelhandschriften  sind  enthaltsamer  in  der  Auf- 
nahme von  Vierzeilern  gewesen.  Aus  der  Handschrift  A  stammt 
der  vorzügliche  Vierzeiler: 

Wer  einem  wolf  traut  auf  die  baid, 
Und  einem  paum  auf  seinen  aid, 
Und  einem  münch  auf  sein  gewissen: 
Der  ist  hie  und  dort  beschissen^), 


^)  F.  119  b.  ,Wie  sich  ein  mensch  sol  halten  fmmklich^  Zs.  f.  d.  A.  27, 
39.    Wander  3,  1158. 

3)  Meier,  Schwäbische  Volkslieder  S.  267. 

3)  Germ.  19,  303. 

*)  Hundert  Pr.  Nr.  99.  Facetus  bei  Suringar,  Van  Seeden  Nr.  87 
nnd  S.  57. 

5)  Hätzlerin  2,  57,  43. 

«)  Hundert  Pr.  Nr.  IX.  Zum  Wolf  ühland,  Schriften  3,  64  ff. 
Wolf  und  Pfaffe:  3,  67.    Wander  s.  v.  Bauer  82.  5,  60,  1313, 


406 

der  in  F  wieder  durch  Eontamination  mit  Freidankversen  erweitert 
wurde.  Das  in  seinen  Grundlagen  wahrscheinlich  gemeingermanische 
Motiv  ist  heute  noch  beliebt  0. 

Mnl.  und  mnd.  Fassungen  begegneten  schon  oben;  auch 
der  Leberreim  greift  es  auf: 

Wol  einem  Wulff  vp  breder  Heyd, 
Vnd  dem  Joden  by  seynem  Eyd, 
Einm  Wökener  by  sym  Gweten 
Trawt:   wert  van  dissen  bedreten^). 

Gewarnt  wird  in  der  Sprichwörterliteratur  mit  solchen  Sprächen 
vor  Freunden,  Soldaten,  Magistern,  dem  Papst,  Krämern  u.  s.  w. 
Als  Inschrift  ist  an  einem  Wohnhaus  zu  Mohra  bei  Marburg 
angebracht: 

Trane  keinem  Mädchen  auf  gruniger  Haid, 

Und  keinem  Jud  auf  seinen  Eid, 

Keinem  Schäfer  auf  sein  Gewissen: 

Sonst  wirst  du  von  allen  dreien  beschissen^). 

Nürnberger  Ursprungs  ist  ein  Priamelvierzeiler  aus  KM,  der 
den  Gegensatz  von  Jung  und  Alt  verwendet^),  wieder  in  F  er- 
weitert: 

Ein  junger  koch,  im  alter  ein  preter. 

Ein  junger  reuter,  ein  alter  verreter, 
Ein  junge  hur,  im  alter  ein  schütz: 
Die  dreu  sein  sunst  zu  nichten  nutz*). 

In   der  Hs.  K  hat  Schmeller  folgenden   Spruch   erneuert: 

Nimant  glauben  und  vil  klaffen, 
Schelten  nunnen,  munch  <und>  pfaffen, 
Und  sich  selb  anschawen  nit: 
Ist  überal  der  weide  sit^). 

Mehr  als  ein  halbes  Dutzend  Priamelhandschriften  überliefern 
den  beliebten  Spruch: 


')  Dotier  und  Heinz el»  Edda  2,  119.     Wiener  l^ttzangsberichte  54, 
307.    Beilage  zur  Münchener  Allgemeinen  Zeitung  1899  Nr.  123,  2. 
«)  Nd.  Jb.  10,  70.  Nr.  37. 
3)  von  Padberg3  S.  88. 

*)  Hundert  Pr.  Nr.  LXXVm.    Wander  2,  1054. 
^)  Auch  in  M  Bl.  19  b  mit  der  Variante;  y^rr^terj  petler, 
«)  Cgm,  713,  5  a. 


407 


Wer  alle  tag  wil  ligen  im  luder, 
und  aus  der  Schüssel  wil  füren  gute  fuder, 
und  einen  trunk  übern  andern  wil  sauffen: 
den  sieht  man  wenig  erb  und  eigen  kaufTen^). 

Es  ist  die  bürgerliche  Variante  zu  der  höfischen  Vorschrift 
des  Winsbeken: 

Sun,  beidiu  luoder  unde  spU 
sint  libes  und  der  s^le  ein  val, 
der  dne  maze  in  volgen  wil: 
si  machent  breite  huobe  smal. 
swer  lebt  an  ere  in  frier  wal, 
der  wirt  den  werden  schiere  unwert 

und  hüset  in  dem  Affental. 
swer  als6  vliuset  stne  habe 
mit  disen  swachen  fuoren  zwein, 

der  l%ge  baz  in  eime  grabe  ^). 

Der  ehrbare  Bürger  verurteilt  ebenso  das  Eneipenleben. 
Ganz  ähnlich,  wie  die  früher  angeführten  mnl.  Varianten,  lautet 
ein  niederrheinischer  Spruch: 

Der  nyet  engewynt  und  och  nyt  enhayt, 
Und  alle  dage  yn  des  wyrtzhuyß  gayt, 
Mich  hayt  wonder,  wa  hee  yß  holt, 
Dar  er  dem  wyrde  myt  bezalt^). 

Sigmund  Hurrer  war  ein  Freund  vierzeiliger  Priamel  und 
hat  davon  fleißig  zusammengetragen. 

Wer  frauen  und  priester  ert, 

Und  seine  kind  das  pest  lert, 

Und  schämt  sich,  was  er  Übels  tut: 

Der  man  hat  eines  weisen  mannes  mut*). 

Launig  folgt  dem  Typus  B: 

Alte  leute  krauen  sich, 
zornige  leute  hauen  sich: 
weise  leute  besinnen  sich: 
junge  leute  minnen  sich^). 

«)  Hundert  Pr.  Nr.  XXX.  Zu  Vers  1  ygl.  Fsp.  784,  24.  Zum  Motiy 
Florilegium  Gottingense  Nr.  19.  56. 

«)  45,  1  ff.  3)  Genn.  19,  304. 

•  ^)  £  406a.  von  Heinemann,  Hsn.  zu  Wolfenbüttel  II  4,41  mit  der 
Variante  ,Ynd  sich  hütet  was^  (Vers  3).  Andere,  auch  nicht  priamelhafte 
Sprüche:  E  370b.  405b  ff.  meist  wie  in  B. 

»)  L  7b. 


408 


Mittelrheinisch: 

Aide  lute  trauwen  sich, 
freidige  lute  hauen  sich, 
cluge  lute  vorsinnen  sich: 
junge  lute  minnen  sich^). 

Aus  der  Schweiz: 

Alte  lüt  crauwent  sich, 
Kün  lüt  höwent  sich, 
Subedich  lUt  schöwent  sich, 
Wise  lüt  versinnent  sich: 
Jung  lüt  minnent  sich^). 

Mitteini  ederdeutsch : 

Homödige  lüde  beschouwen  sick, 
Olde  lüde  klouwen  sick, 
M6de  lüde  rouwen  sick, 
Wise  lüde  vorsinnen  sick. 
Junge  lüde  beleven  sick, 
DüUe  lüde  Oven  sick  3). 

Planlose  Erweiterungen  hahen  hier  wie  in  den  Sprichwörter- 
sammlungen die  Struktur  zerstört. 

Das  merkwürdigste  Spruchhuch  des  15.  Jahrhunderts,  jene  ost- 
schwäbische Anthologie  des  Britischen  Museums,  die  wegen  der 
seltenen  literarhistorischen  Kenntnisse  ihres  Sammlers  wohl  noch 
oft  genannt  werden  wird,  überliefert  unter  dem  Namen  Walthers 
von  der  Vogelweide  die  Krone  aller  Priamelvierzeiler  des  Mittel- 
alters, den  herrlichen  Vers: 

Ich  leb  und  waiß  nit  wie  langk, 

Ich  stirb  und  waiß  nit  wann, 

Ich  far  und  waiß  nit  wahin: 

Mich  wundert,  das  ich  so  frölich  pin*). 

Wem  anders  als  dem  unvergleichlichen  Walther  sollte  man 
denn   auch   diesen  Vers   zuschreiben,    in    dessen  Würdigung  das 


1)  Zs.  f.  d.  A.  13,  359. 

3)  Seufferts  Vierteljahrschrift  3,  359. 

3)  Reimb.  2162  ff. 

^)  Priebsch,  Deutsche  Hsn.  in  England  2,  174.  Datierung  der  Hs. 
1468 — 1469.  Mit  der  Unterschrift  ,Haec  magister  Martinas  in  Bibrach  1498' 
auf  einem  Buchdeckel:  Mones  Anz.  4,  207  mit  den  Varianten:  ,wohin.' 
,dass  ich  frölich  bin,'  Sonstige  Fassungen  bei  Köhler,  Kleinere  Schrif- 
ten 3,  423  ff, 


409 


19.  Jahrhundert  mit  dem  15.  wetteiferte?  Heinrich  von  Kleist 
entdeckt  ihn  als  Inschrift  eines  Hauses  am  Thuner  See,  er 
macht  seine  Freunde  darauf  aufmerksam,  er  „denkt  ihn  nicht  ohne 
Freude",  wenn  er  spazieren  geht;  er  schwebt  ihm  an  einer 
Stelle  der  Hermannsschlacht  vor.  „Kann  das  Bätsei  des  Lebens 
und  Sterbens  eigentümlicher  ausgesprochen  werden?"  sagt  Joseph 
Maria  von  Badowitz,  der  den  Spruch  in  seine  Devisen  und 
Motto  des  späteren  Mittelalters  aufgenommen  hat.  Wilhelm 
Wackernagel  schloß  mit  dem  sinnigen  Spruch  sein  altdeutsches 
Lesebuch;  Ludwig  Hörmann  ward  durch  ihn  zur  Sammlung 
der  Haussprüche  aus  den  Alpen  angeregt,  nachdem  er  als  wandern- 
der Student  ihn  einmal  an  einer  alten  Fuhrmannsherberge  der 
Brennerstraße  gelesen  hatte.  Ganz  besonders  liebte  Bein  hold 
Köhler  diesen  Spruch;  er  zählt  ihn  zu  denen,  die  in  rechter 
Stimmung  einmal  gelesen  sich  für  immer  dem  Gedächtnis  ein- 
prägen, und  hat  seine  spätere  Verbreitung  unermüdlich  verfolgt^). 
Die  Spruchform  stellt  den  Typus  A  rein,  in  großer  Vollendung 
dar;  die  logisch-syntaktische  Verbindung  ist  nur  leise  angedeutet, 
wie  im  modernen  Schnaderhüpfel: 

Und  i  woaß  nit  woher, 
Und  i  woaß  nit  wohin, 
Und  mi  wunderts  nur, 
Daß  i  so  lusti  bin^;! 

Möcht  alleweil  gern  wandern, 
Waß  selber  nit  wohin, 
I  bin  halt  so  traurig, 
Geht  nix  nach  mein  Sinn^j. 

Der  Mann  des  Volkes  philosophiert  gern  in  seiner  Weise, 
freilich  ohne  die  raffinierte  Sentimentalität  Heinrich  Heines. 
An  den  Trieb  zum  Ahnungsvollen,  Unergründlichen  ist  beim 
Deutschen  selten  vergebens  appelliert.  Daraus  erklärt  sich  auch 
die  Vorliebe  des  Volkes  für  unsern  Spruch,  dessen  Schicksale  sich 


^)  Kleinere  Schriften  3,  421  ff.  Dazu  eine  Stelle  des  Ambraser  Lieder- 
buchs bei  Sandvoss  in  den  Freuß.  Jb.  86,  106  und  das  nd.  Reimbüchlein 
2548  ff.  Unselbständig  Lucae,  Aus  deutscher  Sprach-  und  Literaturge- 
schichte S.  247  ff. 

2)  K.  Stieler,  Kulturbilder  aus  Bayern.     Stuttgart  1885.    S.  69. 

3)  Pogatschnigg  und  Herrmann  1*,  41,    Nr.  203. 


410 


ziemlich  übersehen  lassen,  wenn  man  die  bisher  nicht  beachteten 
älteren  deutschen  Zeugnisse  hinzufügt.  Sein  Nachleben  vom 
1 6.  Jahrhundert  an  beschäftigt  uns  im  folgenden  Bande ;  hier  kann 
es  nur  gestreift  werden. 

Der  ernste  Hintergrund  ist  biblisch.  Locutus  sum  in  lingua 
mea:  Notum  fac  mihi  Domine  finem  meum,  et  numerum  dierum 
meoram  quis  est:  ut  sciam  quid  desit  mihi^).  Verumtamen  in 
imagine  pertransit  homo:  sed  et  frustra  conturbatur.  Thesaurizat: 
et  ignorat  cui  congregabit  ea^),  und  unermüdlich  ermahnt  der 
Ecclesiasticus:  Memento  novissima^). 

Der  spanisch-jüdische  Dichter  Ibn  Gabirol  stellt  im  11.  Jahr- 
hundert über  den  Menschen  ähnliche  Betrachtungen  an:  schnell 
wie  der  Adler  jagt  er  dem  Beichtume  nach  und  vergißt  den  Tod, 
der  hinter  ihm  steht;  er  kommt  auf  die  Welt  und  weiß  nicht 
wozu,  er  freut  sich  und  weiß  nicht  worüber,  er  lebt  und  weiß 
nicht  wie  lange  ^).  In  rhetorischer  Verkünstelung  geht  der  all- 
gemein menschliche  Gedanke  zu  gründe;  so  in  einem  Spruch  der 
Hs.  115  von  St.  Omer  aus  dem  13.  Jahrhundert: 

Nascimur  ut  simus,  sumus  ut  pereamus,  et  imus 
lUuc  unde  sumus,  quia  terram  terra  subiinus^). 

Auf  den  abbas  Hellas  wird  in  den  Verba  seniorum  3,  4  der 
Satz  zurückgeführt:  „Ego  tres  res  timeo.  ünam,  quando  egressura 
est  anima  mea  de  corpore;  aliam,  quando  occursurus  sum  deo; 
tertiam,  quando  adversum  me  proferenda  est  sententia^).^ 

Die  mittelalterliche  Literatur  hat  mit  beliebter  Schematisierung 
eine  Triadensentenz  geformt,  die  in  einer  Turiner  Pergamenths. 
des  14.  Jahrhunderts  (,Proverbia  Sapientum^)  lautet: 


1)  Psahnns  38,  5. 

*)  88,  7.  Vgl.  die  aus  Clm.  9804  Köhler  3,  441  mitgeteilte  Fassung 
Vers  2. 

3)  7,  40.  88,  6. 

*)  Grünbaum  in  der  Zeitschrift  der  deutschen  Morgenländischen  Ge- 
sellschaft 42,  275. 

^)  Notices  et  extraits  des  manuscripts  de  la  hibliotheqne  nationale  et 
autres  bibliotheqnes  81,  1,  125. 

«)  Patrologia  ed.  Migne  78,  861 B.  Eine  vita  abbatis  Eliae  s.  1185  G  ff.; 
vgl.  1154  D  ff. 


411 

Sunt  tria  que  uere  niciunt  roe  sepe  dolere: 
Est  primum  durum,  quia  scio  xne  moriturum, 
Et  magis  attendo  moriar,  sed  nescio  quando, 
Inde  magis  fiebo,  quia  nescio  quo  remanebo '). 

Andere  cnr  wenig  abweichende  Umschreibungen,  von  denen 
dann  wieder  spätere  nieder-  und  hochdeutsche  abhängen,  sind 
zahlreich,  nichts  so  wirklich  poetisch,  wie  die  Bernhard  von 
Glairvaux  und  Walther  Mapes  zugeschriebenen  Verse: 

Dum  de  morte  cogito, 
contristor  et  ploro; 
verum  ^)  est  quod  moriar, 
sed  tempus  ignoro; 
ultimum')  quod  nescio, 
cui  iungar  choro; 
ut  cum  sanctis  merear 
jungi,  Deum  oro^). 

Früh  haben  diese  schwermütigen  Töne  in  deutscher  Dichtung  ^) 
Widerhall  gefunden  und  bald  die  specifisch  kirchliche  Färbung 
abgestreift.  Die  gebundenen  theologischen  Vorstellungen  von  der 
Furcht  vor  Gericht  und  Urteilsspruch  machen  freier  Selbstbesinnung 
Platz;  schon  in  den  ältesten  mittelhochdeutschen  Fassungen  ist 
der  Spruch  in  die  Sphäre  des  Bein-Menschlichen  emporgehoben* 
Freidank  meinte: 

■ 

hie  enweiz  ich  selbe,  wer  ich  bin^). 

ichn  weiz  selbe  niht  ze  wol, 

wer  ich  bin  und  war  ich  soH). 

swer  driu  dinc  bedachte, 

der  vermite  gotes  aehte: 

waz  er  was,  unt  waz  er  ist, 

nnt  waz  er  wirt  in  kurzer  vrist^). 

Schön  sagt  der  Jude  Süßkind  von  Trimberg: 

swenne  ich  gedenke,  waz  ich  was  ald  waz  ich  bin, 
ald  waz  ich  werden  muoz,  s6  ist  al  min  vröude  hin'). 


1)  JKöhler  3,445.        ')  Walther:  nnum.       ^  Walther:  tertium. 
^)  Rhythmus  de  contemptu  mundi  28  ff.    Germania  36,  318. 
^)  Über  Neigung  des  Yolksgesanges  zur  Schwermut:    Bö  ekel,  Yolks- 
lieder  aus  Oberhessen  S.  CXI. 
«)  17,  27.         ^  18,  18. 

8)  22,  12.    Wolfram,  Willehalm  280,  17  ff.;  oben  S.  293.  301. 
'}  HMS  2,  258b.  Benner  22660.  23410.  Ambraser  I^iederbnoh  S.87, 


412 

An  solche  Überlieferung  erinnert  die  Hansinschrift  am 
Thuner  See: 

Ich  komme,  ich  weiß  nicht  von  wo, 
Ich  bin,  ich  weiß  nicht  was, 
Ich  fahre,  ich  weiß  nicht  wohin: 
Mich  wundert,  daß  ich  so  fröhlich  bin  ^)  ? 

Bührend  nnd  ergreifend  redet  auch  einmal  der  gute  Hugo 
von  Trimberg: 

wir  mUezen  sterben  und  wizzen  doch  niht, 

wie,  wä  oder  wenne  daz  geschiht. 

wunder  ist,  daz  ie  kein  mensch  üf  erden 

vr6  ist  oder  vr6  kan  werden: 

des  geburt  mit  jamer  ist  bevangen, 

sin  leben  betwungen  mit  sorgen  zangen, 

sin  ende  begriffen  mit  herzeleide  ^). 

Hugo  von  Montfort  hat  das  mortalisch  Böse*)  ebenso  tief 
empfunden: 

Sölt  ich  nu  ewenklich  leben. 

So  muest  ich  imer  clagen, 

So  hat  mir  got  och  geben 

Die  selben  sorge  muoß  ich  teglich  tragen. 

Das  ich  wol  weiß  min  sterben 
Und  weiß  nicht  weihe  stund; 
Ich  muoß  hin  in  die  erden. 
Min  sei  von  minem  mund^). 

Alle  Gestaltungs versuche,  die  bis  ins  14.  Jahrhundert  gemacht 
wurden,  blieben  hinter  der  höchsten  Wirkung^)  zurück,  bis  die 
einfache  Improvisationskunst  des  volkstümlichen  Priamelvierzeilers 
sich  des  fliegenden  Motives  bemächtigte.  Wie  der  Kiesel  im  Ge- 
birgsbach  wurde  die  Form  unablässig  gerundet,  geglättet  und 
geschliffen.  Spuren  dieses  Prozesses  sind  in  Fassungen  des  15. 
und  16.  Jahrhunderts  noch  vorhanden^).    Die  Form,  der  Walthers 


1)  Germania  6,  371.  ^)  Renner  23  276.  23  322. 

3)  Spicker,  Yersuch  eines  neuen  Gottesbegriffs.  Stuttgart  1902. 
S.  254  f.  333. 

*)  XXVm  353  ff. 

s)  Goethe  meint:  „Jede  Produktivität  höchster  Art,  jedes  bedeutende 
Aperiju,  jeder  große  Gedanke,  der  Frucht  bringt  und  Folge  hat,  steht  in 
Niemandes  Gewalt." 

8)  Köhler  3,  441  f.    Sandvoss  S.  105 f. 


413 

Name  beigefügt  ist,  kann  als  die  vollendetste  gelten:  keine  Über- 
setzung ans  dem  Lateinischen,  worauf  schon  Köhler  aufmerksam 
machte,  sondern  freie  ümdichtung.  Fragen  wir  sie  selbst  nach 
ihrem  Älter  und  ihrer  Herkunft,  so  weisen  Sprache  und  Beim 
auf  das  14.  bis  15.  Jahrhundert  und  alemannische  Abstammung^). 
Daß  der  Biberacher  Magister  sie  gedichtet,  ist  durch  die  ältere 
Überlieferung  widerlegt,  und  gar  eine  Grabschrift,  wie  der  er- 
wähnte preußische  General  und  Staatsmann  angab  und  an  manchen 
Stellen  zu  lesen  steht,  ist  sie  nicht;  auch  in  späteren  Fassungen 
werden  Namen  hinzugefügt,  und  Elsässische  Schulkinder  verbinden 
noch  heute '  den  Spruch  mit  einer  kindlich-spielenden  Ex-libris- 
Bezeichnung.  Heilb ronner  Lokalpatriotismus  nimmt  „diesse  reimen, 
wohl  in  der  gantzen  Christenheit  bekand,"  für  die  1688  von  den 
Franzosen  verbrannte  Franziskanerkirche  in  Anspruch.  Luther 
behandelt  den  Spruch  dreimal  und  legt  in  eine  selbstgedichtete, 
den  Sinn  in  sein  Gegenteil  verkehrende  Variante  den  großartigen 
Glaubensmut  einer  starken  Seele ;  reizt  ihn  doch  die  müde  Weis- 
heit des  Vierzeilers  zum  Widerspruch.  Niederdeutsche  Nüchtern- 
heit scheint  sich  der  weichen  Poesie  dieser  Verse  verschlossen 
zu  haben;  es  scheint  keine  nd.  Übersetzung  zu  geben,  Nieder- 
deutschland zog  die  lehrhafte  Trockenheit  der  alten  Triadensentenz 
vor.  Übrigens  wird  der  Spruch  in  Devisen,  Haussprüchen  und 
Inschriften  verwendet,  man  läßt  ihn  sagenhaft  Kaiser  Max  mit 
Kreide  an  die  Wand  des  Maximilianszimmers  zu  Schloß  Tratzberg 
in  Tirol  schreiben,  man  sieht  ihn  auf  dem  Ettlinger  Bichtschwert 
in  Gastans  Panoptikum.    Ein  moderner  Dichter  verwendet  ihn  zur 


^)  Vergl.  zum  Reim  ,langk:  wann'  Weinhold,  Alem.  Grammatik  S.  179. 
Die  Aufzeichnung  scheint  ost-schwäbisch.  Zu  Vers  4;  S terz in g er  Spiele  I 
421.  In  betreff  der  Textkritik  macht  Köhler  3,  451  die  Bemerkung:  „Ver- 
gleicht man  die  yerschiedenen  Fassungen  unseres  Spruches,  so  ergibt  sich, 
daß  sie  abgesehen  von  sonstigen  vereinzelten  kleinen  Abweichungen  —  sich 
hauptsächlich  dadurch  unterscheiden,  daß  in  den  drei  ersten  Zeilen  entweder 
,und  weiß*  oder  ,und  ich  weiß',  und  in  der  vierten  entweder  ,fröhlich' 
oder  ,80  fröhlich'  oder  ,noch  so  fröhlich'  steht.  Ich  halte  es  für  das 
natürlichste  und  einfachste,  daß  es  ,und  weiß'  und  ,fröhlich'  heißt,  und 
möchte  daher  glauben,  daß  so  auch  der  Spruch  ursprünglich  gelautet  hat.** 
Für  das  15.  Jahrhundert  kommen  die  gemeinten  Abweichungen  noch  nicht 
in  Betracht,  mit  ,und  weiß'  hat  Köhler  recht,  ,8o  fröhlich'  stützen  die 
Londoner,  die  Tübinger,  die  Maihinger  Hs. 


414 

Charakteristik  der  Vagantendichtung,  zur  Selbstcharakteristik  des 
berühmten  Erzpoeten.  Agnes  Härder  hat  ihn^)  der  kurzen 
Novelle  Vorpfingsten  zu  Orunde  gelegt.  Schließlich  geben  ihn 
Eobell  und  Stieler  noch  einmal  dem  Volk  zurück,  dem  er  sein 
Bestes  verdankt. 


Rückblick. 

Wenn  Lessing  das  Priamel  das  ursprünglich  deutsche  Epi- 
gramm nennen  wollte,  so  träfe  diese  allgemein  charakterisierende 
Bezeichnung  ziemlich  für  den  Priamelvierzeiler  zu,  dessen  mittel- 
alterliche Entwicklung  wir  eben  anzudeuten  versuchten ;  nur  muß 
man  dabei  die  erhebliche  Einschränkung  machen,  daß  unser  volks- 
mäßiges Gebilde  mit  den  überfeinerten  schulmäßigen  Eunstprodukten 
der  traditionellen  Poetik  so  gut  wie  nichts  zu  tun  hat.  Auch 
nicht  mit  Erzeugnissen  späterer  Fragmentisten  ^)  oder  moderner 
Epigrammatik,  will  man  etwa  PaulHeyse  als  ihren  Vertreter 
gelten  lassen,  der  erklärt: 

Sonst  hab  ich,  wie  die  Gedanken  kamen, 
Sie  rasch  verbraucht  im  Augenblick. 
Jetzt  leg  ich  schon  in  Epigrammen 
Ein  paar  Nothpfennige  zurück. 

Ein  satter,  tafelmüder  Gast 
Dreht  Kügelchen  aus  Brod  zusammen. 
Wenn  du  dich  satt  gelebt,  gedichtet  hast, 
Der  Abhub  taugt  zu  Epigrammen^. 

Viel  mehr  dem  Priamel  verwandt,  sein  Fleisch  und  Blut  ist 
der  alpine  Vierzeiler,  den  Hans  Orasberger  richtig  bewertet: 
„Wenn  der  Wein  schlecht  und  anderes  Labsal  schaal  und  ver- 
mischt ist,  dann  erfrischt  und  mundet  mehr  als  sonst  ein  Trunk 
aus  der  Felsenquelle,  und  wenn  unterhalb  der  breite  Bach  oder 


^)  mit  der  neuen  Variante  im  Vers  2:  ,und  weiß  nicht  wie.^ 
2)  Eduard   Grisebach,   Die   deutsche   Literatur  1770-1870.    Wien 
1876.   S.  77.    Über  den  Aphorismus  Di  eis  in  den  Berliner  Sitzungsberichten 
1903,  1,  37. 

^)  Spruchbächlein  S.  54.  66.  Früher  ward  das  Epigramm  bekanntlich 
für  poetische  Nebenstunden  empfohlen,  und  Epigrammpoesie  hatte  den  Vor- 
zug, wenn  alle  Poesie  als  „Raserej^  g&^t,  eine  der  kürzesten  zu  sein. 
Borinski,  Die  Poetik  der  Renaissance.    Berlin  1886.    S.  344. 


Fluß  trüb  fließt  und  verpestet  ist,  so  dringt  man  gern  dahin  vor, 
wo  das  erquickliche  Naß  rein  und  hell  dem  Oestein  entquillt. 
Und  fallen  hier  auch  nur  Tropfen,  ist,  was  wir  finden,  auch  nur 
dünnes  Oeriesel:  es  ist  umso  kostbarer,  je  länger  wir  auf  der 
Wanderung  längs  des  faulen  Überschwalls  dürsten  mußten.^  Der 
Priamel Vierzeiler  ist  wie  das  Schnaderhüpfel  „ein  Stück,  wenn 
auch  nicht  sonderlich  hoher  oder  tiefer,  so  doch  gesunder  und 
und  ursprünglicher  Poesie^  ^).  An  der  organischen  Eigenrichtigkeit 
des  alten  Priamels  scheitert  jeder  Versuch,  ihm  fremde  abgezogene 
Theorien  über  das  Epigramm  aufzuzwingen,  wie  des  Masenius 
von  Abraham  Heinrich  Große  beibehaltene  Unterscheidung  des 
Epigramma  tragicum  und  comicum^),  oder  Scaligers  judiciale, 
deliberativum,  demonstrativum,  Vavassors  dulce,  candidum,  salsum, 
vehemens,  acre,  Morhofs  simplicia  und  circumscripta^),  und  was 
dergleichen  mehr  bis  in  die  neueste  Zeit  an  Einteilungen  produciert 
ist.  Näher  läge  es,  Qach  dem  Verhältnis  zur  mittellateinischen 
Epigrammdichtung  zu  fragen.  Arbeitete  diese  ^)  mühselig  mit 
schemenhaften  Formen  und  einem  in  Schulübungen  entgeistigten 
StofT  untergegangener  Kultur,  ohne  zu  Freiheit  und  eigener  Indivi- 
dualität vorzudringen:  so  geht  die  deutsche  Priamelpoesie  von  den 
persönlichsten  Impulsen  aus,  wurzelt,  das  echteste  Oelegenheits- 
gedicht,  in  handgreiflicher  Improvisation  und  bewegt  sich  in 
Formen,  die  aus  dem  eigensten  Wesen  der  Improvisation  bei 
der  Arbeit,  beim  Tanz,  im  Lied,  ina  Spruch  natürlich  heraus- 
gewachsen sind. 

Im  Mittelalter  schafft  sich  das  jugendfrische  deutsche  Volk, 
alles  mit  andern  Augen  schauend,  eine  neue  poetische  Welt,  die 
dem  heutigen  Oeschlecht  auch  schon  wieder  fremd  geworden  ist. 
Wie  verlorene  Klänge  jugendlicher  Stimmungen  dringt  das  ,Ich 
leb  und  weiß  nicht,  wie  lang.  Mich  wundert,  daß  ich  so  fröhlich 
bin'  aus  der  versunkenen  Welt  zu  uns  herüber;  wenn  Luther 
sagen  kann: 


1)  Naturgeschichte  des  Schnaderhüpfels  S.  9.    Dung  er,  Rundas  S.  XXIY. 

3)  Große,  De  epigrammatibus  Yemaculis.    Lipsiae  1696.     Cap.  IX. 

')  Borinski,  Die  Poetik  der  Benaissance  S.  346.  „Von  den  zahlreichen 
Schriftstellern  über  das  Epigramm  glaubt  jeder  seine  Einteilung  für  sich 
haben  zu  müssen.^ 

*)  Gröber,  Grundriß  H  1,  367  ff. 


420 


Hötzum^). 

Wedler  hat  de  schäperie, 

Gerlce  —  —  en  sack  vuU  klie, 

Stoffel  Wastens  w6nt  an  enne, 

De  Meinsche  hat  ne  dicke  lenne. 

Meine  mit'r  snufftabacksdose, 

Zacharis  Smitt  mit'r  smullerhose  (?), 

Swinge  w6nt  up'n  sunnenbarge, 

Pape  hat  ne  bleckerae  —  karwe. 

Henneken  Kurland  rdkt  ne  lange  ptpe, 

Grote  Kurland  kann  nich  rower  kiken, 

Midden  Kurland  w6nt  an  'n  wäter. 

De  Woltersche  is  ne  tünape, 

Bartels  de  is  oppermann, 

Stoffel  Brandes  geit  voran, 

Decker,  de  is  gr6t  un  slank, 

Hogrefe  futtert  'n  bullen  blank, 

In  Grenners  garen  waßt  lupinen, 

De  Käuersche  mäkt  famoste  minen, 

Ehlers  hat  'n  groinen  wa  'n, 

Da  kann  de  Haberlandsche  up  in  himmel  gin. 

Übereinstimmend  gebaute  ungeregelte  Kinderreime  und 
Jahreszeitsprüclie^)  haben  bisweilen  gemeinsame  Motive.  Das 
Jahreszeitmotiv  erscheint  in  folgendem  Falle  ursprünglicher  als 
das  im  Einderreime  ganz  allgemein  gewordene  Zeit-Motiv.     Man 

^  '  Wenn  die  Rogge  reife, 

So  gange  wir  ge  pfeife^). 

Will  di  lehre  Sesseli  trage, 
Bis  mom  früeh. 
Bis  der  Rogge  ryft 
Und  der  MuUer  pfyft*). 

Wenn  der  Haber  blUeht, 
Wenn  der  Rogge  ryft. 
Wenn  der  Miller  pfyft, 
Wenn  der  Beck  sy  Weckli  bacht, 
Wenn  die  ganzi  Muelte  kracht  5). 


»)  A.  a.  0.  S.  5. 

2)  Oatfriesische  Sprüche  derart  begegneten  im  V.  Kapitel. 
^  Meier,   Deutsche  Kinder-Reime    und   Kinder-Spiele  aus  Schwaben, 
Tübingen  1851  S.  30. 

*■)  Baseler  Kinderlieder  S.  52. 
^)  Baseler  Kinderreime  S.  2. 


oder: 


421 

Bom,  bom,  Birebam, 

D'  klacke  lauden  de  Grout  an. 

Wien  as  gestuorwen? 

De  Peter  fun  de  Luoden, 

Wene  get  e  begruowen? 

Zans  em  den  Owent, 

Wan  de  Hecke  reifen, 

Wan  de  Mille  pfeifen, 

Wan  de  Henger  schlofe  gin, 

Wan  de  Fillercher  opstin^). 

Heilebart, 

Klapper  in  Fahrt, 

Wo  haste  deine  Junken? 

Offen  Papendicken. 

Wennehr  willst  se  wedder  holen? 

Wenn  der  Rogge  riepet. 

Wenn  de  Miese  piepert, 

Wenn  de  Plaug  stille  steit. 

Wenn  de  Jäger  nach  Felde  geit^). 

Heilebart  du  Lankebein, 
Vonn  eir  wutt  du  wegfleihn? 
Wenn  de  Rogge  riepet, 
Wenn  de  MUse  piepet. 
Wenn  de  plaug  stille  steiht, 
Un  de  Wao  nao  'n  Felle  geiht: 
Denn  sau  will  eck  weg  fleihn^). 

An  andern  Orten  lautet  der  Spruch: 

Wenn  de  Rogge  riepe  iss, 

Wenn  de  Pogge  piepe  iss, 

Wenn  de  jungn  Appeln 

In  de  Tunne  trappeln, 

Wenn  de  Spies  waerd  witt  un  Ideen, 

Will  Oaleboart  wegteen. 

Wenn  der  Hoaber  riept, 

Wenn  der  Schoapr  piept. 

Wenn  der  Appl  vom  Boome  klappert. 

Denn  iss  diene  Tit. 


^)  Ed.  de  la  Fontaine,   Die  luxemborger  Einderreime.    Luxemburg 
1873.  S.  12.  Nr.  14.  vgl.  Nr.  12  und  13. 

2)  Weg  euer,  Volkstümliche  Lieder  aus  Norddeutschland  S.  88.  Nr,  306. 
»)  Wegen  er,  Volkstümliche  Lieder  S.  89.  Nr.  308. 


vn. 

Priamelhafte  Reimpaare. 

Das  Einfache  durch  das  Zusammengesetzte, 
das  Leichte  durch  das  Schwierige  erklären  zu 
wollen,  ist  ein  Unheil,  das  in  dem  ganzen  Körper 
der  Wissenschaft  verteilt  ist,  von  den  Einsichtigen 
wohl  anerkannt,  aber  nicht  überall  eingestanden. 

Goethe. 

Wie  von  jeber  in  der  Volkspoesie  neben  dem  Vierzeiler  die 
improvisierte  ungeregelte  längere  Reihe  den  Parallelismus  und 
die  Häufung  gepflegt  hat,  so  sind  auch  in  literarischer  Dichtung 
längere  Beihen  priamelhafter  Reimpaare  reich  entwickelt.  Vom 
Vierzeiler  unterscheiden  sie  sich  wesentlich  dadurch,  daß  sie  das 
beschränkende  Gesetz  eines  geregelten  Baues  in  sich  nicht  ge- 
funden haben;  es  mußte  ihnen  also  die  Form  in  höherem  Sinne 
abgehen,  eine  Gattung  konnten  diese  priamelhaften  Reimpaare 
daher  auch  nicht  konstituieren,  trotzdem  sehr  beachtenswerte  An- 
sätze zu  einer  musterhaften  Festsetzung  der  Form  ausgebildet 
worden  sind. 

Bei  diesem  Material  kommen  hauptsächlich  zwei  Ausgangs- 
punkte für  die  Entwicklung  in  Betracht:  einerseits  die  längere 
Reihe,  andrerseits  die  Erweiterung  vom  Vierzeiler  aus. 

Schon  die  erwähnten  volkstümlichen  Schilderungen  des  un- 
heimlichen Ortes  wiesen  oSenbar  durch  Stegreifdichtung  ver- 
mehrte längere  Reihen  auf.  Auch  diese  Art  volkstümlicher  Im- 
provisation  möge  noch  durch  einige  Beispiele  erläutert  werden, 
freilich  bedarf  es  keiner  Ausführlichkeit,  weil  wir  es  hier  mit  un- 
erschöpflichem, aller  Regel  spottendem  Überfluß  zu  tun  haben. 
Daß  hier  ebenfalls  die  drei  Grundtypen  der  Improvisation  anklingen 
und  nichtdeutsche  Volkspoesie  wieder  ebenso  wie  die  einheimische 
verfährt,  wird  nicht  überraschen. 


419 


Durch  obrigkeitliche  Verbote  im  Mittelalter  bezeugt  sind  die 
sogenaunten  Nachbarreime  oder  Bauernreihen,  meist  im- 
provisierte Spottieime.  Einen  Reimvers  derart  für  die  südliche 
Wilhelmstraße  in  Braunschweig  hat  Andre e  mitgeteilt^). 

Daubert,  de  lert, 
Glinderoann,  de  smert, 
Stockmann  kikt  an  de  wand, 
Schwartz  is  in  de  ganse  weit  bekannt, 
Graf  Schulenburg  w6nt  in  de  midde, 
Schreiber  hat  ne  gue  stidde, 
Kuhlmann,  de  de  Anseigen  dräggt, 
Michel,  de  dat  dach  besläggt, 
[Winter?]  de  hat  fülen  kese, 
Meyer  is  darum  böse. 
Hecht,  de  vele  kinner  hat, 
Gemmeke  fritt  sik  nimmer  satt. 

Seltener  ist  die  Haltung  dieser  Spöttereien  episch  wie  in 
einem  Helmstedter  Vers^): 

Mester  Timme 

Danst  mit  sine  fru  in  himme.  • 

Da  kam  Rehbein, 

Woll  dat  dk  mal  sein. 

Etsch,  etsch,  sä  Zwetsch. 

Wat  is  dabie,  sä  Miehe. 

Da  kam  Munkel, 

Da  ward't  dunkel. 

Da  kam  de  Hofrat  Fein, 

Da  konn  *ne  —  nist  mer  sein. 

öfter  nähert  sich  der  Stegreifvers  dem  Typus  B;   z.  B. 

Wolfenbüttel»). 
Südseite  des  Eornmarktes  (aus  den  50  er  Jahren). 

Eisfeldt  w6nt  an  enne, 

Borchers  hat  ne  scheiwe  lenne, 

Ludwig  backt  verschimmelt  brdt, 

Dralle  sleit  den  ossen  d6t, 

Dosse  is  en  tUtchendreier, 

LangelUddecke  speit  Verwalter  up  Monpleseier. 

Böttchers  witwe  verkoft  k6ren, 

Röber  kricht  de  swine  bf  de  6ren. 

1)  Neues  Braunschweigisches  Magazin  3,  5. 
3)  Ebenda  S.  5.  3)  A.  a.  0.  S.  6. 

27* 


420 


Hötzum^). 

Wedler  hat  de  schäperie, 

Gerke en  sack  vuU  kliö, 

Stoffel  Wastens  w6nt  an  cnne, 
De  Meinsche  hat  ne  dicke  lenne. 
Meine  mit'r  snufftabacksdose, 
Zacharis  Smitt  mit'r  smullerhose  (Oi 
Swinge  w6nt  up'n  sunnenbarge, 
Pape  hat  ne  bleckerne  —  karwe. 
Henneken  Kurland  r6kt  ne  lange  ptpe, 
Gr6te  Kurland  kann  nich  rower  kiken, 
Midden  Kurland  w6nt  an  'n  wÄter. 
De  Woltersche  is  ne  tünäpe, 
Bartels  de  is  oppermann, 
Stoffel  Brandes  geit  vordn, 
Decker,  de  is  gr6t  un  slank, 
Hogrefe  futtert  'n  bullen  blank, 
In  Grenners  gdren  waßt  lupinen, 
De  Käuersche  mdkt  famoste  minen, 
Ehlers  hat  'n  groinen  wä  'n, 

Da  kann  de  Haberlandsche  up  in  himmel  g4n. 

« 

Übereinstimmend  gebaute  ungeregelte  Kinderreime  und 
Jahreszeitsprüche^)  haben  bisweilen  gemeinsame  Motive.  Das 
Jahreszeitmotiv  erscheint  in  folgendem  Falle  ursprünglicher  als 
das   im  Einderreime   ganz  allgemein  gewordene  Zeit-Motiv.     Man 

°  '  Wenn  die  Rogge  reife, 

So  gange  wir  ge  pfeife  3). 

Will  di  lehre  Sesseli  trage, 
Bis  mom  frtleh, 
Bis  der  Rogge  ryft 
Und  der  Müller  pfyft*). 

Wenn  der  Haber  bltieht, 
Wenn  der  Rogge  ryft, 
Wenn  der  Miller  pfyft, 
Wenn  der  Beck  sy  Weckli  bacht, 
Wenn  die  ganzi  Muelte  kracht^). 


»)  A.  a.  0.  S.  5. 

')  Ostfriesische  Sprüche  derart  begegneten  im  V.  Kapitel. 
^)  Meier,   Deutsche  Kinder-Reime   und   Kinder-Spiele  aus  Schwaben, 
Tübingen  1851  S.  30. 

^)  Baseler  Kinderlieder  S.  52. 
^)  Baseler  Kinderreime  S.  2. 


oder: 


421 

Bom,  bom,  Birebam, 

D'  klacke  lauden  de  Grout  an. 

Wien  as  gestuorwen? 

De  Peter  fun  de  Luoden, 

Wene  get  e  begruowen? 

Zans  em  den  Owent, 

Wan  de  Hecke  reifen, 

Wan  de  Mille  pfeifen, 

Wan  de  Henger  schlofe  gin, 

Wan  de  Fillercher  opstin^). 

Heilebart, 

Klapper  in  Fahrt, 

Wo  haste  deine  Junken? 

Offen  Papendicken. 

Wennehr  willst  se  wedder  holen? 

Wenn  der  Rogge  riepet. 

Wenn  de  Miese  piepert, 

Wenn  de  Plaug  stille  steit, 

Wenn  de  Jäger  nach  Felde  geit^). 

Heilebart  du  Lankebein, 
Vonn  eir  wutt  du  wegfleihn? 
Wenn  de  Rogge  riepet, 
Wenn  de  Muse  piepet. 
Wenn  de  plaug  stille  steiht, 
Un  de  Wao  nao  'n  Felle  geiht: 
Denn  sau  will  eck  weg  fleihn^). 

An  andern  Orten  lautet  der  Sprach: 

Wenn  de  Rogge  riepe  iss, 

Wenn  de  Pogge  piepe  iss, 

Wenn  de  jungn  Appeln 

In  de  Tunne  trappeln. 

Wenn  de  Spies  waerd  witt  un  kleen. 

Will  Oaleboart  wegteen. 

Wenn  der  Hoaber  riept, 

Wenn  der  Schoapr  piept. 

Wenn  der  Appl  vom  Boome  klappert, 

Denn  iss  diene  Tit. 


*)  Ed.  de  la  Fontaine,   Die  luxemburger  Kinderreime.    Luxemburg 
1873.  S.  12.  Nr.  14.  ygl.  Nr.  12  und  13. 

2)  Wegener,  Volkstümliche  Lieder  aus  Norddeutschland  S.  88.  Nr.  306. 
^  Wegen  er,  Volkstümliche  Lieder  S.  8».  Nr.  308. 


422 


In  Meldorf: 


In  Pommern: 


In  Bobrberg: 

Wenn  de  Ploog  to  Felle  geiht, 
Wenn  de  Wind  upt  Stoppeln  weiht, 
Wenn  de  jaelen  Appeln  fallen, 
Wenn  de  Jägerbüssen  knallen. 
Wenn  de  blanken  Doaler  klingen, 
Wenn  de  ollen  Wiewer  singen. 

Wenn  de  Rogg  riep  iss, 
De  Aar  piep  iss, 
De  Tooden  Appeln 
Op  de  Boom  schnapeln, 
Wenn  de  gelen  Beern 
Vor  de  Döre  schuern. 
Wenn  de  gelen  Ringn 
In  de  Kist  klingn. 

Rogge  — 

Pogge  piep  iss, 
Wenn  dei  gälen  Beeren 
Up  dem  Böhme  gären, 
Wenn  dei  gälen  Äppel 
Von  dem  Böhme  treppel, 
Wenn  dei  gollen  Ringen 
In  dei  Kirche  klingen, 
Wenn  dei  gollen  Wagen 
Up  dei  Straten  jagen,  — 
Denn  so  will  ick  wiere  tein, 
Dath  dei  gollen  Wagen  mie  meth  sein^). 

Wunsch    und   Gruß    wählen  mit  Vorliebe  längere  Beihen 
nach  dem  Typus  A. 

So  viel  Stern  am  Himmel  stehen 
An  dem  güldnen  blauen  Zelt, 
So  viel  Schäflein  als  da  gehen 
In  dem  grünen,  grünen  Feld, 
So  viel  Vögel  als  da  fliegen, 
Als  da  hin  und  wieder  fliegen: 
So  viel  mal  sei  du  gegrüßt')! 


Die  Varianten  sind  unerschöpflich. 


')  Vergl.  zum  Adebarspruch  Drosihn-Polle  S.  68.  Nr.  112. 
3)  Birlinger  und  Crecelius,  Wunderhorn  2,  183ff.    Yilmar,  Hand- 
büchleiu  de9  deutschen  Volksliedes.    Marburg  1868'  S.  182. 


423 


Das  10.  Jahrhundert  hat  herrliche  Beispiele  solchen  Grußes. 

Quot  CQlum  retinet  Stellas,  quot  terra  lapillos, 
Quot  saltus  ramos,  folia  aut  pontus  harenas, 
Quot  pluuiQ  stillas,  quot  fundunt  nubila  guttas, 
Quot  fluuius  pisces  uel  sunt  quot  in  orbe  uolucres, 
Quot  flores  prati  uel  quot  sunt  gramina  campi. 
Tot  tibi  prestantes  dat  virtus  trina  salutes^). 

Noch  bekannter  ist  der  Liebesgruß  des  Buodlieb. 

Die  sodes  illi  nunc  de  roe  corde  fideli 
Tantundem  liebes,  veniat  quantum  modo  loubes, 
Et  volucrum  wunna  quot  sint,  tot  die  sibi  minna; 
Graminis  et  florum  quantum  sit,  die  et  bonorum^}. 

Die  Herausgeber  des  Wunderhorns  haben  tatsächlich  das 
Experiment  gemacht,  aus  einer  längeren  Reihe  dieser  Art  ein 
priamelhaftes  Kindergebet  herzustellen  ^).  Zu  Grunde  liegt  folgen- 
der Herzenserguß  des  Nürnberger  Predigers  und  Professors  J. 
M.  Meyfart*): 

Wie  viel  Sternen  am  Himmel  seyn, 
Wie  viel  Tröpflein  am  Thaue  seyn. 
Wie  viel  Flüsse  im  Wasser  seyn, 
Wie  viel  Güsse  im  Regen  seyn. 
Wie  viel  Flocken  an  Fellen  seyn. 
Wie  viel  Blumen  im  Früling  seyn. 
Wie  viel  Geruch  der  Kräuter  seyn, 
Wie  viel  Farben  der  Tücher  seyn, 
Wie  viel  Beerlein  an  Stöcken  seyn. 
Wie  viel  Aepffel  an  Bäumen  seyn. 
Wie  viel  Aehren  im  Sommer  seyn. 
Wie  viel  Blä)tter  in  Wäldern  seyn. 
Wie  viel  Thier  auff  der  Erden  seyn, 
W^ie  viel  Stäublein  auf  Straßen  seyn. 
Wie  viel  Haar  auf  den  Häubten  seyn, 
Wie  viel  Locken  an  Thieren  seyn. 
Wie  viel  Sandkorn  im  Meere  seyn, 
Wie  viel  Gras  mag  in  Wiesen  seyn. 
Wenn  so  viel  war  die  Ewigkeit, 
Hätt  sie  doch  zuletxt  die  Endlichkeit. 


»)  M  S  D  3  2,  153. 

2)  M  S  D3  1,  67  Nr.  XXVIH.    Dazu  Volksm&ßiges  2,  152  f.  Oben  S.  211. 
^  Wunderhorn  2,  780. 

^)  Das  Ander  Buch  Von  dem  Himmlischen  Jerusalem.    Nürnberg  1664. 
S.  277  f. 


424 

Folgten  diese  Beib^  dem  ImpTOTisationstypns  A,  so  andere 
YolksTeime  seiner  Umkehrang  C. 

Bier  binschn  a  gliklichcs  naies  jocr, 

Dos  aute  iscbt  gncr; 

Wil  giute  moam, 

A  koschte  wol  koam, 

A  schtol  wol  rindr, 

A  schtnbe  wolai  kindr, 

A  paiü  wol  gant, 

A  schtomraichai  pTant^). 

Dat  sünd  pnndlnarrsche  Dinge, 
Dai  ick  dick  jetznndr  singe: 
In  de  Welt  gaiht  kuntrbunt, 
Daer  iß  krank  tm  daer  jesund, 
Daer  iß  pucklich,  daer  iß  glaich, 
Daer  iß  arm  un  daer  iß  raich'). 

Behüt  uns  Gott  vor  theurer  Zeit, 
Vor  Maurern  und  vor  Zimmerlent, 
Vor  Advokat  und  Pföndungsgsind, 
Vor  Allem,  was  den  Bauern  schindt, 
Vor  Hagel,  Wasser  und  Feue^ahr, 
Behttt  o  Herr  uns  immerdar. 
Und  gib  uns  unser  täglich  Brod, 
Dann  singen  wir:    Gelobt  sei  Gott')I 

Gott  verschone  mich,  zu  kttssen, 
Gott  behüte  mich,  zu  herzen, 
Gott  bewahr  mich  zu  umfangen. 
Zu  umfassen,  zu  umarmen 
Ein  steinaltes,  knochendürres 
Mütterlein  mit  steifen  Gliedern, 
Schlaffer  Brust  und  welkem  Leibe, 
Dünnen  Schenkeln,  dürren  Hüften, 
HumpelfÜßen,  Zitterknieen, 
Schaukelnd-klappemden  Gelenken, 
Ganz  erkaltet-starrem  Körper: 
Gott  vergönne  mir  zu  küssen, 
Gott  bescheide  mir,  zu  herzen, 


^)  Hauffen,  Die  deutsche  Sprachinsel  Gottschee.  Graz  1895.  S.  337. 
Nr.  102.    Neujahrswunsch.    Nachweise  S.  70.  Anm.  1. 

3)  We gener  S.  230.  No.  788. 

3)  von  Hörmann,  Haussprüche  aus  den  Alpen  1,99.  Haus  am  Fuß 
des  Zirbitz-Kogels.  Ähnlich  in  Schwaben:  Marterl  2.  Sanimlung.  München. 
Schupp.  0.  J.  S.  6.  n.  0. 


425 

Gott  bescher  mir  zu  umfangen, 
Zu  umfassen,  zu  umarmen 
Ein  blutjunges,  gar  geschmeidges 
Mägdelein  mit  weichen  Gliedern, 
Straffer  Brust  und  festem  Leibe, 
Vollen  Schenkeln,  starken  HUften, 
Leichten  Füßen,  runden  Knieen, 
Kernig-schmiegsamen  Gelenken, 
Ganz  erglühend-warmem  Körper  i). 

Bei  andereD,  besonders  jüngeren  Gebilden  dieser  Art  ist  es 
zweifelhaft,  ob  nicht  schon  gefestigte  Kunstübung  auf  die  Ab- 
rundung  des  Ganzen  eingewirkt  hat.    Z.  B. 

Söven  Dören  tho  Marien  Karke, 
Söven  Straten  von  dem  groten  Markede, 
Söven  Dören,  so  da  gähn  to  Lande, 
Söven  KöpmannsbrUggen  an  dem  Strande, 
Söven  Toren,  so  up  dem  Rathhuse  stahn, 
Söven  Klocken,  so  da  gliken  slan, 
Söven  Linden  up  dem  Rosengarden, 
Dat  sint  der  Rostocker  Kennewarden. 

His  accedunt: 
Söven  Stender  an  dem  Kake, 
Söven  Steine  under  dem  Finkenblocke  ^). 

Hätt  ich  gleich  die  ganze  Welt, 
Alles  Silber,  aUes  Geld, 
Grade  Glieder,  gesunden  Leib, 
Und  dazu  ein  hübsches  Weib, 
Erd  und  Himmel  auch  dabei, 
Wüßt  ich  doch,  was  besser  sei^). 

Andrerseits  wird  der  Vierzeiler,  wie  er  organisch  mit  kleineren 
Beiben  zusammenhängt,  regelrecht  improvisatorisch  fortentwickelt. 
Abgesehen  von  früheren  Beispielen,  mögen  noch  einige  von 
typischer  Beschaffenheit  den  Ausbau  des  Versgebildes  veranschau- 
lichen. 


*)  Altmann,  Runen  finnischer  Yolkspoesie  S.  44. 

*)  Handwerksspruch,  der  die  Wahrzeichen  Rostocks  enthält.  Schule r- 
Lübbon  2, 445.  Dazu  Verhandlungen  der  30.  Versammlung  der  Philologen  und 
Schulmänner  S.  91  f. 

^Wegener,  Volkstümlich^  Liede;:  g.  ^40.  Nr,  487.    ^fttsel. 


426 


Der  Jurist  mit  seim  Buch, 

D^r  Jud  mit  seim  Gesuch, 

Und  was  unter  der  Frauen  FUrtuch: 

Dieselben  3  Gschir 

Machen  die  ganze  Welt  ir^}. 

Ist  hier  durch  Zerlegung  der  4.  Zeile  (wie  bei  der  Dumka) 
eine  fünfgliedrige  Beihe  entstanden,  so  führt  (wie  beim  Pantun) 
der  Variationstrieb  in  der  Improvisation  leicht  zum  Sechszeiler. 
In  der  vom  Jahre  1411  datierten  Handschrift  4142  der  Wiener 
Hofbibliothek  steht  der  an  Preidanks  Vierzeiler  (85,  5—8)  ge- 
lehnte Schreibervers: 

Wer  auf  pulen  pawet, 

und  hurrcn  wol  getrawet, 

und  in  ein  sack  kauffet, 

und  sich  mit  den  kalen  rauffet: 

an  den  vier  dingen 

nimant  mag  gewinnen^). 

Der  Sechszeiler  geht  auch  aus  organischem  inneren  Wachs- 
tum hervor/ 

Ach,  du  leewer  Tied: 
Wat  iss  de  Welt  so  wied, 
Wat  iss  de  Himmel  hoch, 
Wat  iss  de  Eer  sied, 
Wat  iss  de  Pisputt  enk: 
Wenn  ick  dat  recht  bedenk^. 

Bemächtigt  sich  nun  noch  bewußte  Kunst  mit  rhetorischen, 
syntaktischen,  stilistischen  und  sonstigen  Absichten  der  Stegreif- 
reihen und  Stegreifmotive,  so  ist  die  Möglichkeit  gegeben,  Sprüche 
lawinenartig  anschwellen  zu  lassen. 


^)  von  Hörmann,  Haussprüche  in  den  Alpen  1,  112.  Als  Inschrift 
des  15.  bis  16.  Jhs.  in  Wasserburg  mit  der  oft  beschriebenen  bildlichen  Dar- 
stellung. Ursprünglich  ist  nicht  der  Jurist,  sondern  der  Pfaff  mit  dem  Buch 
genannt.  Heinrich  Teichner  bei  Karajan  S.  160  Anm.  254.  Die  Leipziger 
Hs.  1590  (Germania  1888,  169)  gibt  ebenfalls  einen  Fünfzeiler: 

Ein  pfaf  mit  dem  puch, 

Ein  jud  mit  dem  gesuch 

Ein  focz  unter  dem  duch, 

Ein  fisel  in  der  bruch: 

Die  machen  in  der  weit  großen  fluch. 
Zingerle  S.  108. 

3)  Bl.  187.  3)  Wegener,  Volkstümliche  Lieder  S.  281.    Nr.  791. 


427 


In  diesen  Grenzen  hält  sich  die  Ausgestaltung  der  priamel- 
haften  längeren  Reimpaar -Reihen,  die  jetzt  in  ihrer  Entwickelung 
bis  zum  15.  Jahrhundert,  bis  zum  Auftreten  Bosenplüts,  kurz 
durchmustert  werden  müssen. 

Im  Priesterleben  hat  Heinzel  die  Verse  316  fif.  als  Zutat 
eines  Interpolators  ausgeschieden^).  Ein  Sechszeiler  könnte  ge- 
lautet haben:       .^     .  ,  ^    ,. .  ^     * 

Den  ir  laster  liebet  mere, 

unt  mit  unrecht  guot  gewinnent, 

unt  boese  gelust  sere  minnent, 

unt  die  nicht  mugen  vcrlan, 

unt  unredlich  vor  got  wellent  stän: 

die  habent  selbe  die  urtäil  über  sih  gitän^). 

Wenn  Zeile  1  und  4  oder  3  fehlten,  würde  ein  guter  vom 
Interpolator  vielleicht  erweiterter,  Vierzeiler  gewonnen.  Analytisch 
verfährt  Wernher  von  Elmendorf,  wenn  er  drei  Eigenschaften 
aufzählt,  die  der  Batgeber  besitzen  soll. 

Dri  Sachen  boren  an  den  rat, 

da  by  alle  tugent  nu  stat: 

daz  eine  daz  is  ere,  daz  ander  frome, 

das  dritte,  wi  man  dozu  kome, 

daz  man  durch  liebe  noch  leyde 

ere  und  frome  ummer  nicht  gescheyde^). 

In  beiden  Fällen  ist  der  Inhalt  nicht  recht  priamelhafk. 
Eine  bloß  stilistische  oder  syntaktische  Form  ohne  bestimmten 
eigenen  Inhalt  ist  aber  noch  kein  Literaturobjekt,  sondern  gehört 
in  die  Stilgeschichte.  Ausgaben  mit  ihren  Anmerkungen  und 
Exkursen  mögen  darüber  Auskunft  geben.  So  lange  Form  und 
Inhalt  keine  engere,  wirkliche  Vereinigung  eingehen,  zerfließt  und 
zerflattert  das  Phantom  des  Gegenstandes  in  alle  Winde.  Trotz- 
dem hat  man  sich  den  unterschied  zwischen  stilistischer  Form 
und  literarischer  Gattung  nicht  immer  klar  gemacht.  Wilhelm 
Grimm  und   Adelbert  von   Keller  wiesen  auf  Beispiele   aus 


^)  Heinzel  bezeichnet  S.  153  die  priamelhaften  Yerse  319 ff.  als  Ge- 
meinplätze, einen  bekannten  Spruch.     Wilmanns,  Beiträge  1,60. 

2)  Voran  gehen  die  Worte  316  ff.: 

als  wir  Bedam  beeren  jehen 
unt  noch  hiute  mugen  sehen 
an  siner  süzzen  lere. 

3)  83  (Z.  f.  d.  A.  4,  284  ff.) 


428 

Prosa  und  Epik  Ud,  in  denen  die  SatzsteUnng  an  Priamelform 
erinnert.  Grimm  zitierte  neben  den  Havamal:  Berthold  Ton 
Begensbarg,  Beinbot  Ton  Dnrne,  die  Fabel  Tom  Wolf  in 
der  Schale,  Spervogel,  Beinmar,  Freidank  nnd  Hugo  Ton 
Trimberg,  ohne  einen  Unterschied  zwischen  Poesie  und  Prosa 
oder  poetischer  Oattang  zu  madien^.  ,Die  Priamel^  war  ihm 
also  nur  eine  stilistische  Form')  ein  umstand,  der  für  die  seinen 
Angaben  Folgenden  von  verhängnisvoller  Bedeutung  geworden  ist 
und  der  es  ohne  Zweifel  am  meisten  verschuldet  hat,  daß  bis 
heute  Unklarheit  darüber  geblieben  ist.  Noch  wichtiger  für 
Grimms  Stellung  zur  Geschichte  des  Priamels  ist  es,  daß  er 
in  dem  klassischen  Priamel  nur  tadelnd  Überfullung  gesehen  zu 
haben  scheint.  Freilich  konnten  viele  der  Beispiele  Eschen- 
burgs,  die  ihm  allein  zu  Gebote  standen,  wohl  zu  solchem  Urteil 
verleiten.  Wenn  nun  gar  die  Anapher  schon  ,die  PriameP  aus- 
machen soll'),  dann  hat  fast  jeder  mittelhochdeutsche  Autor 
einmal  ,eine  PriameP  gemacht.  Aufzählungen  lassen  sich  eben- 
falls überall  auftreiben.  Selbst  Neidhart  zählt  wohl  einmal  dreierlei 
Leid  (78,  11  ff)  oder  dreierlei  Schaden  (99,  15  ff.)  auf;  in  der 
Spruchdichtung  übt  die  aufzählende  Häufung  im  Verlauf  der 
Zeit  allmählich  formsprengende  Herrschaft^).  Man  hat  wieder- 
holt auf  eine  Jweinstelle  (3350  ff.)  hingewiesen.  Boethe  nennt 
sie  und  eine  Walther -Strophe^)  (80,  19)  in  ihrer  Wirkung 
bessre  Priameln,  als  Beinmars  strenger  gebaute  Sprüche. 
Sehen  wir  von  der  Waltherstelle  ab,  so  ist  bei  Hart- 
mann offenbar  nur  die  syntaktische  Form  in  ihrer  Ähnlichkeit 
mit  dem  Typus  A  des  Priamels  berücksichtigt,  nicht  der  Inhalt, 
nicht    die    Gattung^.      Gerade    der    höfischen   Dichtung  scheint 


»)  Freidank  S.  CXXn.    Keller,  Schwanke»  S.  9. 

»)  er  behandelt  sie  dementsprechend  in  dem  Kapitel:  Äußere  Form. 

')  Uhl,  Die  deutsche  Priamel  S.  304.  Über  Anapher  und  Priamel  in 
der  mittelhochdeutschen  Spruchdichtung  hat  grundlegend  Boethe,  Beinmar 
von  Zweter  8.  295  ff.  173  ff.  146  ff.  gehandelt. 

^)  Boethe,  Beinmar  von  Zweter  S.  317. 

^)  „trotz  ihrer  überlockern  Form,  trotzdem  sie  Priameln  gar  nicht  sein 
wollen**.    Beinmar  von  Zweter  S.  246. 

^)  Dasselbe  gilt  von  der  meist  bombastischen  Bhetorik  BeinbotsYon 
Durne  715  ff.  748  ff.  1047  ff.  1069  fl.  1188  ff.  3668  ff.  3960 ff.,  SteUen,  die 
W.  Grimm  offenbar  im  Auge  hatte. 


429 


der  deutliche  Anklang  an  die  „eminent  volkstümliche"  Form  des 
Priamels,  wie  wir  uns  beim  Vierzeiler  überzeugten,  unbequem 
gewesen  zu  sein.  So  wäre  denn  Singe rs^  Frage:  „Liegt  Par- 
zival  241,  26  ff.  etwa  eine  der  vielen  Priameln  von  vergeblicher 
Arbeit  (ühl  306.  307.  361.)  zugrunde?«  in  unserm  Sinne  aller- 
dings zu  verneinen.     Man  vergleiche  nur  die  Fassung: 

min  arbeit  ich  gar  verlUr, 

op  den  min  msere  drunge: 

ich  sagte  oder  sunge, 

daz  ez  noch  paz  vernseme  ein  boc 

odr  ein  ulmiger  stoc. 

Formell  bieten  diese  Verse  gar  keine  Handhabe  zur  Annahme 
eines  Priamels,  und  ein  inhaltlich  entsprechendes  Verschen  ist 
nibht  erhalten. 

Erst  der  bürgerliche^ Ron r ad  von  Würzburg  gibt  form- 
losen priamelartigen  Reihen  Baum,  die  das  Motiv  des  Erforder- 
lichen anschaulich  variieren  und  antithetisch  den  Gedankengang 
abschließen  lassen. 

swer  ander  kunst  bewseren  sol 
den  jungen  und  den  alten, 
der  muoz  geziuges  walten 
und  helfericher  stiure, 
mit  der  sin  kunst  gehiure 
miig  an  daz  lieht  gefliezen. 
und  sol  ein  schütze  schiezen, 
er  muoz  han  bogen  unde  bolz, 
kein  snider  lebt  so  rehte  stolz, 
der  sine  kunst  bewsere, 
gebristet  im  der  schsere^) 
da  mite  er  schr6te  ein  edel  tuocli. 
ein  kurdiwaener  wsehen  schuoch 
nach  lobelichen  sachen 
mac  niemer  wol  gemachen, 
hat  er  niht  dien  unde  borst, 
nieman  des  wilden  waldes  vorst 
in  akes  mac  gehouwen. 
swer  durch  die  werden  frouwen 
riliche  sol  tumieren, 


^)  Abhandlungen  zur  germanischen  Philologie.    Festgabe  für  R.  Heinzel. 
Halle  1898.     S.  422. 

9)  Kolm.  Hs.  22,  22. 


430 

den  inttezm  sdione  sieiai 
ros  unde  wapenldeider. 
j6  darf  er  wol  ir  beider, 
sol  im  sio  vnmwe  Digen. 
taanbaren,  harpfen,  g^en 
bedfirfen  onch  gexiuges  woL 
swax  kfinste  man  eht  dugen  sol, 
die  m&ezen  han  geröste, 
mit  der  si  von  der  brüste 
ze  liebte  kfiimen  dringen, 
wan  sprecben  nnde  singen: 
diu  zwei  sint  als6  tngenther, 
daz  si  bedürfen  nibtes  mer 
wan  Zungen  onde  sinnes*). 

Die  Moralisatio  der  Fabel  vom  Wolf  in  der  Schule  fördert 
ebenso  wohl  priamelhaffcen  Inhalt  zu  Tage,  aber  die  Formgebung 
ist  individuell. 

Diz  bispel  Temement  wol. 
swer  den  wolf  leren  sol, 
und  den  esel  ze  tanze  gan, 
und  daz  rint  die  scbellen  slan, 
und  einen  unverstanden  man, 
der  nibt  enweiz  noch  enkan, 
bringen  von  sinem  site, 
da  er  ist  erwahsen  mite: 
der  muoz  biz  an  sinen  tot 
Ifden  äugest  unde  n6t^). 

Was  Freidank  an  längeren,  über  den  Vierzeiler  hinaus 
gehenden,  priamelartigen  Sprüchen  der  Bescheidenheit  einverleibt 
hat,  lehrt,  daß  es  keine  dieser  Sprucliarten  zu  dauernder  kano- 
nischer Geltung  hat  bringen  wollen  oder  können.  Dadurch  wird 
Wackernagels  Meinung  widerlegt,  der  Freidank  es  glaubte 
zuschreiben  zu  müssen,  daß  die  sogenannte  Priamel  die  Lieblings- 
form der  deutschen  Sittensprüche  geworden  ist^).  Es  kommt 
folgendes  Spruchmaterial  in  Betracht. 


*)  Troj.  102  ff.  Vielleicht  ahmt  Hermann  Fressant  im  Prolog  seiner 
Novelle  Konrad  nach;  eine  priamelhafte  Wirirang  ist,  wie  der  Bau  lehrt, 
offenbar  nicht  beabsichtigt. 

^)  Wackernagel,  Lb.  I^  824.  Geschichte  der  deutschen  Literatur 
1 3  3G0.    A.  61. 

3)  Wackernagel -Martin  I^  360. 


431 


Für  die  Verse  vom  Almosen  ist  oben  Kap.  IV  S.  104  eine 
orientalische  Quelle  zu  gunsten  der  patristischen  abgelehnt.  Der 
priamelhafte  Charakter  dieses  Sechszeilers  ist,  wie  die  Form  be- 
weist, recht  zweifelhaft: 

Vier  gr6ze  loene  almuosen  hdt: 
als  VTÖ  der  ist,  der  ez  enpfät, 
als  vil  sin  ist,  des  man  da  git, 
als  dürft  sin  ist  in  hungers  rit: 
swerz  git  mit  guotem  willen  dar, 
dem  werdent  die  vier  loene  gar*). 

Seine  Selbständigkeit  stützt  mnl.  Überlieferung: 

Vier  grote  loene  dalmoesen  heeft: 

Si  verblijdt  dien  mense  gheeft; 

Hi  es  blide  diese  mach  gheven; 

Si  verbluscht  die  sonde  ende  linghet  leben. 

Soe  wiese  ghevet  onstelike, 

Hie  heeft  dese  IUI  sekerlike^). 

Demselben  kirchlich-theologischen  Gedankenkreise  gehört  die 
Vorstellung  von  den  drei  Straßen  an,  die  zur  Hölle  führen: 

Zer  helle  dri  straze  gänt, 
die  zallen  ziteu  offen  stant. 
derst  einiu,  swer  verzwivel6t: 
des  sele  ist  ewecliche  t6t. 
diu  ander  ist,  swer  übele  tuot, 
unt  er  sich  dannoch  dunket  guot. 
diu  dritte  ist  breit  unt  s6  gebert, 
daz  si  diu  werlt  gemeine  vert^). 

Deutlicher  im  Ausdruck,  noch  verschwommener  in  der  Form 
ist  hier  der  strophische  Heidelberger  Freidank: 

Vil  stige  hin  zer  helle  gat, 

der  aller  möhte  werden  rdt, 

wan  daz  ich  vürhte  drie  breite  straze. 

Derst  einiu  swer  durch  gr6zen  zorn 

verzwivelt,  der  ist  gar  verlorn, 

daz  kumt  von  starken  sUnden  äne  maze. 


^)  39,  10.  W.  Grimm,  Kleinere  Schriften  2,  465  f.  In  der  Interpunktion 
bin  ich  von  Grimm  abgewichen.  Die  zweite  Ausgabe  liest  ,sö  grozen  lon^, 
ohne  dem  verunglückten  Spruche  aufhelfen  zu  können.  Zur  Sache  Pfeiffer 
S.  183f.    Renner  2376ff.   Boner  27,40.   Vintler  1983ff.    LoewerS.36. 

^  Suringar,  Rijmspreuken  2,  207.    Nr.  2. 

3)  66,5.     Pfeiffer,  Freie  Forschung  S.  180. 


432 


Diu  ander  ist  swer  missetuot 

und  er  sich  dannoch  dunket  guot 

diu  dritte  ist  swer  sUndet  üf  gedingen 

und  trcestet  sich  unstseter  jugent,  dem  mac  Wol  misselingen  ^). 

Wie  man  auf  drei  Straßen  zar  Hölle  fährt,  gewinnt  man  in 
dreierlei  Weise  das  Himmelreich: 

Man  gewinnetz  himelriche 
in  drf  wis  ungeliche. 
einer  ez  mit  gewalte  hat, 
der  sich  selben  varen  Idt. 
der  ander  sich  ze  himele  stilt, 
der  guot  ist,  und  daz  s^re  hilt. 
der  dritte  koufetz  äne  strit, 
der  eigen  umb  almuosen  gtt^}. 

Als  Quelle  hat  L 0 e w e r  (S.  37)  eine  Stelle  des  h.  Bernhard 
von  Clairvaux  nachgewiesen'). 

Auch  bei  folgendem  Beispiel  analytischen  Aufbaus  ist  der 
Priamelcharakter  zu  bezweifeln. 

Ich  erkenne  drier  slabte  n6t, 
daz  vierde  daz  ist  fröuden  t6t. 
in  jugende  kiusche,  daz  tuot  we; 
milte  in  armuot  trüret  me; 
swen   hungert,  ob  erz  ezzen  lät, 
so  er  vil  guoter  spise  hdt; 
unt  sinen  vtent  minnen'  sol: 
disiu  vieriu  tuont  niht  woH). 

0  a.  a.  0.  218.  Zu  Vers  1 :  Willehalm  38, 26.;  Vers  5:  Germania  10, 340. 

2)  66,  13  ff. 

3)  Vier  Straßen  zum  Himmelreich  bei  Wernher  vom  Niederrhein  70,  6. 
*)  Paul    2114.     Grimm    127,  22.     Zur   Aufzählung   durch   Addition: 

Buch  der  Rügen  1533  ff. 

Wir  müezen  alle  des  yerjehen 

daz  man  vrowen  übersehen 

sol  von  drin  Sachen: 

daz  wil  ich  war  machen, 

ich  wil  die  sache  nennen 

daz  man  sie  mac  erkennen. 

von  zwein  Sachen  sol  man  Srn 

vrowen  und  ir  lop  mem; 

die  dritte  sache  erbarmet  mich, 

wan  si  ist  erbärmeclich. 
Der  lateinische  Text  993  £f.  hat  diese  Aufz&hlung  zu  Anfang  nicht.    Benner 
20609  flf. 


m 

Im  Inhalt  gibt  sich  recht  wenig  geistliche  Gesinnung  kund. 
Der  Ausdruck  bei  jedem  der  vier  Dinge  ist  auf  eine  Antithese 
aufgebaut,  die  später  so  oft  die  Seele  des  Priamels  ist^). 

Wichtiger  als  diese  Spuren  analytischer  Priamelform  in  der 
Bescheidenheit  sind  die  Spuren  der  synthetischen^). 

Aus  einem  in  Handschriften  der  zweiten  Ordnung  erhaltenen 
Priamelvierzeiler  ist  der  Sechszeiler  entwickelt: 

Swer  niht  weiz  unt  niht  vräget, 
unt  niht  kan  und  in  lerns  betraget, 
unt  die  kunst,  die  er  di  kan, 
ze  lernenne  nieman  gan, 
unt  hazzet  den,  der  rehte  tuot: 
disiu  vieriu  sint  t6ren  muot^). 

Echt  volksmäßig  ist  der  Inhalt  folgenden  Spruches: 

Als  der  sieche  den  gesunden  labet, 

unt  der  t6te  den  lebenden  begrabet, 

unt  man  verfluocht  der  saslden  kint, 

unt  segent  die  verfluochet  sint: 

so  sult  ir  wizzen  äne  strtt, 

daz  uns  wil  komen  des  fluocbes  zit*). 

Der  mnl.  Spruch  ist  wieder  nicht  priamelhaft: 

Alse  de  sieke  den  ghesonden  laeft 
Ende  de  doede  den  levenden  graeft, 
Soe  seid!  weten  sonder  strijt, 
Dat  hier  naect  een  ander  tijt^). 


^)  Aufzählungen  zweier  oder  mehrerer  Dinge  ohne  sicher  priamelhaften 
Charakter  sind  nicht  selten:  3,  27.  10,  7.  10,  17.  14,  20  (drei  Bestimmungen 
der  Messe).  19,  7.  19,  25.  21, 1.  27, 1.  27, 5.  27,  21.  31, 2.  33, 12.  48, 1.  75, 18. 
109,14.  (Suringar,  Rijmspreuken  2,  Nr.  18.)  130,  18.  134,6.  Vergl.  178, 14. 

^)  Aus  Grimms  Stellen  muß  allerdings  ein  Beispiel  blasser  Anapher 
ausgeschieden  werden  170,  14 — 171,  2.  Benner  7311  ff.  Anaphorische 
Reihen:  30,  1.  67,1.  164,5.  165,21.  Nur  syntaktische  Figur  liegt  44,  17 
und  29,  16  vor. 

8)  78,  17.  Wenn  Grimm  Vers  19.  20  im  Hinblick  auf  15. 16  für  einen 
unechten  Zusatz  h&lt,  schließen  wir  aus  der  Wiederholung  auf  die  Selb- 
ständigkeit des  Spruches.    Paul  S.  11.    Oben  S.  289. 

*)  Paul  1615.  Grimm  133,  27.  Von  Grimm  als  unecht  ausgeschieden. 
Nur  in  Hs.  a  yorhanden.  Zum  Inhalt  U  hl  and,  Volkslieder  3  3,  165  ff. 
Palaestra  4,  21. 

'')  Suringar,  Rijmspreuken  2,261.    Nr.  88. 
Ealing,  Priamel  28 


Wenige  Sprache   entwickeln   den  Typus  B;    so   der  Spmch 
Ton  der  Minne  im  Alter: 

Alter  finte  miime  hit 

drf  rinwe,  fwiex  cigsU: 

m  rimret  dax  en  koufen  mnot, 

in  rimret  ir  nnwerder  gnioc, 

in  rinwet,  swenner  sichs  renUd, 

dax  er  die  sei  Tersfindet  luU^). 

Eine  mit  den  Worten  künstlich  spielende  Steigerung  weist 
der  internationale  Spruch  auf: 

Swer  Übel  wider  ttbel  tnot, 
das  ist  menneschllcher  mnot 
Swer  gnot  wider  fibel  taot, 
das  ist  götelicher  nraot 
Swer  taot  fibel  wider  gnot, 
daz  ist  tiuvelfcher  mnot^. 

Wirkungsvoller   scheint  die   Steigerung,   welche   im   Spruch 
von  Sorgen  mit  komischem  Effekt  unsre  Erwartung  täuscht: 

Der  vrume  sorget  s6re 
umbe  Hute,  guot  und  6re, 
der  minnaer  umbe  minne, 
der  gUige  umbe  gewinne: 
der  t6re  sorget  alle  tage 
wie  er  brlen  genuoc  bejage*). 

Daß  aber  dieser  Effekt  nicht  empfunden  wurde,  lehrt  die 
mnl.  Fassung: 

Die  vroede  man  zorghet  sere 
Om  goet|  lof  ende  om  ere: 
Die  mint  sorght  om  minne 
Entie  ghierege  om  ghewinne^). 

Wir    tragen    also    wahrscheinlich    etwas    in    diese    Sprüche 
hinein,   was  nicht  darin  liegt.    Kunstvollere  größere  Formen  ge- 


^)  51, 17.  Dazu  die  mangelhafte  Fassung  aus  der  Straßburger  Hand- 
schrift Ton  1385  bei  Grimm,  El.  Sehr.  4,67.  Freidank  98,  18.  Benner 
21006 ff.    Thomasin  1221  ff.    Boner  39,  89f. 

s)  107,  2.  Paul  1143.  Bergmann,  LaPriamele  S.  24.  Yergl.  Benner 
28882.    Bon  er  69,  45. 

»)  58, 17.  Paul  1897  c.    Zingerle  S.  145. 

^)  Suringar,  Bijmspreuken  2,  276.    Nr.  113. 


435 

lingen   nicht  recht,   wie  in   folgendem  durch  die  Parenthese  be- 
einträchtigten Spruch: 

Stt  beide  vater  unde  kint 

ein  ander  ungetriuwe  sint, 

unt  bruoder  wider  bruoder  strebet, 

unt  mÄc  mit  mige  Ubele  lebet» 

unt  sich  diu  werlt  noch  allesamt 

nekeiner  slahte  sUnde  schämt: 

swie  vil  man  triuwe  brichet, 

daz  die  nu  nieman  riebet 

(roup  unt  brant  sint  ungeriht, 

man  vUrhtet  kttnec  noch  keiser  niht: 

sehte  unt  ban  sint  t6ren  spot, 

man  Ut  durh  sie  niht  noch  durh  got): 

sit  roemesch  Ire  siget 

und  ungeloube  stiget: 

so  sult  ir  wizzen  dne  strit, 

uns  kumet  schiere  des  fluoches  zit*). 

Lehrreich  ist  wieder  die  mnl.  Überlieferung: 

Tusschen  vader  ende  tkint 

Men  dicke  ontrouwe  rint; 

Een  bruder  den  andern  bestrijt; 

Deen  maech  den  andern  benijt. 

Besiet  de  werelt  al  te  samen; 

Ghine  siet  hem  niemen  sonde  scamen"). 

Auch  Suringar  ist  mit  der  Bezeichnung  Priamel  verschwen« 
derisch,  wenn  er  bemerkt:  ,,De  vertaler  geefk  hier  slechts  de 
zes  eerste  regeis  van  Freidanks  zestienregelige  priamel.^ 

Motive,  in  deren  virtuoser  Verarbeitung  die  spätere  Priamel- 
dichtung  ihre  höchsten  Leistungen  aufzuweisen  hat,  sind  in  der 
Bescheidenheit  ganz  unbenutzt  geblieben:  in  ungeordneter  Häufung 
liegen  die  Materialien  neben  einander  ausgebreitet^). 

Freidanks  Zeitgenosse  Thomasin  von  Circlaria  stand 
volksmäßiger  Oberlieferung  ferner,  ohne  sie  zu  verschmähen^). 
Ihm  fehlt  die  naive  Freude  des  Volkes  an  den  einfachen  Mitteln, 


«)  46,  5.  «)  Suringar  2,  264.  Nr.  78. 

3)  88,  15  ff.  126,  9  ff.  (Verlorne  Arbeit). 

^)  Freidanks  Bescheidenheit  kennt  er  wohl.  Schönbach,  Die  Anf&nge 
des  d.  Minnesanges  S.  63.  72.  Vgl.  noch  Bückert  za  357.  891.  1641.  1875. 
2258.  2468.  10194.  11101. 

28* 


436 

mit  denen  das  Priamel  wirkt;  gelehrte  Bildung,  Stand  und  fremdes 
Volkstum  hinderten  eine  wirkliche  Würdigung  und  Aneignung 
jener  Improvisationsform.  Deshalb  war  selbst  der  Vierzeiler  im 
Welschen  Gast  überall  von  des  Gedankens  Blässe  angekränkelt 
und  verkümmert.  Der  Sechszeiler  ist  mehr  rhetorisch  als 
priamelhaft: 

d6  da£  xnosgras 
her  abe  id  dem  mose  was 
und  d6  die  schamel  nider  lägen 
und  d6  wir  h6her  tische  phlagen 
und  niderre  benke,  wiuet  daz, 
daz  diu  werlt  d6  stuont  baz^). 

Die  stelle  bezieht  sich  auf  Vers  6426  ff. 
Bloßer  Aufzählung  dient  der  Sechszeiler: 

an  drin  dingen  man  haben  sol 
schäm,  swer  ir  wil  phlegen  wol: 
ein,  daz  man  niht  spreche  unere, 
diu  ander,  daz  man  habe  die  lere 
daz  man  gebär  reht  unde  wol, 
diu  drite,  daz  man  tuo  daz  man  ^ol*). 

Andre  ähnliche  Aufzählungen  (z.  B.  3444  ff.  3930  ff.  4471  ff. 
13001  ff.)  weisen  ganz  zerfließende,  teils  schon  kaum  mehr  oder 
gar  keine  priamelartige,  Form  auf. 

Gelegentlich  stellt  sich  ein  priamelartig  gebauter  Drei-  oder 
Ffinfzeiler  ein: 

vorht,  n£t«  haz  und  girescheit, 
lieb,  leit,  milt,  erge  und  zorui 
hänt  ir  gebserde  niht  verlorn'). 

Ebenso  individuelle  Form,  aber  angemesseneren  Inhalt  hat 
der  Ffinfzeiler: 

swer  gtt  dem  trunken  manne  win 
und  dem  derz  vieber  hdt 
wazzer  und  dem  kinde  den  grät 
und  dem  tobenden  daz  swert, 
er  hdt  si  alle  übel  gewert  ^). 

Das  ist  alles,  was  Thomasin  im  besten  Fall  dem  Priamel 
zu  verdanken  scheint.  Die  beiden  Klassiker  der  mittelhoch- 
deutschen Lehrdichtung,  Scherer  nennt  Freidank  und  Thomasin 

-   - 

>)  6467  flf.  3)  193  flf.  3)  924  ff.  *)  14  612  flf. 


437 

so  ^),  verhalten  sich  also  ganz  verschieden  gegenüber  dem  Priamel. 
Während  Frei  dank  die  echteste  Form  des  Priamels  bezeugt, 
ist  Thomasin  zu  wirklicher  Erfassung  der  volkstümlichsten  aller 
Dichtungsformen  nicht  durchgedrungen.  Wie  nahe  lag  oft  diese 
Form  in  Stellen  wie: 

Man  Iset  vil  selten  di  untugent, 
was  man  dran  stsete  in  der  jugent. 
swenne  des  obezes  niem§r  ist, 
s6  vert  daz  kint  xuo  der  vrist 
in.  dem  boumgarten  hin  und  her; 
sin  gelust  wirt  michels  mer. 
dem  spiler  tuot  daz  spiln  baz, 
swenner  nien  hdt,  wizzet  daz. 
dem  vraze  ist  nach  ezzen  not; 
der  trinker  ist  ndch  trinken  tot: 
swenner  niht  ze  trinken  hslt, 
so  wil  ers  dan  niht  haben  rdt. 
alsdann  dem  alten  manne  geschiht: 
er  kan  sich  enthaben  niht 
der  Undinge^)  u.  s.  w. 

Eine  Neigung  zu  geschwätziger  Rhetorik  verdarb  alles.  Rhe- 
torische Mittel')  sind  die  Hauptwürze  seiner  Verse.  Aber  ge- 
reifte Bildung  gestattet  ihm  auch  geschmackvolle,  höheren  An- 
sprüchen genügende  Behandlung  abstrakter  Themata.  Davon 
zeugt  die  treffliche  Stelle  von  der  ünstäte  dieser  Welt. 

Wie  der  priamelhafte  Vierzeiler^),  so  wird  auch  der  Sechs- 
zeiler  in  der  Didaktik  der  Tischzuchten  gebraucht.  Kon r ad 
von  Haslau  sagt  im  Jüngling  613  ff.: 

Swer  die  üz  tränke  wil  verwazen, 
und  wil  der  unzaht  sich  niht  mäzen, 
der  br6t  brichet  unde  rert 
ond  in  urloup  in  daz  trinken  mert 
und  schütet  daz  br6t  zno  den  fÜezen: 
der  solt  mir  daz  vil  billich  bUezen^). 


')  Geschichte  der  deutschen  Literatur  S.  223.  Man  könnte  übrigens 
daran  denken,  ob  nicht  Hugo  yon  Trimberg  dem  Thomasin  diesen 
Platz  streitig  macht. 

2)  165  flf. 

^  Rhetorische  Fragen  mit  ,zwiu'  4229.  4237.  5317.  u.  o.  mit  ,waz  hilfet' 
4275.    ,wä  mit'  6325.  6409.  H&ufungen  9899  ff.  10  079  iL 

*)  S,  oben  S.  296  ff.       »)  Z.  f.  d.  A.  8, 569. 


438 


Bis  auf  Abraham  a  Santa  Clara  finden  sich  in  didaktischer 
österreichischer  Literatur  mit  Vorliebe  lebhafte  lange  priamel- 
hafte  Aufzählungen,  vielleicht  auf  der  Predigt  beruhend,  sicher 
der  geistigen  Lebendigkeit  des  österreichischen  Naturells  besonders 
zusagend.  Ein  virtuoses  Beispiel  solcher  geradezu  genialer 
Sprachgewalt  lieferte  die  Bamberger  Beschreibung  von  Himmel 
und  Hölle.  Nicht  minder  gewandt  ist  der  wahrscheinlich  dem 
Predigerorden  angehörende^)  Verfasser  der  Sermones  nulli 
parcentes,  der  die  vierzeiligen  durchgereimten  Strophen  gern 
durch  lange  Kataloge  durchbricht^).  Der  deutsche  Bearbeiter 
jener  Sermones  zeigt  ebenso  Vorliebe  für  solche  Listen,  die  aber 
stets  priamelhaft,  bisweilen  nicht  ohne  Wirkung  abschließen. 
Nur  sechs  Zeilen  eröffnen  das  Kapitel  vom  Schergen  und  seinen 
Gesellen  (1411  ff.): 

Den  Schergen  und  den  wuocherser, 

litgeb  unde  spilser, 

den  diup  und  den  schächman, 

den  huorer  und  den  rifflän 

heizet  loufen  bi  der  zit, 

daz  in  der  vient  ir  16n  git^). 

Die  lateinische  Vorlage,  das  24.  Kapitel  Ad  praecones  et 
socios  suos  hat  die  Aufzählungen,  aber  nicht  den  kurzen  Abschluß 
vorgebildet.  Außerdem  ist  die  Konstruktion  und  Situation  gegen 
Ende  eine  ganz  andere,  wenn  es  da  heißt  (Vers  929  ff.): 

Post  haec  dicite  praeconi, 
usurario,  cauponi, 
lusori,  furi  et  latroni, 
feneratori  et  lenoni: 
Mandat  daemon,  ut  eatis 
ad  infemum  cum  damnatis, 
cui  fidem  conservatis 
atque  bene  militatis. 

Die  einfache  Strophe  des  lateinischen  Originals: 

quibus  si  confabulatur, 
peto  solum  os  loquatur 
et  non  manus  comprimatur, 
nam  sie  deus  non  laudatur 

gibt  der  deutsche  Bearbeiter  so  wieder: 

1)  Karajan  Z.  f.  d.  A.  2,  10. 

^  613—648.  825—840.  985-992. 

^  Vgl.  Freidank  75,5a— 5 d.    Suringar,  Bijmspreaken  2.  Nr.  6. 


42i) 

der  dentliclie  Anklang  an  die  „eminent  volkstümliclie''  Form  des 
Priamels,  wie  wir  uns  beim  Vierzeiler  aberzeugten,  unbequem 
gewesen  zu  sein.  So  wAru  denn  Singers^)  Frage:  „Liegt  Par- 
zival  241,  26  ff.  etwa  eine  der  vielen  Priameln  von  vergeblicher 
Arbeit  (Ubl  306.  307.  361.)  zugrundu?"  iu  unserm  Sinne  aller- 
dings zu  verneinen.     Man  vergleicbe  nur  die  Fassung: 

mtn  arbeit  ich  gar  vorlllr, 

op  den  m!n  meere  drunge'. 

ich  sagte  oder  »ung«, 

äai  ex  noch  pai  vernseme  ein  boc 

odr  ein  ulmiger  sloc. 

Formen  bieten  diese  Verse  gar  keine  Handhabe  zur  Annahme 
eines  Priamels,  und  ein  inhaltlicb  entsprechendes  Verschen  ist 
nicht  erhalten. 

Erat  der  bürgerliche-Konrad  von  Würzburg  gibt  form- 
losen priametartigen  Beihen  Kaum,  die  das  Motiv  des  Erforder- 
lichen anschaulich  variieren  und  antithetisch  den  Gedankengang 
abschlieBen  lassen. 

5 wer  ander  kunst  bewxren  sol 
den  jungen  und  den  alleo, 
der  muoi  geziuges  wallen 
und  helferlcher  stiure, 
mit  der  s(n  kunst  gehiure 
mllg  an  daz  lieht  geflieien. 
und  so]  ein  schütte  schieien, 
er  muoi  hän  bogen  unde  boli. 
kein  snider  lebt  so  lehle  stolz, 
der  stne  kunst  bewaere, 
gebrislet  im  der  ichEere'j 
da  mite  er  schrote  ein  edel  luoch. 
ein  kurdiwxner  wxlien  schuoch 
nach  lobelfchen  Sachen 


')  Abhandlnngen  stu 
e  1898.    S.  422. 
■)  Kolm.  Hb.  22,  2'. 


428 

Prosa  und  Epik  hin,  in  denen  die  Satzstellnng  an  Priamelform 
erinnert.  Orimm  zitierte  neben  den  Havamal:  Berthold  von 
Begensburg,  Beinbot  von  Durne,  die  Fabel  vom  Wolf  in 
der  Schale,  Spervogel,  Beinmar,  Freidank  und  Hugo  von 
Trimberg,  ohne  einen  unterschied  zwischen  Poesie  und  Prosa 
oder  poetischer  Gattung  zu  machen*).  »Die  Priamel'  war  ihm 
also  nur  eine  stilistische  Form^)  ein  umstand,  der  für  die  seinen 
Angaben  Folgenden  von  verhängnisvoller  Bedeutung  geworden  ist 
und  der  es  ohne  Zweifel  am  meisten  verschuldet  hat,  daß  bis 
heute  Unklarheit  darüber  geblieben  ist.  Noch  wichtiger  für 
Orimms  Stellung  zur  Geschichte  des  Priamels  ist  es,  daß  er 
in  dem  klassischen  Priamel  nur  tadelnd  Überfüllung  gesehen  zu 
haben  scheint.  Freilich  konnten  viele  der  Beispiele  Esc  he n- 
burgs,  die  ihm  allein  zu  Gebote  standen,  wohl  zu  solchem  Urteil 
verleiten.  Wenn  nun  gar  die  Anapher  schon  ,die  Priamel*  aus- 
machen solP),  dann  hat  fast  jeder  mittelhochdeutsche  Autor 
einmal  ,eine  PriameP  gemacht.  Aufzählungen  lassen  sich  eben- 
falls überall  auftreiben.  Selbst  Neidhart  zählt  wohl  einmal  dreierlei 
Leid  (78,  11  flf)  oder  dreierlei  Schaden  (99,  15  flf.)  auf;  in  der 
Spruchdichtung  übt  die  aufzählende  Häufung  im  Verlauf  der 
Zeit  allmählich  formsprengende  Herrschaft^).  Man  hat  wieder- 
holt auf  eine  Jweinstelle  (3350  ff.)  hingewiesen.  Boethe  nennt 
sie  und  eine  Walther-Strophe ^)  (80,  19)  in  ihrer  Wirkung 
bessre  Priameln,  als  Beinmars  strenger  gebaute  Sprüche. 
Sehen  wir  von  der  Waltherstelle  ab,  so  ist  bei  Hart- 
mann offenbar  nur  die  syntaktische  Form  in  ihrer  Ähnlichkeit 
mit  dem  Typus  A  des  Priamels  berücksichtigt,  nicht  der  Inhalt, 
nicht    die    Gattung^).      Gerade    der    höfischen   Dichtung  scheint 


>)  Freidank  S.  CXXII.    Keller,  Schwanke »  S.  9. 

^)  er  behandelt  sie  dementsprechend  in  dem  Kapitel:  Äußere  Form. 

3)  Uhl,  Die  deutsche  Priamel  S.  304.  Über  Anapher  und  Priamel  in 
der  mittelhochdeutschen  Spruchdichtung  hat  grundlegend  Roethe,  Beinmar 
von  Zweter  S.  295  ff.  173  ff.  146  ff.  gehandelt. 

*)  Boethe,  Beinmar  von  Zweter  S.  317. 

5)  „trotz  ihrer  überlockern  Form,  trotzdem  sie  Priameln  gar  nicht  sein 
wollen**.    Beinmar  von  Zweter  S.  246. 

®)  Dasselbe  gilt  von  der  meist  bombastischen  Bhetorik  Beinbotsvon 
Durne  715  ff.  748  ff.  1047  ff.  1069  fl.  1188  ff.  3668  ff.  3960  ff.,  Stellen,  die 
W.  Grimm  offenbar  im  Auge  hatte. 


429 


der  deutliche  Anklang  an  die  „eminent  volkstümliche"  Form  des 
Priamels,  wie  wir  uns  beim  Vierzeiler  überzeugten,  unbequem 
gewesen  zu  sein.  So  wäre  denn  Singers^)  Frage:  „Liegt  Par- 
zival  241,  26  ff.  etwa  eine  der  vielen  Priameln  von  vergeblicher 
Arbeit  (Uhl  306.  307.  361.)  zugrunde?«  in  unserm  Sinne  aller- 
dings zu  verneinen.     Man  vergleiche  nur  die  Fassung: 

min  arbeit  ich  gar  verliir, 

op  den  min  msere  drunge: 

ich  sagte  oder  sunge, 

daz  ez  noch  paz  vernseme  ein  boc 

odr  ein  ulmiger  stoc. 

Formell  bieten  diese  Verse  gar  keine  Handhabe  zur  Annahme 
eines  Priamels,  und  ein  inhaltlich  entsprechendes  Verschen  ist 
nibht  erhalten. 

Erst  der  bürgerliche •  Kon r ad  von  Würzburg  gibt  form- 
losen priamelartigen  Beihen  Baum,  die  das  Motiv  des  Erforder- 
lichen anschaulich  variieren  und  antithetisch  den  Gedankengang 
abschließen  lassen. 

swer  ander  Icunst  bewseren  sol 
den  jungen  und  den  alten, 
der  muoz  geziuges  walten 
und  helfericher  stiure, 
mit  der  sin  kunst  gehiure 
mUg  an  daz  lieht  gefliezen. 
und  sol  ein  schütze  schiezen, 
er  muoz  han  bogen  unde  bolz, 
kein  snider  lebt  so  rehte  stolz, 
der  sine  kunst  bewsere, 
gebristet  im  der  schaere^) 
da  mite  er  schr6te  ein  edel  tuocb. 
ein  kurdiwaener  wsehen  schuoch 
nach  lobelichen  Sachen 
mac  niemer  wol  gemachen, 
hat  er  niht  alen  unde  borst, 
nieman  des  wilden  waldes  vorst 
an  akes  mac  gehouwen. 
swer  durch  die  werden  frouwen 
riliche  sol  tumieren, 


^)  Abhandlungen  zur  germanischen  Philologie.    Festgabe  für  R.  Heinzel. 
Halle  1898.    S.  422. 

3)  Kolm.  Hs.  22,  22. 


430 

den  rnttezen  schone  zieren 
ros  unde  wapenkleider. 
j6  darf  er  wol  ir  beider, 
sol  im  sin  vrouwe  nigen. 
tarobüren,  harpfen,  gigen 
bedürfen  ouch  geziuges  wol. 
swaz  künste  man  eht  öugen  sol, 
die  mUezen  hin  gerüste, 
mit  der  si  von  der  brüste 
ze  liehte  künnen  dringen, 
wan  sprechen  unde  singen: 
diu  zwei  sint  als6  tugenther, 
daz  si  bedürfen  nihtes  mer 
wan  Zungen  unde  sinnes  *). 

Die  Moralisatio  der  Fabel  vom  Wolf  in  der  Schule  fördert 
ebenso  wohl  priamelhaften  Inhalt  zu  Tage,  aber  die  Formgebung 
ist  individuell. 

Diz  bispel  vemement  wol. 
swer  den  wolf  leren  sol, 
und  den  esel  ze  tanze  gan, 
und  daz  rint  die  schellen  slan, 
und  einen  unverstanden  man, 
der  niht  enweiz  noch  enkan, 
bringen  von  sinem  site, 
da  er  ist  erwahsen  mite: 
der  muoz  biz  an  sinen  tot 
liden  angest  unde  nöt^). 

Was  Frei  dank  an  längeren,  über  den  Vierzeiler  hinaus 
gehenden,  priamelartigen  Sprüchen  der  Bescheidenheit  einverleibt 
hat,  lehrt,  daß  es  keine  dieser  Sprucharten  zu  dauernder  kano- 
nischer Geltung  hat  bringen  wollen  oder  können.  Dadurch  wird 
Wackernagels  Meinung  widerlegt,  der  Freidank  es  glaubte 
zuschreiben  zu  müssen,  daß  die  sogenannte  Priamel  die  Lieblings- 
form der  deutschen  Sittensprüche  geworden  ist^).  Es  kommt 
folgendes  Spruchmaterial  in  Betracht. 


')  Troj.  102  ff.  Vielleicht  ahmt  Hermann  Fressant  im  Prolog  seiner 
Novelle  Konrad  nach;  eine  priamelhafte  Wirirang  ist,  wie  der  Bau  lehrt, 
offenbar  nicht  beabsichtigt. 

2)  Wackernagel,  Lb.  I^  824.  Geschichte  der  deutschen  Literatur 
12  360.    A.  6L 

3)  Wackernagel -Martin  I2  360. 


431 


Für  die  Verse  vom  Almosen  ist  oben  Kap.  IV  S.  104  eine 
orientalische  Quelle  zu  gunsten  der  patristischen  abgelehnt.  Der 
priamelhafte  Charakter  dieses  Sechszeilers  ist,  wie  die  Form  be- 
weist, recht  zweifelhaft: 

Vier  grdze  loene  almuosen  hdt: 
als  vr6  der  ist,  der  ez  enpfat, 
als  vil  sin  ist,  des  man  da  gtt, 
als  dürft  sin  ist  in  hungers  zit: 
swerz  git  mit  guotem  willen  dar, 
dem  werdent  die  vier  loene  gar'). 

Seine  Selbständigkeit  stützt  mnl.  Überlieferung: 

Vier  grote  loene  dalmoesen  heeft: 

Si  verblijdt  dien  mense  gheeft; 

Hi  es  blide  diese  mach  gheven; 

Si  verbluscht  die  sonde  ende  linghet  leben. 

Soe  wiese  ghevet  onstelike, 

Hie  heeft  dese  IUI  sekerlike'). 

Demselben  kirchlich-theologischen  Gedankenkreise  gehört  die 
Vorstellung  von  den  drei  Straßen  an,  die  zur  Hölle  fuhren: 

Zer  helle  dri  straze  gant, 
die  zallen  ziteu  offen  stant. 
derst  einiu,  swer  verzwivel6t: 
des  sele  ist  ^wecliche  t6t. 
diu  ander  ist,  swer  Ubele  tuot, 
unt  er  sich  dannoch  dunket  guot. 
diu  dritte  ist  breit  unt  s6  gebert, 
daz  si  diu  werk  gemeine  vert^). 

Deutlicher  im  Ausdruck,  noch  verschwommener  in  der  Form 
ist  hier  der  strophische  Heidelberger  Freidank: 

Vil  stige  hin  zer  helle  gat, 

der  aller  möhte  werden  rdt, 

wan  daz  ich  vtirhte  drie  breite  straze. 

Derst  einiu  swer  durch  gr6zen  zorn 

verzwivelt,  der  ist  gar  verlorn, 

daz  kumt  von  starken  Sünden  dne  mäze. 


^)  39,  10.  W.  Grimm,  Kleinere  Schriften  2,  465  f.  In  der  Interpunktion 
bin  ich  von  Grimm  abgewichen.  Die  zweite  Ausgabe  liest  ,s6  grozen  Ion', 
ohne  dem  verunglückten  Spruche  aufhelfen  zu  können.  Zur  Sache  Pfeiffer 
S.  183f.    Renner  2376fr.    Boner  27,40.   Vintler  1983  fif.    LoewerS.36. 

*)  Suringar,  Rijmspreuken  2,  207.    Nr.  2. 

3)  66,5.     Pfeiffer,  Freie  Forschung  S.  180. 


444 


Wie  Bosenplüt  später  einmal  in  einem  geistlichen  Priamel 
sagt:  Gäbe  es  keine  Hölle,  keine  Folgen  der  Sünden,  dennoch 
sollte  man  sie  meiden:  so  meint  Hugo: 

Harpfen,  Itren,  selten  klingen, 

menschen  stimme  und  vöglin  singen, 

wazzers  wunder  in  siben  gerihten, 

der  meister  lere  und  h6hez  tihten, 

manic  wunnecltcher  lip, 

den  in  der  werlde  hdt  man  und  wip, 

und  manic  antlUzze  erliuhtet  gar, 

lilien  unde  r6sen  var: 

swie  vi]  ditz  wunne  hab  Über  al: 

doch  ist  diu  werlde  ein  jimertal  —  (226  ff.) 

Hier  wäre  man  versucht  abzuschließen;  aber  Zusätze  heben 
die  priamelhafte  Wirkung  wieder  auf: 

gen  der  wunneclichen  stat 

in  der  got  gezieret  hat 

sfn  gesinde,  als6  daz  wip  noch  man 

die  vröude  niht  durchgrttnden  kan 

In  ähnlicher  Weise  heben  Einleitung  und  Zusätze  bei  Vers 
6817  ff.  10438  ff.  11058  ff.  den  Priamel-Charakter  auf.  In  der 
Periode  des  Verfalls  unserer  Kunstform  wird  freilich  auch  an 
solches  Verfahren  wieder  angeknüpft. 

Einige  treffliche  Sechszeiler  sind  Hugo  gelungen.  Schon 
Fr  ei  dank  hatte  einen  Vierzeiler  mit  jedesmaligem  ,swä'  und  zu- 
sammenfassendem Urteil  gebildet  oder  wiedergegeben;  nach  diesem 
Muster  verfährt  folgendes,  in  den  ersten  vier  Zeilen  durchge- 
reimte Priamel: 

Swä  geistliche  Hute  ungeistlich  sint, 

swä  wtse  sich  dunkent  kleiniu  kint, 

swä  wegewiser  sint  selber  blint» 

swi  der  lewe  muoz  vürhten  ein  rint, 

swä  unreht  dem  rehten  dröuwet: 

da  werdent  die  wtsen  wSnic  gevröuwet'). 

Wie  wenig  fest  aber  die  Form  geworden  ist,  bezeugt  ein 
Siebenzeiler  (11203  ff.)  Lockere  Form  hat  ein  Sechszeiler,  der 
analytisch  und  synthetisch  zugleich  ist  (20  353  ff.): 

»)  10720  ff. 


445 


Mit  siben  dingen  bUezet  man 

des  libes  siuche,  swer  ez  kan : 

vasten,  undöuwen  unde  sweiz, 

latwerge  pulver  kalt  und  heiz, 

äderldzen  und  gctranc 

machent  den  gesunt,  der  e  was  kranc. 

Analytisch  verfährt  die  Seligpreisung  (10122  ff.): 

selic  ist  der  man,  der  sich  des  went, 
daz  er  nich  woUust  sich  niht  sent, 
nich  wine,  nich  mete  und  zarter  spise, 
nach  kurzwtle  und  ndch  werlde  prlse, 
und  den  benUeget,  des  er  hat, 
ez  st  getraue,  spise  oder  wÄt. 

Einfluß  der  anaphorischen  Fragemethode  fieinmars  verrät^), 
wie  der  sogen.  Seifried  Helbling,  vielleicht  mit  ausdrücklichem 
Anschluß  an  den  österreichischen  Satiriker,  Hugos  Sechszeiler: 

Waz  sol  der  markt,  den  nieman  suochet? 
waz  sol  diu  kunst,  der  nieman  geruochet? 
waz  töhte  silber  unde  golt 
und  gimme,  were  in  nieman  holt^)? 
waz  stün  diu  buoch,  diu  nieman  list? 
Diu  sint  noch  unnützer  denne  mist^). 

Wie  oben  in  den  Versen  10720  ff.  reimen  die  ersten  4  Zeilen 
folgenden  Sechszeilers: 

An  wtten  tanzen  schcene  kitel, 
b!  jungen  meiden  valsche  bitel, 
in  samenunge  valsch  capitel, 
in  tiefen  buochen  valschiu  titel: 
bringent  vil  mSr  schaden  denne  frumen, 
als  ich  die  wärheit  hin  vernumeni). 

Ähnlich  gebaut  erscheinen: 

Rouber  oder  wuocherer, 

valscher,  brenner,  unkiu scher, 

Verräter,  morder,  valsche  rihter, 

gllhsener  oder  gltiger: 

swaz  die  ersparn  uf  ertrtch 

daz  vrumt  in  w£nic  in  himelrich.     (16316  ff.) 

»)  Roethe  S.  247.        «)  vgl.  den  Vierzeiler  13324 ff. 
^)  5 933  ff.  Hugo  liebt  das  derbe  Wort:  19  630  in  barocker  Anwendung. 
Vintler  5485. 
*)  12  360  ff. 


-fcrfi 


Mun   wpfT  irk^T*'  IST  iii^itr: 


ssesbh 


Man  -j^nerst:  -rre  rie  ssTEa   ^TP^rPT-  ^öCl  xb:  ibd:  ^rnngfiffr 
iannoetru    A^irii  \nf  Ten  Aihrze^lHr  ssreeJET  äca  übs  T.H:aiir«u 

5Inen  iHcnsseiiör  Fr^iiaa^ö  '^til  ier  Minna  iö  t^r^KS 
51.   ir*    Mehr  ier  Jirni  liä  inm  "nhain^  aaüä  mir  ifflaa:  Prfanri 

..ST  511.  3DB  •^ffff^g.    ^»**'?|i 

TTnit&  lenÖEL   sszxmwc  ^ 

wimiiliflit.  •fTi»w*jfiafi  3ini 

des  lihes  sn  ipff  md  ^«oi 

dociL  wtc  ar  jeites.  an  wnl  __^ 

aäcii  anffm  ^vcffct&  sv^  'rniL  sr  üuc: 

sr  32tLe  -fannif  jeuter  nrnsca.  .sruic^. 

E.ia^^  ka^loft  mit  .wanne'  shl. 

mctrfez.  tpnher.  onknissxis;. 
^der,   üeäe  imf  "nnifgner, 

göler,  ▼«Ls^iaac;  ehrten  er, 
bekdxr  msui  e  <ft*rmt*  wnccäficer 

dmrif  a=ä«r  hexre  Jeaos  Crist. 

Beide  AthtzeiieT  we^iien  mit  dem  Schlagreim  auf  den  Tier- 
zeiler  zurück  nnd  haben  den  Zuschnitt  eines  SediaeOers;  die 
rn^jch^heit  in  der  Enreitenxcg  der  Schlußzeüen  lengt  dafor, 
daß  (lih9,e§  acbtzeilige  Gebilde  njch  keineswegs  wie  im  15.  Jahr- 
hand^rt  zu  kanoni^^cher  Geltrmg  aasgebildet  war.  Gleichklingende 
Al>»ira/;ta  haben  einen  Achtzeiler  Teranlaßt,  den  Hngo  als  einen 
Hprnch  Ah%  heiligen  Augastinas  (18054  ff.)  so  wiedergibt: 


Swei  gedehte  sins  libes  broedikeit 
und  stner  sele  wirdikeit 
dirre  wilden  werlde  unstitikeit 
und  siner  sttnden  unvletikeit, 
der  Ewigen  pine  unmezikeit, 
der  ewigen  vröude  reinikeit: 
der  hUetet  sich  an  aller  stat 
vor  allerhande  missetit. 

Einmal  hat  der  Achtzeiler  schon  vollendeten  Aasdruck  ge- 
fanden (23564  flf.)  ^): 

Swer  16rt  ein  bunten  hiute  schaben, 
einen  handel6sen  stricke  graben, 
und  durch  gemach  wil  katzen  baden, 
dem  kargen  geste  ze  hüse  laden, 
einen  lamen  wil  l£ren  verre  springen 
einem  t6ren  vil  sagen  von  wtsen  dingen, 
einem  touben  singen  süezen  sanc: 
der  dient  in  allen  äne  danc. 

Kaum  priamelhaft  dürften  Vorschriften  sein  wie  Vers  1 7832  ff. 
17876  ff.  Eine  zehnzeilige  priamelartige  Periode  mit  sehr  un- 
deutlicher Gliederung  liegt  Vers  11574  ff.  vor.  Ein  anderer  Zehn- 
zeiler  lautet: 

swer  stn  diube  kan  verheln 

und  fürbaz  üf  ein  lougen  stein 

und  gein  dem  gelachen  kan, 

dem  er  den  schaden  hdt  getan, 

und  den  claget  mit  valschem  munde, 

des  guot  er  zu  der  selben  stunde 

vil  schentltche  hat  dd  heime  verborgen 

und  disen  let  in  gr6ien  sorgen, 

der  im  nie  kein  leit  getet: 

we,  wie  mit  grdzen  eren  er  get*)l 

Tadellosen  Bau  und  passenden  Inhalt  vereinigt  das  12  zeilige 
Priamel  Vers  15078  ff.: 

Suez  umbrede  4n  triuwen  vruht; 
vil  clöster  vrouwen  an  cldster  zuht; 
äne  gotes  vorhte  gr6z  wirdikeit; 
Sllch  leben  an  reinikeit; 
in  gröze  milte  höhez  schallen; 


»)  Vergl.  12740if.        «)  7128«: 


446 


knehte  nnd  dieme  widerkallen; 
manche  und  schuoler  ungehorsam; 
pfaffen  nnd  ritter  an  zühten  lam; 
vil  geloben  und  lützel  geben; 
bt  grözem  lichtuom  swindez  leben: 
sint  got  und  vrummen  Hüten  unweit 
in  allen  landen  hiur  als  vert. 

Wohl  nur  Zufall  ist  es,  wenn  Hngo  einmal  auf  das  vierzehn- 
zeilige  System  verfällt.    Als  Qaelle  nennt  er  diesmal  ,Aagustinus/ 

Bistn  s6  wise  als  Salomdn, 
und  onch  s6  starc  als  her  Sams6n, 
s6  gar  schcen  als  her  Absoldn, 
ond  darzuo  kfiene  als  G^edn, 
geringe  zn  loufen  unde  snel 
als  der  snelle  man  Asahll, 
gewaltic  als  Octiviin, 
riche  als  Cresas  der  riche  man, 
-  landebic  als  fiiatüsalam 
und  Enoch  den  got  selber  nam, 
und  ouch  künic  Alexander  gelich 
unüberwunden  und  Iren  rfch: 
alliu  din  gl6rie  ist  enwiht, 
hästu  der  waren  minne  niht*). 

Zu  Gründe  liegt  die  bekannte  Bibelstelle  1  Corinther  13, 
1  ff.  Ahnliche  Form  ohne  priamelhaften  Inhalt  haben  die  Verse 
22396  ff. 

Individuelle  Form  haben  auch  seine  Aufzählungen,  die 
in  Fredigt  und  Traktat  eine  unerschöpfliche  Quelle  fanden. 
Typisch  sind  die  Charakteristiken  des  Innocentius  ni,  De  con- 
temptu  mundi  2,  29  ff.  Vgl.  Benner  292  ff.,  14106  ff.,  9412  ff. 
So  läßt  er  das  Gesinde  des  ,nides'  (14 117  ff.),  der  ,lazheit' 
(15  926  ff.),  Bevue  passieren.  Oder  er  zählt  mit  dem  Präfix  ,un' 
zusammengesetzte  Wörter  auf  9159  ff.  Vergl.  8448  ff.  10239  ff. 
12 740 ff.  16 110 ff.  16 154 ff.  Zahllos  sind  Hugos  anaphorische 
Aufzählungen');  sie  haben  dadurch  ein  besonderes  Interesse,   daß 

«)  20862  ff. 

3)  479ff.  1898flf.  2376ff.  3118ff.  4513ff.  4822ff.  7271ff.  9881ff.  10592ff. 
11952  flf.  11 714  ff.  15332  ff.  15974  ff.  17652  ff.  17698  ff.  18434  ff.  18838  ff. 
20583  ff.  20671  ff.  20964  ff.  21 168  ff.  21235  ff.  21 549  ff.  22 144  ff.  23047  ff. 
23323  ff.  24084  ff.  Schon  die  eben  angefahrten  Aufz&hlungen  waren  zum 
Teil  anaphorisch. 


449 

die  Nürnberger  Schale  des  ausgebenden  15.  Jahrhunderts  mehrere 
dieser  Stellen  zu  Buch-Priameln  umgebildet  hat.  Dort  wird  da- 
rauf einzugehen  sein. 

Einige  dieser  Stellen  (10315  ff.)  weisen  schon  steigernden 
Abschluß  auf,  den  sonst  die  späteren  Priameldichter  erst  hinein- 
brachten. So  heißt  es  in  einem  die  Frauen  behandelnden  Ab- 
schnitt 12910  ff:      ^.  ,  ,       ,     . 

Minne,  schätz  und  groz  gewin 
verk^rent  guotes  mannes  sin. 

Das  ist  sein  Thema.    Nun  führt  er  aus: 

Ein  dinc  mich  gar  ser  eltet, 
swenne  sich  ein  arcwän  speltet, 
und  swenne  der  wUrfel  uneben  veUet 
nnd  scheidet,  die  er  vor  het  gesellet, 
und  swer  unrehtem  gewalte  niht 
mac  widerstln,  des  vil  geschiht; 
vil  ofte  ouch  dem  diu  dren  klingent, 
den  Juden,  rihter,  erzte  twingent. 
sd  Ht  der  ouch  in  sorgen  stricke, 
den  sin  borger  suochen  dicke 
und  er  in  niht  vergelten  mac, 
der  hdt  unruowe  naht  und  tac: 
noch  derret  ein  Übel  unkiusch  wip 
vil  mere  irs  vrumen  Wirtes  lip, 
der  si  in  ganzen  triuwen  meint 
und  si  in  untriuwen  ist  versteint. 

Einmal  verbindet  er  die  Anaphora  mit  einer  glücklichen 
Steigerung  in  einem  Zehnzeiler  (17625  ff.): 

Swer  lernet  kunst  durch  hoffart, 
der  hdt  sfn  sele  niht  wol  bewart; 
swer  lernet  kunst  durch  gitikeit, 
diu  kunst  wirt  übele  angeleit; 
swer  lernet  kunst  und  durch  haz 
die  verbirgt,  der  ist  ein  nidisch  vaz; 
swer  lernet  kunst,  daz  er  sin  leben 
von  ir  gebezzer,  der  vert  eben : 
swer  lernet  kunst,  und  die  vUrbaz 
lert  durch  got,  der  tuot  vil  baz. 

Als  Quelle  gibt  er  den  Meister  Hugwitz  an. 
Ähnlich  ist  ein  Sechszeiler  gebaut  (539  ff.),  der  wirkungsvoll 
einen  Abschnitt  von  der  Hoffahrt   und    untreue   schließt  *).     Auf- 

0  Vgl.  8042  ff.,  weniger  abgerundet. 
Euling,  Priamel  29 


44d 


knelite  and  dieme  «idcrkallen; 
mönche  und  schuoler  ungehorsam; 
pCsifien  and  ritter  an  zählen  lam; 
Til  geloben  and  lützel  geben; 
bl  gi&zem  lichtnom  swindez  leben: 
sint  got  und  Trummen  listen  anwert 
in  allen  landen  hior  als  vert. 

Wohl  nur  Ziifiül  ist  es,  wenn  Hugo  einmal  auf  das  Tierxefan- 
zeilige  System  TerfällL    Als  Qaelle  nennt  er  diesmal  ,Aiigustiniis/ 

BistB  s6  wise  als  Salomdo, 
md  oodi  s6  ttaic  als  her  SauBsda, 
s6  gar  schon  als  her  AbsoldB, 
md  danao  kfiene  als  Gede6o, 


als  der  sudle  man  Asahä, 

gewahic  als  Octaman, 

liehe  als  Cresas  der  ridie  man, 

-    landebiC   als   MatAcalam 

und  Enocli  den  got  selber  nam, 
imd  ooch  lEünic  Alezander  gelich 
mflbei  w  II  lidm  imd  ercn  ndi: 
allin  din  glörie  ist  cnwiht, 
bastn  der  waren  minne  0011*). 

Za  Grande  liegt  die  bekannte  Bibelstelle  1  Corinther  13, 
1  ff.  Ähnliche  Form  ohne  priamelhaften  Inhalt  hahen  die  Verse 
22396  fL 

Individnelle  Form  haben  aach  seine  An&ählnngen,  die 
in  Predigt  nnd  Traktat  eine  nnerschöpfliche  Qaelle  fitnden. 
Tjpisch  sind  die  Charakteristiken  des  Innocentins  111,  De  con- 
temptn  mnndi  2,  29  ff.  Vgl.  Benner  292  ff.,  14106  ff,  9412  ff. 
So  läßt  er  das  Gesinde  des  ,nides'  (14 117  ff.),  der  ,lazheit' 
(15926  ff.),  Bevne  passieren.  Oder  er  zahlt  mit  dem  Präfix  ,an' 
zusammengesetzte  Wörter  anf  9159  ff.  Yergl.  8448  ff.  10239  ff. 
12740 ff.  16 110  ff.  16 154  ff.  Zahllos  sind  Hngos  anaphorische 
Aufzählungen  *);  sie  haben  dadurch  ein  besonderes  Interesse,  daß 


0  208621L 

9)  4791L  18981L  2376ff.  SllSffl  4513ff.  4822fL  7271iL  98811L  105931L 
11952  IT.  11 714  ff.  15332  ff.  15974  ffl  17652  ff.  17698  ff.  18434  ff.  18838  ff 
20583  ff:  20671  ff  20964  ff.  21 168  ff.  21 235  ffl  21 549  ff.  22 144  ff  23047  ff. 
23323  ff.  24 084  ffl  Schon  die  eben  angeführten  AofiShlungen  waren  inm 
Teil  anaphorisch. 


449 

die  Nürnberger  Schule  des  ausgehenden  15.  Jahrhunderts  inehrero 
dieser  Stellen  zu  Buch-Priameln  umgebildet  hat.  Dort  wird  da- 
rauf einzugehen  sein. 

Einige  dieser  Stellen  (10315  fr.)  weisen  schon  steigernden 
Abschluß  auf,  den  sonst  die  späteren  Priameldichter  erst  hinein- 
brachten. So  heißt  es  in  einem  die  Frauen  behandelnden  Ab- 
schnitt 12910  ff:      ^.  V,*      ^     A 

Minne,  schätz  und  groz  gewin 
verkerent  guotes  mannes  sin. 

Das  ist  sein  Thema.    Nun  führt  er  aus: 

Ein  dinc  mich  gar  s§r  eltet, 
swenne  sich  ein  arcwän  speltet, 
und  swenne  der  wUrfel  uneben  vellet 
und  scheidet,  die  er  vor  het  gesellet, 
und  swer  unrehtem  gewalte  niht 
mac  widersten,  des  vil  geschiht; 
vi!  ofte  ouch  dem  diu  Ären  klingent, 
den  Juden,  rihter,  erzte  twingent. 
so  lit  der  ouch  in  sorgen  stricke, 
den  sin  borger  suochen  dicke 
und  er  in  niht  vergelten  mac, 
der  hat  unniowe  naht  und  tac: 
noch  derret  ein  Übel  unkiusch  wip 
vil  mere  irs  vrumen  Wirtes  11p, 
der  si  in  ganzen  triuwen  meint 
und  si  in  untriuwen  ist  versteint. 

Einmal  verbindet  er  die  Anaphora  mit  einer  glücklichen 
Steigerung  in  einem  Zehnzeiler  (17625  ff.): 

Swer  lernet  kunst  durch  hoffart, 
der  hat  sin  sele  niht  wol  bewart; 
swer  lernet  kunst  durch  gftikeit, 
diu  kunst  wirt  übele  angeleit; 
swer  lernet  kunst  und  durch  haz 
die  verbirgt,  der  ist  ein  nidisch  vaz; 
swer  lernet  kunst,  daz  er  sin  leben 
von  ir  gebezzer,  der  vert  eben : 
swer  lernet  kunst,  und  die  vUrbaz 
iSrt  durch  got,  der  tuot  vil  baz. 

Als  Quelle  gibt  er  den  Meister  Hugwitz  an. 
Ähnlich  ist  ein  Sechszeiler  gebaut  (539  ff.),  der  wirkungsvoll 
einen  Abschnitt  von  der  Hoffahrt   und    Untreue   schließt  *).     Auf- 

1)  Vgl.  8042  ff.,  weniger  abgerundet. 
Euling,  Priamel  29 


^50 

Zählung  mit  traktatartiger  Disposition  übt  auch  Hugo,  z.  B.  16010  ff. 
Vers  20  754  ff.  werden  die  sechs  Werke  der  Barmherzigkeit  auf- 
gezählt. Mit  Aufzählung  der  acht  Seligkeiten  und  sieben  Eardinal- 
tugenden  verschont  er  uns.  Dreierlei  Märtyrer  des  Herrn  (12890ff.) 
und  des  Teufels  (20898  ff.),  dreierlei  Grund,  die  Sünde  zu  meiden 
(22796  ff.  23  322  ff.),  neun  Fenster  des  Menschen  (23152  ff.)  u.  ä. 
werden  behandelt. 

Ein  Ansatz  zu  dem  später  so  reich  ausgebildeten  Doppel- 
priamel  ist  in  folgender  Stelle  zu  erkennen,  der  es  aber  auch  an 
Abrundung  fehlt  (1176 ff): 

Triuwe,  zuht  und  wdrheit, 

diemuot,  schäm,  einveltikeit, 

kiusche  und  maze  sint  vertriben 

zu  hofe  und  an  ir  stat  sint  beliben : 

liegen,  triegen,  ribaldiei 

lotervuore  und  buoberie, 

unkusti  unzuht,  lecker  schimpfen, 

trinken,  slinden,  nasen  rimpfen, 

luoder,  spil,  diube  unde  spot, 

lUtzel  ahten  üf  got, 

üf  die  sele  und  üf  den  t6t, 

üf  den  tiuvel  und  üf  die  n6t, 

diu  immer  wert  und  immer, 

ie  grimmer  und  ie  grimmer. 

Vers  2734  ff.  bildet  Hugo,  indem  er  die  törichte  Habsucht  des 
Alters  und  der  Pfaffen  treffen  will,  ein  Friamel  mit  doppeltem 
Abschluß.  Auch  hier  hat  Hans  Folz^)  wieder  an  Hugos  Art 
angeknüpft.  Formlos  und  ohne  Einfluß  auf  die  Entwicklung  unserer 
Kunstform  sind  lange  Stellen,  wie  17  332  ff.  Da  gibt  Hugo  von 
einer  Virgilstelle,  vielleicht  Oeorgica  2,  110  ff.  aus.  Es' ist,  als 
ob  Hugos  Bedseligkeit  eine  gedrängte  epigrammatische  Form  ge- 
radezu unmöglich  macht  ^). 

Formloser  Parallelismus  herrscht:  10438 ff.  18 158 ff.  u.  o. 
Mehrere  schlecht  überlieferte  Stellen,  deren  Heilung  nicht  ohne 
handschriftlichen  Apparat  gelingt,   bleiben  billig  außer  Betracht. 

Im  weiteren  Verlauf  des  14.  Jahrhunderts  bildet  sich  erst 
ein  literarisches  Leben  in  den  bürgerlichen  Kreisen  aus,  das  für 

»)  Göttinger  Beiträge  2,  72.  Nr.  52. 
^  Vgl.  4989  ff.  8314  ff.  8322  ff. 


451 

eine  Stegreifdichtung  als  epigrammatische  Gattung  die  Voraus- 
setzung bot.  Was  in  der  vervoUkommenden  Pflege  der  priamel- 
haften  Improvisation  bis  auf  Eosenplüt  geleistet  worden  ist, 
steht  hinter  der  Erwartung  eigentlich  weit  zurück.  Die  voll- 
kommensten Muster  des  voraufgegangenen  Jahrhunderts  blieben 
ohne  Folge.  Echte  Improvisationsformen  sind  dürftig  bezeugt, 
Individuelles  und  Sentenzenmäßiges  überwiegt.  Nach  Landschaften 
geordnet,  mögen  die  bezeichnendsten  Erscheinungen  dieser  Pro- 
duktion kurz  erörtert  werden. 

An  Früheres  anzuknüpfen,  war  das  Natürlichste.  Hatte  Frei- 
dank gerügt:  .,.  ,  , 

®       ^  Vischsere  unde  vergen, 

zolnsere  unde  schergen, 
die  kunnen  manegen  boesen  list, 
der  dem  tiuvel  liep  ist  (75,  5  a — d), 

so  erweitert  Boner  (9,  37  flf.)  das  Motiv: 

der  vogt)  der  schaltheiz  und  der  rat, 

und  woz  er  weibel  hotten  hat, 

der  meier  und  der  richter, 

der  vüi Sprech  und  der  heimlkher, 

der  brugger  und  der  torwart, 

der  hirte  und  der  banwart, 

pfaffen  leigen,  jung  und  alt, 

mtinche,  nunnen  mannigvalt, 

der  bischof  und  der  kappelän, 

der  apt,  der  propst  und  der  techän: 

waz  man  singet  oder  seit, 

si  lebent  alle  in  gitekeit^). 

Aus  der  mnl.  Fassung  des  Freidankspruches,  die  alle  priamel- 
hafte  Form  auflöst,  ist  zu  ersehen,  daß  kaum  ein  altes  Priamel 
zu  Grunde  liegt  ^);  aus  einem  Fol  zischen  Priamel^),  was  sich  aus 
diesem  Motiv  gestalten  ließ. 

Volksmäßigen  Improvisationscharakter  zeigen  dagegen  Sprüche, 
die  Graffund  Massmann  einer  jetzt  vernichteten  Straß  burger 
Handschrift  entnahmen.  Die  rohe  Form  gibt  wahrscheinlich 
einen  Maßstab  für  die  unliterarischer  Poesie  zur  Zeit  erreichbare 
Kunstübung  dieser  Art. 


»)  Vergl.  Bon  er  78,  45  ff.    Mones  Anz.  2,  229. 
^)  Suringa r,  Rijmspreuken  2,210.  Nr.  6. 
3)  Göttinger  Beiträge  2,  78.  Nr.  64. 

29' 


442 


lieber  kneht,  umbe  diu, 

der  Wandel  sint  wol  zwelfiu, 

als  ich  sie  gemerket  hdn.     2, 419  ff. 

Bequemer  löst  sich  aus  der  letzten  Bede  des  Knechtes  in 
dieser  Satire  das  treffliche  Priamel  ab: 

ein  hanttraeger  gigaer, 

ein  alter  holerphifaer, 

ein  Singer  ungedoenet, 

ein  hofwart,  der  vil  hoenet, 

ein  rätgeb  kne  triuwe, 

ein  übeltaet  äne  riuwe, 

ein  fürsprech  äne  sinne, 

ein  siechiu  hübscherinne, 

ein  buochsagser  trunken, 

ein  valsch  ros  erhunken, 

für  kolbensieg  ein  str&huot: 

daz  allez  ist  für  niht  guot.     2,  1439  fT. 

Es  i»t  also  unbegründet,  daß  man,  wie  W.  Wackernagel 
in  der  Poetik  (S.  212)  lehrt,  erst  im  14.  Jahrhundert  zur  Priamel- 
form  gekommen  sei. 

Nächst  Freidank  der  beste  Zeuge  für  das  Werden  unsrer 
Kunstform  ist  der  ,priamelreiche'  Hu^o  von  Trimberg.  Es 
wird  sich  zeigen,  in  welchem  Sinne  dieser  Ausdruck  des  um  die 
spätere  mhd.  Spruchdichtung  am  meisten  verdienten  Gelehrten 
zu  verstehen  ist.  Der  Benner  zeigt  die  Volksdichtung,  die  in 
der  Bescheidenheit  eine  altertümliche  Herbheit  auszeichnet,  auf 
vorgerückter  Stufe.  Die  Form  ist  geläufiger,  bis  zur  Virtuosität; 
die  Ergebnisse  einer  reichen  Entwicklung  der  poetischen  Technik 
sind  auch  Hugo  zu  Oute  gekommen.  Ihn  leiten  aber  auch  nicht 
mehr  Gesichtspunkte  der  höfischen  Gesellschaft  und  ritterlicher 
Poesie,  frei  ergeht  sich  sein  bewegliches  Talent  in  Ausgestaltung 
und  Wiedergabe  echt  volksmäßiger  wie  gelehrter  Gnomik.  Der 
Greis  verfällt  wieder  dem  psychologischen  Mechanismus  primitiver 
volkstümlicher  Kunst,  der  die  Form  für  sich  dichten  läßt.  Schlag- 
reim, Anapher,  Bilder,  Parallelismus,  Kettenspruch,  Kontraste, 
Aufzählungen,  Priamelform  sind  willkommene  Stützen,  an  die  sich 
die  alternde  irrlichterierende  Phantasie  klammert  und  von  denen 
sie  sich  fortleiten  läßt.  Dazu  kommt  noch  ein  umstand,  der  sein 
Werk  als  ungeschminktes  Bild  auch  der  m  und  liehe  n  goomischen 


443 

Überlieferung  erscheinen  läßt:  seine  Individualität.  Altersschwach, 
wie  er  ist,  fehlt  ihm  die  Kraft,  seinen  Stoflf  wirklich  zu  durch- 
dringen und  zu  beherrschen,  ünda  fert,  nee  regitur.  Lehren  der 
Jugendzeit,  die  Klugreden  des  Volkes,  Lebenserfahrung,  impro- 
visierte Moralisationen,  neben  Lesefrüchten  und  Citaten  aus  früheren 
Onomikern  klingen  in  seinen  Versen  wieder:  alles  in  allem  stellt 
Hugos  Renner  einen  Durchschnitt  der  Produktion  seiner  Zeit  dar, 
der  mündlichen  wie  schriftlichen.  Andrerseits  verschmäht  der 
seßhafte  Schulmeister  die  Kleinkunst  des  Spielmanns,  das  Quod- 
libet, den  Spielmannsreim,  den  Lügenspruch,  und  schwelgt  lieber 
in  gelehrten  Citaten.  Aber  die  Gelehrsamkeit  ist  nicht  so  bös 
gemeint,   und  .der  Mann  aus  dem  Volke  verleugnet  sich  nirgends. 

Ausgiebig  verwendet  er  priamelhafte  Formen,  hält  sich  aber, 
was  die  spezifische  Kunst  des  Priamels  betrifft,  noch  in  sehr 
engen  Grenzen.  Er  versucht  alle  Systeme  vom  Vierzeiler  bis 
zum  Vierzehnzeiler;  aber  mit  ganz  anderm  Ergebnis  als  in  der 
klassischen  Zeit  des  Priamels.  In  der  Komposition  des  vierzeiligen 
Verses  ging  er  über  Freidank  hinaus,  indem  er  volksmäßigen 
Formen  breiteren  Spielraum*  ließ;  der  durchgereimte  Vierzeiler 
war  besonders  häufig.  Hugos  Sechszeiler  und  selbst  die  Acht- 
zeiler  tragen  meist  noch  die  Spuren  ihrer  Entstehung  aus  dem 
durchreimenden  Vierzeiler  an  sich.  Alle  andern  Formen  sind  in- 
dividuell und  wegen  Vereinzelung  und  des  Mangels  an  fester 
Durchbildung  fast  ohne  Folge  für  die  Priameldichtung  des  14.  Jahr- 
hunderts geblieben.  Eigentlich  sind  es,  von  Sechszeilem  ab- 
gesehen, nur  zwei  Priamel,  ein  acht-  und  ein  zwölfzeiliges,  die, 
nach  Inhalt  und  Form  vollendet,  deutlich  auf  das  klassische 
Priamel  hinweisen,  Hugos  Meisterstücke.  Mann  kann  sie  nebst 
dem  Zwölfzeiler  des  sogen.  Seifried  Helbling  dem  Besten  an 
die  Seite  stellen,  was  diese  Poesie  überhaupt  hervorgebracht  hat. 

Wir  sahen  schon,  wie  meisterhaft  er  den  alten  Vierzeiler 
handhabt;  reichere,  entwickeltere  Formen  des  Priamels  versucht 
er  nicht  mitider,  aber  ohne  daß  es  zu  einer  typischen,  muster- 
gültigen  Form  gekommen  wäre.  Auch  er  beweist,  daß  noch  im 
14.  Jahrhundert  alle  über  die  einfachsten  Formen  hinausstreben- 
den Erzeugnisse  individuell  sind.  Das  zeigt  sich  auch  besonders 
darin,  daß  den  meisten  seiner  priamelhaften  Stellen  die  Abrundung 
und  Selbständigkeit  fehlt. 


444 


Wie  Bosenplüt  später  eininal  m  einem  geistlichen  Priamel 
sagt:  Gäbe  es  keine  Hölle,  keine  Folgen  der  Sünden,  dennodi 
sollte  man  sie  meiden:  so  meint  Hogo: 

Hnpfen,  liren,  seitm  Uiiigeii, 

mensdien  stimme  und  t0^id  mgea, 

waiicn  wimder  in  siben  gerihten, 

der  meister  lere  und  höbes  tihteo, 

numic  wimnccUdier  lip, 

den  in  der  wcrlde  bit  man  ond  wip, 

ond  manic  antlQzze  erliuhtet  gar, 

lüien  nnde  r6sen  var: 

swie  tU  ditx  wonne  hab  Aber  al; 

doch  ist  diu  werlde  ein  jamertal  —  (226  ffl) 

Hier  wäre  man  versucht  abzuschließen;  aber  Zusätze  heben 
die  priamelhafte  Wirkung  wieder  auf: 

gen  der  wannedichen  stat 

in  der  got  gexieret  bat 

sin  gesinde,  a]s6  daz  wip  nocb  man 

die  vröade  niht  dnrchgründen  kan 

In  ähnlicher  Weise  heben  Einleitung  und  Zusätze  bei  Vers 
6817  ff.  10438  ff.  11058  ff  den  Priamel-Charakter  au£  In  der 
Periode  des  Verfalls  unserer  Eunstform  wird  freilich  auch  an 
solches  Verfahren  wieder  angeknüpft 

Einige  treffliche  Sechszeiler  sind  Hugo  gelungen.  Schon 
Freidank  hatte  einen  Vierzeiler  mit  jedesmaligem  ,swä*  und  zu- 
sammenfassendem urteil  gebildet  oder  wiedergegeben;  nach  diesem 
Muster  verfährt  folgendes,  in  den  ersten  vier  Zeilen  durchge- 
reimte Priamel: 

Swä  geistliche  liute  ungeistlich  sint, 

swä  wtse  sich  dunkent  kleiniu  kint, 

swi  wegewtser  sint  selber  blint, 

swä  der  lewe  muoz  vttrhten  ein  rint, 

swi  unreht  dem  rehlen  dröuwet: 

di  werdent  die  wtsen  wSnic  gevröuwet^). 

Wie  wenig  fest  aber  die  Form  geworden  ist,  bezeugt  ein 
Siebenzeiler  (11203  ff.)  Lockere  Form  hat  ein  Sechszeiler,  der 
analytisch  und  synthetisch  zugleich  ist  (20  353  ff.): 

>)  10720  iL 


445 


Mit  siben  dingen  bUeset  man 

des  libes  siuche,  swer  ez  kan: 

vasten,  undöuwen  unde  sweiz, 

latwerge  pulver  kalt  und  heiz, 

äderldzen  und  gctranc 

machent  den  gesant,  der  e  was  kranc. 

Analytisch  verfährt  die  Seligpreisnng  (10122  ff.): 

selic  ist  der  man,  der  sich  des  went, 
daz  er  ndch  woUust  sich  niht  sent, 
nach  wine,  nach  mete  und  zarter  splse, 
nach  kurzwile  und  ndch  werlde  prise, 
und  den  benUeget,  des  er  hat, 
ez  si  getraue,  spise  oder  w4t. 

Einfluß  der  anaphorischen  Frageinethode  fieinmars  verrät^), 
wie  der  sogen.  Seifried  Helbling,  vielleicht  mit  ausdrücklichem 
Anschluß  an  den  österreichischen  Satiriker,  Hugos  Sechszeiler: 

Waz  sol  der  markt,  den  nieman  suochet? 
waz  sol  diu  kunst,  der  nieman  geruochet? 
waz  töhte  silber  unde  golt 
und  gimme,  were  in  nieman  holt')^ 
waz  Silin  diu  buoch,  diu  nieman  list? 
Diu  sint  noch  unnützer  denne  mist^. 

Wie  oben  in  den  Versen  10720  ff.  reimen  die  ersten  4  Zeilen 
folgenden  Sechszeilers: 

An  witen  tanzen  schoene  kitel, 
bt  jungen  meiden  valsche  bitel, 
in  samenunge  valsch  capitel, 
in  tiefen  buochen  valschiu  titel: 
bringent  vil  mSr  schaden  denne  frumen, 
als  ich  die  wärheit  hän  vernumeni). 

Ähnlich  gebaut  erscheinen: 

Rouber  oder  wuocherer, 

valscher,  brenner,  unk iu  scher, 

Verräter,  morder,  valsche  rihter, 

glihsener  oder  gttiger: 

swaz  die  ersparn  uf  ertrlch 

daz  vrumt  in  wSnic  in  himelrich.     (16316  ff.) 

>)  Roethe  S.  247.        »)  vgl.  den  Vierzeiler  13324 ff. 
')  5 933  ff.  Hugo  liebt  das  derbe  Wort:  19630  in  barocker  Anwendung. 
Vintler  5485. 
*)  12  360  ff. 


446 


Auch  hier  stört  der  Zusatz: 

ir  kint  zeraz  oft  gar  rilich, 
swaz  sie  ersparn  jslmerlich. 

Man  bemerkt,  wie  die  ersten  Glieder  noch  an  den  Vierzeiler 
erinnern.  Auch  auf  den  Achtzeiler  erstreckt  sich  dies  Verfahren, 
wie  unten  ersichtlich. 

Einen  Sechszeiler  Freidanks  von  der  Minne  des  Greises 
hat  Hugo  21006  ff.  wiederholt.  fBezzenberger  zu  Freidank 
51,  17.)  Mehr  der  Form  als  dem  Inhalte  nach  mit  dem  Priamel 
zu  vergleichen  sind  Vers  19808  ff.  Der  später  beliebte  Achtzeiler 
kommt  viermal  vor. 

Ist  ein  man  edele,  kiuscbe  und  reine, 
wolgezogen,  schcene  und  gemeine, 
milte,  senfte,  getriuwe,  gew^re, 
vriuntholt,  diensthaft  und  hovebsere, 
des  libes  ein  helt  und  wol  gellrt : 
doch  wirt  er  selten  nu  wol  ge^rt 
nich  sinem  werde,  swie  wol  er  tuot: 
er  habe  denne  leider  irdisch  guot^). 

Ein  zweites  Verschen  dieser  Art  liegt  17286  (17286  b)  ff.  vor. 
Hugo  knüpft  mit  ,wanne'  an. 

morder,  rouber,  unkiuscher, 
spiler,  diebe  und  luoderer, 
Juden,  beiden,  zouberer, 
gÜer,  valscher,  ebrecher, 
bek^rt  man  e  denne  wuocherer 
vUrkoufer  unde  satzunger: 
und  swem  irdisch  guot  lieber  ist 
denne  unser  herre  Jesus  .Crist. 

Beide  Achtzeiler  weisen  mit  dem  Schlagreim  auf  den  Vier- 
zeiler zurück  und  haben  den  Zuschnitt  eines  Sechszeilers;  die 
Unsicherheit  in  der  Erweiterung  der  Schlußzeilen  zeugt  dafür, 
daß  dieses  achtzeilige  Gebilde  noch  keineswegs  wie  im  15.  Jahr- 
hundert zu  kanonischer  Geltung  ausgebildet  war.  Gleichklingende 
Abstracta  haben  einen  Achtzeiler  veranlaßt,  den  Hugo  als  einen 
Spruch  des  heiligen  Augustinus  (18054  ff.)  so  wiedergibt: 


*)  13286  ff. 


447 

Swei  gedShte  sins  libes  broedikeit 
und  stner  sele  wirdikeit 
dirre  wilden  werlde  unstitikeit 
und  siner  Sünden  unvletikeit, 
der  Ewigen  pine  unmSzikeit, 
der  ewigen  vröude  reinikeit: 
der  hUetet  sich  an  aller  stat 
vor  allerhande  missetat. 

Einmal  hat  der  Achtzeiler  schon  vollendeten  Ausdruck  ge- 
funden (23564  ff.) »): 

Swer  Idrt  ein  blinten  hiute  schaben, 
einen  handelösen  stricke  graben, 
und  durch  gemach  wil  katzen  baden, 
dem  kargen  geste  ze  hüse  laden, 
einen  lamen  wil  ISren  verre  springen 
einem  t6ren  vil  sagen  von  wtsen  dingen, 
einem  touben  singen  süezen  sanc: 
der  dient  in  allen  äne  danc. 

Kaum  priamelhaft  dürften  Vorschriften  sein  wie  Vers  1 7832  ff. 
17876  ff.  Eine  zehnzeilige  priamelartige  Periode  mit  sehr  un- 
deutlicher Gliederung  liegt  Vers  11574  ff.  vor.  Ein  anderer  Zehn- 
zeiler  lautet: 

swer  sin  diube  kan  verheln 

und  fürbaz  üf  ein  lougen  stein 

und  gein  dem  gelachen  kan, 

dem  er  den  schaden  hat  getan, 

und  den  claget  mit  valschem  munde, 

des  guot  er  zu  der  selben  stunde 

vil  schentlfche  hdt  d4  heime  verborgen 

und  disen  let  in  gr6zen  sorgen, 

der  im  nie  kein  leit  getet: 

we,  wie  mit  gr6zen  eren  er  get^)! 

Tadellosen  Bau  und  passenden  [uhalt  vereinigt  das  12  zeilige 
Priamel  Vers  15078  ff.: 

Suez  umbrede  in  triuwen  vruht; 
vil  cl6ster  vrouwen  an  clöster  zuht; 
äne  gotes  vorhte  gr6z  wirdikeit; 
Such  leben  an  reinikeit; 
an  gröze  milte  höhez  schallen; 


>)  Vergl.  12  740  ff.        »)  7128«: 


m 

knehte  und  dierne  widerkallen; 
münche  und  schuoler  ungehorsam; 
pfafTen  und  ritter  an  zühten  lam; 
vil  geloben  und  lützel  geben; 
bt  grözem  rtchtuom  swindez  leben: 
sint  got  und  vrummen  Hüten  unwert 
in  allen  landen  hiur  als  vert. 

Wohl  nur  Zufall  ist  es,  wenn  Hugo  einmal  auf  das  vierzehn- 
zeilige  System  verfällt.    Als  Quelle  nennt  er  diesmal  ,Aagustinus/ 

Bistu  s6  ¥rise  als  Salom6n, 
und  ouch  s6  starc  als  her  Sams6ii, 
s6  gar  schoen  als  her  Ahsolön, 
und  darzuo  küene  als  Gideon, 
geringe  zu  loufen  unde  snel 
als  der  snelle  man  AsahSl, 
gewaltic  als  Octavidni 
rtche  als  Cresus  der  rfche  man, 
*  lanclebic  als  Matüsalam 
und  Enoch  den  got  selber  nam, 
und  ouch  kUnic  Alexander  gelfch 
unüberwunden  und  Sren  rtch: 
alliu  din  gl6rie  ist  enwibt, 
hästu  der  waren  minne  niht'). 

Zu  Grunde  liegt  die  bekannte  Bibelstelle  1  Corinther  13, 
1  ff.  Ähnliehe  Form  ohne  priamelhaften  Inhalt  haben  die  Verse 
22396  ff. 

Individuelle  Form  haben  auch  seine  Aufzählungen,  die 
in  Predigt  und  Traktat  eine  unerschöpfliche  Quelle  fanden. 
Typisch  sind  die  Charakteristiken  des  Innocentius  III,  De  con- 
temptu  mundi  2,  29  ff.  Vgl.  Renner  292  ff.,  14106  ff.,  9412  ff. 
So  läßt  er  das  Gesinde  des  ,nfdes'  (14 117  ff.),  der  ,lazheit' 
(15  926  ff.),  Bevue  passieren.  Oder  er  zählt  mit  dem  Präfix  ,un' 
zusammengesetzte  Wörter  auf  9159  ff.  Vergl.  8448  ff.  10239  ff. 
12 740 ff.  16 110 ff.  16 154 ff.  Zahllos  sind  Hugos  anaphorische 
Aufzählungen^);  sie  haben  dadurch  ein  besonderes  Interesse,   daß 

»)  20862  ff. 

2)  479ff.  1898ff.  2376ff.  3118ff.  4513ff.  4822ff.  7271ff.  9881ff.  10592ff. 
11952  ff.  11 714  ff.  15332  ff.  15974  ff.  17652  ff.  17698  ff.  18434  ff.  18838  ff 
20583  ff.  20671  ff.  20964  ff.  21 168  ff.  21 235  ff.  21 549  ff.  22 144  ff.  23047  ff. 
23323  ff.  24084  ff.  Schon  die  eben  angefahrten  Aufz&hlungen  waren  sum 
Teil  anaphorisch. 


449 

die  Nürnberger  Schule  des  ausgehenden  15.  Jahrhunderts  mehrere 
dieser  Stellen  zu  Buch-Priameln  umgebildet  hat.  Dort  wird  da- 
rauf einzugehen  sein. 

Einige  dieser  Stellen  (10315  ff.)  weisen  schon  steigernden 
Abschluß  auf,  den  sonst  die  späteren  Priameldichter  erst  hinein- 
brachten. So  heißt  es  in  einem  die  Frauen  behandelnden  Ab- 
schnitt 12910  ff:      ^.  ^,       ,     . 

Minne,  schätz  und  gros  gewm 
verkerent  guotes  mannes  sin. 

Das  ist  sein  Thema.    Nun  föhrt  er  aus: 

Ein  dinc  mich  gar  ser  eltet, 
swenne  sich  ein  arcwän  speltet, 
und  swenne  der  Würfel  uneben  veUet 
und  scheidet,  die  er  vor  het  geseUet, 
und  swer  unrehtem  gewalte  niht 
mac  widersten,  des  vil  geschiht; 
vil  ofte  ouch  dem  diu  6ren  klingent, 
den  Juden,  rihter,  erzte  twingent. 
so  lit  der  ouch  in  sorgen  stricke, 
den  sin  borger  suochen  dicke 
und  er  in  niht  vergelten  mac, 
der  hdt  unruowe  naht  und  tac : 
noch  derret  ein  Übel  unkiusch  wip 
vil  m§re  irs  vrumen  Wirtes  lip, 
der  si  in  ganzen  triuwen  meint 
und  si  in  untriuwen  ist  versteint. 

Einmal  verbindet  er  die  Anaphora  mit  einer  glücklichen 
Steigerung  in  einem  Zehnzeiler  (17625  ff.): 

Swer  lernet  kunst  durch  hofiart, 
der  hat  sin  sele  niht  wol  bewart; 
swer  lernet  kunst  durch  gitikeit, 
diu  kunst  wirt  Ubele  angeleit; 
swer  lernet  kunst  und  durch  haz 
die  verbirgt,  der  ist  ein  nidisch  vaz; 
swer  lernet  kunst,  daz  er  sin  leben 
von  ir  gebezzer,  der  vert  eben : 
swer  lernet  kunst,  und  die  vUrbaz 
llrt  durch  got,  der  tuot  vil  baz. 

Als  Quelle  gibt  er  den  Meister  Hugwitz  an. 
Ähnlich  ist  ein  Sechszeiler  gebaut  (539  ff.),  der  wirkungsvoll 
einen  Abschnitt  von  der  Hoffahrt  und    untreue  schließt  *).     Auf- 

*)  Vgl.  8042  ff.,  weniger  abgerundet. 
Euling,  Prlamel  29 


450 

2ählaDg  mit  traktatartiger  Disposition  übt  auch  Hugo,  z.  B.  16010  ff. 
Vers  20  754  ff.  werden  die  sechs  Werke  der  Barmherzigkeit  auf« 
gezählt.  Mit  Aufzählung  der  acht  Seligkeiten  und  sieben  Eardinal- 
tugenden  verschont  er  uns.  Dreierlei  Märtyrer  des  Herrn  (12890  ff.) 
und  des  Teufels  (20  898  ff.),  dreierlei  Grund,  die  Sünde  zu  meiden 
(22796  ff.  23  322  ff.),  neun  Fenster  des  Menschen  (23152  ff.)  u.  ä. 
werden  behandelt. 

Ein  Ansatz  zu  dem  später  so  reich  ausgebildeten  Doppel- 
priamel  ist  in  folgender  Stelle  zu  erkennen,  der  es  aber  auch  an 
Abrundung  fehlt  (1176  ff): 

Triuwe,  zuht  und  warheit, 

diemuot,  schäm,  einveltikeit, 

kiusche  und  maze  sint  vertriben 

SU  hofe  und  an  ir  stat  sint  beliben: 

liegen,  triegen,  ribaldie, 

lotervuore  und  buoberie, 

unkust,  unzuht,  lecker  schimpfen, 

trinken,  slinden,  nasen  rimpfen, 

luoder,  spil,  diube  unde  spot, 

lützel  ahten  üf  got, 

üf  die  sele  und  ilf  den  tot, 

üf  den  tiuvel  und  üf  die  not, 

diu  immer  wert  und  immer, 

ie  grimmer  und  ie  grimmer. 

Vers  2734  ff.  bildet  Hugo,  indem  er  die  törichte  Habsucht  des 
Alters  und  der  Pfaffen  treffen  will,  ein  Priamel  mit  doppeltem 
Abschluß.  Auch  hier  hat  Hans  Folz^)  wieder  an  Hugos  Art 
angeknüpft.  Formlos  und  ohne  Einfluß  auf  die  Entwicklung  unserer 
Kunstform  sind  lange  Stellen,  wie  17 332  ff.  Da  gibt  Hugo  von 
einer  Yirgilstelle,  vielleicht  Georgica  2,  110  ff.  aus.  Es*  ist,  als 
ob  Hugos  Bedseligkeit  eine  gedrängte  epigrammatische  Form  ge- 
radezu unmöglich  macht  ^). 

Formloser  Parallelismus  herrscht:  10438 ff.  18 158 ff.  u.  o. 
Mehrere  schlecht  überlieferte  Stellen,  deren  Heilung  nicht  ohne 
handschriftlichen  Apparat  gelingt,  bleiben  billig  außer  Betracht. 

Im  weiteren  Verlauf  des  14.  Jahrhunderts  bildet  sich  erst 
ein  literarisches  Leben  in  den  bürgerlichen  Kreisen  aus,  das  für 

»)  Göttinger  Beiträge  2,  72.  Nr.  52. 
^  Vgl.  4989  ff.  8314  ff.  8322  ff. 


451 

eine  Stegreifdichtung  als  epigrammatische  Gattung  die  Voraus-* 
Setzung  bot.  Was  in  der  vervollkommendon  Pflege  der  priamel- 
haften  Improvisation  bis  auf  Bosenplüt  geleistet  worden  ist, 
steht  hinter  der  Erwartung  eigentlich  weit  zurück.  Die  voU^ 
kommensten  Muster  des  voraufgegangenen  Jahrhunderts  blieben 
ohne  Folge.  Echte  Improvisationsformen  sind  dürftig  bezeugt, 
Individuelles  und  Sentenzenmäßiges  überwiegt.  Nach  Landschaften 
geordnet,  mögen  die  bezeichnendsten  Erscheinungen  dieser  Pro- 
duktion kurz  erörtert  werden. 

An  Früheres  anzuknüpfen,  war  das  Natürlichste.    Hatte  Frei- 

dariK  ffflrftfft* 

ö       o  •  Vischsere  unde  vergen, 

zolnsere  unde  Schergen, 

die  kunnen  manegen  boesen  list, 

der  dem  tiuvel  liep  ist  (75,  5  a — d), 

SO  erweitert  Boner  (9,  37  ff.)  das  Motiv: 

der  vogt,  der  schultheiz  und  der  rat, 

und  waz  er  weibel  hotten  hat, 

der  meier  und  der  richter, 

der  vüi Sprech  und  der  heimlicher, 

der  brugger  und  der  torwart, 

der  hirte  und  der  banwart, 

pfaffen  leigen,  jung  und  alt, 

mUnche,  nunnen  mannigvalt, 

der  bischof  und  der  kappelan, 

der  apt,  der  propst  und  der  techän: 

waz  man  singet  oder  seit, 

si  lebent  alle  in  gftekeit^). 

Aus  der  mnl.  Fassung  des  Freidankspruches,  die  alle  priamel- 
hafte  Form  auflöst,  ist  zu  ersehen,  daß  kaum  ein  altes  Priamel 
zu  Grunde  liegt  ^);  aus  einem  Fol  zischen  Priamel^),  was  sich  aus 
diesem  Motiv  gestalten  ließ. 

Yolksmäßigen  Improvisationscharakter  zeigen  dagegen  Sprüche, 
die  0 raff  und  Massmann  einer  jetzt  vernichteten  Straß  burger 
Handschrift  entnahmen.  Die  rohe  Form  gibfc  wahrscheinlich 
einen  Maßstab  für  die  unliterarischer  Poesie  zur  Zeit  erreichbare 
Kunstübung  dieser  Art. 

»)  Vergl.  Bon  er  78,  45  ff.    Mones  Anz.  2,  229. 
*)  Suringa r,  Eijmspreuken  2,  210.  Nr.  6. 
3)  Göttinger  Beiträge  2,  78.  Nr.  64. 

29* 


452 

Wer  kissling  meget, 

und  Stupfion  seget, 

und  in  dem  sack  kofiet, 

und  sich  mit  dem  toren  roffet: 

daz  sint  vier  ding, 

die  torlich  sint^). 

Hinkender  kellner, 

hofirohter  kamerer, 

blinder  wahter, 

tober  portener 

unde  schebiger  koch: 

die  fünf  ding  schendent  aller  herren  hoff*). 

Alter,  der  tinfel  mns  din  walten  1 

aim  pförit  nimest  sinen  zog, 

ainem  falken  sinen  flog, 

ainem  hunt  sin  geserti 

und  ainem  zagel  sini  herti, 

ainem  menschen  sinen  <:wiz, 

ainer  fot  ir>  hiz; 

ainem  man  machest  den  zagel  blaw 

und  das  houpt  graw 

und  die  hoden  lang: 

sprichet  maister  Fridang^). 

Auf  derselben  Stufe  der  ünvoUkommenheit  steht  die  vielleicht 
älteste  Fassung  des  unverwüstlichen  Neckerei-Motivs: 

HUet  dich  vor  Rottenburger  rette, 

und  vor  Tuwinger  kelre, 

und  vor  Rutlingen  rossen, 

und  vor  Ulmer  wiben: 

wiltu  bi  glttck  und  seiden  bliben^). 


')  Graff,  Dintiska  1,  325.  Das  Nachleben  dieses  Spruches  ist  oben 
aus  der  Eifel  nachgewiesen.  Wand  er  5,  1156.  Weiterbildungen  bei  Pfeiffer, 
Germania  1857.  S.  147.   Göttinger  Beitr&ge  2, 18.    Zeitschr.  f.  d.  Phil.  9, 194. 

3)  Diutiska  1,324.  keilner]  keller. 

^  W.  Grimm,  Kleinere  Schriften  4,29.  Renner  23019  ff.  Plori- 
legium  Gottingense  Nr.  130  (taurus,  equus).  Göttinger  Beiträge  2,  12  und 
Nr.  50.  Germania  3,371.  Cod.  Pal.  Germ.  98,  198d.  Hoffmann,  Find- 
linge S.  445.  Nr.  88.    ühl  S.  332.  330. 

*)  Bl.  81  b  unter  Federproben  der  Darmstädter  Hs.  2225,  die  also  nicht 
von  1410  datierbar  sind.    Germania  12,  232. 


45ä 


In  besserer  literarischer  Haltung  und  in  bestimmtem  Literatur- 
kreis, dem  Kreis  der  sogenannten  mystischen  Literatur,  treten 
andere  elsäsäische  Verse  auf;  z.  B. 

Mensch,  laß  din  eigenwillikeit, 
blib  fest  in  widerwertikeit, 
durchbrich  die  unerstorbenheit, 
nit  suoch  zuo  vil  ergeczlicheit : 
so  Wirt  din  hercz  wol  bereit 
zuo  göttlicher  heimlicheit '). 

Den  ungelenken  Beispielen  der  Straßburger  Handschrift  vom 
Jahre  1385  entsprechen  in  Bayern  die  Verse  des  Sulz  er  s^),  die 
oben  angeführten  ungeregelten  Beihen  der  Indersdorfer  und  der 
aus  Deggendorf  stammenden  Wiener  Handschrift  3027'). 

Ausnahmsweise  gelungen  sind  Priamelverse  Hans  Vintlers 
(9472  If.): 

iederman  sol  mit  seim  geleich 
tragen,  als  das  im  pUret  an. 
als  das  spricht  der  weise  man: 

^wenn  der  pischolf  den  topf  treibt, 

und  wenn  der  ritter  püecher  schreibt, 

und  das  der  münich  harnasch  trait, 

und  wenn  ain  hübsche  stolze  mait 

ze  rosse  sol  ain  schütze  sein, 

und  wenn  die  nunnen  und  die  pagein 

wellen t  zue  den  höfen  varen, 

und  wenn  der  man  sol  spinnen  garen, 

und  wenn  ein  achtzigjärig  man 

sol  gen  schuel  umb  lernung  gan, 

und  wenn  ain  chint  mit  ainem  geren 

sol  stechen  ainen  alten  peren: 

das  selb  ist  alles  widerwärtig 

und  wirt  nimmer  recht  artig.« 

der  weise  man  also  sait, 

das  alle  widerwärtichait 

sei  von  frawen  am  ersten  komen  u.  s.  w. 


')  Wackernagel,  Kirchenlied  2,317.  Nr.  481  e.  Die  Varianten  sind 
herangezogen.    Ähnlich  Nr.  481  a. 

^)  Göttinger  Beiträge  2,  17  ff.  Ein  Sultzer  kommt  in  den  Monumenta 
Boica  34,  89  Tor,  zum  Kloster  Fürstenfeld  gehörig. 

")  Sie  wird  uns  bei  Eosenplüts  geistlichen  Priameln  beschäftigen. 


454 


Aber  als   Epigramm   sind  die  Priamelverse  hier  nicht  gedacht, 
wie  Einführung  und  Zusätze  beweisen. 

Von  recht  bescheidener  Kunst  zeugt  ein  sentenzartiger  md. 
Beim,  der  samt  seiner  lateinischen  Entsprechung,  allerdings  erst 
im  15.  Jahrhundert  am  Schluß  der  Wiener  Handschrift  4501 
aufgezeichnet  ist: 

Quinque  roirabilia: 
Balneator  sine  sudore, 
Molitor  sine  furtu  et  pudore, 
Histrio  eque  sine  mendacio, 
Beckhardus  sine  bombisacio, 
Lusor  sine  perjurio. 

Ein  beder,  der  nicht  enswiczet,  der  hod  nicht  lange  leben; 
Ein  meiner  ungestolen  findestu  seiden,  merke  eben; 
Russtuscher,  der  <nicht>  luget  unde  sich  mid  lugen  nert, 
Ein  speler,  wo  ist  der,  der  nicht  enswert? 
Ein  beckhard  der  ist  ungefisten  nicht: 
Dut  sint  fünf  wonder,  so  ben  ich  bericht 

Die  mnd.  priamelhaften  längeren  Seimverse  gehören  im  all- 
gemeinen dem  folgenden  Jahrhundert,  meist  der  nachrosenplütschen 
Zeit  an  und  beruhen  in  der  Hauptsache  auf  nl.  und  hd.^)  Mustern; 
sie  fallen  also  fast  gänzlich  aus  dem  Bahmen  dieses  ersten  Bandes 
heraus.  In  verschiedenen  mnl.  Handschriften  finden  sich  Spruch- 
sammlungen eingetragen,  in  einer  Handschrift  Maerlants,  einer 
Boendales,  in  der  großen  Hulthemschen  Sammelhandschrift 
Nr.  192,  um  nur  die  wichtigsten  zu  nennen.  Diese  Erzeugnisse, 
soweit  sie  priamelhaft  gebaut  sind,  war  man  geneigt  als  praem- 
bula  Batava  vestustissima  zu  betrachten^).  Das  kann  nur 
mit  allerlei  Einschränkungen  geschehen. 

Die  Eintragungen  auf  Deckblättern  und  leeren  Blättern  sind 
zunächst  nicht  alle  für  das  14.  Jahrhundert  in  Anspruch  zu  nehmen; 
sie  sind  meist  erst  später  entstanden  als  die  Hauptwerke  der 
Handschriften.  Sodann  ist  der  Bau  dieser  Sprüche  höchst  indi- 
viduell und  wechselvoll,  ihr  Auftreten  sporadisch  und  zusammen- 
hanglos.   Leider  hindert  die  Art  ihrer  Publikation  und  Bearbeitung 


^)  Deutsche  Sprecher  in  der  2.  Hälfte  des  14.  Jhs.  in  den  Niederlanden: 
Te  Winkel,  Tijdschrift  5,  310  ff. 

^  Wendeler,  De  praeambulis  S.  50. 


455 

durch  Willems  und  Suringar  sich  ein  Bild  von  der  Anordnung 
und  dem  daraus  sich  ergebenden  Charakter  zu  machen.  Willems 
hat  sie,  umgestellt  nach  der  Anzahl  der  Verse,  veröffentlicht*),  und 
Suringar  die  auf  Freidankversen  beruhenden  Sprüche  ausgelesen. 
Jedenfalls  haben  wir  mit  Spruchgut  zu  tun,  das,  von  der  späteren 
Nürnberger  Priameldichtung  unbeeinflußt,  eine  besondere  Vorstufe 
in  der  Entwicklung  des  Friamels  darstellt.  Zunächst  charakte- 
ristisch ist  für  diese  mnl.  Sprüche  die  Zusammenfassung  durch 
Aufzählen;  die  Beihen  werden  mit  der  Zeit  durch  Interpolationen 
erweitert.  Qrundlage  scheint  mehr  die  Sentenzliteratur  als  freie 
Stegreifdichtung.  Das  Ergebnis  ist  teils  Künstelei,  teils  der  rohe 
Volksreim. 

Zu  den  zahlreichen  Fassungen  des  Beimes  von  dem  Dutzend 
Verkehrtheiten^)  füge  ich  hier  die  der  Dresdener  Hs.  M  33aBl.  6a: 

Prelaten  sonder  gode  tontsienCi 

papen  die  haer  kerke  vlien, 

prijnsen  wreet  ende  onghenadich, 

jonge  vrouwen  onghestadich, 

een  reechter  die  dat  reecht  verkeert, 

een  scepene  die  lieghen  leert, 

ende  rydders  die  haer  goet  vercopen, 

jonghe  vrouwen  die  snachts  ut  lopen, 

ende  een  out  man  die  ter  dulleyt  tijdet, 

ende  een  monnck  die  dickwile  ut  synem  cloestre  rijdet, 

ende  een  cleerc  die  tijtelijc  mijnt, 

ende  een  aerman  die  wel  wijn  kent: 

dat  is  een  dosijnn,  wijl  dijs  lijden, 

die  my  seiden  sied  bediden. 

Ein  Gegenstück  liefert  die  Hulthemsche  Handschrift: 

Gherechtich  lansheren  ende  goet. 

Rechtere  mechtich  ende  vroet, 

Papen  die  peis  connen  maken, 

Vrouwen  sempel  ende  hovesch  van  spraken, 

Scepenne  die  gheen  recht  en  verkeren, 

Doude  die  den  jonghen  leren, 

^)  Die  richtige  Anordnung  teilt  Y er  dam  Tijdschrift  voor  nederlandsche 
Taal-en  Letterkunde  3,  177  ff.  mit. 

2)  Napoleon  de  Pauw,  Mnl.  Gedichten  S.  646.  Tijdschrift  16,308. 
Borchling,  Mnd.  Hgn,  1,  2U.    Nd.  Korrespondenzblatt  23,  91  ff.   24, 59  f. 


456 


Die  jonghe  die  den  ouden  verstaet, 
Ghemeinte  sonder  quaden  raet: 
Dese  achte  comen  te  goeder  baten 
Den  lande,  ende  oec  den  ommesaten'). 

Yele  wijsheden  und  daesheden  werden  so  aufgezählt: 

Yele  wijsheden. 
Scoene  seden,  sonder  overmoet, 
Seiden  spreken,  datselve  goet, 
Te  pointe  connen  nemen  ende  gheven, 
Wel  ende  redelike  leven, 
Vremder  dinc  niet  onderwinden, 
Ghiericheit  verre  wechsinden, 
Onrecht  vroroelic  wederstaen, 
Metten  goeden,  vroeden  gheeme  gaen, 
Te  pointe  connen  verdragben, 
Ende  in  redenen  hulpen  den  maghen: 
Di  dese  pointe  houden  can, 
Mach  wel  heeten  een  wijs  man'). 

Yele  daesheden. 
Grote  hoverde  ende  oeghen  moet, 
Yele  talen  die  onbehoet, 
Alle  dinc  wreken,  niet  verdraghen, 
Yele  verlaten  up  grote  maghen, 
Letel  winnen  ende  vele  verteeren, 
Niet  connen  ende  niet  willen  leeren, 
Up  levende  lieden  zeere  hopen, 
Niet  betalen  ende  vele  copen, 
Yan  vremden  dinghen  vele  bedriven, 
£nde  vele  wercken  by  quaden  wiven, 
Lettel  goets  ende  vele  kinderen: 
Brinct  den  meneghen  in  den  indre^). 

Te  scrivene  up  der  stadt  huus. 
Die  eene  Stadt  willen  regieren, 
Süllen  dese  pointe  anthieren: 


1)  Belgisch  Museum  6,  213.    Yergl.  1, 135. 

^  Napoleon  de  Pauw,  Middelnederlandsche  Gedichten  en Fragmenten. 
S.  664.  Brüsseler  Hs.  fol.  105.  Yergl.  daselbst  S.  654  Yarianten  einer  zweiten 
Fassung.  Belgisch  Museum  6,212.  Ippel,  Die  niederländischen  Meerman- 
Handschriften.    Berlin  1892.    S.  12. 

>)  de  Pauw,  Mnl.  Ged.  S.  645.    Brüsseler  Hs.  105v. 


457 

Eendrachtlich  sijn  met  trouwen, 
Ende  ghemeenen  oerboor  anschouwen, 
De  Stadt  bevelen  den  vroeden 
Ende  ghemeene  goet  nauwe  hoeden 
Ende  bekeerent  te  meester  baten; 
Te  vriende  houden  de  ommesaten, 
Hare  vryheit  niet  laten  breken; 
Om  ghemeenen  oerboer  dicke  spreken; 
Trecht  altoes  houden  ghelike 
Also  wel  den  armen  als  den  rijken, 
Vaste  houden  hare  Statute, 
De  quade  werpen  altoes  ute; 
Ghetrouwe  te  sine  hären  beere: 
Dat  es  der  ouder  wijser  leere. 
Waer  si  yet  ghebrect  van  desen, 
Daer  so  staet  de  Stadt  in  vreesen, 
Ende  elc  bepeinse  hem  wat  hi  doet, 
Want  hi  emmer  sterven  moet^). 

Van  der  Messen. 

Nu  hoort  alle  dise  woort: 
Soe  wie  dat  gheerne  messe  hoort, 
Sente  Augustijn  doet  ons  verstaen 
Dat  hi  VII  duechden  sal  ontfaen. 
De  eerste  es,  dat  hem  God  ghevet 
Daghelicx  broet,  daer  hi  bi  levet. 
Dander  es,  so  wert  hem  verlaten 
Ydele  redenen  buten  maten. 
Van  der  derder  willic  niet  zwighen, 
Verghetenheit  doet  soe  verdriven. 
De  vierde  es,  dat  hi  up  dien  dach 
Sijn  lucht  niet  Verliesen  en  mach. 
De  vijfste  willic  daerup  kerven, 
Onversien  mach  hi  niet  sterven. 
De  seste  volghet  hiernaer  säen, 
Gheestelic  heelt  hi  Gode  ontfaen. 
De  sevenste  es  van  groter  ghewelt. 


1)  de  Pauw,  Mnl.  Ged.  S.  653.  Brüsseler  Hs.  Bl.  112f.  Belgisch 
Museum  6,  211.  Lecken  Spieghel  3,  143.  Suringar,  Bijmspreuken  2,  193. 
Ippel  S.  12.  Germania  32,495.  Zum  Motiv:  Der  Babylonische  Talmud 
hg.  von  Goldschmidt  7,  61. 


458 


Sine  voetstappen  worden  ghetelt 
Van  den  inghelen  van  hemelrike. 
Nu  laet  ons  alle  vriendelike 
Bidden  Onsen  Lieven  Heere 
Dat  hi  ons  ten  besten  keere*). 

Eine  Qruppe  von  12  gleicbgebautcn  neunzeiligen  Strophen 
hat  Suringar  aus  der  zweiten  Hulthemschen  Sammlung  aus- 
geschieden  ^).  Darunter  ist  eine  priamelhaft  gebaut,  eine  Art 
Kunstpriamel  individueller  Ausgestaltung^). 

Die  scalken  knechten  licht  gheloeft, 

Entie  verraders  niet  en  kint, 

Entie  weret  na  sijn  selfs  hoeft, 

Ende  die  den  smeekere  mint, 

Ende  die  mesdadeghen  niet  en  doet  ghenade, 

Alse  men  hem  mach  doen  ghevede, 

Ende  vroeden  lieden  niet  gheet  te  rade, 

Ende  licht  ontseit  een  godsmans  bede: 

Sijn  rike  en  mach  niet  sijn  ghestede. 

Noch  viel  glücklicher  ist  folgender  mnl.  Achtzeiler  derselben 

Handschrift: 

Alse  mi  een  nonne  biedt  den  mont, 

Ende  op  mi  wipsteert  een  hont, 

Ende  op  mi  lacht  een  scoen  vrouwe, 

Ende  mi  een  loes  man  sweert  op  trouwe, 

Ende  op  mijn  scoudere  sleet  een  here: 

Mi  es  to  moede,  min  no  mere, 

Ghelijc  als  mi  was  te  voren, 

Noch  ghewonnen  noch  verloren*). 

Variante: 

Als  op  myn  schouder  clopt  een  beer, 
En  een  baghyne  my  noot  seer, 
En  my  een  loesman  sweert  by  trouwe, 
En  my  aenlacht  een  schon  joncfrouwe, 

»)  de  Pauw,  Mnl.  Ged.  S.  657.  Brüsseler  Hs.  Bl.  UQ.  Die  spätere 
Nürnberger  Schule  bevorzugt  solche  traktatartige  Sprüche.  Zur  Sache: 
Franz,   Die  Messe  im  deutschen  Mittelalter.    Freiburg  i.  B.  1902.  S.  36ff. 

^)  Bijmspreuken  2, 193.  Leider  kann  auch  er  die  Herkunft  nicht  an- 
geben. S.  194.    Belgisch  Museum  1,  461. 

3)  Belgisch  Museum  6,  206. 

^)  a.  a.  0.  S.  204.    Ganz  ähnlich  Dresdener  Hs.  M,  33  a  B}.  5  b. 


459 


En  my  een  non  biet  hären  mont, 

£n  my  aenwispelsteert  een  hont: 

So  heb  ick  noch  gewonnen  noch  verloren, 

Maer  bltjf  als  ick  was  te  voren^}. 

Aber  Form  und  Situation  sind  subjektiv,  so  daß  man  hier 
mehr  Kunst  als  Stegreifdichtung  sehen  kann. 

Ohne  epigrammatischen  Charakter  ist  folgende  priamelhaft 
endigende  Charakterisierung: 

Van  den  bonten  houdevare.  (cocu.) 

Ic  hoorde  segghen  in  een  wile, 

maer  ic  hilt  al  over  ghile, 

van  eenen  bonten  houdevare. 

daer  nae  quam  ic  in  een  lant 

daer  ic  eenen  meester  vant, 

die  mi  seide  trecht  ende  tware 

welc  een  recht  bont  houdevare  wäre: 

Een  man,  die  een  scoon  wijf  heeft, 
ende  by  eer  quader  lodigghen  leeft 
ende  men  hem  dan  sijn  wijf  ontbruudt 
stille,  of  openbare,  overluut, 
so  dat  ter  kennissen  comt,  int  clare: 
Dats  en  recht  bont  houdevare^. 

Seltener  ist  Typus  B  vertreten: 

Een  goede  vrouwe  is  een  edel  ymage, 

twe  vrouwen  is  een  clappagie, 

drij  vrouwen  is  een  garenmaerct, 

vier  vrouwen  is  een  jaermaerct, 

vijt  vrouwen  is  een  beer, 

sesse  vrouwen  is  een  sduuels  gheweer: 

de  seuenste  soude  peynsen 

datter  hem  die  duuel  af  soude  eysen^). 

Bis  zu  welcher  Eünstlichkeit  in  den  Niederlanden  die  Spruch- 
dichtung gedieh,  möge  eine  Probe  aus  späterer  Zeit  verdeutlichen. 
Drei  balladenartige  Strophen  mit  Refrain  fanden  im  Jahre  1510 
am  Hildesheimer  Schildbaum ^)  ihren  Platz.    Die  erste  lautete: 


^)  Aus  A.  Matthei  Yeteris  aovi  Analecta  UI  654. 
3)  Willems,  Belg.  Mus.  3,  236.    Brüsseler  Hs.  837—845. 
^  Dresd.  M.  33  a  El.  5  a. 

^)  Archiv  des  historischen  Vereins  für  Niedersachsen.    Jahrgang  1849. 
Hannover  1851.  S.  317  f.    Der  Text  hat  in  der  späten  Überlieferung  gelitten. 


460 

Dat  ick  hedde  Tan  allen  wünschen  den  pris, 

Dat  id  alle  golt  wäre  tin,  isem  ende  loth. 

De  werlt  so  schon  als  dat  erste  paradijs, 

Ende  elligk  gras  droge  eyn  rosen  roth; 

Ende  alle  stejrne  en  steynraßen  groth 

Waren  diamenten  en  robbjnen, 

Ende  alle  dyßele  en  dorne  bloth 

Waren  larendelen  en  rosmarinen, 

Ende  alle  katten  drogen  arminen 

Ende  aller  bome  blader  weren  groen, 

Elligk  blat  schon  lasur  intschinen 

Mit  gülden  fruchten  avens  ende  noen, 

Ende  alle  eßeln  weren  rosse  koen 

Ende  lame  gulen  dat  men  vor  perde  anßyt: 

Hedde  wy  neyn  reyne  consciencie, 

Id  en  were  altomale  niet. 

Solche  Eunstübimg  mündet  also  (ähnlich  wie  in  romanischer 
Literatur)  in  Gebilden  ganz  anderer  Art,  als  das  klassische 
deutsche  Priamel  gewesen  ist. 

Daneben  improvisiert  der  einfache  ungeregelte  Volksreim  auch 
in  späterer  Zeit  fort;  z.  B. 

Wy  hebben  een  land  sonder  beer; 

£lk  rooft  en  steelt  even  seer; 

Wy  bebben  groote  oorloghe  sonder  strijt, 

Ende  grooten  honger  sonder  dieren  tijt; 

Wy  hebben  groote  eters  sonder  tanden, 

En  groote  dieven  sonder  schänden: 

Desse  sesse  bederven  onse  Nederlanden  ^). 

Wonderlijke  dingen  sijnder  verkeert, 

Wante  groote  dieven  men  nu  wel  eert. 

Die  met  practijcken  meest  können  steelen 

Gaet  men  nu  die  gemeynte  bevelen; 

Want,  sijn  Alteze  aensiget  al, 

Ende  den  prince  gouvemeert  al, 

Villeers  die  spreket  al, 

Merten  die  beloopet  al, 

Junius  die  coopet  sl\, 

Vander  Werf  vre  solliciteeret  al, 

Cornelius  die  confiskeret  al, 

')  Schimpdichten  te  Antwerpen  rond  gestrooid  op  het  einde  der 
zestiende  eeuw.    Belg.  Mus.  6,  218. 


461 

Den  breeden  raet  consenteret  al. 
Daerm  ghemeynte  betaelet  al. 
Die  woeckenaers  ontfanghet  al, 
Die  paepengoeden  becoopent  al, 
Antwerpen  tquaest  broetsel  voedet  al, 
Penne  ende  inkt  onthoudent  al, 
Godt  almachtig  die  lijdet  al: 
Die  duyvel  int  lesten  haelet  al. 

Niederrheinische  vorrosenplütsche  Priamelreime  weisen 
denselben  ziemlich  regel-  und  kunstlosen  Charakter  auf. 

1     Vat  doich  gelove  sonder  werk» 

Verstentenisse  sonder  gemirk, 

Wisheit  ind  schätz  verborgen, 

Genoich  haven  ind  vil  sorgen, 
5    Ein  ongeoifent  goed  wille, 

Bekentenisse  sonder  minne, 

God  denen  om  lofif  ind  dank, 

Ein  goed  leven  sonder  vortgank, 

Vil  hoeren  ind  weinich  verstaen, 
10    Vil  wissen  ind  mit  sonden  om  gaen, 

Ein  reine  leven  sonder  oetmoedicheit, 

Beden  sonder  innicheit: 
13    Dit  es  al  verloren  arbeit^). 

Lateinische  Überlieferung  läuft  auch  bei  solchen  längeren 
mehr  oder  weniger  priamelhaften  Beihen  fast  ununterbrochen 
neben  der  deutschen  her.  Neun  Hexameter  des  13.  Jahrhunderts 
über  die  Laster  verschiedener  Völker  hat  Wright^)  herausgegeben. 
Wirklich  priamelhaft  klingen  die  von  Wattenbach  mitgeteilten 
Verse  des  Clm.  18910: 

Devocio  in  Italia, 
Veritas  in  Ungaria, 
Humilitas  in  Austria, 
Castitas  in  Bavaria, 
5    Paupertas  in  Venecia, 


')  Haupts  Zeitschrift  15,  372  aus  einem  von  1427  datierten  Vaticanus. 
Außer  Vers  4  —  8  ist  alles  andere  nachweisbar  überliefertes  Spruchgut. 
Ähnlich  kompiliert  ist  der  Spruch:  ,Schoen  gebagen  und  wenich  doenS 
Germania  19,  304. 

3)  Reliquiae  1,  5,  30. 


462 

Fonnose  mulieres  in  Ethiopia, 

Religiositas  in  Bohemia, 

Foelicitas  in  Bolonia, 

Panis  in  Colonia, 
10     Ebrietas  in  Saxonia, 

Fidelitas  in  Thoringia, 

Miliaria  in  Westphalia, 

Simplicitas  in  Suevia, 

Glosa  judaica, 
15     Cerevisia  in  Erfordia: 

Nichil  valent  per  omnia^). 

Zu  festen  literarischen  Formen  hat  sich   diese  Überlieferung 
ohne  weiteres  nirgend  verdichtet. 


0  Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit.  1877.    S.  340. 


vnr. 

Priamelhafte  Formen  im  Minne-  und  Meister- 

Gesang. 

Das  Wahre  fördert;  ans  dem  Irrtum  ent- 
wickelt sich  nichts,  er  verwickelt  uns  nur. 

Goethe. 

Minne-  und  Meistergesang  bezeichnen  im  ganzen  f&r  die 
Geschichte  des  Priamels  kaum  mehr  als  eine  Episode  und  nehmen 
darin  eine  ähnliche  Stellung  ein  wie  in  seinem  Nachleben  die 
galante  Lyrik.  Von  den  Versuchen  und  Errungenschaften  dieser 
kfinstlichen  Dichtung  konnte  für  die  Entwicklung  des  Stegreif- 
gedichtes keine  fortwirkende  Kraft  ausgehen;  das  blieb  fast  ganz 
der  Yolkstümlichen  Poesie  vorbehalten.  Die  Spruchdichtung  des 
Minnesangs  und  der  Meistersänger  ist  hier  eigentlich  nur  insofern 
von  Bedeutung,  als  sie  die  volkstümliche  Improvisationsgrundlage 
noch  irgendwie  erkennen  läßt. 

Das  Priamel  verträgt  kunstvollere  Komposition  ebensowenig 
wie  das  Schnaderhüpfel,  gegen  dessen  konzertmäßige  Aufstutzung 
Hans  Grasberger  sich  verwahrte.  Mit  dem  schlichten  Improvi- 
sationscharakter des  Priamels  steht  eine  kunstvolle  Form  an  sich 
schon  in  Widerspruch ;  eine  strophische  Bearbeitung  (die  Heidelberger ; 
Grimma)  des  Freidank ^)  hat  dementsprechend  fast  alle  Spuren 
der  Priamelform  getilgt  So  ist  denn  auch,  was  aus  der  strophischen 
Dichtung  des  Minne-  und  Meistersangs  mit  dem  Priamel  sich  zu  be- 
rühren scheint,  meistens  nur  stilistischer  Natur  und  wurzelt  regel- 
mäßig in  bestimmter  Kunsttradition,  die  schließlich  von  dem  Improvl- 


>)  HMS  3, 468  ff.    Ob   der  Beginn  der  31.  Strophe  priamelhaft   war, 
bleibt  zweifelhaft. 


464 

satioDSgedicht  weit  ableitet.  Selten  läßt  sich  der  simple  Priamel- 
spruch  unter  dem  verhüllenden  Wust  der  Künstelei  noch  kenntlich 
machen.  Manche  Erwägungen  fuhren  hier  nur  in  einen  Wald  von 
Fragezeichen. 

Wenn  die  priamelartigen  Sprüche  der  Havamal,  wie  Müllen- 
hoff  einmal  andeutet^),  erst  in  die  zweite  Hälfte  des  12.  Jhs.  zu 
setzen  wären  —  was*  ja  nicht  der  Fall  ist  — ,  würden  sie  mit 
dem  ersten  Auftreten  solcher  Formen  in  deutscher  kunstmäßig 
strophischer  Spruchdichtung  ungefähr  gleichzeitig  sein.  Sper- 
vogel^)  hat  die  bis  dahin  nur  undeutlich  anklingende  und  in 
volksmäßiger  Tradition  geübte  Priamelform  in  die  Literatur  ein- 
geführt; nicht  in  ihrer  ursprünglichen  Oestalt,  sondern  wie  wir 
sahen,  in  künstlicherer  strophischer  Überarbeitung,  die  sie  zu 
musikalischem  Vortrag  geeignet  machte.  Den  alten  Vierzeiler 
glaubten  wir  an  mehreren  Stellen  noch  erkennen  zu  können ;  aber 
auch  schon  in  längerer  Beihe  versucht  er  sich.  Die  Begabung 
des  Dichters  für  den  Volksspruch,  der  Zusammenhang  mit  der 
altvolksmäßigen  Kunst  ^)  sind  unverkennbar.  Wie  Talent*),  künst- 
lerische Absicht  und  Tradition  %  der  Satzbau  des  zurückgehaltenen 
Affekts^),  psychologischer  Mechanismus  und  primitives  Denken 
sich  hier  mischen,  ist  nicht  leicht  zu  sagen.  Das  Spruchgut 
dieser  Poesie  ist  teilweise  uralt;  nahe  berühren  sich  einige  Sprüche 
Spervogels  mit  denen  der  Havamal ;  auch  die  Art  der  Verknüpfung, 
die  Häufung  teilt  er  mit  der  altnordischen  Spruchpoesie;  das  alt- 
nordische Spruchgedicht  und  Spervogels  Sprüche  haben  den  gleichen 
Nährboden^)  in  der  volkstümlichen  Gnomik  der  Fahrenden.  Um 
es  literaturfähig  und  singbar ^)  zu  machen,  verarbeitet  Spervogel 
das  Priamel  in  ein  künstliches  System ;  ein  durchgehender  Anfangs- 


»)  DAK  5,  279. 

«)  Roethe  ADB  35, 142.    Schönbach  WSB  141,  9  ff. 

3;  Arnold  Berger  hat  Zs.  f.  d.  Phil.  19,  440  ff.  die  volkstümlichen 
Grundlagen  des  Minnesanges  und  S.  457  ff.  die  Gnomik  besonders  behandelt, 
ohne  des  Priamels  zu  gedenken.    Vgl.  Schönbach,  Walther  S.  HO. 

*)  Roethe  ADB  35,  142.  Eraepelinin  den  Philosophischen  Studien 
2,  133  f. 

^)  Burdach,  Reinmar  und  Walther  S.  55  f. 

6)  Wundt,  Völkerpsychologie  I  2,  346.  300  ff. 

?)  Meyer,  Altg.  Poesie  S.  452  f.  536.  324. 

8)  Scherer,  Deutsche  Studien  2,  472. 


4^65 

f öfm  vetfeiiidet  vier  Sprüche  ^),   von  denen  der  zweite  im  Bau  demf 
Priamelspruch  am'  Nächsten  kommt. 

Swer  einen  friunt  wil  suocheh  da  ^r  sfn  niht  enhat,* 
und  vert  ze  walde  spüren  sd  der  she  zergat, 
und  koufet  ungeschouwet  vil, 
und  haltet  gerne  vlorniu  spil, 
und  dienet  einem  boesen  man 

da  ez  äne  Ion  belibet, 
dem  wirt  wol  afterriuwe  kunt, 

ob  erz  die  lenge  tribet'). 

Es  wird  ein  einfacherer  synthetischer  Sechszeiler  dieser  Strophe 
zu  Grunde  liegen.  Ihre  Selbständigkeit  bezeugt  die  gesonderte 
Überlieferung  in  einer  Münchener  Handschrift^).  Der  Schluß 
klingt  etwas  humoristisch.  Den  Kern  der  dritten  Strophe  dieser 
Gruppe  bildet  wahrscheinlich  ein  alter  Vierzeiler*);  die  erste 
Strophe  kommt  über  die  Häufung  von  Vergleichen,  die  vierte  über 
gehäufte  Sprichwörter  nicht  recht  hinaus.  Außerhalb  dieser  Gruppe 
begegnen  wir  noch  der  uralten  Form  gehäufter  Vorschriften  mit  ,sol'  ^) 
und  einem  Spruch,  der  eine  priainelartige  Steigerung  enthält^), 
deren  ursprüngliche  Form   sich  aber  niclit  mehr  erkennen  läßt^). 

Unter  den  Strophen  Beinmars  des  Alten  ist  ein  sicher 
nicht  von  Reinmar  herrührender  priamelhafter  Spruch  ^)  überliefert, 
dessen  Bau  nur  wenig  gestört  und  dessen  Modell  in  der  Bescheiden- 
heit erhalten  zu  sein  scheint^).  Motiv  und  Bau  gleichen  sich  in 
beiden  Stellen.      ...  .  ,  ,        ,,   ^       ^  .„.     . 

Blate  und  kröne  wellent  muotwillic  sm: 

so  wsenent  topfknaben  wislichen  tuon: 

s6  jaget  unbildc  mit  hasen  eberswin: 

so  erfliuget  einen  valken  ein  unmehtic  huon: 

wirt  danne  der  wagen  für  diu  rinder  gende, 

treit  danne  der  sac  den  esel  zuo  der  mUln, 

wirt  danne  eltiu  gurre  zeinem  vUln, 

s6  siht  manz  in  der  werlte  twerhes  stende. 


*)  über  solche  Besponsion  Roethe,  Reinmar  von  Zweter  S.  313. 

2)  MF  21,  19.    WSB  141,  13.    Scherer  2,472. 

3)  0ml.  4612.  40,  46  b.    Zum  Inhalt,  insbesondere  zu  21,  15  ist  Göttinger 
Beiträge  2,51  Nr.  IX  a  zu  vergleichen.    Fr  ei  dank  85,  5  ff. 

*)  Oben  S.  295;  ebenso  30,  34.  Schönbach  S.  13  f.     *)  MF  20,  9.  22,  25. 
6)  23,  21.        '')  Vergl.  die  späteren  Fassungen  MF*  S.  237  f. 
^)  MF*  310.     Dazu  Berger  in  der  Zeitschrift  für  deutsche  Philologie 
19,456  und  Roethe  S.  248. 
9)  133,  27. 
Baling,  PriameL  30 


466 


Es  ist  das  alte  YolksmäOige  Motiv  der  Verkehrtheiten^),  das 
die  ganze  Priameldichtong  Tariiert.  Verwandt  damit  ist  die  schon 
erwähnte  Strophe  Walthers  80,  19: 

Unmise,  nim  dich  beidin  an, 
manltchiu  wip,  wipliche  man: 
p£afliche  ritter,  ritterliche  pfaffen, 
mit  den  solt  du   dinen  willen  schaffen: 
ich  wil  dir  si  gar  ze  stiure  geben, 
und  alte  jangherren  ftir  eigen: 
ich  wil  dir  junge  altherren  zeigen, 
daz  si  dir  twerhes  helfen  leben. 

Boethe  sagt  mit  Bezog  auf  diese  Strophe:  „Als  Walther 
einmal  einen  kleinen  Ansatz  zur  Priamel  macht,  da  trifift  er  gleich 
einen  gemäßen^)  Inhalt^;  die  Form  nämlich  ist  bereits  so  subli- 
miert,  daß  das  zu  Grunde  liegende  Gerüst  des  alt  -  volksmäßigen 
Spruches  kaum  mehr  wahrnehmbar  ist.  Noch  allgemeiner  ist  ein 
anderer  Bügespruch  (21,  29)  gehalten: 

Diu  sunne  hat  ir  schin  verkeret, 
untriuwe  ir  simen  üz  gereret 
allenthalben  zuo  den  wegen: 
der  vater  bf  dem  kinde  untriuwe  vindet, 
der  bruoder  sinem  bruoder  liuget: 
geistlich  leben  in  kappen  triuget, 
die  uns  ze  himel  solten  Stegen: 
gewalt  gSt  üf,  reht  vor  gerihte  swindet. 
wol  üfl  hie  ist  ze  vil  gelegen. 

Was  sonst  bei  Walther  als  priamelhaft  angesprochen  werden 
könnte ')y  findet  als  Aufzählung  und  anapborische  Beihe  seine 
Erledigung  *), 

Auch  für  Bein  mar  von  Zweter^)  war  das  einfache  Steg- 
reifgedicht zu  vulgär,  er  läßt  es  nur  in  ganz  eigentümlicher  Um- 
formung durchschimmern.  Es  sind  zwei  Beispiele  vorhanden; 
eins  (93)  gehört  noch  seiner  böhmischen  Periode  an. 


^)  Das  moralische  Seitenstück:  Roethe  zn  Beinmar  175,  10. 
•)  Freilich  ist  er  zu  geistreich  für  einen  Yolksspruch. 
3)  26,  13.  84,  1.  83,  27.  112,  10.    Roethe  S.  301.  317. 
*)  Vergl.  Winsbeke  49,  1  ff.    Roethe  S.  211. 
&)  Boethe  S.  246  ff. 


467 


Waz  hilfet  äne  sinne  kunst  ? 
waz  hilfet  wol  gehoeren,         der  dar  zuo  nicht  hat  vernunst  ? 
waz  helfent  schoeniu  ougen        den,  der  daz  wseger  nimmer  kan  ersehen  ? 

Waz  hilfet  rfcheit  äne  rät? 
waz  hilfet  vil  geheizen,         ders  niht  muot  ze  tuonne  hat? 
waz  hilfet  mannes  schoene,        von  dem  doch  nimmer  ere  kan  geschehen? 

Waz  hilfet  Sterke,  der  si  niht  versuochet  ? 
waz  hilfet  dienest,  da  man  sin  niht  ruochet? 
waz  hilfet     ouch  gebeitiu  minne, 
diu  niender  von  dem  herzen  kumt? 
noch  minner  zallen  saelden  vrumt 
des  mannes  leben,         der  valsch  ist  üz  unt  inne. 

Beinmar  sucht  hier  ein  altes,  in  den  beliebten,  mit  ,ohiie' 
negierten,  antithetischen  Gliedern  durchgeführtes  Motiv  in  die 
höhere  Sphäre  der  eignen  sittlichen  Denkart  zu  heben,  und  indem 
er  mit  Nachdruck  die  Treue  des  Mannes  an  den  Schluß  stellt, 
erreicht  er  eine  nicht  üble  Steigerung.  Ganz  undeutlich  erkennt 
man  die  in  späterer  Priameldichtung  landläufigen  Verbindungen: 
Hören  und  nicht  Verstehen  (2),  Reichtum  ohne  Verstand  (4). 
Versprechen  und  nicht  Halten  (5),  unerbetener  Dienst  (8),  Liebe 
ohne  Treue  (10).  Allerdings  wird  durch  solche  Verfeinerung  der 
priamelartige  Spruch  blutleer,  dürftig  und  etwas  langweilig;  es 
ergeht  dem  Priamel  dann  wie  der  Waldblume,  die  im  Garten 
nicht  recht  gedeihen  will.  Nicht  weniger  als  der  Inhalt  ist  die 
Form  sublimiert;  die  pathetischen  Fragen  ,waz  hilfet'  und  der 
nachdrückliche  Übergang  zum  Schluß  haben  etwas  scheinbar 
Rhetorisch-Posenhaftes,  das  dem  Priamel  an  sich  fremd  ist.  Doch 
gerade  hierin  hat  Reinmar  nur  gar  zu  eifrige  Nachahmer  gefunden  ^). 
Wie  er  damit  die  syntaktischen  Schwierigkeiten  des  Priamels 
vermied,  hat  Roethe  (S.  247)  feinsinnig  motiviert^).  Was  die 
Herkunft  der  anaphorischen  Frageform  anbetrifft,  so  brauchte 
Reinmar  nur  an  das  volksmäßige  und  in  der  Spruchdichtung  seit 
Spervogel  (21,5)  geläufige  Stilmittel  anzuknüpfen.  Der  Zu- 
sammenhang mit  dem  Rätsel,  den  Roethe  zweifelnd  andeutet,  ist 
nicht  wahrscheinlich,  weil  er,  wie  R.  selbst  schon  bemerkt  hat, 
auch  in  dem  späteren  volkstümlichen  Priamel  nicht  vorhanden  ist. 

')  Roethe  S.  247. 

^)  Vorausgesetzt,   daß   Reinmar   ein   Priamel    oder    etwas    ähnliches 
schreiben  wollte;   was  ich  nicht  glaube. 

30* 


w;* 


«.su-ihiiisst  ro'nAiiiiifti^isEa]^  iiszl   gaiue   Beiliea 

Uta    t>*»»*»^ 

SjiiiK   ^*n    de  -hibiibb  tax    ^Kguuuhi: 

iLmitt 


-  -r  r^-i^'^i   Ti.r   li^  la    iiitt.   r^inr.  iiartr  u.  i.  sind  in  Tolks- 

.  vii^    '«?..:ii   ^ni;;r'tüiitir.     tjuit*    ULu  "ir    zum  Priamel  faliren*). 

-•rrOAi    iiiis.    iuii   fiiHmail.     »ir   Ii.k  r.  pT^agereihen  schwelgt^), 

-     ^-.o  -Tu   Hiu^wiriim  amfUiinei^    »L-i  <^e -^twa^  Reinm&r  eigenes 

.at    mur»i     iMi^iiitv     irrao**-  m^.   -   '*^ini   bei   Üeinmar   ist 
"i*iiir-**  -C*i«imu,    wHui:'-'     "?•!!"•  "»iä-  ^  i*irit**ier.    eoeotio   »bOs   ab- 

-i:     *.  —   .  .     .^^    .     r  vwii  ÜTCn  kamer  vert: 


...   .  i  f  K\4 ,  iji»>  nrh.  Keimes: 


•  ^ 


^  I  ntj     H.?rTmaiiii  1,  9<.>. 
.  r .      .v..m«t4.>  Nt.  4:JS^.  iSlL 

.  •..  ij:r      Nt.  3S4-  479. 

. ..        -♦•».-         Vi'lfram. 

.«  d  j  .In     r^'f  riande  S.  55. 

.    .  ;  i::i  vai.L..    Bauen 


"T^i. 


»  • 


::.  u  >. 


4fi9 


Was  sol  ouch  ir  vil  süezer  name? 
waz  suln  ir  guotiu   cleider,         ob  si  diu  treit  ane  schäme? 
waz  sol  ir  wibes  gUete,         ob  si  sich  tugende  mit  uneren  wert? 

Waz  sol  ir  schcene,  clärheit  unt  ir  jagende? 
waz  sol,  ob  si  wil  alten  ane  tugende? 
waz  sol,  ist  si  nach  Gote  gebildet? 
ir  reinen  man,  ir  werden  wip, 
hazt  als6  schoenen  boesen  lip, 

A 

der  Schanden  zamt         unt  sich  gar  Eren  wildet^). 

Unter  dem  apokryphen  Namen  Gasts  ^)  sind  2  Strophen  über- 
liefert, die,  wie  Beinmars  sogen.  Fragepriamel  gebaut,  echtere 
Priamelmotive  verarbeiten:  der  Bitter  ,der  sin  tac  mit  laster  hie 
verzert^),'  der  Landesherr  ohne  Mute  (Gnade),  der  ungelehrte 
Priester,  ein  Kaufmann  ohne  Gewinn,  der  Jäger  ohne  Hund  und 
Hom. 

,  Waz  sol  ein  keiser  ane  reht,  ein  habest  an  barmunge? 

waz  sol  ein  kUnic  an  muten  muot,  waz  sol  ein  fürste  dn  schäm? 

waz  sol  ein  ungetriuwer  munt,  darinne  ein  valsche  zunge, 

diu  mangem  dicke  schaden  tuot?    si  macht  gesunden  lam. 

waz  sol  ein  graf,  der  niht  kan  tugende  walten? 

waz  sol  ein  frie,  der  sin  triuwe  niemer  wil  behalten? 

waz  sol  ein  richer  dienestman,  der  sich  nicht  schänden  wert? 

waz  sol  ein  ritter,  der  sin  tage  mit  laster  hie  verzert? 

Waz  sol  ein  schoenez  wip  gar  ane  tugent  und  an  ere? 
waz  sol  ein  landes  herre,  der  dekeine  milte  hat  ? 
waz  sol  ein  priester  ane  kunst  der  rehten  gotes  lere? 
waz  sol  ein  junger  ritter,  der  niht  ritterschaft  begat? 
waz  sol  ein  koufmann,  hat  er  niht  gewinne? 
waz  sulent  kloster  unde  bruoder  4n  die  wären  minne? 
waz  sol  ein  bürge,  der  niht  leisten  wil  dur  sinen  zorn? 
waz  sol  ein  jager  ane  guote  hunde  und  ane  ein  hom? 
waz  sol  ein  valkensere,  und  hat  er  niendert  vederspil? 
unnützer  ist  ein  kiinic,  ob  er  niht  rehte  rihten  wil^). 

Wie  sich  diese  Manier  in  der  Spruchdichtung  fortpflanzt,  hat 
Boethe  (S.  247  f.)  gezeigt,  und  wohin  derartige  Technik  steuert, 
lehren  meisteVsängerische  Nachahmungen  (Kolm.  Hs.  122,  150): 
in    blasse,    breitzerflossene   Bhetorik.     Die   Sprüche    des   Minne- 


')  Nr.  210.    Eoethe  S.  514.  209. 

3)  HMS  2,  260.    Roethe  S.  189.  240. 

^  Göttinger  Beiträge  2,  68.  Nr.  44. 

^)  Bartsch,  Die  Schweizer  Minnesänger  S.  161. 


470 


und  Meistergesanges  verhalten  sich  ähnlich  zum  Bosenplütschen 
Priamel  wie  die  Quatrains  zum  Priamelvierzeiler. 

Dagegen  weist  Eeinmars  97.  Spruch  mit  der  Steigerung  der 
Begriffe  muntvol,  hantvol,  schözvol,  malter,  mütte  auf  den  Priamel- 
fünfzeiler:  Ein  ei  ist  ein  muntvoP),  oder  wenigstens  die  darin 
enthaltene  BegriflFssteigerung:  Mundvoll,  Handvoll,  Schoßvoll, 
Nimmervoll  zurück.  Das  Motiv  gehört  also  dem  13.  Jahrhundert; 
es  ist  möglich,  daß  die  Zote  sich  in  diese  Klimax  erst  später 
eingedrängt  hat^).  Entfernt  klingt  Beinmars  Spruch  von  der 
Trunkenheit  (Nr.  111)  an  Freidanks  Vierzeiler  (94,  1),  sein 
190.  Spruch  an  den  Spruch  der  Bescheidenheit  22,  12  an. 

Wenn  der  Marner  die  zehn  Gebote  oder  die  sieben  Tod- 
sünden, das  Vaterunser,  das  Ave  Maria  zusammenreimt,  so  kommt 
dabei  weder  der  Bau  des  Stegreifgedichts  noch  die  Gattung  des 
späteren  Priamels  in  Frage.  Seine  Motive  sind  andrerseits  oft 
echt  priamelhaft:  zwei  Hunde  an  einem  Knochen  (VI  2),  des 
Reichen  Lüge,  des  Armen  Hoflfahrt,  des  Alten  Torheit^).     (X  18.) 

Sol  daz  heizen  guot,  daz  nie  man  hie  ze  guote  kumt? 

begraben  hört,  verborgen  sin,  der  werlte  vrumt 

alsam  der  iuweln  vluc, 

der  gires  smac,  des  raben  slunt,  des  aren  grif,  des  wolves  zuc, 

der  müggen  marc,  des  bremen  smalz  unt  des  loupvrosches  schre.    (X  9.) 

ZuRosenplüts  Spruch  von  der  Spothilt  genannten  Welt  ist 
eine  Strophe  Mamers  das  Gegenstück  (VI  3). 

üz  eime  herten  steine  zuker  billen, 
ald  üz  eim  vülen  holze  wahs  bern, 
wer  kan  dirre  werlte  nach  ir  willen 
sprechen,  aide  sinen  sanc  verzeren? 

Volkstümliche  Priamelmotive  und  -eflfekte  liebt  der  Tann- 
häuser. Freilich  steht  seine  Fischartsche  Freude  an  aufge- 
zähltem Wissenskram,  selbst  wenn  die  pointierte  Aufzählung  ans 
Priamel  erinnert,  auf  einem  andern  Blatt*).    Aber  einige  Strophen 


«)  Göttinger  Beiträge  2,  18.    Oben  S.  336. 
t  ')  Reinmar    meidet   bekanntlich    schon    den   durch   ,8un   von   boesen 
wiben'  umschriebenen  Ausdruck  (Rocthe  S.  284).  Beim  182.  und  195.  Spruche 
ist  der  Volksspruch  nicht  bis  zur  Unkenntlichkeit  zerstört.    Boethe  S.  245. 

3)  Strauch  z.  d.  St.  und  Loewer,  Patristische  Quellenstudien  S.  27f. 

*)  Roe  the  S.  317.  HMS.  2,  94a  4.    Im  allgemeinen  Erich  Schmidt, 
Charakteristiken  2,  24 — 50. 


471 


scheinen  in  ihrem  Bau  oder  inhaltlich  teilweise  späterer  Priamel- 
dichtung  zu  entsprechen.  Das  antithetische  Motiv,  auf  das  er 
zwei  Strophen  (2,  94b  1;  95b  2)  baut,  kehrt  in  einem  ebenso 
persönlich  gehaltenen  unsauberen  Priamel  Folzens')  wieder.  Das 
Motiv  des  überraschenden  Schlusses  ist  volksmäßig. 

Mei  Diendl  haßt  Nannerl, 
Hat  schneeweiße  Zahnerl, 
Hat  schneeweiße  Knie, 
Abr  gsegn  hab  is  nie  2). 

I  bin  wohl  a  Jaga. 
I  hab  wohl  a  Buchs, 
I  schiaß  aa  wohl  aufü, 
Aber  acha  fallt  nix  3). 

Ka  Straßn  ohne  Stan, 
Ka  Wald  ohne  Bam, 
Ka  Bue  ohne  Diendle, 
Krat  i  bin  allan^). 

Wiederkehr  ist  uns  beschieden 

Aus  dem  Wald  und  aus  der  Lichtung, 

Von  der  Wies  und  von  dem  Felde, 

Von  der  £bne,  von  der  Höhe, 

Von  dem  Berg  und  von  dem  Tale, 

Von  den  Teichen,  von  den  Sümpfen, 

Von  den  fahrvoll  engen  Sunden, 

Selbst  von  der  gewaltgen  Meerflut, 

Aber  nicht  aus  Monas  Reiche, 

Aus  dem  Schattenreich  der  Toten  ^). 

Eine  andre  Strophe  Tannhäusers  (2,  96  a  3)  verarbeitet  ein 
Motiv,  das  wir  schon  in  einem  mittelniederländischen  und  einem 
Nürnberger  Vierzeiler  verwandt  sahen  ^). 

Diu  schcenen  wip,  der  guote  win, 

diu  mursel  an  dem  morgen, 
unt  zwirent  in  der  wochen  baden,  daz  scheidet  mich  von  guote  u.  s.  w. 


1)  Göttinger  Beiträge  2,  76.  Nr.  60. 

2)  Pogatschnigg  und  Herrmann  1^,  19.  Nr.  90  mit  Variante.    Hör- 
mann, Schnaderhüpfeln'  S.  83.  Nr.  229. 

3)  Gundlach  S.  192.  Nr.  972. 

*)  Pogatschnigg  und  Herrmann  P,  1.  Nr.  4. 

^)  Altmann,  Bunen  S.  14. 

«)  Altdeutsche  Blätter  1,  76.  Nr.  23.    Göttinger  Beiträge  2,  60.  Nr.  30. 


472 


An  das  hnmoristiscbe  Bekenntnis  seiner  Arnint  (2,  96b  6) 
klingen  moderne  Vierzeiler  an.     Zum  Beispiel: 

I  kann  nimmer  fabrn. 
Der  Wagen  is  zschwar, 
Die  Rößlen  sein  mager, 
Der  Geldbeutel  lar*)! 

Die  StimmuDg  ist  die  des  Galgenhumors: 

S  Geld  han  i  versoffn, 
S  Mensch  han  i  vertan. 
Und  s  Gwantl  verfetzt, 
Was  fang  i  hiez  an^)^ 

Aus  is  mit  mir, 
und  mei  Flaus  hot  ka  Tür, 
und  mei  Tür  hot  ka  Schloß, 
und  mann  Schatz  bi  ich  los  3). 

Im  Grunde  denselben  vorzüglichen  Effekt,  wie  Folz  (Göttinger 
Beitr.  2,  80.  Nr.  68.),  erzielt  der  Unverzagte  mit  seinem 
Scheltspruch  auf  König  Rudolf*). 

Der  künic  Ruodolf  minnet  got  und  ist  an  triuwen  stsete, 

Der  kUnic  Ruodolf  hat  mangen  schänden  wol  versaget, 

Der  künic  Ruodolf  rihtet  wol  und  hazzet  valsche  rsete, 

Der  kUnic  Ruodolf  ist  ein  helt  an  tugenden  unverzaget, 

Der  künic  Ruodolf  eret  got  und  alle  werden  vrouwen, 

Der  künic  Ruodolf  lat  sich  dicke  in  höhen  eren  schouwen, 

Ich  gan  im  wol,  daz  im  nach  siner  milte  heil  geschiht: 

Der  meister  singen,  gigen,  sagen,  daz  hoert  er  gerne  —  und  git  in  drumbe  niht. 

Nachgeahmt  hat  den  Unverzagten  Stolle  in  seinem  Schelt- 
spruch: 


')  Gr e i n z-K ap f e r e r ,  Schnaderhüpfeln  1, 127.  Vergleiche  T ann hau s  er : 
,inin  malhe  ist  worden  lasr'. 

jinin  söumer  treit  ze  ringe  gar,  min  pfert  gät  ze  swaer'. 
Lied    des  Jobsen  aus  dem  Singspiel   Der  lustige  Schuster  von  Christian 
Felix  Weisse,   komponiert  von  Standfuß.    Friedländer,  Das  deutsche 
Lied  im  18.  Jh.  2,  254:  „Das  Geld  ist  versoffen,  der  Beutel  ist  leer". 

3)  Pogatschnigg  und  Herrmann  2, 43.  Nr.  171.   VergL2,  203.Nr.612. 
Hörmann,  Schnaderhüpfeln  ^  S.  27.  Nr.  72. 

3)  Dunger,  Rundas  Nr.  598.    Vergl.  Tannhäusers  Haus  ohne  Dach 
und  Stube  ohne  Tür. 

*)  HMS  3,45a  1.     VergL  3,5a  11.  2,  138a  HL     Boethe,  Reinmar 
S.  228.    Marner  XV  22.43, 


473 


Der  kiinec  von  R6me  ne  git  ouch  niht,  unde  hat  doch  küneges  guot. 

er  ne  git  ouch  niht,  er  ist  wserlich  rehte  also  ein  lewe  gemuot. 

er  ne  git  ouch  niht»  er  ist  kiusche  gar. 

er  ne  git  ouch  niht  unde  ist  doch  wandeis  eine. 

Er  ne  git  ouch  niht,  er  minnet  got  unde  eret  reiniu  wip. 

er  ne  git  ouch  niht,  ez  enwan  nie  man  s6  vollekomen  lip. 

er  ne  git  ouch  niht,  er  ist  schänden  bar. 

er  ne  git  ouch  niht,  er  ist  wis  unde  reine. 

Er  ne  git  ouch  niht,  er  rihtet  wol. 

er  ne  git  ouch  niht,  er  minnet  triuwe  und  dre. 

er  ne  git  ouch  niht,  er  ist  tugenden  vol. 

er  ne  git  ouch  leider  nieman  niht,  was  sol  der  rede  mere? 

er  ne  git  ouch  niht,  er  ist  ein  helt  mit  zUhten  wol  gemeit. 

er  ne  git  ouch  niht,  der  kiinec  Kuodolf, 

swaz  ieman  von  im  singet  oder  geseit*). 

Daß  die  Pointe  Stolle  besser  als  dem  unverzagten  ge- 
raten sei,  wird  man  allerdings  Seydel  schwerlich  zugeben.  Auch 
grobianische  Scherzlehren,  wie  der  9.  Spruch  StoUes,  das  aus 
älterer  Dichtung  wohlbekannte  gehäufte  ,sol^  verwendend,  sind 
als  Priamel  nicht  wohl  anzusehen: 

Swelch  junger  herre  balde  lop  unde  ere  erwerben  wil, 

der  sol  der  messe  unde  des  gebetes  ahten  niht  ze  vil« 

sin  nühtem  trunc,  sin  morgensegen, 

slint  er  den  vruo,  wie  mac  im  misselingen? 

Ein  junger  herre  vaste  liegen  unde  triegen  sol, 

ot  vil  gedrewen,  unt  lUtzel  tuon  daz  zirat  im  allez  wol. 

er  sol  ouch  boescr  worte  phlegen, 

nach  lotere  unde  nach  huore  vaste  ringen. 

Er  sol  undaeres  gruozes  sin 

unde  über  dem  tische  jsemerlich  gebaren. 

die  guoten  spise  unde  ouch  den  win 

sol  er  vermüchen  darzuo  sol  er  eines  winkeis  varen. 

meineide  unde  ouch  unendelich,  daz  ist  allez  wol  getan; 

den  vriunden  wolf,  den  vienden  schaf, 

unt  sine  diener  in  den  nceten  lan^). 

Als  wirkliche  ,Priarael'  wird  von  Seydel  StoUes  26.  Ge- 
dicht angesprochen. 

Ich  weiz  wol  wanne  min  armuot  ein  ende  haben  sol: 
s6  herzöge  Meinhart  Kerntenlant  vermildet  unde  Tirol, 


^)  Seydel,   Meister  Stolle  nach  der  Jenaer  Handschrift.    Dissertation 
Leipzig  1892.  S.  78.  Nr.  10;  vergl.  S.  65. 
*)  Seydel  Nr.  9.  S.  78;  vergl.  S.  65. 


474 


unde  der  giege  üz  Osterlant 

umbe  ere  gibet  die  guoten  stat  ze  Wiene. 

S6  herzöge  Heinrich  von  Bcierlant  oiht  me  milte  enphliget, 

so  der  kUnec  Ruodolf  deme  soldan  an  gesiget, 

unde  der  Swarzwalt  wirt  verbrant, 

unde  daz  mer  gevUUet  wirt  mit  griene. 

So  WUrzeburc  niht  wines  hat, 

unde  alliu  wazzer  werdent  vische  laere; 

so  zucker  wirt  eines  Juden  quat, 

unde  alten  hoverehten  wibes  minne  vreudebaere. 

s6  der  bischof  von  Strazburc  Kuonrät  blibet  ane  nit, 

unde  der  vUrste  wert  von  Baden 

die  alten  Ebersteine  durh  vorht  üf  git*). 

Näher  als  dem  Priamel  steht  dieser  Spruch  jedenfalls  der 
LügendichtuDg  von  unmöglichen  Dingen^).  Boppes  merkwürdige 
Poesie  ist  wie  die  der  Galanten  und  mittelalterliclie  Spruchdichtunp: 
der  Romanen  der  beste  Beleg  dafür,  daß  auch  unabhängig  vom 
Priamel  stilistisch  ähnliche  Erscheinungen  üppig  gedeihen  können. 
Und  doch  scheiden  sie  sich  glatt  von  dem  deutschen  Volksspruche, 
wenn  auch  Anklänge  nicht  zu  verkennen  sind.  Für  Boppe,  den 
Schüler  des  Tannhäusers,  den  ,,Fanatikür  der  Häufung^,  bei  dem 
die  Aufzählungsmanier  ^)  ^nahezu  das  herrschende  ästhetische 
Princip  geworden  ist,"  hat  die  Kunsttradition  Roethe  nachgewiesen. 
Die  altfranzösischen  Balladendichter  führt  der  Refrain^),  die  Galanten 
die  Lehre  von  der  geistreichen  epigrammatischen  Pointe  *),  manche 
Madrigalisten  die  zu  behandelnde  Sentenz  ^)  zu  gleich  ermüdendem 
Verfahren. 

Boppes  erstes  Gedicht  fordert  den  Vergleich  mit  einem 
Folzischen  Priamel  heraus.  Beide  malen  sich  Ideale  aus,  beide 
schließen  mit  fragendem  Ausruf.  Boppe  vergegenwärtigt  Macht, 
Kraft,  Gewalt,  Glück  dieser  Welt,  Besitz  eines  schönen,  tugend- 
haften Weibes,  um  dann  zu  fragen: 

waz  wsere  ez  danne,  und  ob  er  niht  erwürbe  Gotes  hulde^}. 


1)  Seydel  S.  87;  vergl.  S.  64. 

2)  Uhland,  Volkslieder  3^,  161  ff. 

^  Auch  volksmäßige  Nürnberger  Dialektdichtung  übt  sie  im  Princip. 
Am  längsten  Die  Leipziger  Messe  von  W.  Marx,  's  Gänsemandla.  Nürn- 
berg 1887.  I  6, 1. 

*)  G.  Paris,  Villon  S.  103.        ^)  Q¥  56,  106  ff.  120. 

«)  Vossler,  Das  Madrigal  S.  76  ff.         ')  HMS  2,  377b. 


475 


Solche  Gesinnung  lobten  Hugo  von  Trimberg  (21084  flf.) 
wie  der  Verfasser  der  Helbling-Satiren  (1,  105—22).  Wie  völlig 
hat  sich  das  im  15.  Jahrhundert  mit  der  Entwicklung  des 
modernen  Bewußtseins  geändert,  wenn  man  sagen  konnte:  ,0b 
mich  got  selb  solt  füren  zu  himmelreich  mit  sei  und  leib,  ee 
wolt  ich  bei  dem  schönen  weih  hie  ufiF  erden  beleihen'^)!  und 
das  Volk  hat  wohl  immer  so  gedacht^).  Folz^)  schließt  die 
Ausmalung  des  häuslichen  Glücks,  bei  dem  Essen  und  Trinken 
die  Hauptrolle  spielen,  mit  der  Frage:  ,Solt  der  nit  gern  auf 
erden  leben'?  Die  Bhetorik  des  ersten  Spruches  verwendet  Boppe 
auch  im  zweiten,  der  ähnlich  gerät*).  Ein  drittes  Mal  setzt  er 
in  derselben  Weise  das  Geld  in  Gegensatz  zu  sonstigen  Vorzügen, 
(21)  in  ümkehrung  eines  späteren  Priamelmotivs  (Göttinger  Bei- 
träge 2,  18);  ein  viertes  Mal  (22)  wird  Frauengunst  als  Pointe 
verwandt,  ohne  aber  die  Hauptsache  zu  sein^).  Dann  erklingt 
(3.  4.  19.)  z.  B.  in  den  berüchtigten  anaphorischen  Reihen  Lob 
der  Milte  und  der  Barmunge,  Tadel  der  Kerge^);  ein  unerfreu- 
liches Verfahren,  dem  Folz  wieder  verfällt,  aber  ohne  an  die 
strophische  Spruchdichtung  anzuknüpfen;  Quelle  und  Vorbild 
war  ihm  die  Reimpaar-Didaktik.  Litaneiartig  werden  Anrufungen 
Gottes  und  der  heiligen  Jungfrau  (13.  17.  27.)  gehäuft.  Noch 
weiter  ab  von  priamelartiger  Dichtung  liegen  die  von  Eoethe 
gekennzeichneten  Aufzählungen^).  Gehäufte  Umschreibungen  für 
Nimmer  (2,  384b  IV.  385b  VIH  1—5)  teilt  Boppe  mit  dem 
Priamel  und  der  sonstigen  Volksdichtung  0),  ohne  daß  besondre 
Verwandtschaft  einzelner  Motive  hervorzuheben  wäre.  Das  glück- 
liche stilistische  Arrangement,  das  Kanzler  seinen  Registern  zu 
geben  weiß^),  erinnert  in  seiner  Wirkung  mitunter  an  die  des 
Priamels;  z.  B. 


1)  Hätzlerin  2,  57,  208  ff. 

^)  Altdeutsche  Blätter  1,  75.    Vriont  van   trouwen.    Ebenso  die  Vier- 
zeilerliteratur.    GundlachNo.  163.  205.    von  Padbcrg,  Inschriften ' S. 93. 
3)  Göttinger  Beiträge  2,  79.  Nr.  65. 
<)  2,  377  b,  f. 
*)  Roethe  S.  208.  199.   Johann  von  Rinkenberg  1,  341a.  14.  15. 

6)  Kanzler  2,  399a.  18.  19.  20.    Roethe  S.  309  jff. 

7)  317  f. 

8)  Hauffen,  Die  deutsche  Sprachinsel.    Gottschee  S.  168  ff. 

9)  Roethe  S.  317. 


47fi 


In  steten,  üf  bürgen  widerpart, 
geistlicher  liute  nit  und  haz, 
bi  wiser  l^re  unwisiu  tat, 
bi  krefte  ein  zager  muot, 
roup  unde  brant  üf  gotes  vart, 
an  valscbe  snel,  an  rehte  laz, 
adel  äne  tugent,  jugent  äne  rät, 
äne  ere  gr6zez  guot: 
sus  ist  gestalt  der  argen  vltz^). 

Baumsland  umschreibt  einmal  den  Salomonischen  Anspruch 
über  alte  Toren,  reiche  Lügner  und  hoffährtige  Bettler.  Während 
sonst  dieser  biblische  Spruch  ein  rechter  Volksspruch  geworden 
ist,  zeigt  Baumsland  noch  kaum  eine  Spur  davon. 

Der  kUnic  Salomdn  gewaltic  unde  rieb, 

der  wfse  man,  er  sprach:    »ez  ist  unlobelich, 

daz  sich  ein  alter  man  ze  t6ren  machet; 

Daz  ouch  des  riehen  mannes  wort  ist  vil  gelogen, 

der  habe  undanc,  arm  man  h6chvertic  unde  betrogen: 

der  drier  bände  liute  sselde  swachet.« 

Got  ist  in  sunderlichen  gram,  den  alten  t6ren,  riehen  lUgenseren; 

des  armen  menschen  h6chvart,  der  ez  niht  wol  vermac, 

der  lidet  in  der  werlde  mangen  swaeren  tac: 

nach  irme  t6de  lit  ir  sele  in  swaeren'). 

Ebensowenig  priamelhaft  fällt  die  Umschreibung  anderer 
biblischer  Spruchmotive  durch  Frauenlob  aus,  der  „noch  einmal 
die  ganzen  Stoffe  der  früheren  Spruchdichtung  vor  uns  ausbreitet  'j. 
Im  Bau  priamelartiger  Strophen  geht  er  über  das,  was  frühere 
Spruchdichtnng  derart  bereits  versucht  hatte,  wesentlich  nicht 
hinaus.  Trotz  seiner  überproduktiven  Phantasie^)  sind  die  Bei- 
spiele, mit  denen  er  priamelhafte  Motive  ausgestaltet,  oft  mühsam 
abstrahiert  und  entspringen  weniger  der  Anschauung  als  Reflexion. 
So  das  Thema  ,Alles  nach  seiner  Art/ 

Ein  hane  sol  kren,  ein  bunt  sol  bellen,  kerrn  ein  swin 

nach  dünken  min: 

s6  sol  ein  lewe  limmen 

und  der  ber  sol  brimmen. 


»)  HMS  2,  397b  8. 

^  HMS  3,  54a  3.  Ähnlich  Bruder  Wernher  2,  230b  16.  Zingerle 
S.  70. 

3)  Roethe  8.  350.  246  f.  Vergl.  z.  B.  Freidank  128,  6  ff.  mit  Frauen- 
lob 3,  118a  31.        «)  Roethe  8.  274. 


477 


dem  ochsen  lUn,  dem  rosse  zimt  weien  Dach  der  stimmen. 

wie  sol  des  esels  lüten  sin,  s6  gouchen  zimt  dem  gouche? 

Ein  smit  sol  smiden,  ein  bader  baden,  ein  jager  jagen, 

ein  trager  tragen, 

ein  mdler  bilde  zirken; 

sar  den  sarewirken 

zimt  eben:    der  kneht  zu  dienste  pflege  beidenthalp  der  lirken. 

dem  muncbe  zimt  sin  kl6ster  baz  dan  er  zu  höbe  sich  ouche. 

Dem  priester  ist  priesterschaft  gegeben, 

dem  ritter  ritterlichez  leben, 

dem  weber  weben. 

swa  man  liez  eben 

daz  diqc  nach  siner  art  bekleben, 

s6  kern  ez  niht  üf  widerstreben. 

der  hof  n4ch  unart  verwet  sich  alsam  der  verst  nach  rouche^). 

Ebenso  gestaltet  er  das  Motiv  vom  Schicklichen: 

Ein  jager  sol  wol  jagende  hunde  haben  wert: 

man  roüz  die  pfert 

durch  riten  haben  in  wirde, 

durch  des  libes  zirde 

stein  unde  golt  und  edel  wat;    durch  ein  teil  bcgirde 

daz  vederspil  man  sch6ne  ernert:   man  heget  den  visch  durch   niezen. 

ein  bischof  zimt 

swa  man  sol  kirchen  wien. 

sol  der  schuz  gedien, 

man  müz  den  bogen  e  schicken  eben,  nach  h6hen  prise  vrien 

müz  man  mit  tugent:    der  sluzztl  vromt,  swd  man  sol  sl6z  üf  sliezen. 

Sam  hört  zu  ritterlicher  tat 

ein  ritter  wol  und  ouch  sin  rat. 

swer  sorge  hat 

üf  ernstes  pfat, 

der  darf  wol  helde,  swennz  ergat 

daz  sich  der  heim  üf  binden  lät. 

ich  wene  eins  biderben  mannes  tat  sich  niemen  Idt  verdriezen  ^). 

Durch  gehäufte  Beispiele  werden  in  anderen  Spruchreihen 
Sätze  erhärtet  wie:  ,ein  zltlich  zit  sich  tempert  mit  gezierde^ 
(Nr.  2G8)  oder  ,diu  zuht  ist  blint,  diu  sich  ir  selbe  riuwet*  (Nr.  269). 
Die  sogenannte  Fragepriamel  ist  bei  Frauenlob  stark  entwickelt  ^). 


*)  Bartsch,   Liederdichter ^  248,  55.;    vergl.  Meisterlieder  Nr.  22. 

2)  Bartsch,  Liederdichter  3  249,  93. 

3)  Roethe  S.  247. 


478 


Auf  einen   vierzeiligen  Volksspruch  seheinen  die  Verse  zurückzu- 
gehen : 

Mit  jungen  junc,  mit  alten  alt, 

mit  snellen  balt, 

mit  vrevelen  vrech,  mit  hübschen  wolgestalt, 

ie  nach  der  zit  sol  man  daz  wegen  *). 

Als  die  beste  „ganz  streng  gestaltete*^  Priamel  Frauenlobs 
gilt^)  der  394.  Spruch. 

Künde  ich  den  tac  mit  secken  in  gevüeren, 

vieng  ich  den  wint  in  stricken  und  in  snUeren, 

und  schepfte  ich  waszer  mit  eim  sibe 
als  vil  es  mich  benuocte; 
Sset  ich  daz  körn  in  dorne  und  ouch  in  steine, 

möht  sich  z  gevUegen,  min  sniden  würde  kleine : 

swer  boesen  herren  dienen  muoz, 
des  heil  sich  Uberbuocte. 

Vil  minner  nutzes  im  geschiht 

als  einem,  der  vil  veiles  siht, 

unt  hat  sin  niht  ze  gelten : 

er  nimt  der  ougen  lust  mit  dem  gesihte  do: 

in  boeser  herren  dienste  wirt  man  selten  vro, 

unt  wirt  ouch  nimmer  kumbers  buoz 
von  in,  daz  hoere  ich  selten. 

Als  Priamel  hätte  der  Spruch  nicht  geringe  Mängel;  die 
Durchführung  erlahmt  schon  vor  der  Mitte,  und  was  dann  folgt, 
ist  nicht  mehr  priamelhaft  gebaut;  der  abschließende  Satz:  ,m!n 
sniden  würde  kleine^  kann  übrigens  auch  nicht  recht  in  Beziehung 
zum  Anfang  gesetzt  werden  und  paßt  nur  zum  Säen.  Kegel- 
mäßiger  sind  zwei  hier  sich  anschließende  Strophen  der  Kolmarer 
Hs.  (39)  gebaut: 

Künd  ich  daz  fiur  in  wazzer  wol  bestseten, 

künd  ich  daz  körn  wol  sniden  vor  den  saeten, 

trüeg  ich  den  regenbogen  dar  den  Hüten  an  die  Straten; 

Künd  ich  den  sne  geherten  in  den  henden, 

künd  ich  den  künic  von  Ungern  her  gepfenden, 

und  wiste  ich  aller  liute  sin,  die  maze  und  ouch  unmaze; 

Künd  ich  den  sunnenglanz  erwern, 

den  siechen  von  dem  tode  emem, 

künd  ich  varn  in  den  lüften, 

und  künd  ich  zouberie  me  wan  Filius, 


1)  HMS  3,  153b  5.        «)  Eoethe  S.  246. 


479 


künd  ich  mir  selbe  glücke  wünschen  scbepfen  sus: 

so  füere  ich  in  der  weite  hin  und  wolte  froelich  güften. 

Künd  ich  mir  üf  den  regenbogen  hüsen, 

künd  ich  mir  für  die  starken  winde  süsen, 

und  künde  ich  über  mere  jagen  mich  selben  äne  kiele; 

Künd  ich  daz  golt  gesmelzen  üz  den  steinen, 

künd  ich  die  boesen  scheiden  üz  den  reinen, 

traet  ich  üf  eines  tracken  zagel,  er  slünd  mich  in  den  giele; 

Der  herinc  vanc  waer  mir  wol  kunt, 

und  künde  ich  aller  wazzer  grünt 

gewaten  ane  schiffe; 

west  ich  dann  aller  wiser  pfafFen  meisterschaft, 

und  het  ouch  dar  zuo  aller  starken  helde  kraft: 

Dannoch  s6  waer  der  t6t  min  hagel,  swann  er  mich  nu  ergriffe. 

Vier  unechte  Eeinmarsprüche  (303—306)  der  Spiegel- 
weise, die  in  der  Kolmarer  und  Wiltener  Meistersänge r- Hand- 
schrift überliefert,  einen  mitteldeutschen  Dichter  zum  Verfasser 
haben*),  kommen  dem  Priamel  recht  nahe. 

Es  sol  ein  frunt  mit  frunde  iiit  vil  bagen, 
es  sol  kein  priester  in  der  bicht         zu  tieff  nach  sunden  fragen, 
es  sol  nit  krancke  meinsterschaft         mit  Juden  disputieren; 

Es  sol  kein  man  sin  gut  mit  wucher  riehen 
man  sol  die  frommen,  wie  die  sin,         zun  bösen  nit  geliehen, 
ein  junger  man  sol  sinen  lip         mit  züchten  schone  zieren; 
Die  wisen  soln  von  torheit  lan, 
dem  rechten  sol  man  bi  gestan 
werlich  zu  allen  stunden; 
vor  schänden  soln  behüten  sich  die  werden, 
nach  eren  sol  ein  iglich  man         schon  werben  hie  uff  erden: 
wer  daz  nu  tut,  der  gewint  daz  lop         vor  gesten  und  vor  künden^). 

Die  gehäuften  Vorschriften  mit:  ,es  sol'  würden  an  sich  gar 
nicht  priamelhaft  sein;  erst  der  Schlußsatz  gibt  die  Abrundung. 
Das  Disputieren  mit  Juden  kommt  in  späterer  Priameldich- 
tung  vor').     Strenger  gebaut  ist  der  zweite  Spruch  (304). 

Wo  hohes  adel  sich  an  tugenden  swachet, 
wo  frundes  munt  sins  herczenlieben  frundes  leit  erlachet, 
wo  junger  man  die  sine  zit         on  ere  gar  verswendet. 

Wo  wiplich  bild  ir  wiplich  nam  enteret, 
wo  junger  man  tag  unde  nacht         das  beste  nit  enleret, 
wo  milte  hant  dorch  falschen  rat         dem  armen  nit  ensendet, 


1)  Eoethe  S.  173.  175.        •^)  Roethe  S.  559. 
3)  Göttinger  Beiträge  2,  71.  Nr.  51,  13  ff. 


4S6 


Wo  geistlich  ordn  unrechtes  pfligt, 
wo  kunterfei  in  herczen  ligt, 
wo  zag  stat  hinder  schilte, 
wo  liebes  kint  den  vatter  sin  betraget 

und  wer  eiro  andern  nimpt  sin  gut         und  zu  dem-  sinen  buget, 
hört  ich  den  allen  sprechen  wol,         ir  lobes  mich  bevilte. 

Weniger  abstrakt  und  ohne  Zweifel  von  allen  vier  am  besten 
gelungen  ist  der  dritte  Spruch,  der  nicht  nur  (1.  6.  7.)  spätere 
Friamelmotive,  sondern  auch  einen  halb  humoristischen  Schluß 
wie  Bosenplüt  in  seinem  Schreiberpriamel  verwendet. 

Wer  zeiget  kunst,  da  man  ir  nit  erkennet, 
wer  ungezempte  junge  ros         unkundic  vurte  rennet, 
wer  lange  krieget  wider  recht.         wer  vil  verstolens  kauffet, 

Wer  vil  mit  sinen  nachgeburcn  baget, 
wer  unverwissenlichen  gar         die  ungezogenen  fraget, 
wer  streichet  dicke  fromden  hunt,         wer  alte  Juden  tauffet. 

Wer  dienet,  da  man  sin  nit  gert, 

wer  sich  mit  lugen  wil  machen  wert, 

wer  spottet  vil  der  alten, 
wer  uff  die  ferren  frunt  zu  sere  fidet, 

wer  sin  getruwes  elich  trut         dorch  falsche  minne  vermidet, 

sol  es  dem  alles  wol  ergan,         des  mus  Gelucke  walten! 

Der  letzte  dieser  Sprüche  (306)  zeigt,  indem  er  in  der 
Mitte  (6)  abbricht,  daß  es  auf  priamelhafte  Wirkung  wieder  nicht 
abgesehen  ist. 

Wer  wis  wil  sin  und  dörlichen  gebaret, 
wer  sich  des  rechten  wol  verstat         und  er  unrechtes  faret, 
wer  frauwen  übel  sprichet  vil         und  selten  tut  daz  beste. 

Wer  nit  enfolgt  getruwes  frundes  lere, 
und  wer  ein  andern  nit  erlat,         dez  er  gern  erlossen  were, 
und  wer  nit  meinstert  sinen  munt,         es  rUt  in  an  dem  lesten. 

Wer  sinem  recht  unrechte  tut, 
wer  straffen  wil  nit  han  vergut, 
wer  sich  zum  bösen  gesellet, 
wer  leschen  wil  und  daz  in  nit  enbrennet, 
und  wer  wecket  slaffenden  hunt,         sich  selben  nit  erkennet, 
daz  sol  niemanne  wunder  han,         ob  es  im  missevellet. 

Drei  Sprüche  der  Wil  teuer  Handschrift^)  scheinen  diesem 
mitteldeutschen    Dichter   verpflichtet^);    insofern    sie    priamelhaft 


')  Germania  5,  44.  Mehrfach  verdorben  (1,  15.  17.  2,  11.  3,  14). 
3)  1,  18  =  Ps.  Reinmar  305,  12.  3,  14  =  306,  11. 


'481 

sind,  folgen  sie  sämtlich  dem  3.  Spruch  (305).  Ihr  Inhalt  ent- 
spricht oft  dem  der  besten  Priameldichtung.  Da  wird  ein  Ziegel 
gewaschen,  daß  er  weiß  werden  soll,  eine  Krähe  gebadet,  ein 
leichtfertiges  Weib  gehütet,  in  der  Beichte  gelogen,  mit  Wölfen 
Schafe  gehütet,  ohne  Geld  gekauft  u.  s.  f.^). 

Im  allgemeinen  dürfte  den  oft  gequälten  Erzeugnissen  dieser 
Kunst  ^)  eher  der  Maßstab  der  galanten  Lyrik  und  der  halbgelehrten 
Poeterei  des  17.  Jahrhunderts  gemäß  sein,  als  der  des  Priamels. 
Ein  direkter  Zusammenhang  mit  dem  Priamel-Vplksspruch  ist  denn 
auch,  von  der  inhaltlichen  Grundlage  abgesehen,  selten  zu  kon- 
statieren. Die  Madrigalisten  geraten  bei  der  Jagd  nach  der  Pointe 
auf  Formen,  die  man  dann  mit  mehr  Becht  Priamel  nennen  müßte, 
als  die  meisten  Sprüche  ihrer  mittelhochdeutschen  Kollegen  der 
Spätzeit.    Steigernd  ist  ein  Madrigal  Henrich  Bredelous  gebaut: 

Ein  kleiner  Knab  tragt  keinen  Baicken. 

Ein   Sperling  schertzet  nicht  mit  Falcken. 

Ein  Lamm  darff  sich  nicht  unter  Löwen  mengen  ) 

l^liegt  eine  Muck  ans  Licht  so  muß  sie  sich  versengen. 

Ein  ider  sol  sein  Thun  abwarten  | 

Sonst  ist  es  leicht  um  ihn  geschehn. 

Mit  einem  Fürsten  soltu  gar  nicht  karten  | 

Du  habst  ihm  denn  zuvor  ins  Spiel  gesehn ^). 

Mit  mhd.  Strophen  teilen  die  Madrigale  Bedauns  den 
zweifelhaften  Vorzug  musikalischer  Komposition.  Johann  Georg 
Bedaun  komponierte  sie  selbst.     Ein  Beispiel: 

Man  kennt  den  TopfF  am  Klang: 

Den  Vogel  am  Gesang: 

Den  Menschen  macht  die  Rede  kund. 

Der  Hund  sagt  |  das  er  hauset  | . 

Die  Katz  sagt  |  das  sie  mauset  | 

Ein  Guckug  nennt  sich  uns  verständlich. 

1)  3,  15  f.  entspricht  GA.  35,  1  f. 

2)  Inwiefern  etwa  Einwirkung  des  Rosenplütschen  Priamels  im 
Meistergesänge  vorliegt,  wäre  später  zu  erwägen. 

3)  Henrichs  Bredelou  (Von  Königsberg  aus  Preussen)  Neue  Madri- 
galen. (Nachher  in  den  Seiten-Überschriften  auch:  „Allerhand  Madrigaliien") . 
Helmstädt  1689.  S.  16.  Nr.  21.  Cum  Leonibus  non  est  jocandum.  Vergl. 
Nr.  38.  S.  29.  über  die  Kompositionsweise  Vossler  S.  75  ff.  Künstlerische 
Dürftigkeit  gerät  beim  Marner  und  bei  Frauenlob  zu  demselben  Ziel. 
Roethehat  die  Art  S.  245  besprochen.        > 

Euling,  Priamel  31 


482 


Sogar  kamt  inaii  das  Tliicr  an 

Wer  sdilodlidi  icdr  |  lebt  mostenflieOs  aadi  triandliHi. 

Red  bringet  Ehr  |  Red  bringet  Sdiande  | 

Narhdrm  die  Zong  ist  in  dem  Bande. 

Es  Bsaet  sich  ein  fiud  |  mbrochen  Ey  abvisciien: 

^n  £nd  GeschwäUz  ^  Gemisdi 

Wisdit  ab  kein  Todi  |  kein  Flcdcrwisdi  >>. 

All  Vierzeilern  fehlt  es  sdieinbar  auch  nicht    Bredeloas 
Nr.  8  endet  (S.  7)  wie  ein  Vierzeflei  des  Typus  C: 

Der  Klugheit  sind  viel  Arten  | 

Canindien  die  sind  kfaig  |  dodi  schaden  sie  den  Hinsetn  | 
Ein  Has  ist  kli^  Tor  sich  |  doch  scliadt  er  Kohl  nnd  Reisern. 
Ein  Maolwmff  anch  |  allein  er  notxct  nicht  dem  Garten. 

Nicht  anders  in  den  Heisterliedem   der  Kofanarer  Hs.  (63, 
14  fL)^. 

Nu  weite  got  daz  alle  wazcer  beten  stqpe, 

nn  wolte  got  daz  niemer  r^en  kaeme  in  wege, 

nn  wolte  got  al  onser  sele  haben  in  pflege: 

daz  wanc  ein  wmisch  der  waer  so  gnot:   waz  möhte  dem  wnnsdi   geHdien! 


Na  woUe  got  daz  nieman  wilrd  Ton  alter  kranc, 
nn  wolte  got  daz  nieman  titt^  sm  armoot  lanc, 
nn  wolte  got  daz  nieman  het  kein  boesen  danc: 
s6  fber  din  sele  in  aigen  list  inz  fr6ne  himebfdie'). 

und  doch  wird  man  geneigt  sein,  in  solchen  Kuns^rodakten 
fast  das  Widerspiel  des  echten  Stegrei^edichtes  za  sehen. 

Auf  priamelhafte  Oestaltang  Ton  mehr  oder  weniger  allge- 
meinen LebensYorschriften  ist  bereits  Kap.  IV  S.  118  hingewiesen. 
Zwei  hier  in  Betracht  kommende  Fassungen  vergleidie  man  schließ- 
lich mit  den  einfachen  Priamelsprüchen;  die  erste  entstammt  einer 
Leipziger,  die  andre  der  Kolmarer  Handschrift. 


>)  y oßler  S.  78.  Genau  so  der  unechte  Mamenprach  HHS.  3, 442a  2. 
Kohn.  Hs.  94.    YgL  Meissner  HHS.  3,  86b  5. 

>)  Zn  S.  261,  15—19  yergL  Göttinger  Beiträge  2,  18. 

*)  Boethe  zu  Bein  mar  54,  1.  Anch  andre  TolksmSßige,  gelegentlich 
priamelliafte  Motive  sind  im  Meistergesang  verarbeitet :  Nr.  22  ,olmeS  28, 39 
Fiktion  der  hypothetischen  Lage  (Boethe  S.  199  f.),  56,  181  Der  Priester 
beim  Opfergang  (Gott.  Beitr.  2,  53.  Nr.  15.  Franz,  Die  Messe  im  deutschen 
Mittelalter.  Freibarg  1902.  Index  s.  t.  Opfergaben.  Yintler  7269  ff.), 
weibliche  Eigenschaften  60, 1  ff.  (Gott  Beitr.  2,  81.  Nr.  71  L)  o.  a. 


483 

Kiusche  in  der  jugent, 
erbarmik  in  gewalde, 
milde  in  der  tugent, 
unt  guotes  muotes  rieh 
5     In  zorne  zühtik(liche), 
willich  in  einvalde, 
stsete  in  der  triuwen, 
unnidik  Umbe  sich, 
10     zegelich  ze  alre  missetsete, 

ze  guoter  tat  kuene  unde  halt: 

swer  daz  allez  an  im  hsete,    • 

der  diuhte  mich  ze  minnen  wol  gestalt^). 

Ze  kirchen,  obe  dem  tische  und  an  dem  tanze 

und  in  dem  bade  zuht  zieret  wol  ze  kränze, 

zuht  zieret  umbe  und  umbe  wol,  noch  baz  an  den  vier  enden. 

Ze  kirchen  sol  man  pflegen  gotes  gUete 
5     und  obe  dem  tische  haben  fri  gemUete: 

sus  zieret  in  dem  bade  schäm,  dax  brUeven  die  behenden. 

Zuht  zieret  umbe  und  umbe  wol 
swd  man  die  spise  niezen  sol 
nach  gotes  handelungen. 

Ans  dem  sonst  sich  ins  allgemeine  wendenden  Spruche  sei 
noch  hervorgehoben: 

19     Kiusch  an  dem  bet,  schäm  in  dem  bat, 
zuht  ob  dem  tisch,  daz  ist  min  rat, 
al  hdchvart  soltu  miden. 

Preis  der  zuht  und  mäze  schließen  das  Gedicht^). 

Wir  haben  hier  doch  wohl  eine  parallele,  nicht  identische 
Entwicklung  auf  volkstümlichen,  wenn  auch  durch  lateinische 
Merkverse  beeinflußten,  Grundlagen  zu  sehen. 

Wenn  man  das  klassische  Priamelgedicht  zum  Ausgangspunkt 
der  Beurteilung  nimmt  und  die  hier  vorgeschlagene  entwicklungs- 
geschichtliche Bewertung  der  priamelartigen  Formen  des  Minne- 
und  Meistergesangs  in  der  Hauptsache  nicht  für  verfehlt  hält,  so 
ergäbe  sich  daraus,  daß  die  wissenschaftliche  Literaturgeschichte 
eigentlich  aufhören  müßte,  beim  Minne-  und  Meistergesang  von 
Priamel  als  selbständiger  Dichtungsart  zu  reden. 

1)  HMS  3,  419  XL    Vgl.  Vintler  5089  ff.    Wiener  Hs.  3027,  332b. 

2)  Kolm.  Hs.  Nr.  40. 

31*        ' 


IX. 

Hans  RosenplÜt 

Formen  werden  nicht  geschaffen,  sondern  sie 
entstehen  nnd  wachsen.  Der  schöpferische  Künst- 
ler erzengt  sie  nicht,  sondern  bildet  das  Über- 
kommene veredelnd  nm.  Usener. 

1.  Rosenplüt  und  Nürnberg;  seine  spezifische  Begabung  für  das  Priamel; 
Fastnachtsspiel  und  Improvisation.  —  2.  Priamel-Stoffe  und  -Motive.  —  3.  Bau 
des  klassischen  Priamels.     Witz,    Humor,   Pointe,   Satire.     Vortrag,  Nachwirkung. 

1. 

Eine  des  Zieles  sichere  Weiterbildung  des  alten  Stegreif- 
gedichtes über  den  Vierzeiler  und  die  ungeregelte  längere  Beim- 
paarreihe  hinaus,  eine  Entwicklung  zur  literarischen  Gattung 
vermochte  weder  die  Keimpaar- Didaktik  noch  Minne-  oder  Meister- 
gesang aus  sich  hervorzubringen;  Hans  Bosenplüt  war  es  vor- 
behalten, der  Klassiker  des  Priamels  zu  werden. 

Die  Aufgabe  des  künftigen  Bosenplüt- Biographen  ist  be- 
neidenswert. Eigentlich  der  erste  Dichter  deutschen  Bürgertums: 
nicht  nur  ein  Vorzünder  des  Hans  Sachs,  wie  Gottfried  Keller 
sagt  (der  ihn  denn  auch  im  Maskenzuge  als  kleines  krummbuck- 
liches  Männchen  mit  der  Klystierspritze  unterm  Arm  auftreten 
läßt),  sondern  ohne  Zweifel  sogar  origineller  und  frischer,  kräftiger 
und  eigenrichtiger  als  die  beiden  andern  großen  Nürnberger  Hanse, 
Hans  Folz  und  Hans  Sachs:  wird  Bosenplüt  denn  doch  far 
Deutschland  ein  ähnliches  Interesse  in  Anspruch  nehmen  dürfen, 
wie  es  in  Frankreich  Gaston  Paris  durch  seine  meisterhafte 
Biographie  des  französischen  Galgenschwengels  Fran9ois  Villon, 
oder  Schipper  für  Dunbar,  Hoepffner  und  Baynaud  für 
Eustache  Deschamps,  jeder  in  seiner  Art  befriedigt  hat   Frei- 


485 


lieh  so  persönliche  Poesie,  wie  der  verbummelte  maitre  fes  arts 
geschaffen,  der,  mehrmals  dem  Hängen  nahe,  allerdings  die  indi- 
viduellsten Lagen  kennen  gelernt,  sind  Bosenplüts  Gedichte  nicht. 
Viel  Minderwertiges  steckt  auch  darunter;  Nürnberg  war  kein 
Paris,  die  fröhliche  Bande  der  Basochiens  und  clercs  de  Paris  kein 
Handwerker  -  Publikum ,  Bosenpiüt  sicher  kein  Gelehrter,  kein 
Humanist,  kein  Opfer  wundersamer  Lebensläufe,  keine  so  leiden- 
schaftliche dichterische  Persönlichkeit  wie  Fran9ois  Vi  Hon. 
Aber  wenn  Bosenplüts  Poesie  auch  nicht  die  Bedeutung  für  die 
Weltliteratur  hat,  wie  die  des  Pariser  enfant  perdu,  so  ist  sie 
doch  individueller  und  moderner,  als  die  irgend  eines  früheren 
deutschen  Dichters.  Zum  ersten  Mal  überrascht  hier  das  Bild 
einer  sicher  umschriebenen  konkreten  städtischen  Existenz,  ein 
Bild  mit  etwas  Schatten  und  Perspektive,  in  dem  ganz  neue  Auf- 
gaben mit  kunsthandwerksmäßiger  Exaktheit  keck  bewältigt  sind. 
Nicht  so  sehr  sich,  als  sein  Nürnberg  in  der  klassischen  Zeit  der 
deutschen  Demokratie  gibt  er  wieder:  immer  nur  selbst  Geschautes, 
oft  seltsam  auf  den  ersten  Blick,  aber  immer  interessant,  Hin- 
gabe und  Vertiefung  verlangend  und  lohnend. 

Es  ist  die  Zeit  des  Werdens  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
und  ihrer  Literatur;  voll,  frisch,  unverbraucht  setzt  die  Produktions- 
kraft ein;  eine  in  gewissem  Sinne  große,  schöne  Zeit.  Es  ist 
noch  fraglich,  ob  die  Individualitäten  mehr  der  Benaissance  ver- 
danken oder  diese  ihnen.  Das  Leben  wird  sichtlich  schrittweise 
für  die  neue  bürgerliche  Poesie  erobert,  man  lernt  sehen,  sich 
freuen,  sich  ärgern,  spotten,  höhnen  und  triumphieren;  für  melan- 
cholische Weltbetrachtung  hatte  die  konventionell-kirchliche  Lite* 
ratur  auf  lange  hinaus  reichlich  gesorgt.  Die  weichende  Dämmerung 
verschwimmt  in  den  Schimmer  des  neuen  Tages;  nicht  mit  un- 
recht hat  die  Ethnologie  den  entscheidenden  Durchbruch  der 
Vollkultur  ins  15.  Jahrhundert  gesetzt.  Goethe  zählt  die  „große 
Zeit  des  15.  und  16.  Jhs.  ganz  besonders  zu  den  vorschreitenden ^ 
und  nennt  solche  Epochen  objektive,  die  aus  dem  Inneren  heraus- 
treten, sich  auf  die  wirkliche  Welt  wenden  und  sie  auszusprechen 
suchen  ^).     Wie  er  auch  mit  seiner  Sprache  in  dem  Erdreich  dieser 

*)  Jenny,  Goethes  altdentsche  Lektüre  S.  24.  Prancke,  A  History  of 
German  Literature  (New- York  1903*)  S.  105.  Franckes  viertem  Kapitel  hat 
Deutschland  noch  nichts  Ebenbürtiges  an  die  Seite  zu  stellen;  es  herrscht  noch 


486 


fröhlichen  und  phantastischen  Welt  wurzelte,    hat  Viktor  Hehn 
unübertrefflich  gezeigt^). 

Versuche,  Bosenplüt  als  literarhistorische  Persönlichkeit  zu 
verstehen,  waren  bis  auf  Roethe  wenig  befriedigend  ^j.  Vorurteile 
standen  massenhaft  im  Wege.  Die  spezifisch  bürgerliche  Literatur 
sollte  ja  nach  Zarnckes  Ansicht  erst  mit  Brants  Narrenschiff 
beginnen;  dann  mußte  mindestens  ein  ganzes  Jahrhundert  in  der 
Versenkung  verschwinden;  Scherers  Darstellung')  steht  unter 
dem  Einfluß  der  weitverbreiteten  Vorstellung,  auch  Bosenplüt 
hänge  mit  dem  Meistergesang  zusammen.  Lucae  konnte  von 
Nürnberg  sagen:  „Hier  hatte  Hans  Bosenplüt  mit  andern 
Dichtern  gleicher  Bichtung  ein  gewisses  (!)  poetisches  Leben  ge- 
weckt*'*). Wie  Nürnberg  selbst  erst  wieder  entdeckt  werden 
mußte,  so  auch  seine  Literatur.  Mit  glänzender  wissenschaftlicher 
Fantasie  hat  Boethe  in  seinem  Artikel  der  Allgemeinen  deutschen 
Biographie  ein  Bild  Bosenplüts  gezeichnet,  er  mußte  das  Pro- 
blem fast  sozusagen  aus  der  Pistole  schießen.  Die  Anknüpfung  an 
vorangegangene  Entwicklungen  war  noch  nicht  immer  recht  möglich. 
Vertieft,  ergänzt  und  berichtigt  hat  Michels  das  literarge^chicht- 
liche  Gemälde  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Fastnachts- 
spiele. Die  folgenden  skizzenhaften  Bemerkungen  woUea  versuchen, 
auf  ein  engumschriebenes,  von  der  Einzelforschung  noch  nicht 
betretenes  Gebiet  des  Bosenplütschen  Schaffens,  auf  seine 
Priamelpoesie  etwas  Licht  zu  werfen^). 

„An  bestimmten  geschichtlichen  Orten  entfaltet  sich,  zumeist 
in   sehr   rascher   Ausbildung   der  Typus  einer  Dichtungsart  und 


immer  retrospektive  Betrachtung,  wie  sie  z.B.  Grimm,  Freidank^  S.  CXIV 
und  Wackernagel -Martin  I^  153  übten.  Eine  rühmliche  Ausnahme 
macht  wieder  Vogt  in  seiner  gemeinschaftlich  mit  Koch  herausgegebenen 
Literaturgeschichte. 

>)  Gedanken  über  Goethe  S.  3326. 

^  Meine  Dissertation  genügt  natürlich  heute  mir  am  wenigsten. 

3)  Geschichte  der  deutschen  Literatur  S.  252  f. 

*)  Lucae,  Aus  deutscher  Sprach-  und  Literaturgeschichte  (hg.  yon 
Koch)  S.  120. 

*)  Die  meist  unzureichenden  älteren.  Priamel-Texte  sind  absichtlich 
nach  den  Handschriften  zitiert,  die  in  den  Göttinger  Beiträgen  abgedruckten 
in  der  Regel  nicht  wiederholt 


487 


nimmt  von  seinem  Boden  Beschaffenheit,  Farbe,  Oröße  und 
Form  an"^).  Das  bestätigen  die  burchielleske  Dichtung,  das  die 
Friamelpoesie ;  wie  Burchiello  in  dem  Florenz  des  beginnenden 
15.  Jahrhunderts,  so  wurzelt  Bosenplüt  im  gleichzeitigen  Nürn- 
berg^). Hier  lebt  sich  das  deutsche  Mittelalter  aus').  Keine 
Stadt  ^)  bietet  in  ihrer  gesamten  materiellen  und  geistigen  Kultur 
so  sehr  den  Typus  der  mittelalterlichen  Stadt  als  Bosenplüts 
Heimat,  das  deutsche  Venedig,  das  Auge  und  Ohr  Deutschlands. 
Geben  wir  Hans  Bosenplüt  selbst  das  Wort,  wenn  es  sich  um 
die  Beurteilung  seiner  Vaterstadt  handelt^): 

O  NUrmberg,  du  edler  fleck, 
Deiner  eren  polz  steckt  in  dem  zweck; 
Den  hat  dein  weißheit  darzu  gschossen: 
Die  warheit  ist  in  dir  entsprossen. 
Dein  Ja  wird  nicht  gefunden  Nein. 
Ein  weiser  rat,  ein  gehorsam  gemein 
Und  ein  wolgezogne  priesterschaft, 
Die  ist  gepunden  mit  solchem  haft, 
Das  ir  keiner  getar  über  die  snur  hawen 
Mit  spil,  mit  unfiir,  noch  mit  frawen. 

Und  hat  ein  man  groß  lieb  und  gunsi^) 

Zu  hübscher   meisterlicher  kunst 

Und  hat  nach  kUnsten  al  sein  frag. 

Sucht  er  im  Beheimer  land  zu  Prag 

Und  auch  in  Oesterreich  zu  Wien, 

Sucht  er  nach  dem  zirkel  und  der  lien 

Und  sucht  in  Bolan  und  in  Preußen, 

Und  in  Großen  Nogarten  und  in  Hohen  Reußen, 


1)  Dilthey,  Die  Einbildungskraft  des  Dichters  S.  474. 

')  Auch  Villen  ist  Pariser  yon  ganzer  Seele.    G.  Paris  S.  63f. 

^  Francke  S.  166  sagt  noch  von  Hans  Sachs:  „he  was  atheart  a  me- 
diaeyal  man^.  Selbst  Yillon  ist  von  der  Renaissance  nicht  beeinflußt. 
Siegfried  Graf  Pückler-Limpurg,  Die  Nürnberger  Bildnerkunst  um  die 
Wende  des  14.  und  15  Jhs.  S.  Y  lehnt  auch  für  die  Kunst  dieser  Zeit  in 
Nürnberg  jede  Beziehung  zur  Renaissance  ab. 

'^)  Ernst  Mummenhoff,  Der  Reichsstadt  Nürnberg  geschichtlicher 
Entwicklungsgang.  Leipzig  1898.  Theodor  Hampe,  Die  Entwicklung  des 
Theaterwesens  in  Nürnberg  von  der  2.  Hälfte  des  15.  Jhs.  bis  1806.  Mit- 
teilungen 12,  91  ff. 

»)  Spruch  Yon  Nürnberg  1  ff.  D  90. 

•)  D  96  f. 


488 

'  .'  '  Uiid  zu  Cohstantin'opel  in  Kriechen : 

Noch  vindt  er  nicht  wahrhaftiglichen, 
Das  er  mit  suchen,  habe  ein  feier. 
Sucht  er  in  Egipten  lant  zu  Alkeier 
Und  auch  in  Hohen  Indian, 
Und  an  dem  hofe  des  priesters  Johann: 
Noch  ist  sein  suchen  nicht  gewiß. 
Sucht  er  in  Frankreich  zu  Paris. 
Und  in  der  höchsten  schule  zu  Athenis, 
Und  sucht  in   visica  Orienis, 
Und  sucht  grammaticam  Priscianis, 
Und  sucht  die  weißheit  Salomonis, 
Und  sucht  die  loica  Aristoteles, 
Und  sucht  geometriam  Erclides, 
Und  sucht   retoricam  des  Tulius 
Und  practiciren  Pitagorus, 
Und  sucht  Bohecii  musicani 
Und  Ptolemeus  astronomiam: 
Die  kunst  vindt  er  in  Nürmberg  all. 

Nun  ist  ja  bei  diesem  Urteil  ein  gut  Teil  Optimismus  mit 
untergelaufen,  aber  freiwilliger,  nicht  bezahlter.  Denn  daß  er,  wie 
der  1470  angestellte  Frauendienst  offizieller  städtischer  Spruch- 
sprecher gewesen^),  ist  nicht  recht  wahrscheinlich;  die  Pflege 
besserer  Literatur  liegt  mehr  in  den  Händen  der  selbständigen 
Sprecher,  deren  Zahl  in  Bayern  um  die  Wende  des  14.  Jahr- 
hunderts recht  groß  gewesen  sein  muß  ^).  Andrerseits  verschleiert 
er  die  Gebrechen  seiner  Zeit  nicht,  seine  ganze  didaktische  Poesie 
wurzelt  in  gründlicher  Erkenntnis  dessen,  was  der  Menschheit 
seiner  Tage  fehlt;  und  wenn  er  dieser  Erkenntnis  sittlich-ernsten 
Ausdruck  gibt,  kliogt  der  Ton  tiefer  Empfindung  durch.  Sonst 
ist  auch  bei  ihm  manches  Konventionelle:  vor  allem  Form  und 
Qehalt  der  kirchlichen  Volksbildung  seiner  Zeit,  die  Bravaden  der 
internationalen  Modeliteratur,  Lokalwitz  und  Zote,  die  leider  so 
oft  Geist,  Humor  und  Laune  ersetzen  muß,  volksmäßige  Gnomik 
und  Improvisation.  Die  formellen  Errungenschaften  dichterischer 
Bildung  waren,  modifiziert' und  vergröbert,  bis  in  die  untersten 
Stände  der  Gesellschaft  durchgesickert.     Selbst  der  altbajerische 


^)  Mitteilungen    aus    dem    Germanischen   Nationalmuseum.      Nürnberg 
1894,  28.    Vergl.  Mitt.  des  Vereins  für  Gesch.  der  Stadt  Nürnberg  12,  102. 
«)  Germ.  Abhh.  18,  102.  120. 


489 


Bauer  ergötzte  sich  an  Novellen,  deren  Technik  auf  höfische 
Quellen  zurückging.  Eegsamer  war  die  Teilnahme  der  Handwerker 
an  deutscher  Literatur.  In  Lyrik  und  Spruchdichtung  macht 
schon  am  Ende  des  13.  Jahrhunderts  Barthel  Regenbogen  den 
deutschen  Handwerksmeister  heimisch.  Das  Volkslied  hat  nie  die 
Berührung  mit  der  Werkstätte  des  gemeinen  Mannes  gescheut. 
Für  die  Teilnahme  des  Handwerkerstandes  an  epischer  Dichtung 
redet  eine  Eeihe  von  Zeugnissen  des  14.  Jahrhunderts.  In  Straß- 
burg versteigt  sich  ein  Goldschmied  zu  einer  großen  Parcival- 
dichtung,  ein  WeinrüfFer  tritt  mit  einer  Legende  in  die  Öffent- 
lichkeit. Gegen  Ende  des  Jahrhunderts  findet  am  Lechrain 
Heinrich  Teichner  einen  Schüler,  der,  jedenfalls  den  ein- 
fachsten Lebensverhältnissen  entstammend,  eine  festgewordene  und 
langt)  fortwirkende  Technik  der  Novelle  handhabt.  An  solche 
Erzählungskunst ^)  konnte  Rosen plüt  anknüpfen,  wenn  er,  freilich 
ohne  rechte  epische  Begabung,  der  Novellistik  sich  zuwandte.  Ein 
gewisser  Wohlstand  scheint  den  Handwerkern,  die  literarisch  tätig 
waren,  nie  gefehlt  zu  haben;  von  mehreren  wissen  wir,  daß  sie, 
wie  später  Hans  Sachs,  ihr  Handwerk  ganz  aufzugeben  in  der 
Lage  waren.  Das  Handwerk,  dem  sich  der  junge  Schnepperer 
widmete,  konnte  für  ein  vornehmes  gelten.  Es  war  in  Nürnberg 
ausnahmsweise  stark  vertreten,  vom  einfachsten  handwerksmäßigen 
Betriebe  bis  zur  späteren  Kunst  eines  Peter  Vischer.  Der 
Botschmied  war  Metallarbeiter,  Glockengießer,  Geschützmeister. 
Rosenplüt  selbst  behauptet  einmal,  in  Nürnberg  fände  man  so 
treffliche,  meisterhafte  Metallarbeiter,  wie  man  sie  vielleicht  in 
der  ganzen  Welt  nicht  antrefTen  könne;  und  wer  heut<e  die  kunst- 
vollen Epitaphien  des  Johannis  Kirchhofs  mustert,  wird  ihm  nicht 
ganz  Unrecht  geben.     Er  sagt: 

Vil  meister  vind  ich  in  Nürmberg, 
der  gleich  in  aller  weit  nicht  lebt. 
Was  kreuchet,  läuft,  swimbt  oder  swebt, 
mensch,  engel,  vogel,  visch,  wurm  und  tier, 
und  all  creatur  in  loblicher  zier. 


^)  Ich  betone  mehr  das  Gemeinsame  als  das  Individuelle  dieser  Kunst ; 
auch  Kaufringer  hatte  wohl  nur  Teil  daran.  Dem  Verfasser  des  Artikels 
in  der  Zs.  f.  d.  Phil.  35,  492  fp.  bin  ich  dieselbe  Antwort  zu  geben  berechtigt, 
die  ihm  im  gleichen  Fall  Seuffert,  Petzet  und  Michels  gegeben  haben. 


490 

und  als  das  aus  der  erden  mUg  sprießen: 

desgleichen  können  sie  hawen  und  gießen, 

und  keinerlei  stUck  ist  in  zu  swer. 

ir  kunst  und  erbeit  wird  ofTenber 

in  niangen  landen  vern  und  weit. 

Sint  das  in  got  solch  weißheit  geit, 

so  sein  sie  wol  wert,  daß  man  sie  nennt 

und  für  groß  künstig  meister  erkennt. 

wan  niemant  solch  meister  nie  gewan. 

Im  Jahre  1471  besucht  auch  der  Kaiser  Friedrich  III.  die 
Werkstätten  einiger  Botschmiede.  Eine  kluge  Politik  des  Bates, 
einerseits  große  gewerbliche  Freiheit,  andererseits  Hintanhaltong 
aller  zünftlerischen  Bestrebungen,  eine  Konzentrierung  des  Hand- 
werkertums  in  sich  selbst^),  förderte  das  Gedeihen.  Hochent- 
wickelte materielle  Kultur  wurde  die  Grundlage  freierer  Lebens- 
auffassung und  der  Teilnahme  nn  literarischen  Bestrebungen. 
Und  wenn  es  auch  meist  nur  das  Niveau  der  kirchlichen  Volks- 
bildung, der  Werkstätte,  der  Kneipe,  des  Bürgerhauses  von  damals 
ist,  das  man  erreicht:  die  Handwerkerpoesie  bekommt  bald  die 
Führung,  nachdem  die  Bürger  sich  als  socialen  Stand  voll  zur 
Geltung  gebracht  haben.  Ihre  Dichtung  beherrscht  das  15.  Jahr- 
hundert. Sie  ist  nicht  unproduktiv,  nicht  bloße  Nachahmung: 
abgesehen  von  manchen  Mißbildungen,  bereichert  sie  sogar  die 
vorhandenen  Gattungen.  Fastnachtsspiel  und  Priamel  werden  durch 
sie  literaturfähig.  In  beiden  Fällen  verbindet  sich  das  Verdienst 
mit  dem  Namen  Bosenplüts. 

Was  machte  ihn  zum  Klassiker  des  Priamels? 

Eine  ungewöhnliche  Beweglichkeit  des  Geistes,  sicherer  heller 
Blick  für  das  nach  seinen  Begriffen  Charakteristische,  eine  gewisse 
Originalität  der  Anschauung,  halb  launig,  halb  satirisch,  immer 
konkret,  ein  barocker  Ernst,  „geschmacklos,  aber  nicht  alltäglich, 
forciert,  aber  nicht  langweilig",  die  Fülle  der  Eindrücke  reichs- 
städtischen Lebens,  „strömender  Beichtum  sich  überstürzender 
Bilder,  nicht  immer  würdig  und  stilvoll,  aber  anschaulich  und 
naiv  realistisch '':  das  sind  Eigenschaften,  von  denen  alle  Bosen- 
p lutsche  Poesie  zeugt.  Die  virtuose  Durchführung  des  Details 
dichterischer  Arbeit   hat   Verwandtschaft   mit  Nürnberger  Kunst- 


^)  Mummenhoff,  Altnümberg  S.  51  f. 


491 

handwerk,  mit  Panraanns  fingerfertiger  Technik.  Betrachtet  man 
Bosenplüts  Werke  einmal  unter  dem  Gesichtspunkt  des  Kunst- 
handwerks, und  das  wäre  nicht  so  unrichtig,  so  erscheinen  sie 
jedenfalls  höchster  Bewunderung  wert. 

Zwei  Züge  Bosenplüt  scher  Kunst  kommen  dem  Priamel 
besonders  zu  statten:  die  unerschöpfliche  Ergiebigkeit  seiner  an- 
schauenden Fantasie  und  der  Mangel  an  strengerer  logischer  Kon- 
zentration. Beide  Momente  mußten  in  ihrem  Zusammentreffen 
fast  schon  von  selbst  zu  einer  Kunstform,  wie  es  die  Priamel- 
form  ist,  führen.  Jener  Mangel,  den  er  mit  der  ganzen  älteren 
volksmäßigen  Dichtung  teilt,  verleitete  dazu,  die  Einzelheiten  breit 
auszuwickeln  und  durch  die  Häufung  paralleler  Glieder  die  ein- 
heitlich-logische Stilisierung  des  Gedankens  zu  ersetzen.  So  ist 
das  klassische  Priamel,  trotzdem  Rosenplüt  nichts  eigentlich  zu 
erfinden  brauchte,  ein  organisches  Erzeugnis  des  Bosenplütschen 
Geistes,  seiner  Stärke  und  seiner  Schwäche;  und  insofern  ist 
Bosenplüts  Priamel  von  individuellem  Charakter,  in  seiner  Eigen- 
art unnachahmlich  und  nicht  zu  überbieten.  Streng  genommen 
hat  es  auch  keine  Schule  gemacht.  Es  ist  ein  Produkt  bestimmter 
geistiger  Begabung  wie  einer  bestimmten  Epoche  in  der  Ent- 
wicklung unsers  nationalen  poetischen  Lebens.  Man  wurde  heute 
keine  ernste  Bosenplütschen  Priamel  mehr  dichten  können,  nach« 
dem  Denken  und  Beden  auch  die  formelle  Zucht  der  lateinischen 
Sprache  durchgemacht  hat,  einer  Sprache,  deren  Hauptvorzug  die 
strengste  logische  Konzentration  ist.  Deshalb  konnte  das  Priamel 
auch  nur  noch  in  den  Kreisen  weiter  gedeihen,  die  von  der  ge- 
lehrten Bildung  möglichst  verschont  blieben.  Glücklicher  die 
musikalische  Schwesterkunst:  sie  fand  den  Weg  vom  Priamel  zur 
Toccata,  von  der  Toccata  zur  Fuge,  von  der  Fuge  zur  Sonate, 
von  der  Sonate  zum  musikalischen  Gedicht. 

Alle  Mittel,  mit  denen  wir  die  Priamelform  bisher  arbeiten 
sahen,  sind  Bosenplüt  auch  in  seinen  sonstigen  Gedichten  ge- 
läufig. Es  herrscht  parataktische  Satzbildung  ^),  nicht  einmal  die 
ßeimbrechung  kennt  er.  Oft  ist  diese  extemporierende  Parataxe 
einzelner  Sätze  oder  Satzglieder  sogar  asyndetisch,  ganze  Verse 
bildend,  wie: 


1)  Vergleiche  Q  F  77,  148. 


492 

mit  zom,  mit  geiz,  mit  neid,  mit  haß^). 
bei  nacht,  bei  tag,  auf  wasser,  auf  lant'). 
sein  Schüssel  sol  sein  ein  seutrok, 
sein  löffel  sol  sein  ein  fauler  stock, 
sein  speis  sol  sein  ein  wagenschmir, 
sein  trinken  sei  ein  verdorbnes  pier, 
ein  spUlnapf  sei  sein  trinkfas'). 

Oder  es  wird,  wie  im  Priamel,  poljsyodetisch  ^und^  wieder- 
holt^). Selbst  in  der  epischen  Erzählung  herrscht  diese  unruhige 
Art  der  Verbindung^),  z.  B.  beginnt  er  jedesmal  den  abgeschlosse- 
nen Vers  in  dem  Spruch  vom  Barbier  mit:  ,ich  kam,  da  sach 
ich,  da  ging,  sie  dacht,  sie  pat,  sie  sprach,  die  frau,  sie  tacht^),^ 
mehrere  aufeinanderfolgende  Sätze  oder  Satzglieder  mit  ,soY, 
,wann®)',  ,und^)'  u.  ä.  Maniriert  häufig  ist  die  anaphorische  Ver- 
bindung paralleler  Glieder  ^%  Aufzählungen  finden  sich  bei  ihm  in 
ungeheurer  Ausdehnung;  er  zählt  einzelne  Stücke,  Dinge,  Teile *^), 
9  Menschen '«),  20  Frauen  i^^,  12  Burgen  i*),  9  oder  17  Bauern '*), 
9  Bitter'^)  her  und  baut  ganze  Stücke  mit  solchen  Aufzählungen 
auf,  z.  B.  die  Wochen,  die  Ärzte").  In  der  Vorliebe  für  Häufung 
paralleler  Reihen  der  mannigfachsten  Art  ist  der  Dichter  geradezu 
unersättlich;  meist  versucht  er  auch,  diesen  Reihen  einen  gewissen 
Abschluß  zu  geben.  So  in  den  Sittenschilderungen  der  Freiheits- 
predigt*®), wenn  er  sagt: 


*)  Die  Beichte,  Fsp.  1100.    Vergleiche  Herzog  Lndwig  von  Baiem  130. 

^  Fsp.  288,  17.  304,  8.    Vergleiche  744,  29  f. 

3)  Fsp.  711,  20  ff. 

*)  Predig  Fsp.  1160. 

*)  Eoethe  ADB  29,229. 

6)  426,  1  ff.    Vergleiche  365,  18  f. 

7)  Kindpethof  182,  9  ff. 

8)  ebenda  183,  24  ff. 

«)  Tinte  1188,  278b.    Schüler  1173.  1175.    Predig  1160. 

10)  Liliencron  Nr.llO.E.  Vergleiche  Fsp.  133,  22  ff.  134,  11  ff.  296,  lOff. 
298,6ff.  353,7ff.  856,8ff.  Welt  1  ff.  Roethe,  Reinmar  von  Zweter 
S.  295  ff. 

•1)  Fsp.  293  Ende.     712,.  27  ff.  1101.  1153.    Narr  23.  69  u.  s.  w. 

>9)  Narr  73.         >3)  Fsp.  1160  f.        ")  Fsp.  766,  14. 

'5)  Fsp.  700.  342.        16)  Fsp.  359. 

>7)  Q  F  77,  187.  Roethe  S.  317 ff.  Schneegans,  Groteske  Satire 
S.  104  f.     G.  Paris,  Villon  S.  103. 

18)  Fsp.  1158  ff. 


493 


Geteilt  hosen  und  schneblet  schu, 
Und  spitzig  hiit  und  deine  kepplech, 
Und  vorn  zotten  und  hinten  lepplech, 
Und  was  der  edelman  kan  erdenken: 
Das  will  der  paur  als  an  sich  henken 

u.  s.  w.:  Schilderungen,  deren  Gegenstände  viele  der  von  Baader 
veröffentlichten  Polizeiverordnungen  hervorgerufen  haben  ^).  So 
häuft  Eosenplüt  gern  fantastische  Strafen*),  Anreden^),  Wir- 
kungen^), Wünsche^).  Er  liebt  die  humoristische  Klimax,  wenn 
er  den  Wein  begrüßt*).  Von  hypotaktischen  Satzverbindungen 
hat  er  die,  auch  im  Priamel  am  häufigsten  verwandte,  der  ge- 
häuften condicionalen  Vordersätze  bis  zum  Überdruß  ausgebildet^). 
Oben  sahen  wir,  daß  er  das  Lob  seiner  Vaterstadt  in  diese  Lieb- 
lingsform gezwängt  hat.  Das  schlagendste  Beispiel  liefert  er  in 
der  Turteltaube  (D  130  flf.).  Variiert  wird  der  Vordersatz  mit 
,wenn®),  wann  das^),  wer*"),  welcher").'  Z.  B.  sagt  in  des  Türken 
Fastnachtsspiel  der  vierte  Bat  des  Kaisers: 

Wenn  der  fuchs  wirt  fliehen  das  hun, 
Und  wenn  der  hund  ein  hasen  fleucht, 
Und  der  einfeltig  den  pschissen  treugt, 
Und  wenn  ein  frosch  ein  storch  verschlickt, 
Und  der  pcttler  nimer  an  den  kleidern  flickt, 
Und  wenn  die  gans  ein  wolf  wirt  jagen 
Und  frauen  nimmer  kinder  tragen: 
Wann  das  als  geschieht,  so  wöU  wir  fliehen 
Und  wöln  mit  schänden  wider  heim  ziehen  ^^). 


0  Vergleiche  noch  Fsp.  310,  4  ff.  344,  4  ff.  21  ff.  700,  26  ff.  743,  13  ff. 
743,  28  ff. 

>)  Fsp.  307, 10  ff.    Vergleiche  308,  9  ff.    310,  14  ff.    710,  26  f. 

3;  Unser  Frauen  Schoen  II,  D.  153. 

*)  Weinsegen  2,  2  ff.  (Haupt)  17,  9  ff.     18,  6  ff. 

s)  Klopfan  1,  7  ff.  (Schade)  2,  4  ff.    3,  9  ff.    7,  4  ff. 

^)  Weingruß  1,  5  ff.  Andere  Klimax  im  Kettenreim  de  Pauw,  Mnl. 
Gedichten  S.  645  f. 

T)  QF  77,  153.  Fsp.  1153,  14.  Weingruß  6,  17  ff.  D  133.  43.  Krieg 
von  Nürnberg  407  ff.  Über  den  Charakter  dieser  hypothetischen  Red«form 
in  der  Gnomik  Scherer,  Deutsche  Studien  II 460 f.  Bur  dach,  Reinmar  S.59. 

8)  Fsp.  1084.        »)  293,  10  ff. 
w)  Fsp.  1083.  1087.  1085.  319,  25. 
»•)  Fsp.  764,  20  ff. 

")  Fsp.  298,  19  ff.     Zum   Motiv   R.   M.   Meyer   Z.  f.  d.  A.    29,   231. 
Berg  er  S.  454.  Kap.  YI.  S.  290. 


494 
Der  Türkische  Kaiser  will  in  den  Rüchern  gelesen  haben: 

Wann  das  der  reich  dem  armen  leugt, 
Und  der  weis  dem  narrn  das  guot  abtreugt, 
Und  der  voll  den  leeren  nit  will  speisen, 
Und  die  gierten  und  auch  gschriftweisen 
Den  leien  böse  ebenpild  vortragen, 
Und  der  vatcr  über  das  kint  wirt  klagen, 
Und  der  herr  kein  frid  schickt  dem  paursman: 
So  hebt  der  kristen  Unglück  an. 

Im  Spiel  von  der  Hochzeit  des  Königs  von  England  heißt  es : 

Welche  frau  das  pest  tut  mit  tanzen, 
Mit  hübschen  triten,  mit  umbher  swansen. 
Mit  züchtigem  lachen,  mit  lieplichem  smutzen, 
Mit  guter  geperd,  mit  freuntlichem  angutzen: 
Der  wil  man  schenken  ain  pemlein  kränz  ^). 

Diese  Bedeweise  ist  dem  Dichter  in  Fleisch  und  Blut  über- 
gegangen, sie  stellt  sich  ungesucht  ein'^^).  So  traf  Bosenplüts 
dichterische  Individualität  in  eigentümlicher  Weise  mit  den  Be- 
dingungen  und  Errungenschaften  der  Stegreifdichtung  zusammen. 

Indem  das  Stegreifgedicht  durch  das  Fastnachtsspiel  hindurch 
ging  und  sich  dabei  als  Schlager  seiner  Wirkung  bewußt  ward, 
tat  es  den  ersten  Schritt  auf  dem  Wege  der  Entwicklung  zur 
Gattung.  Die  einzige  Priamelrede,  die  erhalten  ist,  hat  un- 
zweideutig den  Zusammenhang  mit  dem  Fastnachtsspiel  bewahrt, 
den  auch  der  Bestand  anderer  Priamelhandschriften  nicht  ver- 
leugnet ^).  Trotzdem  in  diesen  .Beden'  wohl  literarische  Ansprüche 
eines  bestimmten  Verfassers  wenig  Beachtung  fanden^),  werden 
sie  doch  den  Anstoß  zu  reichlicherer  Produktion  und  Sammlung 
einzelner  Stücke  °)  gegeben  haben. 

Wie  der  Priamelvierzeiler  im  Fastnachtsspiel  Verwendung 
fand,  ist  oben  gezeigt  (Kap.  VI  391  ff.).  Bosenplütsche  Fast- 
nachtsspiele schließen  priamelartig^).  Am  Ende  des  19.  Stückes 
der  Kellers chen  Sammlung  läßt  der  Dichter  den  Precursor  im 


1)  Fsp.  764,  20  ff. 

«)  z.  B.  Fsp.  163,  15  ff.    702,  20  ff. 

8)  Kap.  VI  S.  396  ff.    Unklar  Wendeler,  De  Praeambulis  S.  49    Anm.  2. 

*)  In  N  sind  nur  5  zweifellos  Rosenplütsche  Nummern. 

6)  Kap.  in  S.  6.5  ff. 

6)  ADB  29,  227. 


495 

Tone  der  Wirtschafts-  nnd  Lehrpriamel  reden:  168,  3  ff.  Verkürzt 
erscheint  derselbe  Schluß  beim  40.  Spiel:  312,  24  ff.^).  Gewöhn- 
lich entschuldigen  die  Spieler  ihre  Zoten  mit  der  Freiheit  der 
Fastnacht;  auch  da  stellt  sich  gleich  der  Parallelismus  des  Priamels 
ein  (319,  25  ff.,  187,  4  ff.): 

Wann  wer  der  zeit  kein  recht  tut 
Und  sich  vil  böser  ding  fleißet 
Und  mitten  auf  den  weg  scheißet 
Und  leßt  zu  sehen  frauen  und  man: 
Der  kumpt  selten  ungescholten  davon. 

Ein  halbes  Dutzend  längerer  Priamelsprüche  läßt  sich  aus 
dem  Zusammenhange  mit  Fastnachts  -  Improvisation  nicht  recht 
herauslösen.  Es  sind  alles  bequeme  Stegreifversuche;  nichts  war 
leichter  als  Reihen  mit  ,ohne^  und  einfache  Begriffs-Ketten  nach 
Art  des  Einderreims  fortzusetzen.  So  fordert  im  84.  Spiel  der 
Ausschreier  mit  folgender  Improvisation  zur  Fröhlichkeit  auf: 

Wann  ein  vasnacht  on  freuden, 

Und  ein  meßer  on  ein  scheiden, 

Und  ein  münch  on  ein  kutten, 

Und  ein  junge  frau  on  tutten, 

Und  ein  junger,  der  nit  mag  nollen, 

Und  ein  alt  scbaf  on  wollen, 

Und  ein  Stecher  on  ein  pfert: 

Die  dink  sint  alle  nit  eins  kots  wert^). 

Später  ist  das  Priamel  verändert  und  verkürzt  selbständig 
überliefert^).  Von  Verfassern  kann  bei  Verwendung  überall  bereit 
liegenden  Materials  hier  so  wenig  die  Bede  sein,  als  bei  dem 
gleichen  Spruch: 

Ein  junge  maid  on  lieb. 

Und  ein  großer  jarmarkt  on  dieb*). 

Ein  alter  jud  on  gut. 

Und  ein  junger  man  on  mut, 

Und  ein  alte  scheur  on  meuß*), 

Und  ein  alter  pelz  on  leuß, 


0  Vergl.  734,  16  ff. ~ 745,  Uff.  und  die  Priamel  vom  Alter. 
2)  Fsp.  695,  6  ff.        3)  Keller,  Schwanke  Nr.  6. 
*)  Fsp.  558,  3 f.  11  f.        »)  Freidank  141,  15. 


606 


Nur  hat  vielleicht   das  Motiv  , Beicht  ohne  Eeu'  eingewirkt. 

Ganz  heraasgeiöst  ans  diesem  Zusammenhang  erscheint  ein 
Stück  dieses  Priamels  vor  dem  reformatorischen  Spruch  Von  denn 
Almufsen^).     Unter  dem  Titelholzschnitt  steht: 

Almusen  geben  mit  rom  vnd  tzu  gesicht 

Als  offt  von  manchem  menschen  geschieht 

Vnd  on  andacht.tzu  der  kirchen  gangen 
Mit  grosser  hochffart  vnd  mit  brangen 

Vnd  predig  hören  vnd  daran  nit  keren 

Daß  dondt  die  frommen  prister  ietz  nit  leren. 

Greift  so  diese  kirchliche  Volksliteratur  auch  auf  das  Gebiet 
des  nicht  geistlichen  Priamels  hinüber,  so  ist  sie  für  die  im 
engeren  Sinne  geistlichen  Priamel  der  eigentliche  Nährboden^). 
Die  üblichsten  Lehrstücke  wurden  in  der  Kirche  nach  der  Predigt 
vorgebetet;  für  das  Nachbeten  jedes  einzelnen  Stückes  war  viel- 
fach ein  Ablaß  gegeben^).  Auch  Tafeln  und  Blätter  mit  bildlichen 
Darstellungen  alkr  Art  dienten  der  kirchlichen  Unterweisung*). 
Der  hauptsächlichste  Träger  dieser  Überlieferung  aber  wurde  der 
schon  im  J4.  Jahrhundert  zu  mächtiger  Breite  angeschwollene 
Strom  der  populären  Erbauungsliteratur,  die  mit  erfinderisch  ge- 


»)  Erfurt  s.  a.  Kgl.  Bibliothek  zu  Berlin  Yg  7600.  Vgl.  Yg  7596.  Zum 
Inhalt  Migne,  Patrologia  latina  217,  747  A.  Freidank  39,  5  ff.  Kenner 
2376  ff.    Nd.  Jb.  30,  131  ff,  112. 

2)  Auch  das  größere  Spruchgedicht  von  der  Beichte  enthält,  abgesehen 
Ton  der  dichterischen  Einkleidung,  nichts,  was  nicht  unzähligemal  in  den 
Beichtschriften  wiederkehrte,  z.  B.  Hasak  S.  254.  Vollständiger  ist  Folz, 
dessen  Gedicht  sogar  Predigten  zu  Grunde  gelegt  werden  konnte.  Hoch 
S.  84ff.  64  ff.  Vgl.  Hätzlerin  2,  82.  Vielleicht  hängt  manche  Erscheinung 
des  Rosenplüt sehen  Sprachgebrauches,  wie  die  Abstracta  auf  — ung,  mit 
dem  Stil  der  Erbauungsliteratur  zusammen.  An  naiven  Geschmacklosigkeiten 
nimmt  es  manches  Erbauungsbuch  mit  R.  auf:  „So  sich  der  mensche  in  das 
bette  gelegt  hat,  sal  er  mit  seinen  inwendigen  ougen  czwei  dinck  mit  vleis 
ansehen  vnd  betrachten :  mit  dem  lincken  ouge  sal  er  vndersich  vnder  das  bette 
sehen  (Höllenpein)  — ,  mit  dem  rechten  ouge  sal  er  vber  sich  sehen**. 
(Himmelsfreude).    Hasak  S.  338. 

3).  Falk,  Die  deutschen  Meß- Auslegungen.    Köln  1889.    S.  25. 

4)  Falk,  Die  deutschen  Sterbebüchlein.    Köln  1890.    S.  2  ff.    „In  allen 

Kirchen   schaut   eine    Summa  theologiae   von   den   Portalen,   Penstern   und 

Wänden  auf  die  Gemeinde  herab".    Panzer,  Dichtung  und  bildende  Kunst 

des  deutschen  Mittelalters   in  ihren  Wechselbeziehungen   (Neue  Jahrbücher 

.1904)  S.  138. 


497 

Ein  mistpftitz  und  ein  pfui, 

Und  ein  sessel  und  ein  stul, 

Und  ein  fischer  und  ein  ferg, 

Und  ein  pütel  und  ein  scherg, 

Und  ein  melmacher  und  ein  mülner» 

Und  ein  weinschlauch  und  ein  füller, 

Und  ein  zig  und  ein  geiß, 

Und  ein  fist  und  ein  scheiß, 

Und  ein  klimmer  und  ein  Steiger, 

Und  ein  fidler  und  ein  geiger, 

Und  ein  tanz  und  ein  rei: 

Daz  sein  ie  zwei  und  zwei  einerlei'). 

Im  87.  Spiel  scheint  der  Nachahmer,  dem  Michels  das 
Stück  zuschreibt,  für  den  Schluß  ein  Bosenplütsches  Priamel 
desselben  Kreises  benutzt  zu  haben. 

Ein  stelender  dieb  und  ein  pütel, 
Und  ein  pös  weip  und  ein  großer  knütel, 
Und  gros  gerten  und  pöse  kint, 
Und  ein  metzler  und  ein  feistes  rint, 
Und  ein  sneller  lauffer  und  ebner  weg, 
Und  ein  hungrige  sau  und  ein  warmer  treck, 
Und  saugende  kint  und  melkend  ammen: 
Die  dink  die  fugen  gar  wol  zusammen 3). 

Wenn  spätere  Spieldichter,  vielleicht  absichtlich,  das  Priamel 
meiden,  so  geschah  es  wohl,  um  ihren  Stücken  eine  vornehmere 
literarische  Haltung  zu  geben,  die  sie  von  den  improvisierenden 
Anfängen  des  Dramas  unterscheiden  sollte.  Das  Heraustreten  der 
Priamelsprüche  in  die  volksliterarische  Öffentlichkeit  ist  wie  bei 
den  Neujahrswünschen,  Klopfan,  Weingrüßen  und  den  Erzeugnissen 
der  plastischen  Kleinkunst  wohl  auch  von  der  Mode  abhängig 
gewesen,  ein  Umstand,  der  vielleicht  das  verhältnismäßig  rasche 
Verschwinden  der  Gattung  erklären  hilft'). 


0A57a.  B167b.   C160a.  D  276.    P.  74a,  Sp.2.    K  13b.   M  19a. 

^  B  166b.     E  7a.    Keller,   Schwanke  Nr.  9.    Gott.  Beiträge  2,  35  f. 
QF  7T,  196. 

3)  Spitzer,  Hettners  konstphilosophische  Anfänge  nnd  Literarästhe- 
tik  1,  159  ff. 

Eulin g,  Priamel  32 


498 


2. 

Daß  BoseDplüts  poetische  SchaluDg,  wie  Boethe  einmal 
bemerkt,  wirklich  sehr  gering  gewesen,  zeigen  insbesondere  die 
sogen,  geistlichen  Priamel. 

Nach  Kapitel  VI  kann  wohl  keine  Bede  mehr  davon  sein, 
daß  erst  Bosenplüt  geistliche  Priamel  gedichtet,  daß  er  „die 
Gattung  durch  die  rein  geistliche  Priamel  bereichert^)"  habe; 
auch  Anknüpfung  an  literarische  Kunstpoesie  der  früheren  Zeit 
versagt^).  Das  geistliche  Priamel  wächst  vielmehr  einerseits  aus 
der  meist  unliterarischen  kirchlichen  Volksdichtung  heraus,  die 
wesentlich  dem  Zwecke  der  Erbauung  diente;  Bosenplüt  ver- 
band damit  andererseits  in  eigentümlicher  Weise  die  Errungen- 
schaften der  Stegreifdichtung*). 

Schon  die  analoge  Entwicklung  der  geistlichen  Priamelvier- 
zeiler  und  priamelhaften  Beimpaare  würde  solchen  Ursprung 
wahrscheinlich  machen;  aber  auch  für  Bosenplüts  geistliche 
Priamel  läßt  sich  der  Zusammenhang  mit  jener  leider  recht  wenig 
beachteten  Erbauungsliteratur*)  erweisen.  Wir  sahen,  daß  die 
Tafel  der  christlichen  Weisheit  neben  katalogartigen  Aufzählungen, 
Lehrpunkten,  Charakteristiken  und  dergleichen  auch  Spruchgut 
enthielt  und  wie  diese  Literatur  zwischen  Prosa  und  Vers  schwankte. 
Auf  derselben  Stufe  volksliterarischer  Entwicklung  stehen  Er- 
bauungsschriften wie  das  Bamberger  Beichtbuch  und  die  Wiener 
Handschrift  3027,  deren  Bestände  sich  vielfach  decken.  Manche 
Aufzählungen  sind  ganz  Prosa  ^),  manche  sind  zu  Vierzeilern, 
freilich  noch  nicht  in  der  relativen  Vollendung  der  späteren 
Poenitentiarien ,  abgerundet^),  das  meiste  ist  gutgemeinte  un- 
geschlachte Reimerei,  bei  der  dann  formell  häufig  dasselbe  heraus- 
kommt, was  vielfach  die  priamelhaften  Beimpaare  bezweckten  und 


»)  ADB  29,  228. 

3)  zg.  f.  d.  Phil.  32,  268. 
'  3)  Für  diesen  Zusammenhang  zeugt  die  Donaueschinger  Hs.  94  (0),  die 
Erbauliches  und  Lehrstücke  mit  Rosenp lutschen  Priameln  mischt. 

^)  Zarncke,  Cato  S.  2  hatte  u.  a.  auf  die  Poenitentiarii  aufmerksam 
gemacht.  Eine  umfassende  Untersuchung  kann  man  wohl  nur  mit  dem 
Material  in  Berlin  und  München  führen. 

^)  Weber,  Die  Bamberger  Beichtbücher  S.  30  f. 

ß)  Kap.  VI  S.  330  ff.     Straßburger  Theologische  Studien  4,  2.  S.  84  ff. 


499 


was  Rosen plüt  nur  mit  künstlerischem  Geschmack   zu   läntern 
und,  individuell  gestaltet,  in  feste  Formen  zu  gießen  hatte. 

Wie  Beim,  Verskunst  und  Aufbau  in  diesen  kleinen  Gedichten 
gehandhabt  werden,  mögen  einige  Proben^)  lehren. 

Wer  pöß  gedanken  hat  mit  gunst  lust  und  böse  begir, 

Und  ungetrew  ist ,    furnemisch  und  vertzweifelt  schir, 

Wer  böse  lieb  und  werntliche  frewde  im  hertren  treit, 

Wer  leicht  argwant,  ungedultig  ist  und  tracht  falsch  leid, 

Wer  böse  vorcht  hat  und  frewd  sich  seines  nesten  widerWertigkeit 

Und  versmecht  die  armen  und  sunder, 

Und  trauert  um  seines  nesten  Seligkeit, 

Wer  eigner  sinnen  pfligt  und  dolt,  das  er  nicht  gesunden  kan. 

Wer  sich  guter  werk  schemt  und  auf  nimt  die  person : 

Die  sund  alle  das  hertz  vollbringen  kan^). 

Gcwonlich  swem  und  meineidung, 

Schelten  und  warhait  anfechtung, 

Wer  wider  got  eczwas  ticht, 

Und  sein  gepet  mit  andacht  nit  spricht, 

Übrig  red  und  falsch  rät, 

Und  wer  zwaitracht  unter  freunten  sät, 

Nachreden,  liegen  und  triegen, 

Zue  tutteln,  verraten  und  kriegen, 

Wer  gotes  nam  unnUczlcich  nent: 

Die  sund  all  von  der  zung  sind  genent^). 

Auch  die  ümkchrung,  dem  Typus  C  entsprechend,  erscheint 
in  diesen  Aufzählungen. 

Sechs  sund  sein  allermeist. 

Da  man  mit  sundet  in  den  heiligen  geist : 

Nicht  sund  auf  gotes  barmhertzigkeit ; 

In  deinen  sunden  sei  nicht  vertzeit; 

Und  sei  nicht  hart  in  deiner  posheit; 

Ficht  nicht  an  die  offen  warheit; 

Und  sei  nicht  veint  der  gottlichen  gutikeit^). 

Inuidus,  impungnans,  presumens  impenitensque , 
obstans,  desperans:  sex  crimina  Spiritus  odit. 


^)  Schon  Geffcken,  Beilagen  8.  3  ff.  hatte  ähnliche  Stellen    aus    der 
Heidelberger  Hs.  438  abdrucken  lassen. 

')  Weber,  Die  Bamberger  Beichtbücher  S.  17. 

3)  Wiener  Handschrift  3027,  204  a.    Ausführlicher,  aber  noch  roher  in 
der  Form  bei  Weber  S.  18. 

*)  Weber  S.  20.        Geffcken,  Beilagen  S.  196.  194.       Hans  Folz, 
Beichtgedicht  89,  21  ff.  (Hoch). 

32* 


498 


2. 

Daß  Bosenplüts  poetische  Schalung,  wie  Boethe  einmal 
bemerkt,  wirklich  sehr  gering  gewesen,  zeigen  insbesondere  die 
sogen,  geistlichen  Priamel. 

Nach  Kapitel  VI  kann  wohl  keine  Bede  mehr  davon  sein, 
daß  erst  Bosenplüt  geistliche  Priamel  gedichtet,  daß  er  „die 
Gattung  durch  die  rein  geistliche  Priamel  bereichert^)"  habe; 
auch  Anknüpfung  an  literarische  Kunstpoesie  der  früheren  Zeit 
versagt^).  Das  geistliche  Priamel  wächst  vielmehr  einerseits  aus 
der  meist  unliterarischen  kirchlichen  Volksdichtung  heraus,  die 
wesentlich  dem  Zwecke  der  Erbauung  diente;  Bosenplüt  ver- 
band damit  andererseits  in  eigentümlicher  Weise  die  Errungen- 
schaften der  Stegreifdichtung*). 

Schon  die  analoge  Entwicklung  der  geistlichen  Priamelvier- 
zeiler  und  priamelhaften  Beimpaare  würde  solchen  Ursprung 
wahrscheinlich  machen;  aber  auch  für  Bosenplüts  geistliche 
Priamel  läßt  sich  der  Zusammenhang  mit  jener  leider  recht  wenig 
beachteten  Erbauungsliteratur^)  erweisen.  Wir  sahen,  daß  die 
Tafel  der  christlichen  Weisheit  neben  katalogartigen  Aufzählungen, 
Lehrpunkten,  Charakteristiken  und  dergleichen  auch  Spruchgut 
enthielt  und  wie  diese  Literatur  zwischen  Prosa  und  Vers  schwankte. 
Auf  derselben  Stufe  volksliterarischer  Entwicklung  stehen  Er- 
bauungsschriften wie  das  Bamberger  Beichtbuch  und  die  Wiener 
Handschrift  3027,  deren  Bestände  sich  vielfach  decken.  Manche 
Aufzählungen  sind  ganz  Prosa  ^),  manche  sind  zu  Vierzeilern, 
freilich  noch  nicht  in  der  relativen  Vollendung  der  späteren 
Poenitentiarien^  abgerundet^),  das  meiste  ist  gutgemeinte  un- 
geschlachte Beimerei,  bei  der  dann  formell  häufig  dasselbe  heraus- 
kommt, was  vielfach  die  priamelhaften  Beimpaare  bezweckten  und 


»)  ADB  29,  228. 

3)  Zs.  f.  d.  Phil.  32,  268. 
'  3)  Für  diesen  Zusammenhang  zeugt  die  Donaueschinger  Hs.  94  (0),  die 
Erbauliches  und  Lehrstücke  mit  Bosenplüt  sehen  Priameln  mischt. 

^)  Zarncke,  Cato  S.  2  hatte  u.  a.  auf  die  Poenitentiarii  aufmerksam 
gemacht.  Eine  umfassende  Untersuchung  kann  man  wohl  nur  mit  dem 
Material  in  Berlin  und  München  führen. 

')  Weber,  Die  Bamberger  Beichtbücher  S.  30  f. 

fi)  Kap.  VI  S.  330  ff.     Straßburger  Theologische  Studien  4,  2.  S.  84  flf. 


499 


wa«  Rosen plüt  nur  mit  künstlerischem  Geschmack   zu  läntern 
und,  individuell  gestaltet,  in  feste  Formen  zu  gießen  hatte. 

Wie  Beim,  Verskunst  und  Aufbau  in  diesen  kleinen  Gedichten 
gehandhabt  werden,  mögen  einige  Proben^)  lehren. 

Wer  pöß  gedanken  hat  mit  gunst  lust  und  böse  begir, 

Und  ungetrew  ist ,    furnemisch  und  vertzweifelt  schir, 

Wer  böse  lieb  und  werntliche  frewde  im  hertzen  treit, 

Wer  leicht  argwant,  ungedultig  ist  und  tracht  falsch  leid, 

Wer  böse  vorcht  hat  und  frewd  sich  seines  nesten  widerWertigkeit 

Und  versmecht  die  armen  und  sunder, 

Und  trauert  um  seines  nesten  Seligkeit, 

Wer  eigner  sinnen  pfligt  und  dolt,  das  er  nicht  gesunden  kan, 

Wer  sich  guter  werk  schemt  und  auf  nimt  die  person : 

Die  sund  alle  das  hertz  vollbringen  kan^). 

Gewonlich  swem  und  meineidung, 

Schelten  und  warhait  an  fechtung, 

Wer  wider  got  eczwas  ticht, 

Und  sein  gepet  mit  andacht  nit  spricht, 

Übrig  red  und  falsch  rät, 

Und  wer  zwaitracht  unter  freunten  sät, 

Nachreden,  liegen  und  triegen, 

Zue  tutteln,  verraten  und  kriegen, 

Wer  gotes  nam  unnUczlcich  nent: 

Die  sund  all  von  der  zung  sind  genent^). 

Auch  die  ümkchrung,  dem  Typus  C  entsprechend,  erscheint 
in  diesen  Aufzählungen. 

Sechs  sund  sein  allermeist. 

Da  man  mit  sundet  in  den  heiligen  geist : 

Nicht  sund  auf  gotes  barmhertzigkeit ; 

In  deinen  sunden  sei  nicht  vertzeit; 

Und  sei  nicht  hart  in  deiner  posheit; 

Ficht  nicht  an  die  offen  warheit; 

Und  sei  nicht  veint  der  gottlichen  gutikeit^). 

Inuidus,  impungnans,  presumens  impenitensque , 
obstans,  desperans:  sex  crimina  Spiritus  odit. 


^)  Schon  Geffcken,  Beilagen  S.  3ff.  hatte  ähnliche  Stellen    aus    der 
Heidelberger  Hs.  438  abdrucken  lassen. 

^)  Weber,  Die  Bamberger  Beichtbücher  S.  17. 

3)  Wiener  Handschrift  3027,  204  a.    Ausführlicher,  aber  noch  roher  in 
der  Form  bei  Weber  S.  18. 

*)  Weber  S.  20.        Geffcken,  Beilagen  S.  196.  194.       Hans  Folz, 
Beichtgedicht  89,  21  ff.  (Hoch). 

32* 


500 

Sechs  seyn  der  sunden  yn  den  heyligen  geist, 
Dy  verloren  werden  aller  meist: 
Sunde  auff  gnade  vnd  bruders  neyd, 
Uerczweyfelen,  der  warheit  widerstreyt, 
Uerstockt  vnd  der  ny  büße  gethat: 
Dy  sund  ny  gar  vergeben  hat '). 

Was  die  sogenannten  Beichtbücher,  deren  Inhalt  meist  die 
Kirchenlehre  in  nuce  darstellt,  auch  für  die  Erläuterung  der  10 
Gebote  ausgeben,  ist  Geffcken  seiner  Zeit  entgangen.  Auch  hier 
ist  die  Form  meist  priamelhaft,  z.  B. 

Wer  glaubt  an  ansprechen,  an  träum,  an  gesegent  parillen  and  an 

karachtrisch  figur, 
Und  glaubt  an  verworffen  tag  und  zaubert  und   setzt  sein  hofnung 

gancz  in  creatur. 
Wer  frevelich  durchgrunten  wil  die  heilig  geschrift  und  gots  natur, 
Wer  sich  oder  seine  chinder  oder  das  gut  lieber  hatt  dan  gott: 
Die  sundent  alle  in  das  erst  gepot'). 

Wer  seines  nägsten  hausfirawn  zu  unkeusch  pegert; 
Ob  er  ir  nicht  gehaben  mag,  doch  seinen  willen  domoch  chert; 
Wer  seinen  sin  domoch  stelt  mit  stechen  oder  mit  ringen. 
Mit  puellen,  mit  grüessen,  mit  tanczen  oder  mit  springen; 
Wer  solcher  pulschaft  ein  werfer  ist  oder  ein  pot: 
.  Die  sundent  alle  tödleich  wider  das  czehend  gepot'). 

Verhältnismäßig  viel  durchgebildeter  sind  schon  meist  die 
Verse  der  Penitencionarii. 

Hec  sunt  precepta  moysi  que  contulit  almus: 
Unum  crede  deum,  nee  iura  vane  per  ipsum, 
Sabbattha  sanctifices,  habeas  in  honore  parentes, 
Non  sis  occisor,  für,  mechus,  testis  iniquus, 
Alterius  nuptam  nee  rem  cupias  alienam. 

Uns  hat  gegeben  der  ewig  got 
Durch  moysen  dyße  czehen  gebothe: 
Im  glauben  eynen  got  erkenne, 
Und  seynen  namen  nicht  spotlich  nene, 
Dye  heyige  tage  soitu  halten, 


*)  Penitencionarius  El.  4  a. 

^  Wiener  Hs.  3027,  207a.  gancz  in  creatur]  yn  creatur  ganz. 
Weber  S.  24.    Hans  Folz,  Beichtgedicht  97,  15  ff.  (Hoch). 

3)  Wiener  Hs.  3027,210b.  Weber  S.  29.  Bei  Folz  das  9.  Gebot: 
Hoch  102,  21  ff. 


501 

Ere  vatter  und  mutter  wiltu  altten, 

Nymandt  tote,  biß  nicht  vnkeusch, 

Byß  nicht  eyn  dip, 

Nymande  falsch  geczeugniße  gib, 

Czu  vnkeuseh  ebruch  nicht  habe  mutt, 

Und  begere  auch  nich  (I)  eynes  andern  gut*), 

Qui  facit  incestum  deflorans  aut  homicida, 
Sacrilegus,  patris  percussor  vel  zodomita, 
Infiringens  votum,  periurus  sortilegusque, 
Et  mentita  fides,  faciens  incendia,  prolem 
Occidens,  heresis,  plasphemus,  notus  adulter: 
Pontificem  super  hijs  semper  deuotus  adibit. 

Der  iunckfrawen  oder  freundyn  swecht, 

Der  ymandt  tötet  oder  eidern  schlecht, 

Der  yn  vnkeußheit  vnnaturlich  ist. 

Der  glauben  hat  mit  falscher  list, 

Der  ymandt  brennet  oder  got  schendet. 

Der  ketzer  oder  der  dy  ehe  czu  trennet: 

Wil  der  rechte  büße  tragen. 

Er  muße  seyne  sunde  dem  bischoff  clagen'). 

Insbesondere  vereinigen  diese  Verse,  wie  es  dem  didaktischen 
Zweck  entspricht,  gern  die  Typen  Ä  C. 

Tumbo,  compacior,  conuerto,  dono,  remitto, 
Arguo,  consulo,  supplico,  do  quodcumque  talentum, 
Flecto  genu,  vigilo,  ieiuno,  laboro,  flagello, 
Penitco,  lego,  ploro,  precor:  caro  sie  maceratur. 

Wer  seynen  syn  vnd  fleiß  wil  geben 
AUeczeit  czu  tugentlichem  leben. 
Der  sol  czu  voran  gute  haben: 
Almosen  geben,  dy  toten  begraben, 
Straffen,  raten,  knyen,  wachen, 
Fasten,  beten,  anedacht  machen, 
Lezen,  leren,  weynen,  wallen: 
Das  ist  got  eyn  wol  gevallen'). 


Dum  pia  vota  fero,  miseris  solamina  quero, 
Uestio,  poto,  cibo,  tectum  do,  visito,  tumbo. 


1)  Penitencionarius  Bl.  4  a.    Yergl.  Geffcken,  Beilagen  S.  194. 

3)  Penitoncionarius  Bl.  3  b — 4. 

^  Penitencionarius  Bl.  4b.    Geffcken  S.  193. 


502 

SecUs  seyn  werck  der  barmherczigkeyt: 

Gib  den  hungerigen  speiße,   den  bloßen  cleit, 

Du  solt  auch  den  durstigen  laben, 

Den  krancken  besuchen ,    den  toten  begraben, 

Deme  elend  soltu  herberig  geben: 

So  gibt  dir  got  daß  ewig  leben  ^). 

Nimmt  man  dazu,  daß  auch  der  Typus  B  z.  B.  durch  die 
altkirchlichen  iiaxapiajiot?)  sowie  in  späterer  kirchlicher  Literatur^) 
angedeutet  ist,  so  kann  man  nicht  einmal  behaupten,  Bosenplüt 
übe  in  den  sogen,  geistlichen  Priameln  demgegenüber  äußerlich 
verschiedene  Formen. 

Prüfung  .der  Motive  und  des  Inhalts  liefert  ein  ähnliches 
Ergebnis. 

Selbst  Priamel,  die  in  der  Oberlieferung  nicht  als  geistliche 
bezeichnet  sind,  wurzeln  in  der  populären  Erbauungsliteratur. 
So  macht  folgendes  Priamel  zunächst  den  Eindruck  eines  satirischen 
Qenrebildes^  das  den  alten  Lotterpfaffen  treffen  will: 

Welcher  prister  zu  krank  ist  und  zu  alt, 
Der  nicht  hat  pabst  oder  pischoffs  gewalt, 
Und  selten  in  den  püchern  list, 
Und  albeg  gern  trunken  ist, 
Und  in  der  geschrifTt  ist  übel  gelert, 
Und  an  seim  hirn  ist  versert, 
Und  nie  kein  predig  hat  getan. 
Und  darzu  ist  in  des  pabsts  pan. 
Und  an  der  peicht  seß  und  slief 
Wann  man  im  peicht  von  Sünden  tieff, 
Und  nit  west  was  ein  todsünd  wer: 
Der  wer  nit  ein  gutter  peichtiger*). 

Und  doch  ist  das  Ganze  wie  jeder  einzelne  Zug  in  der  kirch- 
lichen Vorschrift  gegeben:   „Keinen  bichter  soltu  dir  selber  nemen, 


*)  Penitencionarius  Bl.  4a.    Pelz,  Beichtgedicht  89,  1  fP.    Hoch. 

2)  Ein  Beispiel  bei  Meyer,  Fragmenta  Burana  S.  51. 

3)  z.  B.  der  Schmerz  über  die  Sünde  soll  nach  dem  h.  Bernhard  bitter, 
bitterer  und  allerbitterst  sein ;  nachdenklich  durchgeführt  im  goldenen  Spiegel 
des  Sünders  bei  Hasak,  Der  christliche  Glaube  des  deutschen  Volkes  beim 
Schlüsse  des  Mittelalters.  Kegensburg  1868.  S.  210,  5.  Aber  auch  hier 
treffen  volkstümliche  Motive  mit  den  theologischen  zusammen. 

*)  B  163a. 


503 


der  sinlosz  si  oder  unsinnig  od«r  töbig  oder  zu  eim  kind  worden 
si  oder  trunken  oder  schlaff  oder  in  dem  banne  si  oder  priester- 
losz  si  oder  zumal  ungelert*)."  „In  virerley  stuck  pis tu  schuldig 
von  newen  anders  zu  peichten,  das  merk  Zu  dem  ersten  mal, 
wenn  der  peichtiger  einen  geprechen  hat,  das  er  nit  wol  hört 
oder  schleflfet .  .  .  oder  wenn  der  prister  unwissend  oder  ungelert 
ist,  das  er  denn  den  menschen  nit  berichten  mag  und  nit  enweis, 
welche  sund  totlich  oder  leslich  ist^j."  Das  Beichtiger-Priamel 
ist  dann  Modell  für  humoristische  Weiterdichtungen  geworden, 
die  den  idealen  Beichtvater^)  parodieren. 

Von  einem  guten  peichtiger. 

Welcher  priester  sich  eins  solchen  vermeß, 
Das  er  ein  jar  an  eim  scholder  seß, 
■   Und  auch  ein  jar  wer  ein  padknecht, 
Und  ein  jar  ein  pütel  und  püt  auß  recht, 
5     Daran  man  mangerlai  abentewr  spürt, 
Und  auch  ein  jar  ein  plinten  fürt, 
Und  ein  jar  in  freiheitsweiß  umb  lieff, 
Und  alle  nacht  in  der  padstuben  slieff. 
Und  ein  jar  ein  wirt  wer  in  eim  frauen  hawß: 
10    Do  würt  gar  ein  guter  peichtiger  aus*). 

Mag  das  noch  Bosenplütsche  Arbeit  sein,  so  fehlt  dem 
dritten  Spruch  dieses  Motivkreises  ,Ein  priester  der  dreißig  jar 
zu  schul  wer  gangen '^),'  fürs  15.  Jahrhundert  auch  die  handschrift- 
liche Beglaubigung.    Beich  und  virtuos  durchgeführt  ist  das  Priamel: 


*)  Otto  von  Passau,  Die  vierundzwanzig  Alten  bei  Hasak,  Der 
christliche  Glaube  des  deutschen  Volkes  S.  253.  GeilervonKeisersberg 
ebenda  8.  526. 

^)  Weber,  Die  Bamberger  Beichtbücher  S.  49.  Geffcken,  Der 
Bildercatechismus  S.  22. 

^  Von  seinen  Eigenschaften  handeln  eingehend  u.  a.  die  Penitencio- 
narii.     Geffcken,  Beilagen  S.  191. 

*)  A  23  a.  Verkürzt  um  Vers  5.  6  in  der  Wiener  Hs.  3027,  334  b.  4: 
Vnd  dienet  ain  jar  aim  tieb  Schergen  recht.  7.  8  umgestellt:  Vnd 
ain  jar  in  der  padstuben  schlieff  Vnd  ain  jar  vntter  den  gelben 
iarii  (!)  lieff.  Geringero  Abweichungen  sind  nicht  vermerkt.  Zum  Motiv 
oben  S.  331. 

»)  Keller  S.  45.  Nr.  23.  . 


504 

Getreulich  gearbeit  mit  allen  geliden.. 

Und  das  Ion  verspilt  und  mangel  geliden; 

Und  vil  gewallet  on  müde  pein, 

Die  wider  geruet  kumen  heim; 

Und  vil  gepett  on  alle  andacht, 

Wenn  zung  und  herz  nit  geleich  zusagt; 

Und  vil  gefastet  mit  guten  ruppenlebem, 

Die  man  sieht  zu  dem  slaftrunk  bewem; 

Und  vil  gepeichtet  und  der  puß  nit  halten, 

Als  dick  geschieht  von  jungen  und  alten; 

Und  vil  almusen  geben  von  posem  gut, 

Als  maniger  rauber  und  Wucherer  tut: 

Wer  die  münz  got  für  vol  wil  geben 

Und  aier  legt  in  einen  löcherten  kreben, 

Das  sein  zwu  arbeit,  die  geleich  einerlei  malen; 

Got  let  sich  nicht  mit  küpferein  münz  bezalen^). 

Zu  Grunde  liegen  die  Werke  der  Buße:  Arbeiten,  Wallfahrten, 
Beten,  Fasten,  Beichten,  Almosen  Geben,  die  n.  a.  oben  im 
Penitencionarius  erschiienen:  laboro,  snpplico,  precor,  ieiuno,  peniteo, 
do.  Nun  wird  zu  jeder  Einzelheit  wie  bei  der  apologischen  Gnome 
ein  die  Wirkung  aufhebender  Zusatz  gemacht,  dessen  Darob- 
führung  sich  kunstvoll  durch  den  ganzen  Spruch  hindurcbscblingt^ 
und  dem  Schluß  gibt  der  Dichter,  um  das  doppelte  Gerüst  des 
Aufbaus  zu  stützen,  mit  meisterhafter  Beherrschung  der  Technik 
durch  überraschende  Erweiterung  ein  breites  Fundament^).  In 
derselben  Weise  des  apologischen  Sprichwortes  werden  ein  ander- 
mal die  Saligia,  ein  eisernes  Inventar  der  populären  Moralschrift- 
stellerei '),  abgehandelt,  und  zwar  in  der  Beihenfolge :  unkeuscheit, 
tragheit,  zom,  frasheit,  neid,  hoffart  und  geitigkeit,  und  in  der 
Auffassung  der  Beichtschriften  ^). 

Secht,  große  schon  on  pose  lieb, 
Darumb  David  über  die  schnür  hieb; 
Und  große  sterk  an  pöß  faulhait, 
Darinn  man  Sampson  sein  bar  abschnait; 

1)  Göttinger  Beiträge  2,  44.  Nr.  1. 

3)  Zur  Schluß  Wendung  Weingrüße  (Altd.  Bl&tter  1,  401  ff.)  4,  20  ff. 

^  R.  von  Liliencron,  Über  den  Inhalt  der  allgemeinen  Bildung  in 
der  Zeit  der  Scholastik.  Manchen  1876.  S.  25.  44  ff.  Uoepffner,  Eustache 
Deschamps  S.  203  ff.  Oeuvres  completes  11,  d04. 

*)  Weber  S.  58 ff.  21  ff.    Folz  90,  24ff. 


505 


Und  große  Weisheit  an  prauchen  zu  gut, 

Darumb  Cirus  ertrankt  in  menschen  plut; 

Und  großer  reichtum  an  armut  versmehen, 

Darumb  der  reich  man  in  der  helle  wart  gesehen; 

Und  großer  gewalt  an  ungenad, 

Darumb  Amon  led  Mardocheus  tod; 

Und  hoher  adel  an  hochfart, 

Darumb  Lucifer  verstoßen  wart; 

Und  recht  urlailn  an  salben  in  der  hant, 

Darumb  man  Kommestos  sein  haut  abschant: 

Die  siben  stÜck  wern  gen  got  all  geb  und  geng, 

Verderbtens  nit  binden  daran  die  posen  nachkleng'). 

Zwei  Kardinaltugenden  erfahren  in  dem  Priamel  ,Wer  in  der 
kirchen  stet  und  swazt^)^  negative  Erläuterung,  indem  wieder  im 
Sinne  der  Beichtschriften ^)  zwei  ihrer  Gegenteile  ausgeführt  sind: 
die  zwei  Wandel  Trägheit  und  Neid  (Untreue).  Schon  die  Beicht- 
bücher, besonders  die  eigentlichen  Beichtspiegel,  hatten  für  um- 
ständliche Specificirung  gesorgt.  Im  Grunde  dieselben  Sünden, 
etwas  allgemeiner  betrachtet  und  mit  einem  kräftigen  Witz  zu- 
sammengefaßt, machen  das  Priamel: 

Essen  und  trinken  an  dankperkait, 

Als  uns  die  heilig  schrift  sait; 

Und  an  andacht  zu  kirchen  gangen 

Mit  großer  hochfart  und  mit  prangen; 

Und  predig  hörn  und  daran  nit  keren, 

Als  dann  die  frummen  priester  leren; 

Und  almusen  geben  zu  rum^)  und  zu  gesiebt, 

Als  oft  von  mangem  menschen  geschieht; 

Und  rat  geben  aus  falscher  trew, 

Und  peichten  on  schäm  und  on  rew: 

Die  werk  sein  got  als  lieb  und  genem, 

Als  ein  beschorne  saw  die  in  ein  judenschul  kem^). 


^)  Gott.  Beitr.  2,  50  Nr.  8.  In  K  35  a  unter  den  geistlichen  Priameln 
aufgeführt.  Auch  Foix  hat  jedesmal,  und  zwar  am  Schluß,  ein  Beispiel 
hinzugesetzt. 

«)  Gott.  Beitr.  2,  56.  Nr.  21.  Eenner  2188  ff. 

3)  Weber  S.  64f.  63  f.  22. 

*)  Weber  S.  59.    Polz  91,  U. 

»)  A56a.    Zum  Motiv  Prov.  6, 10.  21, 17  und  Seuse  (Denifle)  I  22» 


506 


Nur  hat  vielleicht  das  Motiv  , Beicht  ohne  Beu^  eingewirkt. 

Ganz  herausgelöst  aus  diesem  Zusammenhaug  erscheint  ein 
Stück  dieses  Priamels  vor  dorn  reforufiatorischen  Spruch  Von  denn 
Almufsen*).     Unter  dem  Titelholzschnitt  steht: 

Almusen  geben  mit  rom  vnd  tzu  gesteht 

Als  of!t  von  manchem  menschen  geschieht 

Vnd  on  andacht.tzu  der  kirchen  gangen 
Mit  grosser  hochffart  vnd  mit  brangen 

Vnd  predig  hören  vnd  daran  nit  keren 

Daß  dondt  die  frommen  prister  ietz  nit  leren. 

Oreift  so  diese  kirchliche  Volksliteratur  auch  auf  das  Gebiet 
des  nicht  geistlichen  Priamels  hinüber,  so  ist  sie  für  die  im 
engeren  Sinne  geistlichen  Priamel  der  eigentliche  Nährboden*). 
Die  üblichsten  Lehrstücke  wurden  in  der  Kirche  nach  der  Predigt 
vorgebetet;  für  das  Nachbeten  jedes  einzelnen  Stückes  war  viel- 
fach ein  Ablaß  gegeben^).  Auch  Tafeln  und  Blätter  mit  bildlichen 
Darstellungen  aller  Art  dienten  der  kirchlichen  Unterweisung*). 
Der  hauptsächlichste  Träger  dieser  Überlieferung  aber  wurde  der 
schon  im  }4.  Jahrhundert  zu  mächtiger  Breite  angeschwollene 
Strom  der  populären  Erbauungsliteratur,  die  mit  erfinderisch  ge- 


1)  Erfurt  8.  a.  Kgl.  Bibliothek  zu  Berlin  Yg  7600.  Vgl.  Yg  7596.  Zum 
Inhalt  Migne,  Patrologia  latina  217,  747  A.  Freidank  39,  5£f.  Renner 
2376  ff.    Nd.  Jb.  30,  131  ff,  112. 

^)  Auch  das  größere  Spruchgedicht  von  der  Beichte  enthält,  abgesehen 
von  der  dichterischen  Einkleidung,  nichts,  was  nicht  unz&hligemal  in  den 
Beichtschriften  wiederkehrte,  z.  B.  Hasak  S.  254.  Vollständiger  ist  Folz, 
dessen  Gedicht  sogar  Predigten  zu  Grunde  gelegt  werden  konnte.  Hoch 
S.  84ff.  64  ff.  Vgl.  Hätzlerin  2,  82.  Vielleicht  hängt  manche  Erscheinung 
des  Rosenpl  fit  sehen  Sprachgebrauches,  wie  die  Abstracta  auf  — ung,  mit 
dem  Stil  der  Erbauungsliteratur  zusammen.  An  naiven  Geschmacklosigkeiten 
nimmt  es  manches  Erbauungsbuch  mit  K.  auf:  „So  sich  der  mensche  in  das 
bette  gelogt  hat,  sal  er  mit  seinen  inwendigen  ougen  czwoi  dinck  mit  vleis 
ansehen  vnd  betrachten:  mit  dem  lincken  ougc  sal  er  vndersich  vnder  das  bette 
sehen  (Höllenpein)  — ,  mit  dem  rechten  ouge  sal  er  vber  sich  sehen**. 
(Himmelsfreudc).    Hasak  S.  338. 

^.Falk,  Die  deutschen  Meß- Auslegungen.    Köln  1889.    S.  25. 

*)  Falk,  Die  deutschen  Sterbebüchlein.    Köln  1890.    S.  2  ff.    ^In  allen 

Kirchen   schaut   eine   Summa  thcologiae   von   den   Portalen,   Fenstern  und 

Wänden  auf  die  Gemeinde  herab'*.    Panzer,  Dichtung  und  bildende  Kunst 

des  deutschen  Mittelalters   in  ihren  Wechselbeziehungen  (Neue  Jahrbficber 

•1904)  S.  138. 


519 

Das  mag  alles  nit  ein  sunt  hingeflossen 
On  zwai  dink,  daz  ist  rew  und  peicht, 
Daz  treibt  die  sunt  hin,  daz  sie  weicht, 
Das  got  ir  nimmer  mer  wil  gedenken 
Und  fürpas  die  sei  mag  nimmer  krenk^n*). 

Die  beiden  letzten  auch  inhaltlich  matten  Beichtsprüche  be- 
wegen sich  ganz  in  dem  umschriebenen  Oedankenkreis;  die  Bilder 
seines  Handwerks  oder  wenigstens  deren  Ausmalung  könnten 
vielleicht  Bosenplüts  Eigentum  sein. 

Peicht  ist  ein  solcher  wirdger  schätz'), 

Das  sie  hinflöst  aller  Sünden  aussatz, 

Darin  die  sei  würd  also  gepat 

Als  golt  von  vierundzwanzig  karrat 

Sich  lauter  ziment  in  fewres  grat, 

Das  es  der  sechs  metal  frei  stat^): 

Also  ziment  sich  in  der  peicht 

Die  sei,  das  alles  daz  von  ir  weicht, 

Das  sie  mit  Sünden  mag  verunreinen. 

Darumb  wer  sich  mit  got  wolle  vereinen, 

So  ist  peicht  der  allerpest  teidingsmann  ^), 

Den  man  im  himel  und  auf  erden  vinden  kan^). 

Von  der  absolutzen. 

Das  tausent  perg  eitel  klar  golt  wern 

Und  wern  eins  menschen  hie  auf  erden. 

Noch  möcht  er  nit  das  himelreich  darumb  kaufen, 

Er  wolt  dann  anderweit  sich  taufen 

In  rechter  reu,  in  warer  peicht: 

Alles  irdisch  gut  nit  als  ser  reicht. 

Als  wan  der  priester  gibt  absolutzen, 

Des  selben  all  engel  dort  lachen  und  smutzen^). 


0  A  15  a. 

')  Geff  cken,  Beilagen  S.8  (Beicht  und  Buße  besser  als  das  edelste  Gold). 

3)  Wochen  (Herrig s  Archiv  99,  16  ff.)  13  ff.     Gott.  Beitr.  2,29. 

^)  Otto  Yon  Passau:  „Davon  spricht  Augustinus  in  dem  buch  der 
rnwe:  Bicht  ist  ein  hilff  der  seien,  ein  zerstören  der  sünd  und  untugent, 
ein  streiterin  wider  die  pösen  geist,  ein  beschliesserin  der  hellen,  ein  ufftun 
des  himelschen  paradisz.''    Hasak  S.  252. 

*)  A  15b.    Überschrift:  Ler  von  der  peicht. 

^  Gott.  Beitr.  2,  29. 


510 

die  Ausführung  keine  Spur  von  Beeinflussung  verrät.     Am  Schluß 

unterläßt  es  Rosenplüt  nicht,    wieder   an   Beicht  und  Buße  zu 

mahnen. 

Welcher  mensch  do  glaubt  an  vogelgeschrai, 

Das  sterben  bedeut  oder  solcherlai; 

Und  glauben  hat  an  waffen  segen, 

Das  sie  ir  sneiden  lassen  unterwegen, 

Und  glauben  an  verworfFen  tag^), 

Das  got  sein  glück  daran  versag; 

Und. auch  daz  segen  lasset  ein 

Für  den  pülzan  und  für  daz  haubtgeschein; 

Und  auch  an  schuh  werffen  über  daz  haubt: 

Wer  solcher  Itipperei  vil  glaubt, 

Und  nit  daz  peicht  an  setm  letzten  end, 

Den  weist  man  am  jüngsten  tag  zu  der  linken  hend, 

Tieff  in  den  verfluchten  hellischen  grünt; 

Do  für  is  peicht  und  puß  gar  gesunt^j. 

Beim  Glaubensbekenntnis,  beim  dritten  Gebot  des  Dekalogs, 
beim  zweiten  Gebot  der  Kirche  und  bei  der  siebenten  Haupt- 
sünde (Trägheit)  wird  Heiligung  der  Feiertage  eingeschärft^). 
Eosenplüts  Priamelspruch  dieses  Inhalts  kommt  über  landläufige 
Gemeinplätze  nicht  hinaus*),  Es  entspricht  der  kanonischen  Gel- 
tung und  der  für  die  Literatur  des  ausgehenden  Mittelalters  überaus 
großen  Bedeutung  des  Systems  der  sieben  Todsünden,  wenn 
der  Schnepperer  sich  mit  indirekter  Behandlung  dieses  Themas 
nicht  begnügt;  wie  die  alten  Penitencionarii  zählt  er  sie  auch 
direkt  auf^).  Stellen  die  lateinischen  Merkverse  die  wichtigste, 
die  HofFahrt,  voran,  so  erreicht  der  Dichter  eine  Steigerung,  in- 
dem er  sie  mit  dem  Schulbeispiel  Lucifers  ans  Ende  bringt. 
Im  übrigen  wechselt  die  Eeihenfolge  in  lateinischen  wie  deutschen 
Merkversen.  ^ ,  r  r        <.. 

Culparum  fontes  sunt  fastus,  liuor  et  ira, 
Luxus,  auaricia,  pastus  et  accidia^). 


^)  Priebsch,   Deutsche  Hsn.  in  England  1,  341  f.      ühl,   Unser  Ka- 
lender S.  30.  77. 

2)  A  51  a. 

3)  Hasak  S.  297.        Weber  S.  53.  64.        Geffcken,   Beilagen   S.  5. 
Folz  99,  IGff.u.  0.  . 

*)  Göttinger  Beiträge  2,  61,  Nr.  34. 
5)  Göttinger  Beiträge  2,  67.  Nr.  43. 
^)  Penitencionarius  Bl.  3a. 


509 

HeiligenverehruDg  wurde  im  allgemeinen  an  das  erste  Qebot  ge-> 
knüpft,  Bosenplüt  macht  in  seinem  Heiligenspruch  die  Anwen- 
dung auf  einen  einzelnen  Fall:  man  soll  glauben,  daß  die  Fürbitte 
der  Heiligen  für  den  bußfertigen  Sünder  wirksam  sei^). 

Welcher  mensch  nit  glaubl  piß  an  sein  sterben, 

Das  die  heiigen  umb  got  gnad  mügen  erwerben 

Eim  menschen,  der  in  todsünd  feilt 

Und  wider  nach  gotes  freuntschall  stellt 

Und  die  heiigen  anruft  daz  sie  got  für  in  piten 

Und  in  dez  namen  waz  sie  haben  gellten, 

Das  er  im  wider  geb  sein  huld 

Und  im  ab  tilg  seiner  Sünden  schuld: 

Ob  daz  gepet  nit  hilüich  sei 

Und  got  der  heiigen  pet  verzei: 

Wer  das  glaubt,  der  sünd  wider  got 

Vil  swerer  dann  prech  er  die  zehn  gepot 

Und  würd  in  den  siben  totsünden  funden; 

Das  mecht  seiner  sei  nit  als  vil  schedlicher  wunden  s). 

Ein  stehendes,  immer  und  immer  wiederkehrendes  Ka- 
pitel ist  in  der  geistlichen  Volksliteratur  bei  Behandlung  des 
ersten  Qebots  des  Dekalogs ^)  dem  Aberglauben  gewidmet. 
Ausgewählte  Vorschriften  dieser  Art  wurden,  wie  in  den  Bam- 
berger Sprüchen  und  von  Hans  Fol z  in  Verse  gebracht^).  Alles, 
was  Bosenplüt  in  seinem  Spruch  „Von  ungelauben^ ^)  erwähnt, 
erscheint  unzähligemal  in  jenen  kirchlichen  Vorschriften:  Vogel- 
geschrei, Segen,  verworfene  Tage,  Schuhe  werfen,  lüpperei^). 
Es  ist  also  wegen  dieses  Spruches  nicht  im  geringsten  erforderlich 
mit  Vintlers  Herausgeber  anzunehmen,  daß  der  Nürnberger  Dichter 
die  Pluemen  der  Tugent  gekannt   haben  müsset,  besonders  da 


>)  Polz  107,  if. 

^  A51a.  3:   Ein  mensch  N  167b.    6:  Ynd  in  des  ermanen  C. 
^)  In  den  Bamberger  Beichtbüchern  wird  der  Aberglauben  noch  einmal 
beim  ersten  Sakrament  (Weber  S.  69  ff.)  behandelt. 
*)  Oben  S.  500.        »)  A  51a. 

6)  Weber,  Die  Bamberger  Beichtbücher  S.  70 ff.  Hasak  S.  192  f.  47. 
105f.  n.  ö.  Geffcken,  Beilagen  S.  2ff.  23f,  37.  99f.  112f.  u.  o.  Otto 
Ton  Passau,  Die  24  Alten.  Augsburg  1483  (Berlin,  Kgl.  Bibl.  Eq  3209) 
Bl.  XLVUa. 

7)  Zingerle  S.  XXXI. 


510 

I        I  

die  Ausführung  keine  Spur  von  Beeinflussung  verrät.     Am  Schluß 
unterläßt  es  Rosenplüt   nicht,    wieder   an   Beicht  und  Buße  zu 

mahnen. 

Welcher  mensch  do  glaubt  an  vogelgeschrai, 

Das  sterben  bedeut  oder  solcherlai; 

Und  glauben  hat  an  waffen  segen, 

Das  sie  ir  sneiden  lassen  unterwegen, 

Und  glauben  an  verworfFen  tagi), 

Das  got  sein  glück  daran  versag; 

Und. auch  daz  segen  lasset  ein 

Für  den  pülzan  und  für  daz  haubtgeschein; 

Und  auch  an  schuh  werffen  über  daz  haabt: 

Wer  solcher  lüpperei  vil  glaubt, 

Und  nit  daz  peicht  an  setm  letzten  end, 

Den  weist  man  am  jüngsten  tag  zu  der  linken  hend, 

Tieff  in  den  verfluchten  hellischen  grünt; 

Do  für  is  peicht  und  puß  gar  gesunt^). 

Beim  Glaubensbekenntnis,  beim  dritten  Gebot  des  Dekalogs, 
beim  zweiten  Gebot  der  Kirche  und  bei  der  siebenten  Haupt- 
sünde (Trägheit)  wird  Heiligung  der  Feiertage  eingeschärft^). 
Eosenplüts  Priamelspruch  dieses  Inhalts  kommt  über  landläufige 
Gemeinplätze  nicht  hinaus^),  Es  entspricht  der  kanonischen  Gel- 
tung und  der  für  die  Literatur  des  ausgehenden  Mittelalters  überaus 
großen  Bedeutung  des  Systems  der  sieben  Todsünden,  wenn 
der  Schnepperer  sich  mit  indirekter  Behandlung  dieses  Themas 
nicht  begnügt;  wie  die  alten  Penitencionarii  zählt  er  sie  auch 
direkt  auf^).  Stellen  die  lateinischen  Merkverse  die  wichtigste, 
die  Hoffahrt,  voran,  so  erreicht  der  Dichter  eine  Steigerung,  in- 
dem er  sie  mit  dem  Schulbeispiel  Lucifers  ans  Ende  bringt. 
Im  übrigen  wechselt  die  Eeihenfolge  in  lateinischen  wie  deutschen 
Merkversen.  ^  ,  ^   ^         *  i:  *     r        .  • 

Culparum  fontes  sunt  lastus,  liuor  et  ira, 
Luxus,  auaricia,  pastus  et  accidia^). 


1)  Priebsch,   Deutsche  Hsn.  in  England  1,  341  f.      Uhl,   Unser  Ka- 
lender S.  30.  77.  . 

2)  A  51  a. 

.  3)  Hasak  S.  297.        Weber  S.  53.  64.        Geffcken,   Beilagen    S.  5. 
Polz  99,  IGff.u.  0. 

*)  Göttinger  Beiträge  2,  61,  Nr.  34. 
5)  Güttinger  Beiträge  2,  67.  Nr.  43. 
^)  Penitencionarius  Bl.  3  a. 


511 

Dafür  hat  ein  anderer  Penitentionarius  in  der  zweiten  Zeile: 
Accidia,  pastus  quoque  avaritia  luxns').  Ebenso  angleich  ist  die 
Anordnung  in  den  Übersetzungen,  z.  B. 

Alß  mancher  heyige  hat  geschriben. 

Der  großen  heupt  sunde  findet  man  syben ; 

HofFart,  czorn,  neyd  vnd  haß, 

Geytigkeit,  traclcheit,  vnkeußheit  vnd  fraß^). 

Hoffahrt,  trackheit,  neid  und  unkeuscheit, 
Frasheit,  zorn  und  geitigkeit^). 

Bei  der  Freiheit,  die  in  Beihenfolge  und  Spezialisierung  der 
Saligia  galt^),  kann  es  nicht  auffallen,  wenn  Bosenplüt  die 
Beihenfolge:  Zorn,  Geitigkeit,  Neid  und  Haß,  ünkeuschheit  und 
Fraß^),  Hoffahrt  wählt,  Trägheit  aber  nach  Zerlegung  von  Neid 
und  Haß  keinen  Platz  mehr  findet. 

So  unerheblich  solche  Reimereien  auch  sein  mögen,  der 
Dichter  sorgt  doch  durch  Beispiele  für  Veranschaulichung 
oder  setzt  den  Stoff  in  unmittelbare  Beziehung  zur  Gegenwart 
(Vers  9. 14).  Wie  hochgebildet  und  geschmeidig  seine  Sprache 
gegenüber  dem  Gestammel  der  Penitencionarii  ist,  lehre  noch  ein 
Beispiel.  ,     .  ...  , 

*^  Jussio,  consilium,  consensus,  paipo,  recursus, 

Mutus,  participans,  non  obstans,  non  manifestans : 
Ut  crimen  proprium  quandoque  lues  alioruni. 

Uersweyge  ich  sunde  oder  lobe  sy  sere, 

Rate  ich  die  oder  nicht  were, 

Habe  ich  teyl  mit  boßheit  icht 

Oder  willen,  vnd  sunde  melde  nicht:    , 

Darumb  muß  ich  ofTte  swerlich  dulden 

Und  büßen  von  solches  fremden  schulden^). 

An  die  Aufzählung  der  sieben  Hauptsünden  lehnt  sich  das 
Priamel  ^) : 

*)  Geffcken,  Beilagen  S.  190.        ^)  Penitencionarius  Bl.  3a. 

3)  Weber,  Die  Bamberger  Beichtbücher  S.  21.    Folz  90,  14 ff. 

*)  E.  von  Liliencron,  über  den  Inhalt  der  allgemeinen  Bildung  in 
der  Zeit  der  Scholastik  S.  25.  Johannes  Nid  er,  Die  24  Harfen,  o.  0.  1476 
(Berlin,  Kgl.  Bibl.  Eq.  3309)  Bl.  XXVII  b  zählt  und  behandelt  8  Hauptsünden. 

*)  „des  man  sich  nu  rümpt"  (Vers  9).    Weber  S.  23. 

6)  Penitencionaeius  Bl.  4a.    Geffcken,  Beilagen  S.  196.    Folz,  96,  26ff. 

^)  Zwei  andere  Motive  spielen  hinein,  das  Motiv  ,w6vor  man  sich  zu 
hüten  hat'  und  das  der  Jugendlehre.     Zu  1:  Prov.  11,  15.  17,  18. 


512 


Bürgschaft  damit  man  manchen  verderbt, 
Davon  groß  schat  und  feintschaft  erbt; 
Und  trunkenheit  davon  man  swacht, 
Die  oft  ein  man  zu  einem  narren  macht; 
Und  groß  lüg  sagen  ungenötter  ding, 
Und  junkfrawn  swechen,  daz  manger  wigt  ring; 
Und  spil,  darob  man  schilt  und  swert 
Und  auch  darob  umb  die  meuler  pert^); 
Und  pöse  weiber  die  mit  lieb  nur  langen 
Auf  die  Seiten,  do  die  taschen  an  hangen; 
Und  pöse  gesellschaft,  die  mangen  verftlrt'), 
Das  er  ein  swengel  in  einer  feltglocken  würt^): 
Wer  in  der  jugent  nach  eren  wöll  ringen, 
Der  hütt  sich  allzeit  vor  disen  siben  dingen^). 

Schon  wiederholt  ist  es  hervorgetreten,  wie  angelegentlich 
Bosenplüt  die  neben  dem  Altarssakrament  im  Mittelpunkt  der 
ganzen  kirchlichen  Glaubenslehre  jener  Zeit  stehende  Beichte 
empfiehlt;  nicht  weniger  als  acht  Priamelsprüche  hat  er  ihr  ge- 
widmet: jedesmal  drei  betonen  die  Schwere  der  Sünde  und  den 
Wert  des  Bußsakramentes,  einer  versificiert  die  fünf  Folgen  der 
Todsünde  und  einer  die  fünf  Erfordernisse  der  Buße.  Beginnen 
wir  mit  dem  letzten,  der  wieder  die  Vergleichung  mit  den  Peniten- 
cionarii  geradezu  herausfordert.  Diese  stellen  die  fünf  Erforder- 
nisse regelmäßig  an  die  Spitze  ihrer  Unterweisungen: 

(?)     Eniteas  cito,  peccator,  cum  sit  miserator 
Iudex  et  sunt  hec  quinque  tenenda  tibi: 
Spes  venie,  cor  contritum,  confessio  culpa, 
Pena  satisfaciens  et  fuga  nequicie. 

Seynt  daß  got  ist  alleczeit  erbarmung  vol, 
Seyne  sunde  eyn  yderman  büßen  sol, 
Unde  wer  seyne  sunde  wil  recht  erclagen, 
Der  sol  funff  ding  stethe  ym  hcrczen  tragen: 
Hoffenunge  czu  gotte  und  eyn  traurig  hertze, 
Lauter  beichte  vnd  büße  mit  schmerczen, 


>)  Donaueschinger  Hs.  94,  4a:  Dardurch  mancher  jn  Bünden  vor- 
her tt. 

3)  Dieselbe  Hs.:  Vnd  pöße  weib  jn  verstocktem  mut 

Die  ir  lieb  erczaigent  nmb  das  gnt. 
^)  dem  galgen  zetaile  wirt. 
«)  A56b.    14  allzeit  B  161b.   jm  alter  A. 


513 

Fursecse,  vorbaß  sunde  czu  meyden: 
Wil  er  entweichen  dem  ewigen  leyden'). 

Was  Eosenplüt  daraus  gestaltet,  verrät  den  wirklichen 
Dichter:  die  prosaischen  Erfordernisse  werden  teilweise  in  poetische 
Bilder  gekleidet,  nnd  im  Anschluß  an  die  Freude  des  Himmels 
über  den  büßenden  Sünder  malt  er  eine  kleine  dramatische  Szene 
vor  unsere  Äugen,  wie  Gott  im  Schiff  seiner  Gnade  sich  dem 
Sünder  nähert^)  und   ihn  herüber  holt  ,zu  seinen  alten  Senaten.' 

Wer  zu  himel  ein  newe  freud  well  machen, 
Das  all  heiigen  und  all  engel  lachen^) 
Und  got  hab  selbs  ein  wolgefallen: 
Der  sol  hin  für  ein  priester  wallen 
Und  vor  im  alls  sein  übel  bedenken*) 
Und  sol  die  gantz  podennaig  ausschenken^) 
Und  ein  wäre  peicht  mit  rew  erzaigen 
Und  sol  das  lauter  und  trüb  absaigen*) 
Und  all  sein  scharten  aussleiffen  und  wetzen^) 
Und  nimmertun  ganz  für  sich  setzen'): 
Der  macht  zu  himel  ein  newes  frolocken, 
Das  got  schifft^)  in  seiner  genaden  kocken 
Und  holt  in  selbs  über  zu  sein  alten  Senaten; 
Darumb  sol  niemant  peichtens  lang  geraten*"). 

>)  Bl.  la  Vergl.  Geffcken,  Beilagen  S.  89.    Polz  106,  15  ff. 

*)  Schöner  freilich  sagte  Freidank  35,  16  ,diz  wazzer  (der  Beuetränen) 
hat  vil  lisen  vluz,  nnt  hoert  got  durh  der  himele  duz'. 

^)  Geffcken,  Beilagen  S.  12:  „Dese  beichte  worhaffticlichen  vnd  reyne, 
dorumb  dirfrewit  sj  allis  hjmmelische  her^. 

*)  Weber  S.  15.  „Bedenck  dein  sund«.    Polz,  106,  25.     104,  5. 

*)  Oberlin,  Bihtebuoch  S.  7:  „der  bihte  einzvnge  vnde  stetekeit". 
Weber  S.  46:  „ein  mensch  sol  auch  nit  teilen  die  peicht  ...  er  sol  alle 
Sunden  peichten,  die  er  bedenken  kann  zu  mal  einem  prister^.  Otto  von 
Passau  bei  Hasak  S.  253.  Vgl.  303;  eine  überall  erhobene  Forderung. 
Polz  86,  7.  104,  6. 

^)  Hasak  S.  302:  „zum  dritten  sol  die  beicht  offenbar,  lawter  vnd  dar 
sein,  hit  mit  verdecten  Worten". 

^  Genugtuung,  Satisfactio. 

^)  Vorsatz,  fuga  nequicie.  Was  S.  13  meiner  Dissertation  üher  diesen 
Vers  gesagt  ist ,  trifft  also  nicht  zu.  Vergl.  das  größere  Spruchgedicht  von 
der  Beicht  (Psp.  1102):  „Und  nimer  thun  in  dein  hertz  pflantzen".  Polz, 
Beichtgedicht  86,27  (Hoch):    „Und  ewiges  niemer  tuon  jm  setzen  für". 

»)  A:  stifft.        10)  A  16b. 
Bnling,  Priamel  33 


514 


Die  zahlreichen  Einzelvorschriften  über  die  Eigenschaften  der 
Beichte  scheinen  stellenweise  eingewirkt  zu  haben.  Der  Peniten- 
cionarins  verlangt: 

Uera,  sit  integra,  sit  eciam  confessio  xnunda, 

Sit  cita,  firma,  frequens,  humilis,   spontanea,   nuda, 

Propria,  discreta,  lacrimosa,  morosa,  fldelis. 

Uernuflftige,  war  vnd  gantz  reyn.  . 

Und  mit  weynen  sey  dy  beichte  deyn, 

De3aie  eygne  sunde  ▼ernemlicbe  sage 

Und  langßam  dy  dem  prister  clage 

Mit  wille  stete  vnd  wortben  bloß: 

In  dem  muthe  beichte  deyne  sunde  groß  ^\ 

Wie  für  die  Saligia  gab  es  für  die  fünf  Folgen  der  Tod 
Sünde  wohl  keine  kanonische  Fassung,  während  allerdings  ihre 
Formulierung  von  jeher  bis  auf  den  Katechismus  von  heute  große 
Übereinstimmung  zeigt.  Sucht  die  Erbauungsliteratur  die  Aus- 
führung dieses  Themas  möglichst  zu  vertiefen^),  so  herrscht  bei 
Bosenplüt  das  Bestreben,  recht  anschaulich  zu  sein. 

Kein  totsünt  wart  nie  so  dein  getan, 
Ir  hangen  fünf  stück  binden  an  3): 
Das  erst,  das  sich  der  himel  besleust 
Als  snell,  als  ein  donnerstral  scheust; 
Das  ander,  das  die  sei  nimer  teilhaftig  ist, 
Was  alle  cristenheit  singt  oder  list; 
Das  drit,  das  ablischt  all  lieb  und  begir. 
Die  got,  ir  schopfer,  hat  gehabt  zu  ir; 
Das  viert,  daz  alles  ab  ist  gestorben. 
Das  got  am  kreutz  ir  hat  erworben; 
Das  fünft,  das  all  hellisch  feint  zudraben 
Und  fürpas  gewalt  über  die  sele  haben, 
Sie  hin  füren  in  die  ewige  hitz  und  frost; 
Darumb  ist  sunt  wol  ein  versalzne  kost^). 


0  PenitencioDarius  Bl.  2a.  Geffken,  Beilagen  S.  189.  19  f.  Weber 
S.  16.    Gerson  I  (Basel  1518)  Bl.  XIÄ  A  f.    Folz  86,  16  ff. 

»)  z.B.  Hasak  S.  3ff.  275  f. 

')  „So  hat  doch  ein  jetliche  totsund  die  letzen  hinder  ir.  Der  erst 
Bchad''  ü.  8.  w.    Hasak  S.  3. 

*)  A  U  b. 


5l5 

Um  die  Buß-Forderungen  der  Kirche  zu  begründen,  wird 
regelmäßig  die  Schwere  derSünde  betont^);  ebenso  regelmäßig 
erfolgt  die  Erläuterung  durch  einen  fingierten  Fall.  Das  hat  sich 
in  der  Spruchdichtung  früh  zu  einem  stereotypen  Motive  ver- 
dichtet.   Freidank  40,  5  hatte  gesagt: 

Ob  sUnd  niht  sUnde  wsere, 
si  solt  doch  sin  unmsere 
durch  vil  manege  unreinikeit, 
die  man  von  der  sünde  leit'). 

Hugo  von  Trimberg  bildet  das  nach: 

ob  sUnd  niht  sünde  wsere, 

doch  solte  si  sin  unmsere 

durh  mangerleie  gr6z  unflät, 

die  di  sUnde  an  ir  hat. 

und  wsern  die  tiufel  alle  t6t, 

dennoch  lebt  der  sUeze  got, 

unser  schepfer,  den  wir  soltcn  eren, 

tac  unde  naht  sin  lop  gemeren  3). 

und  ob  niht  hei  und  vegfiur  wser, 

doch  solt  uns  sünde  sin  unmser 

durh  unsers  herren  lieb  üf  erden  ^). 

An  die  spätere  Frei  dank- Überlieferung  hat  sich  der  dem 
Benner  verpflichtete  Vierzeiler  angesetzt: 

Daz  sünd  nit  sünde  war, 

noch  so  war  [sie]  mir  unmär 

umb  ir  groß  nnflättigkait; 

das  weiset  mich  mein  bescheidenheit^). 

Wird  hier  der  Frei  dank  spruch  dem  Seneca  beigelegt,  so 
erwirbt  die  Verfasserschaft  in  einem  mnl.  Spruch  der  abenteuer- 
liche Lisemuschs. 


*)  Der  Gothaer  Libellus  de  poenitentia,  dessen  Abschrift  vom  Jahre  1404 
datiert  ist,  beginnt  mit  der  Auseinandersetzung:  ,Wie  pose  die  sunde  sei.^ 
Jacobs  und  Ukert,  Beiträge  2,  112. 

^)  W.  Grimm  S.  LXXI.  Der  Gedanke  ist  aber  doch  theologisch. 
Zeitschrift  für  kath.  Theologie  28,  7.  Johannes  Nider,  24  Harfen  Bl.  LIa: 
„Ynder  hunderten  kompt  kam  einer  darzuo,  das  er  sünd  mejde,  war  die  helle 
nit".    LXIIIb:  „Vnd  wer  kein  got,  dennocht  solt  man  tugent  wurcken". 

3)  Renner  22816  ff. 

*)  Renner  9847  ff. 

s)  Cgm.  523,  131b.    Pfeiffer,  Freie  Forschung  S.  244.  Nr.  61. 

.    33* 


516 

LisemuscYis  seit  al  oppenbaer: 

AI  waert  dat  sonde  geen  sonde  en  waer, 

Ende  God  geen  sonde  en  wrake 

Ende  niement  quaet  van  sonden  ensprake, 

Nochtan  soude  men  scuwen  sonde, 

Want  si  comt  ute  soe  quaden  gronde^). 

Die  Wendung  kehrt  noch  bei  Sebastian  Brant  wieder: 

Wann  schon  kein  gwalt  wer,  auch  kein  herr, 
kein  knechtlichkeit  uff  erden  mehr, 
unndt  ich  wehr  alles  dienstes  fry, 
steckht  ich  veniefift  inn  SUnnden  bry: 
möcht  ich  mich  nicht  fry  achten  recht, 
so  ich  noch  mehr  der  Sünden  knecht*). 

Mit  der  gewohnten  grundsätzlichen  Selbständigkeit  hat  Bösen 
plüt  das  Freidankmotiv  ausgebaut. 

Das  hell  nit  hell  geschaffen  wer, 

Das  manchen  deucht  gar  ein  gut  mer^); 

Und  kein  pöser  geist  wer  beschaffen  worden, 

Die  allen  seien  nachsleuchen  zu  ermorden; 

Und  kein  fegfewr  wer  in  dieser  zeit, 

Dorinn  man  ein  quittantzen  geit; 

Und  himmelreich  nit  wer  himmelreich*), 

Der  ewig,  gruntlos  Freuden teich ; 

Und  sunt  nit  wer  sünt^)  noch  schand 

In  Juden,  in  kristen  noch  in  haiden  lant; 

Und  sunt  gein  got  kein  feintschaft  mecht 

Und  dort  der  sei  kein  schaden  precht, 

Und  got  kein  sunt  nie  het  versmacht: 

Noch  wer  sunt  vilpesser  gelassen  dann  vollbracht  ^j. 


^)  Saringar,  Rijmspreuken  2,  213.  Nr.  9.  Dazu  Anmerkung  und 
Nachweis. 

3)  Freiheitstafel  41  bei  Zarncke,  Narrenschiff  S.  160. 

*)  Das  Leugnen  der  Hölle  kehrt  als  häufig  vorkommende  Sünde  in  den 
Beichtschriften  wieder.  Weber  S.  74.  Geffcken,  Beilagen  S.  53.  (Hasak 
S.  47).    Die  nymer  nit  mit  peyn  würd  1er  BDE. 

«)  Renner  22814  ff. 

»)  Freidank  40,5. 

^  A  14a.  Zur  Schlußwendung:  Hasak  S.  396:  „und  doch  vil  besser 
wftr  die  sünd  gelon''.    ADB  29,  228. 


517 

Lehrte  der  dritte  Alte  bei  Otto  von  Passau:  „nüt  mag 
dich  von  got  scheiden  noch  gotes  geirren  dann  allein  die  sünd  ^),^ 
so  behandelt  Bosenplüt  dieses  Motiv  unter  Aufzählung  der  be- 
rüchtigtsten Sünder: 

Lucifer  und  auch  all  sein  genossen, 

Die  aus  dem  reich  gots  sein  verstoßen'}; 

Und  alle  die  in  swefel  und  pech  sein  ertrunken, 

Do  die  fünf  stet  in  der  alten  ee  versunken'); 

Und  all  mörder,  Wucherer  und  eeprecher, 

Die  ie  haben  gelebt  von  Adams  zeit  hcr^); 

Und  alle  die  verlorn  sein  man  und  frawen, 

Die  gots  anplick  nimmermer  schawen^); 

Und  Judas,  der  verreter  und  auch  ein  dieb: 

Die  hat  got  allsampt  ewiclich  lieb^) 

Und  alles  das  pöß,  das  nie  sunn  überscheint: 

On  allein  die  sunt,  der  ist  got  feint 

Mit  aller  seiner  himelischen  massenei; 

Nu  prüft,  ob  sünd  icht  ein  pöser  wurm  sei^). 

Am  meisten  könnte  man  bei  folgendem  Bilde  noch  an  dichte- 
rische Selbständigkeit  denken: 

Es  sagen  all  lerer  und  die  heilig  schrififl, 

Das  sunt  sei  ein  solche  swere  gifft: 

Wan  alles  daz  wasser  und  holtz  und  stein 

Und  alles  daz  leben  hat,  fleisch  und  pein. 

Und  der  ganz  klos  aller  diser  erden 

Und  was  ie  darauf  gewuchs  und  noch  sol  werden, 

Wenn  daz  alles  wer  ein  pleien  stück 

Und  leg  einer  sei  oben  auf  irm  rück: 

1)  Hasak  S.  248. 

^  formelhaft    Benner  244  ff. 

^  Weber,  Die  Bamberger  Beichtbücher  S.  89:  „wer  stument  sond  tnt, 
dnrch  die  lies  got  fünf  stet  versincken  in  den  grünt  der  helle^.  Folz, 
Beichtgedicht  88,  14  f.    (Hoch). 

*)  formelhaft. 

*)  Otto  von  Passau  bei  Hasak  S.  250:  „wer  joch  das  ein  mensch 
aller  menschen  sünd  begangen  het,  wil  er  sich  göttlicher  erbermde  enpfelen 
ynd  ergeben,  er  yindet  bi  got  mer  gnaden  vnd  ablösunge  dan  er  begert  oder 
gedencken  mag^. 

^)  A  16  a.  Überschrift:  ,Sandt  die  hast  got  aller  meiste  Zur  Schluß- 
wendung  Hasak  S.  276:  „Daraus  man  versteen  mag,  wie  gar  ein  übergroßes 
übel  ein  todsünd  sey^.    Opschriften  1,  51. 


518 


Noch  möcbt  ez  sie  nit  in  die  helle  drücken 

Und  also  weit  von  got  gezücken 

Als  ein  ungerewte  totsünd; 

Die  drückt  sie  in  die  verflucht  abgrünt, 

In  die  ewig  angst,  in  pein,  in  leiden; 

Darumb  wer  sünd  wol  pillich  zu  meiden  >). 

Ähnliche  Ausmalungen  liebte  die  Erbauungsliteratur^.  Aas 
der  unendlichen  Schwere  der  Sünde  ergibt  sich  notwendig  der 
unendliche  Wert  der  sie  aufhebenden  Beichte  und  Beue. 
Wahre  Hymnen  werden  auf  sie  in  den  vierundzwanzig  Alten  an- 
gestimmt'), und  Tauler  sagt:  „Hett  ain  mensch  gelebet  hundert 
jar  und  hete  alle  tag  hundert  todsünd  getan  und  gab  im  got  ainen 
waren  gantzen  kere,  von  den  Sünden  zu  lassen,  und  gienge  mit  dem 
kere  zu  dem  hailigen  sacrament:  so  wäre  das  alles  ain  klain  ding 
unserm  hern,  in  dieser  hohen  edlen  gab  alle  die  sünd  in  ainem 
augenblick  zu  vergeben,  als  ein  gestüppe  auß  deiner  haut  zu  blasen, 
und  der  kere  möcht  also  kreftig  sein,  alle  peine  und  büß  gienge 
damit  ab  und  möcht  damit  hailig  werden  ^).^  „Es  vervohet  auch 
kein  buß^,  mahnt  Otto  von  Passau,  „man  hab  dann  vor  die  sünd 
gerüwet  und  gebicht*).''  Von  dem  h.  Augustinus  wird  der 
Ausspruch  citiert:  „Kostlicher  ist  ein  rechte  rüwe,  denn  ob  einer 
durch  die  gantzen  weit  bilgerschafft  tete^)."  Zählte  man  wieder 
die  Werke  der  Buße  auf,  so  ergab  dies  Motiv  einen  Friamelspruch: 

Alles  fasten  und  almusen  geben  und  peten, 

Und  all  die  fustrit,  die  ie  wurden  getreten 

In  kirchgang  oder  auf  heiligen  wallwegen 

In  kelt,  in  hitz,  in  wint,  in  regen, 

Und  all  meß,  die  ie  wurden  gesprochen  und  gesungen 

Von  Christen  und  kriechen,  von  orientischen  zungen^), 

Und  aller  mertrer  plut  vergießen, 

Die  nie  den  glauben  von  in  ließen, 

Und  alles  daz,  daz  man  zu  gut  mag  genossen: 


1)  A  14  b. 

3)  Geffcken,    Beilagen  S.  8 f. 

^  Hasak  S.  250. 

*)  Hasak  S.  436f.    Vintler  9892ff. 

6)  Hasak  S.  255. 

«)  Ebenda  S.  210.    Vergl.  Folz  104,  1  fif. 

^  vnd  von  ormen^ischen  zungen  D, 


519 


Das  mag  alles  nit  ein  sunt  hingeflossen 
On  zwai  dink,  daz  ist  rew  und  peicht, 
Daz  treibt  die  sunt  hin,  daz  sie  weicht, 
Das  got  ir  nimmer  mer  wil  gedenken 
Und  fürpas  die  sei  mag  nimmer  krenkcb^). 

Die  beiden  letzten  auch  inhaltlich  matten  Beichtsprüche  be- 
wegen sich  ganz  in  dem  umschriebenen  Gedankenkreis;  die  Bilder 
seines  Handwerks  oder  wenigstens  deren  Ausmalung  könnten 
vielleicht  Bosenplüts  Eigentum  sein. 

Peicht  ist  ein  solcher  wirdger  schätz*), 

Das  sie  hinflöst  aller  Sünden  aussatz, 

Darin  die  sei  würd  also  gepat 

Als  golt  von  vierundzwanzig  karrat 

Sich  lauter  ziment  in  fewres  grat, 

Das  es  der  sechs  metal  frei  stat^): 

Also  ziment  sich  in  der  peicht 

Die  sei,  das  alles  daz  von  ir  weicht, 

Das  sie  mit  Sünden  mag  verunreinen. 

Darumb  wer  sich  mit  got  wolle  vereinen, 

So  ist  peicht  der  allerpest  teidingsmann  ^), 

Den  man  im  himel  und  auf  erden  vinden  kan^}. 

Von  der  absolutzen. 

Das  tausent  perg  eitel  klar  golt  wern 

Und  wern  eins  menschen  hie  auf  erden, 

Noch  möcht  er  nit  das  himelreich  darumb  kaufen, 

Er  wolt  dann  anderweit  sich  taufen 

In  rechter  reu,  in  warer  peicht: 

Alles  irdisch  gut  nit  als  ser  reicht, 

Als  wan  der  priester  gibt  absolutzen, 

Des  selben  all  engel  dort  lachen  und  smutzen^). 


>)  A  15  a. 

*)  Gef  f  cken,  Beilagen  S.8  (Beicht  und  Buße  besser  als  das  edelste  Gold). 

3)  Wochen  (Herrigs  Archiv  99,  16  ff.)  13  ff.    Gott.  Beitr.  2,29. 

^)  Otto  von  Passau:  „Davon  spricht  Augustinus  in  dem  buch  der 
rüwe:  Bicht  ist  ein  hilff  der  seien,  ein  zerstören  der  sünd  und  untugent, 
ein  streiterin  wider  die  pösen  geist,  ein  beschliesserin  der  hellen,  ein  ufftun 
des  himelschen  paradisz.^    Hasak  S.  252. 

*)  A  15b.    Überschrift:  Ler  von  der  peicht. 

«)  Gott.  Beitr.  2,  29. 


520 


Wann  man  dem  pösen  geist  entrint 

Und  gotes  huld  gantz  wider  gewint, 

Als  het  den  menschen  kein  sünd  nie  gemeiligt; 

Ein  itlicher  sünder  in  der  peicht  geheiligt, 

Als  do  man  in  am  ersten  hat  getauft  ^) : 

Ein  itlicher  mensch  mit  peicht  daz  himelreich  kauft ^). 

Mit  dem  Empfang  des  Bußsakramentes  war  der  des  Abend- 
mahls in  der  Begel  verbunden.  Fünf  Prlamelsprüche  handeln 
davon.  Die  erste  Voraussetzung  für  einen  würdigen  Empfang  des 
Altarssakraments  ist  fester  Glaube  an  die  Transsubstantiation. 
„Stareken  und  vesten  glauben  soltu  han,^  schreibt  Otto  von 
Passau  vor^);  Heinrich  Seuse  läßt  die  ewige  Weisheit  dem 
Diener  auf  seine  Frage:  „0  weh,  minniglicher  Herr,  und  bist  du 
aber  selbstselber  eigentlich  da?^  antworten:  „Du  hast  noich  in 
dem  Sakrament  vor  dir  und  bei  dir  ebenso  wahrlich  und  eigent- 
lich als  Gott  und  Mensch,  nach  Seel  und  Leib,  mit  Fleisch  und 
Blut,  als  wahrlich  mich  meine  reine  Mutter  trug  auf  ihrem  Ann, 
und  als  wahrlich  ich  bin  in  dem  Himmel  in  meiner  vollkommenen 
Klarheit^). ^  Dieses  Lehrstück  verarbeitet  Bosenplüt  stofflich 
in  seinen  Einzelheiten  und  gibt  dem  ganzen  Spruch  dieselbe 
Wendung  wie  den  Lehrsprüchen  von  der  Mutter  Gottes  und  den 

Heiligen. 

Welcher  mensch  den  teufel  sich  lest  berauben, 

Daz  er  do  zweifelt  an  dem  glauben: 

Das  lebendiger  got  und  mensch  nit  sei 

Gantz  in  der  gesegenten  ostei, 

Die  uns  der  priester  hie  zeigen  tut, 

War  got,  war  mensch,  war  fleisch,  war  plut, 

Die  gantze  Substanz  von  oben  hernider, 

Got  mensch  und  flaisch  und  all  sein  glider 

Als  gantz,  als  in  die  junkfraw  trug. 

Als  volkumlich,  als  man  in  an  daz  kreutz  slug. 


1)  Beicht  Fsp.  1102. 

^)  A  15  b.    14  Mit  rechter  peicht  man  hie  das  himelreich  B. 

^)  Hasak  S.  259.  Leider  fehlen  für  das  Abendmahl  solche  Zusammen- 
stellungen, wie  sie  Hasak  und  Paulus  for  die  Beichte  gemacht  haben; 
weitscbichtige  Originalliteratur  ist  hier  in  Königsberg  fast  durchweg  un- 
erreichbar. 

*)  Denifle  1,  451. 


521 

Do  man  im  wunt  macht  füfi  und  hend: 

Wer  daz  nit  glaubt  piB  an  sein  end. 

Der  wirt  am  jüngsten  tag  zu  der  hell  getriben 

Und  sein  nam  wirt  aus  dem  lebendigen  puch  geschrieben  ■). 

Zur  Vorbereitung  auf  das  Abendmahl  werden  in  dem  zweiten 
Spruch  fünf  Dinge  als  erforderlich  bezeichnet:  wieder  der  Glaube 
an  die  Transsubstantiation  (5),  Qlaube  an  das  apostolische  Symbo- 
lum  (1),  der  sonst  wohl  schwerlich  als  besondere  Vorbereitung 
für  das  Abendmahl  angesehen  worden  ist'),  Beichte  (2),  Buße  (3), 
Zuversicht  (4)'). 

Welcher  mensch  daz  heilig  sacrament  wil  niessen, 

Dem  sullen  fünf  zweig  in  seim  hertzen  aufsprissen: 

Das  erst,  daz  er  zwelf  stück  cnstenlich  glauben 

Gantz  glaub  und  nichtz  davon  laB^)  rauben; 

Daz  ander  daz  er  ein  wäre  peicht  tu. 

Wie  er  gesunt  hab,  wenn  oder  wu^); 

Das  drity  daz  er  recht  halt  sein  puB, 

Darumb  mang  sei  lang  leiden  muB; 

Das  vierd,  das  er  alles  wider  wöll  keren, 

Das  er  in  hat  wider  got  sein  herren; 

Das  fünfty  daz  er  nit  zweifei  an  der  ostei, 

Das  warer  got,  plut  und  fleisch  do  sei: 

Wann  die  fünf  zweig  in  seim  hertzen  zeitigt)  sten, 

So  mag  er  frölich  zu  gotz  tisch  gen^). 

Inhaltlich  und  dem  Motiv  nach  verwandt  ist  der  Abend- 
mahlsprach: 


^)  A  51  a.  Überschrift:  Hut  dich  Tor  des  tenfels  betriegnus.  12  tag  fehlt 
ACE.  Florileginm  Gottingense  Nr.  316:  Constat  in  altari  camem  de  pane 
sacrari,  lUa  caro  dens  est;  qui  dnbitat,  rens  est. 

^  Vielleicht  yeranlaßt  darch  Vorschriften  wie  die  Ottos  TonPassan, 
Die  24  Alten.  Augsburg  1483.  Bl.  LYIIIa:  „Du  solt  dich  auch  darczno  schicken 
Tnnd  berejten  mit  festem  gemuot  eines  starckes  gelaube's*^.    (Augastin). 

^  Otto  von  Passau:  „die  es  enpfohent  von  des  priesters  henden... 
on  glauben  und  on  Zuversicht,  on  liebi  und  in  todsünden,  die  entphohent  in 
zu  dem  ewigen  tod  und  on  all  frucht".    Hasak  S.  258. 

*)  CK  leßt;  ß  thu;  fehlt  in  AE. 

*)  Weber,  Die  Bamberger  Beichtbücher  S.  59flf.  16. 

^  zeitig  ACEK.    stetig  A. 

^)  A  52  b.    Überschrift:  Vom  Sacrament  fünf  gute  stück. 


524 

Welcher  mensch  altzeil  betracht: 

Wie  got,  sein  schöpfer,  fUr  in  vacht 

Mit  gegeißeltem  leib,  mit  gekröntem  haubt. 

Da  alle  himelsche  massanei  an  glaubt; 

Und  mit  manchem  frevelichen  anrUren, 

Und  auch  mit  jemerlichem  außfUren, 

Und  mit  abtzihen  und  verneuen  seiner  wunden. 

Die  am  jüngsten  lag  sten  unverbunden '), 

Mit  dflrkeln  füßen,  mit  löcherten  henden  — 

Wo  gesach  ie  aug  ein  swerlicher  pfenden")?   — 

Und  nackt  höh  an  ein  kreutz  gehenkt: 

Welcher  mensch  das  in  seim  hertzen  bedenkt. 

Der  stifn  seiner  sei  ein  pesser  selgeret, 

Denn  das  er  hundert  tag  zu  Wasser  und  prot  gevast  het^. 

Nur  durch  die  negative  Wendung*)   unterscheidet  sich  von 
dieser  Fassung  die  folgeode: 

Wer  got  nit  dankt  seins  kniens  und  switzens 

Und  an  der  seulen  seins  pesem  smitzens 

Und  seiner  eindrUckung  der  dürnen  krön 

In  das  haubt  aller  haubt  auß  dem  höchsten  tron, 

Und  nit  im  dankt  seins  kreutz  austragens 

Und  seins  abtzihens  und  anslagens 

Und  seiner  außdenung  und  aufsprießens 

Und  aller  seiner  wunden  und  plut  vergießens, 

Do  er  allein  weit  fUr  uns  streiten, 

Und  des  sperstichs  in  seiner  heiigen  Seiten, 

Daraus  erfloß  aller  seien  labung 

Und  aller  erbsUnd  ein  abschabung: 

Der  mensch  hat  kein  teil  an  seiner  marter 

Und  ist  seiner  sei  ein  ungetreuer  griflwarter'). 


523 

gebet  ohne  inhaltlich  neue  Yorstellangen  ist  als  ,ein  gute  gedecht- 
nus  von  dem  hochwirdigen  Sacrament^^)  bezeichnet. 

Welcher  mensch  daz  heilig  sacrament  enpfecht 

Und  also  in  seim  hertzen  gedecht: 

Ich  han  empfangen  daz  aller  höchst  gut, 

Das  mich  gekauft  hat  mit  seim  plut; 

Ich  han  das  war  osterlamp  enpfangen, 

Daz  für  mich  an  ein  kreutz  wart  gehangen; 

Ich  han  empfangen  den  gantzen  knaben, 

Den  all  engel  für  iren  Schöpfer  haben; 

Nu  beleih  pei  mir,  du  hohe  reichhait, 

Als  lang  piB  mich  der  tod  erschleichat: 

Wer  also  in  seim  hertzen  betracht, 

Pei  dem  der  himelisch  gast  benacht 

Und  ruet  in  seiner  sele  als  in  seim  grab 

Und  tilgt  im  all  sein  vergessen  sünd')  ab  3). 

Kalendermäßige  Bittgebete  für  einzelne  Jahreszeiten  empfiehlt 
Bosenplüt,  indem  er  sie  mit  dem  Oebot  der  Nächstenliebe 
begründet*). 

Messe  und  Abendmahl  verknüpfen  sich  aufs  engste  mit  dem 
Leiden  Christi.  Die  Mcßauslegungen  setzen  die  Messe  in  die 
mannigfaltigste  Verbindung  mit  Christi  Leiden^);  die  Meßerklärung 
des  Ob  er  linschen  Beichtbuches  empfiehlt,  täglich  an  Gottes 
Marter  zu  gedenken,  wofür  neun'"  verschiedene  Qnaden  verliehen 
werden^).  Die  Spezialisierung  der  Leidensstationen ^),  vielfach  in 
typischen  Formeln  ausgeprägt,  ermöglichte  eine  priamelhafte  Be- 
handlung. 


1)  A  53  a. 

^  Webers.  95.  Johannes  Nider,  Die  24  Harfen  (1476)  Bl.  CXXIXaf. 

s)  A  53a.   B  187a.   E.  l.'iöa.    Vergl.  Germania  1890  S.  391  f. 

*)  Göttinger  Beiträge  2,  51.  Nr.  10.    Zu  11  vergl.  Nd.  Jhb.  19,  90  ff. 

«)  Franz,  Die  Messe  S.  703 ff.  155 ff. 

«)  Bihtebuoch  S.  89  f. 

^)  Berühmt  ist  Heinrich  Seuses  Schilderung  I  52  ff.  Hasak  S.  155. 
143  u.  o.  Die  siben  tagzeitt  des  Münichs  von  Salczburg:  Hätzlerin  2, 302 ff. 
Nr.  83.  Das  andächtig  zeytglöcklein  des  lebens  und  leydens  Christi  nach 
den  XXIIII  Stunden  außgeteylt.  Ulm  1493.  Hasak  S.  146.  Passionsmessen 
bei  Franz  S.  155  ff.     Vergl.  252.  258.  262.     Uhland,  Volkslieder  Nr.  311. 


516 

Lisemuschs  seit  al  oppenbaer: 

AI  waert  dat  sonde  geen  sonde  en  waer, 

Ende  God  geen  sonde  en  wrake 

Ende  niement  quaet  van  sonden  ensprake, 

Nochtan  soude  men  scuwen  sonde, 

Want  si  comt  ute  soe  quaden  gronde^). 

Die  WenduDg  kehrt  noch  hei  Sehastian  Brant  wieder: 

Wann  schon  kein  gwalt  wer,  auch  kein  herr, 
kein  knechtlichkeit  uff  erden  xnehr, 
unndt  ich  wehr  alles  dienstes  fry, 
steckht  ich  veniefit  inn  SUnnden  bry: 
möcht  ich  mich  nicht  fry  achten  recht, 
so  ich  noch  mehr  der  sUnden  knecht*). 

Mit  der  gewohnten  grundsätzlichen  Selbständigkeit  hat  Besen 
plüt  das  Freidankmotiv  ausgebaut. 

Das  hell  nit  hell  geschaffen  wer, 

Das  manchen  deucht  gar  ein  gut  mer^); 

Und  kein  pöser  geist  wer  beschaffen  worden, 

Die  allen  seien  nachsleuchen  zu  ermorden; 

Und  kein  fegfewr  wer  in  dieser  zeit, 

Dorinn  man  ein  quittantzen  geit; 

Und  himmelreich  nit  wer  himmelreich^), 

Der  ewig,  gruntlos  freudenteich ; 

Und  sunt  nit  wer  sünt^)  noch  schand 

In  Juden,  in  kristen  noch  in  haiden  lant; 

Und  sunt  gein  got  kein  feintschaft  mecht 

Und  dort  der  sei  kein  schaden  precht, 

Und  got  kein  sunt  nie  het  versmacht: 

Noch  wer  sunt  vil  pesser  gelassen  dann  vollbracht  ^j. 


^)  Saringar,  Bijmspreuken  2,  213.  Nr.  9.  Dazu  Anmerkung  und 
Nachweis. 

3)  Freiheitstafel  41  bei  Zarncke,  Narrenschiff  S.  160. 

*)  Das  Leugnen  der  Hölle  kehrt  als  häufig  yorkommende  Sünde  in  den 
Beichtschriften  wieder.  Weber  S.  74.  Geffcken,  Beilagen  S.  53.  (Hasak 
S.  47).    Die  nymer  nit  mit  peyn  wnrd  1er  BDE. 

«)  Benner  22814  ff. 

»)  Preidank  40,5. 

^  A  14a.  Zur  Schlnßwendung :  Hasak  S.  396:  „und  doch  vil  besser 
wibr  die  sünd  gelon''.    ADB  29,  228. 


517 

Lehrte  der  dritte  Alte  bei  Otto  von  Passau:  „nüt  mag 
dich  von  got  scheiden  noch  gotes  geirren  dann  allein  die  sünd^),^ 
so  behandelt  Bosenplüt  dieses  Motiv  unter  Aufzählung  der  be- 
rüchtigtsten Sünder: 

Lucifer  und  auch  all  sein  genossen, 

Die  aus  dem  reich  gots  sein  verstoßen'); 

Und  alle  die  in  swefel  und  pech  sein  ertrunken, 

Do  die  fünf  stet  in  der  alten  ee  versunken^); 

Und  all  mörder,  Wucherer  und  eeprecher, 

Die  ie  haben  gelebt  von  Adams  zeit  hcr^); 

Und  alle  die  verlorn  sein  man  und  frawen, 

Die  gots  anplick  nimmermer  schawen^); 

Und  Judas,  der  verreter  und  auch  ein  dieb: 

Die  hat  got  allsampt  ewiclich  lieb^) 

Und  alles  das  pöß,  das  nie  sunn  überscheint: 

On  allein  die  sunt,  der  ist  got  feint 

Mit  aller  seiner  himelischen  massenei; 

Nu  prüft,  ob  sünd  icht  ein  pöser  wurm  sei^). 

Am  meisten  könnte  man  bei  folgendem  Bilde  noch  an  dichte- 
rische Selbständigkeit  denken: 

£s  sagen  all  lerer  und  die  heilig  schrifft, 

Das  sunt  sei  ein  solche  swere  gifft: 

Wan  alles  daz  wasser  und  holtz  und  stein 

Und  alles  daz  leben  hat,  fleisch  und  pein, 

Und  der  ganz  klos  aller  diser  erden 

Und  was  ie  darauf  gewuchs  und  noch  sol  werden, 

Wenn  daz  alles  wer  ein  pleien  stück 

Und  leg  einer  sei  oben  auf  irm  rück: 

1)  Hasak  S.  248. 

^  formelhaft    Renner  244  ff. 

^  Weber,  Die  Bamberger  Beichtbücher  S.  89:  „wer  stnment  sund  tut, 
durch  die  lies  got  fünf  stet  versincken  in  den  grünt  der  helle^.  Folz, 
Beichtgedicht  88,  14  f.    (Hoch). 

*)  formelhaft. 

^)  Otto  von  Passau  bei  Hasak  S.  250:  „wer  joch  das  ein  mensch 
aller  menschen  sünd  begangen  het,  wil  er  sich  göttlicher  erbermde  enpfelen 
ynd  ergeben,  er  vindet  bi  got  mer  gnaden  ynd  ablösunge  dan  er  begert  oder 
gedencken  mag^. 

^)  A  16  a.  Überschrift:  ,Sundt  die  hast  got  aller  meiste  Zur  Schluß- 
wendung Hasak  S.  276:  „Daraus  man  yersteen  mag,  wie  gar  ein  übergroßes 
übel  ein  todsünd  sey'^.    Opschriften  1,  51. 


518 


Noch  möcbt  ez  sie  nit  in  die  helle  drücken 

Und  also  weit  von  got  gezücken 

Als  ein  ungerewte  totsünd; 

Die  drückt  sie  in  die  verflucht  abgrünt, 

In  die  ewig  angst,  in  pein,  in  leiden; 

Darumb  wer  sünd  wol  pillich  zu  meiden  <). 

Ähnliche  Ausmalungen  liebte  die  Erbauungsliteratur^.  Aus 
der  unendlichen  Schwere  der  Sünde  ergibt  sich  notwendig  der 
unendliche  Wert  der  sie  aufhebenden  Beichte  und  Beue. 
Wahre  Hymnen  werden  auf  sie  in  den  vierundzwanzig  Alten  an- 
gestimmt'), und  Tauler  sagt:  „Hett  ain  mensch  gelebet  hundert 
jar  und  bete  alle  tag  hundert  todsünd  getan  und  gab  im  got  ainen 
waren  gantzen  kere,  von  den  sünden  zu  lassen,  und  gienge  mit  dem 
kere  zu  dem  hailigen  sacrament:  so  wäre  das  alles  ain  klain  ding 
unserm  hern,  in  dieser  hohen  edlen  gab  alle  die  sünd  in  ainem 
augenblick  zu  vergeben,  als  ein  gestüppe  auß  deiner  haut  zu  blasen, 
und  der  kere  möcht  also  kreftig  sein,  alle  peine  und  büß  gienge 
damit  ab  und  möcht  damit  hailig  werden^)."  „Es  vervohet  auch 
kein  büß'',  mahnt  Otto  von  Passau,  „man  hab  dann  vor  die  sünd 
gerüwet  und  gebicht*)."  Von  dem  h.  Augustinus  wird  der 
Ausspruch  citiert:  „Kostlicher  ist  ein  rechte  rüwe,  denn  ob  einer 
durch  die  gantzen  weit  bilgerschafft  tete^).''  Zählte  man  wieder 
die  Werke  der  Buße  auf,  so  ergab  dies  Motiv  einen  Priamelspruch: 

Alles  fasten  und  almusen  geben  und  peten, 

Und  all  die  fustrit,  die  ie  wurden  getreten 

In  kirchgang  oder  auf  heiligen  wallwegen 

In  kelt,  in  hitz,  in  wint,  in  regen, 

Und  all  meß,  die  ie  wurden  gesprochen  und  gesungen 

Von  Christen  und  kriechen,  von  orientischen  zungen^), 

Und  aller  mertrer  plut  vergießen, 

Die  nie  den  glauben  von  in  ließen. 

Und  alles  daz,  daz  man  zu  gut  mag  genossen: 


1)  A  14  b. 

»)  Geffcken,   Beilagen  S.  8 f. 

^  Hasak  S.  250. 

*)  Hasak  S.  436f.    Vintler  9892ff. 

»)  Hasak  S.  255. 

6)  Ebenda  S.  210.    Vergl.  Folz  104,  1  ff. 

^  ynd  von  ormen^ischen  zungen  D, 


519 

Das  mag  alles  nit  ein  sunt  hingeflossen 
On  zwai  dink,  daz  ist  rew  und  peicht, 
Daz  treibt  die  sunt  hin,  daz  sie  weicht, 
Das  got  ir  nimmer  mer  wil  gedenken 
Und  fürpas  die  sei  mag  nimmer  krenk^*). 

Die  beiden  letzten  auch  inhaltlich  matten  Beichtspruche  be- 
wegen sich  ganz  in  dem  umschriebenen  Gedankenkreis;  die  Bilder 
seines  Handwerks  oder  wenigstens  deren  Ausmalung  könnten 
vielleicht  Bosenplüts  Eigentum  sein. 

Peicht  ist  ein  solcher  wirdger  schätz'}, 

Das  sie  hinflöst  aller  sünden  aussatz. 

Darin  die  sei  würd  also  gepat 

Als  golt  von  vierundzwanzig  karrat 

Sich  lauter  ziment  in  fewres  grat, 

Das  es  der  sechs  metal  frei  stat^j: 

Also  ziment  sich  in  der  peicht 

Die  sei,  das  alles  daz  von  ir  weicht, 

Das  sie  mit  Sünden  mag  verunreinen. 

Darumb  wer  sich  mit  got  wolle  vereinen, 

So  ist  peicht  der  allerpest  teidingsmann  ^), 

Den  man  im  himel  und  auf  erden  vinden  kan^}. 

Von  der  absolutzen. 

Das  tausent  perg  eitel  klar  golt  wem 

Und  wern  eins  menschen  hie  auf  erden, 

Noch  möcht  er  nit  das  himelreich  darumb  kaufen, 

Er  wolt  dann  anderweit  sich  taufen 

In  rechter  reu,  in  warer  peicht: 

Alles  irdisch  gut  nit  als  ser  reicht, 

Als  wan  der  priester  gibt  absolutzen. 

Des  selben  all  engel  dort  lachen  und  smutzen^). 


0  A  15  a. 

')  Gef  f  cken,  Beilagen  S.8  (Beicht  und  Buße  besser  als  das  edelste  Gold). 

3)  Wochen  (Herrig s  Archiv  99,  16  ff.)  13  ff.    Gott.  Beitr.  2,29. 

^)  Otto  von  Passau:  „Davon  spricht  Augustinus  in  dem  buch  der 
rüwe:  Bicht  ist  ein  hilff  der  seien,  ein  zerstören  der  sünd  und  untugent, 
ein  streiterin  wider  die  pösen  geist,  ein  beschliesserin  der  hellen,  ein  ufftun 
des  himelschen  paradisz.'^    Hasak  S.  252. 

*)  A  15b.    Überschrift:  Ler  von  der  peicht. 

^  Gott.  Beitr.  2,  29. 


528 

In  der  Müncbener  Hs.  Cgm  713  steht  unter  den  geistlichen 
Priameln  der  Spruch  von  den  sechs  Lehrern,  der  mit  dem  größeren 
Spruchgedicht  von  den  sechs  Ärzten  (Fsp.  1083  ff.)  zusammenhängt. 
Daß  Christus  selbst,  der  sechste  Arzt,  als  ,unser  ypocras^  wir  als 
seine  Patienten  vorgestellt  werden,  ist  nichts  Ungewöhnliches^); 
noch  weniger,  daß  Vater,  Mutter,  Prediger,  Beichtiger,  das  Ge- 
wissen und  der  Schutzengel  als  sechs  Lehrer  auftreten. 

Ein  vater»  der  sein  kint  gern  leren  wolt» 

Was  es  tun  oder  lassen  solt; 

Und  ein  mutter,  die  allweg  weist  und  lert, 

Wovon  sich  glück  und  selikeit  roert; 

Und  ein  prediger  der  auf  der  kantzel  ausschreit, 

Warumb  uns  got  sein  himelreich  geit^); 

Und  ein  peichtiger,  der  do  lert  in  der  peicht, 

Wie  man  gen  got  und  gen  der  werlt  reicht '); 

Und  ein  gewissen,   daz  ein  itlich  mensch  tregt, 

Das  allweg  wider  die  stind  negt; 

Und  ein  engel,  der  eim  itlichcn  ist  zu  geben, 

Der  allweg  wider  das  Übel  soM)  streben: 

Wer  den  sechs  lerern  nit  volgt  mit  iren  leren, 

Der  muß  am  jüngsten  tag  ewiglich  von  got  keren^). 

Bei  dem  Spruch  von  der  Liebe,  die  auf  den  Pfennig  ge- 
fallen, bildet  wohl  die  übliche  katechetische  Zweiteilung  Liebe  zu 
Gott  und  zum  Nächsten^)  die  Grundlage,  wird  abdr  willkürlich 
erweitert  nnd  erhält  einen  unerwarteten  Schluß. 

Die  lieb,  die  wir  zusammen  haben  solten, 
Als  an  dem  jüngsten  tag  wol  wird  vergolten; 
Und  die  man  haben  solt  zu  gerechtigkeit, 
Als  uns  die  heilig  geschrift  seit; 


>)  z.  B.  Hasak  S.  305.  Bei  Johannes  Nider,  Die  24  Harfen  (1476) 
BL  XXXIIa  werden  die  heiligen  Altv&ter  ,dle  arczet  der  sele'  genannt. 

^  Göttinger  Beitr&ge  2,  27.  Ton  den  Türken  11,  5.  Müssigener  Fsp. 
1155:  ,volge  den  cantzel  schreyem'. 

^  Fsp.  1086.  der  fünft  sei  arczt 

*)  N  vnrecht  thut. 

^)  A  54a.   Überschrift:  Sechs  gnt  lerer,  den  yolgt  man  pillich. 

«)  Folz,  Beichtgedicht  87, 16 ff.  (Hoch).  Weber,  Die  Bamberger 
Beichtbücher  S.  87.  Yergl.  8.  40  f.  und  im  allgemeinen  die  Ansfühmngen 
über  das  erste  Gebot,  wobei  die  Liebe  zu  yerg&nglichem  Gut  der  liebe 
Gottes  entgegengesteUt  zn  werden  pflegt 


529 

Und  die  lieb,  die  vater,  muter  und  kint 

Und  bruder  und  swester,  was  der  sint, 

Zusammen  solten  haben  von  natur, 

Darumb  das  sie  sein  einer  figur; 

Und  die  lieb,  die  man  zu  got  solt  haben, 

Darnach  ein  iglich  man  solt  graben, 

Als  man  dan  predigt  von  in  allen: 

Die  lieb  ist  all  auf  den  pfennig  gefallen  *). 

Kirchliche  Vorstellungen  beherrschen  mehr  als  die  Hälfte 
aller  Rose np lutschen  Priamelsprüche;  die  Kirche  ist  noch  der 
ausschlaggebende  Faktor  im  geistigen  Haushalt  des  mittelalter- 
lichen Menschen.  Freiere  Variation  der  Saligia  könnte  der 
Spruch  sein: 

Ein  Sünder,  der  in  sein  Sünden  verzagt; 

Und  ein  priester,  der  aus  der  peicht  sagt; 

Und  ein  mülner,  der  do  feischlich  mizt; 

Und  einer,  der  an  der  unee  sitzt; 

Und  einer,  der  frevelich  im  pann  leit 

Umb  rechte  sach,  und  nichtz  darumb  geit; 

Und  ein  ricbter,  der  eim  armen  daz  recht  verkürzt 

Und  im  ein  hütlein  darüber  stürzt; 

Und  ein  herr,  der  new  zoll  stifft, 

Domit  er  lant  und  leut  vergiüt: 

Vam  die  siben')  zu  himel  an  der  engel  schar. 

So  fert  ie  ein  frummer  karteuser  auch  dar 3). 

Seit  Marquard  Mendel  1381  das  Karthäuserkloster  gestiftet, 
mehrte  sich  bald  die  Teilnahme  für  ihren  Gottesdienst  so  sehr, 
daß  schon  nach  kurzer  Zeit  noch  eine  Kapelle  hinzugefügt  werden 


»)  C  173a.  D  306.  E  160b.  H  124b.  K  30b.  b  79a.  Priebsch,  Deutsche 
Hsn.  in  England  2, 156.  1.  die  die  menschen  CDEK.  zu  einander  ODEK. 
11.  vor  uns  CD E.  von  uns  L.  Schon  bei  diesem  Spruch,  der  auffällig 
matte  Stellen  besitzt  (4.  6.  11.)  scheint  Rosenplüts  Verfasserschaft  nicht 
gesichert;  nichts  von  seiner  Art  hat  der  aus  fast  unverbnndenem  älteren 
Material  zusammengeschobene  Bettelspruch  Keller,  Schwanke  S.  50  Nr.  26. 
Nicht  geistlich  ist  der  vorzügliche  Pfennig-Spruch:  ,Eumt  kunst  gegangen 
für  ein  haus^    Keller  S.  51. 

^  Sieben  Sünder:  oben  S.  526.  Sieben  allegorische  Besucher:  Keller, 
Schwanke  S.  51.  Sieben  Unmöglichkeiten:  S.  94.  Nr.  50.  S.  96.  Nr.  51.  Andere 
Sieben  Keller  1.  3-4.  8.  9.  13.  30.  45  u.  ö. 

3)  A  19b.    7  ritter  B.  Zum  Motiv  oben  S.  304.  Keller,  Erz.  507,  10* 
Baling,  Prlamel  34 


530 

mußte,  weil  die  Earthäuserkirche  angeblich  die  zudrängenden 
Gläubigen  nicht  fassen  konnte  ^).  Mit  einer  gewissen  Hochachtang 
behandelt  den  Earthäuser  der  Nürnberger  Yolkswitz,  wie  der 
heutige  Vierzeiler  den  Einsiedler^). 

Die  karthäuser  sind  uns  gar  zuwidr, 
Wenn  sie  aufsten,  legen  wir  uns  nidr: 
Ein  solchen  orden  wollen  wir  han. 
Die  karteuser  sind  uns  ungemäß, 
Wir  eßen  kein  korb  und  sie  kein  käs: 
Ein  solchen  orden  wollen  wir  han. 
Die  karteuser  sind  uns  ungemein, 
Sie  eßen  kein  fleisch  und  wir  kein  bein: 
Einen  solchen  orden  wollen  wir  han  3). 

So  malt  Bosenplüt  einen  Hans  Liederlich,  um  von  ihm  zu 
sagen:  „Der  taug  zu  keinem  kartheusser  woP^).  Soll  das  ent- 
behrungsreichste Leben  bezeichnet  werden,  so  ist  es  härter  als 
das  der  Karthäuser^).  „Ein  Mann,  der  muß  wohnen  in  anderer 
Leut  Häuser^,  sagt  eine  Hausinschrift,  „der  ist  noch  ärmer  als 
ein  Kardäuser^ ^).  Bosenplüt  greift  das  Motiv  auf,  um  mit  dem 
Stolz  des  selbständigen  Meisters  zu  schildern,  wie  ein  Handwerker 
verarmt  und  schließlich  Dienstknecht  wird: 

Welcher  man  vil  junger  kint  hat. 

Dem  die  sonn  ee  im  hauß  ist  dann  das   prot?), 

Und  iedlichs  kint  nach  essen  grant, 

Und  er  vor  ern  und  guts  hat  gewant, 

Und  her  ist  komen  mit  großer  hab, 

Und  an  seinen  eren  nimpt  ab, 

Und  umb  sein  armut  wirt  versmecht, 

Und  im  alter  muß  werden  ein  dinstknecht, 


^)  Reicke,  Geschichte  der  Reichsstadt  Nürnberg  S.  286  ff. 

2)  Pogatschnigg  und  Herrmann  1%  2.  Nr.  8. 120.  Nr.  583.  Opschrif- 
ten  1,  46. 

^  ühland,  Volkslieder  Nr.  210,  5  ff.  Birlinger  und  Crecelius, 
Wunderhorn  2,  364  aus  dem  Musikalischen  Zeitvertreiber,  Nürnberg  1609. 

*)  Gottinger  Beiträge  2,  52.  Nr.  11.  In  Hs.  N  2b  steht  dazu  unten  auf 
der  Seite:  „An  dye  füeß  getretten  ist  auch  gepetten^.  Heinrich  von  Melk, 
Erinnerung  220  ff. 

«)  H&tzlerin  2,  74,  37.    Uhland  Nr.  279, 13. 

^)  Rob.  Falck,  Art  und  Unart  in  deutschen  Bergen,  Berlin  (1890)  S.  67. 

»)  Predig  26. 


531 

Und  erst  sich  nern  in  fremder  leut  heuser: 

Der  hat  vil  ein  hertern  orden  dann  ein  kartheuser^). 

Am  wirksamsten  hat  Rosenplüt  den  Karthäuser  am  Schluß 
des  Priamels  von  den  Knaben  in  den  hohen  Hüten  erscheinen 
lassen  ^). 

Die  knaben  in  den  hohen  hüten ^, 

Die  an  dem  tanz  toben  und  wüten, 

Das  oft  der  sweiß  wirt  von  in  rinnen^), 

Ee  sie  der  metzen  huld  gewinnen, 

Und  des  nachts  auf  der  gassen  umbtrieffen, 

Und  oft  die  ganze  nacht  umbslieffen 

Mit  lauten,  mit  harpfen,  mit  clavizimel: 

Den  wirt  die  hell  vil  seurer  dann  dem  kartheuser  der  himel*). 

Aber  die  Schlußwendung  ist  gar  nicht  neu.  Nach  Isidors 
Sentenzen  (Migne  83,  692  C:  „Quid  in  hac  vita laboriosius,  quam 
terrenis  desideriis  aestuare?  aut  quid  securius,  quam  hujus  saeculi 
nihil  appetere"?)  hatte  Freidank  (66,  i  flf.)  den  Spruch  gebildet^): 

man  lidet  groezer  arebeit 
durch  die  helle,  unt  groeser  leit 
danne  durh  das  himelriche; 

und  Hugo  von  Trimberg  meinte  (7452  flf.): 

daz  himelrich  kumt  vil  senfter  an 

roangen  guoten  cI6sterman 

den  diu  hell  gar  freidige  liute. 

In  wirt  diu  helle  üf  erden  sür  (6851). 

Heinrich  Teichner  (Karajan  Anmerkung  105)  wiederholt 
den  Gemeinplatz: 


1)  B  164b.  C  156b.  D  299.  K  16b.  L  14b. 

2)  A  D  B  29,  227.  Ein  ehrbarer  Rat  verbot  schändliche  Tänze  mit 
,halsen  oder  umbfahen'  (Baader  S.  91  f.),  Nachtgehen,  Unzucht  und  ,uber- 
flüssig  gedone'  (Baader  S.  56),  die  Förderung  des  Hofierens  durch  ,köstliche 
mal'  (Baader  S.  75  f.).  Sogar  die  Jungfrauen  gingen  Nachts  hofieren,  was 
der  Rat  1485  abstellen  mußte  (Baader  S.  84). 

3)  Seifried  Helbling  1,509;  oben  S.  379. 
*)  Müssiggener  10. 

6)  B  163b.    C  155a.    31b.  D  300.  E  398a.  H  126b.  K  21b.  L  9a.  0  5a. 
^)  Loewer,  Patristische  Quellenstudien  S. 31.    Hoepffner,  Eustache 
Deschamps  S.  203. 

34* 


532 

ich  geloube  an  widerstreben, 
das  man  die  hei  vil  herter  kouft 
dan  manz  himelrich  erlouft. 

Für  die  glänzende  Charakteristik  der  Modenarren,  Nachtraben, 
Liebesnarren,  Kirchenschwätzer  n.  s.  w.  lieferte  nicht  nur  ältere 
Literatur  und  die  Predigt,  wie  sie  die  Freiheitspredigt  ^)  kopiert, 
sondern  auch  wieder  die  kirchliche  Volksliteratur  fertige  Farben^). 
Lebendiges  gestalten  konnte  daraus  natürlich  nur  der  wirkliche 
Dichter.  Der,  wie  die  Zahl  der  Handschriften  ausweist,  über- 
aus beliebte  Priamelspruch  wurde  Modell  für  zwei  nicht  geist- 
liche Contrafacta ').  Das  Gegenstück  zum  Karthäuser  ist  die 
Nonne;  eignet  sich  ein  Hans  Liederlich  nicht  zum  Karthäuser, 
so  eine  liederliche,  verwöhnte  Frau  nicht  zur  Nonne  ^).  Zu  den 
wundersamen  Lebensläufen  des  Beichtigers  bilden  die  des  an- 
gehenden Klerikers  eine  Ergänzung:  das  Stück,  mit  dem  die 
Priamelrede  anhebt. 

Ein  Schreiber,  der  lieber  tanzt  und  springt, 
Denn  das  er  in  der  kirchen  singt; 
Und  lieber  vor  der  metzen  hoffirt, 
Denn  er  eim  prister  zu  altar  ministrirt^); 
Und  lieber  in  lieimlich  winkel  sltiff*), 
Dann  das  er  gen  predig  lüff; 


*)  Es  liegt  die  siebente  Hauptsünde  zu  Grunde.  Weber,  Die  Bam- 
berger Beichtbücher  S.  64  ff. 

^)  Weber  S.  59f.  65:  ,,Die  do  rasch  sein  zu  tanzen,  .  .  .  zn  wachen 
die  nacht  gassirend,  .  .  .  vnd  hunger,  durst,  frost  leiden  vnd  hert  ligen  durch 
suntlicher  yerhonklicher  sach  willen''. 

»)  Göttinger  Beiträge  2,  58.  Nr.  24.  S.  55.  Nr.  19.  Zu  23,  2  f.  Weber 
S.  59;  zu  24,  4  Teichner  bei  Earajan  S.  171.  A.  309.  „daz  man  wilent 
hiez  ein  schant";  zu  24,  85  Weber  S.  59;  zu  24,  7  wieder  Weber  S.  65; 
zu  24,  8  Weber  S.  59;  zu  24,  9  f.  Weber  S.  60.  Zum  Inhalt  G  A  35, 601  «f. 
Eriegk,  Deutsches  Bürgertum  im  Mittelalter  N.  F.  S.  257.  Ambraser  Lieder- 
buch 52,  20.  Sog.  Abraham  a  S.  Clara,  Narrennest.  Wien  1751.  3,  89. 
Zu  19,1  Helmbrocht  1004  fif.  Fsp.  1008,  1  ff.  19,7.  Keller,  Erz.  393,  19. 

♦)  Göttinger  Beiträge  2,33.  Vergl.  Seifried  Helbling  1,  1233 ff. 
Pogatschnigg  und  Herrmann  1«,  109.  Nr.  529.  S.  132.  Nr.  643;  S.  360. 
Nr.  1691.  ühland,  Volkslieder  Nr.  329.  M.  Haupt,  Französische  Volks- 
lieder S.  140.    Gustav  Meyer,  Essays  2, 154  f. 

»)  Fsp.  1011,  24  f. 

•)  Fsp.  623,  2.    754,  23.    1008,  24. 


538 

Und  lieber  drei  tag  pulnprieff  schrib, 

£e  er  ein  stund  zu  vesper  plib; 

Und  lieber  auf  der  gassen  swanzirt, 

Denn  das  er  in  den  puchern  studirt: 

Wenn  aus  eim  solchen  ein  frommer  prister  würt, 

So  hat  in  got  wol  mit  grossem  glück  angerürt^). 

Sieben  Tugendübungen,  wie  Fasten,  Andacht,  Verdemütigung, 
Beue  und  Leid  Erwecken,  Beten,  Zucht  --  ähnliches  wird  den 
sieben  Todsünden  entgegengesetzt^)  —  erfahren  ihre  Kontrafaktur, 
indem  sie  durch  Verlegung  auf  unpassende  Zeit  und  Gelegenheit 
zu  contradictiones  in  adjectis  werden. 

Welcher  lei  sein  vasten  und  andacht 

Spart  ^)  unz  an  die  vasnacht 

Und  an  ein  tanz  demütigkeit 

Und  zu  schön  frawen  rew  und  leit 

Und  in  ein  weinhaus  sein  gepet^), 

Wenn  er  spilt  in  dem  pret, 

Und  sein  zucht  spart,  unz  er  wirt  vol: 

Für  ein  weisen  manne  man  in  nit  halten  soP). 

Verwandt  ist  außerdem  den  citierten  Freidanksprüchen  das 
Motiv  des  md.  Vierzeilers: 

Wer  den  wolflf  nicht  forcht  zu  weinachten*). 

Die  vier  Wandel  des  beliebten  Dienstbotenspruchs ^)  sind 
den  vier  Angeltugenden  nachgebildet;  zählt  man  üngenügsamkeit 
(Vers  2),  „schaden  und  posen  handel^  (3)  hinzu,  so  ergeben  sich 
die    Ehalten -Saligia.     Wie   in    den    „sechs   Ärzten^    neben   drei 


>)B175a.    C  163a.    D  292.    K  25b.    N  2a.    0  5a. 

^)  Weber  S.  21:  „Keusch,  demutig,  zu  geistlichen  tugent  hablastvnd 
jnnikeit". 

^  Fr  ei  dank  33,  22:  „swer  sünden  buoze  in  alter  spart,  der  h&t  die 
sei  niht  wol  bewart^. 

^)  Frei  dank  94,  13:  j,swer  sine  sünde  weinen  mac,  so  er  trunken  wirt, 
deist  wines  slac*^. 

*)  C  187b.  F48a,  Sp.  2  Vers  6:  So  er  kart  vnd  spilt.  7  wicz 
pis.  8  Der  taug  zu  keynem  karteuser  woll.  Keller,  Schwanke  S.  19. 
Nr.  2.    Die  geringe  und  sp&te  Bezeugung  des  Spruches  ist  yerdftchtig. 

«)  oben  Kap.  VI  S.  357. 

7)  Keller,  Schwanke  S.  60.  Nr.  31.  B  18a.  F  132c.  Uhl  S.  102.  0  5a. 
P  344a.  Wiener  Hs.  4117,  44b  (x).  Priebsch,  Deutsche  Handschriften  in 
England  2, 156.  Geyer,  Die  Tischzuchten  S.  3  f.   Cod.  Pal.  germ.  325, 20b  (m) 


534 


„Leibärzten^  drei  Seelenärzte  aaftreten,  so  erhält  auch  die  Lebens- 
und Gesundheitsregel  eine  geistliehe  Pointe. 

Nach  dreien  dingen  wirt  man  stark. 

Das  vint  man  in  der  Weisheit  sark: 

Das  erst,  wenn  einer  zalt  sein  schuld 

Und  gewint  seiner  gelter  gunst  und  huld; 

Das  ander,  wann  ein  der  hunger  hat  besessen. 

Darnach  er  genug  hat  trunken  und  gessen; 

Das  dritt,  wenn  einer  recht  hat  gepeicht. 

Davon  vil  swacheit  von  im  weicht: 

Die  drei  pürd  trücken  manchen  krank. 

Das  im  ein  tag  wirt  zweier  lank. 

Wer  die  drei  lest  und  von  im  lett, 

Der  hat  so  vil  swacheit  verzett. 

Das  er  wirt  sterker  denn  vor  seiner  zwen. 

Wenn  er  on  schuld  und  on  sünd  wirt  geni). 

Bei  dem  Gewicht,  das  Bosenplüt  auf  geistliche  Poesie  legt, 
ist  es  erklärlich,  daß  er  auch  dem  allgemeinen  Stände-  und 
Rügesprucb  gern  eine  geistliche  Spitze  gibt. 

Welcher  man  den  erzten  wirt  zuteil 

Mit  irer  affensalben  heil; 

Und  eim  pösen  zölner  zu  teil  wirt. 

So  er  im  den  zol  hat  hin  geflirt; 

Und  den  Juden  zu  teil  wirt  mit  irm  gesuch. 

Da  sie  in  schreiben  in  daz.  wucherpuch; 

Und  den  pfaffen  zu  teil  wirt  mit  irm  pannen. 

So  er  in  nicht  gelts  hat  auszuspannen; 

Und  eim  rauber  zu  teil  wirt,  der  in  umbslempt 

Und  in  eim  stock  umb  gelt  clempt; 

Und  mit  eim  pösen  weib  wirt  erslagen. 

Die  nacht  und  tag  an  im  tut  nagen: 

Wer  dem  darzu  eins  pösen  jars  gan. 

Der  tut  gar  nahent  ein  teglich  sünd  daran  2). 

Das  Gegenstück  dazu  ist: 

Ein  toreter  rater  in  eim  rat, 

So  man  weis  sach  zu  handeln  hat; 

»)  B  166a.  C  184a.  E  395b.  G  24a  Sp.  2.   Das  Gegenstück  bei  Keller, 
Schwanke  S.  41.  Nr.  21. 
3)  A  17  b. 


535 


Und  ein  unparmherziger  richter, 

Der  am  rechten  wer  ein  pöser  slichter; 

Und  ein  ungelerter  peichtiger, 

Der  nit  west,  was  ein  totsünd  wer; 

Und  ein  itiesner,  der  ein  solchs  verhilt, 

Das  er  selber  in  der  kirchen  stilt; 

Und  ein  torwarter,  den  weins  kraft  also  beseß, 

Das  er  der  slüssel  des  nachtz  si,m  tor  vergeß; 

Und  ein  kastner»  der  mer  nimpt,  denn  gultpücher  ausweisen, 

Und  das  übrig  lest  in  sein  sack  reisen: 

Wer  die  absetzt  und  ander  frummer  an, 

Der  tet  kein  große  totsünd  nimmer  daran  ^). 

Bosenplüt  empfiehlt  ein  praktisches  Christentum. 

Ein  richter,  der  da  sitzt  an  eim  gericht 

Und  treulich  darnach  sint  und  ticht, 

Wie  er  eim  ein  rechts  recht  müg  sprechen, 

Wann  in  der  loica  angel  wil  stechen. 

So  gewalt  und  miet  das  recht  hinter  sich  treibt, 

Wann  er  das  wider  für  sich  scheibt. 

Wann  man  eim  armen  das  recht  verquent 

Und  im  ein  hütlein  für  die  äugen  went. 

Siecht  er  das  dann  wider  mit  seim  stab. 

Und  das  recht  lieber  hat  dann  freunt  oder  hab: 

Der  erbeit  seiner  sei  vil  getreulicher  zu  got. 

Dann  hielt  er  allweg  die  zehen  gepot 

Und  ging  auf  sein  plossen  knien  wallen. 

Noch  hat  got  am  rechten  pessers  wolgefallen  ^). 

Einigkeit  ist  Oott  die  wohlgefälligste  Musik. 

Ein  rat  in  einer  stat  und  ein  ganze  gemein. 
Wo  die  all  gleich  tragen  über  ein; 
Und  ein  pfarrer  und  all  sein  untertenig, 
Die  nimmer  mit  einander  sein  widerspenig; 
Und  ein  konfent  in  eim  kloster  und  ein  apt. 
Da  zwischen  es  nimmer  nit  aufg^apt; 
Und  ein  herr  und  all  sein  hintersessen. 
Die  nimmer  mit  einander  kifferbeis  essen; 
Und  ein  frummer  eeman  und  sein  weib. 
Die  zwu  sei  haben  und  nur  ein  leib: 


1)  A  17a.        3)  A  55b.    B  157b.    C  176b. 


536 


Secht  wo  die  dink  all  gleich  concordim, 
Das  ist  got  vil  ein  pessers  hoffim 
Dann  alles  das  seitenspil  und  orgelgesank, 
Das  von  musica  auf  erden  ie  erklank'). 

Sieben  in  ihrem  Beruf  Getreuen  verleiht  Oott  ein  seliges 

Ende. 

Ein  hirt,  der  treulich  seins  viechs  hütt 

Und  nimtner  mer  flucht  und  all  weg  gütt; 

Und  ein  pauersman,  der  sein  gült  schon  geit 

Getreulich  und  zu  rechter  zeit; 

Und  ein  hantwerksman,  den  niemant  schilt, 

Der  eim  sein  pfenning  wol  abgilt; 

Und  ein  richter,  der  do  richtet  recht 

Dem  armen  als  dem  reichen  und  niemant  versmecht; 

Und  ein  ritter  der  gern  beschirmt  witwen  und  weisen 

Und  niemant  in  lest  wider  recht  abzeisen; 

Und  ein  herr,  der  frid  macht  über  jar 

Und  das  antreibt  pis  auf  die  par: 

Den  siben  wil  got  mit  nicht  verzeihen, 

Er  wil  in  sein  genad  an  irm  letzten  end  verleihen^. 

Im  Himmel  findet  der  humoristisch  geschilderte  Lebenslauf 
eines  Pechvogels  den  stilgerechten  Abschluß:  Oott  läßt  ihn 
hinein,  Sankt  Peter  wirft  ihn  wieder  hinaus.  Das  apologische 
Sprichwort  ist  auch  hier  formgebendes  Princip  geworden. 

Dem  ist  wenig  glucks  beschert. 
Ein  frummer  man,  der  gern  recht  tet, 
Do  niemant  guten  glauben  an  het; 
Und  den  man  für  ein  frummen  man  in  ein  rat  erweit, 
Und  in  ein  pütel  für  ein  schalk  zeit; 
Und  ein  könig  im  geb,  daz  er  zu  narung  köm. 
Und  ims  ein  schintfessel  wider  nem; 
Und  ein  wirt  im  gut  hcrberg  zusei t, 
Und  in  der  hausknecht  wider  aus  geit; 
Und  im  die  wirtin  hinten  und  vorn  aufslüß. 
Und  die  meid  in  mit  eim  wasser  begüß: 
Ein  solcher  möcht  wol  pillich  klagen 
Und  auch  von  großer  verheitkeit  sagen. 


»)  A  54  b.    B  156  a. 

«)  A  20a.  B  157a.    Vergl.  Keller,  Schwanke  S.  71.  Nr.  37.    Göttinger 
Beiträge  2,  45.  Nr.  2.  8.  59.  Nr.  26. 


587 

Wenn  in  got  in  sein  himelreich  Heß, 
Und  in  sant  Peter  wider  heraus  stieß')« 

Bei  der  selbständigen  Ausgestaltung  eines  durch  Heinrich 
von  Melk  (Erinnerung  220  ff.)  schon  bezeugten  Motives: 

möcht  iemen  mit  herlicher  spise 
daz  himelrich  beherten 
unt  mit  wol  gistraelten  härten 
unt  mit  höh  geschornem  häre: 
so  wseren  si  alle  häilich  zwäre^) 

könnte  man  an  Zusammenhang  mit  Predigt  oder  geistlicher  Lite- 
ratur denken,  will  man  nicht  das  Motiv  als  längst  volksmäßig 
geworden  gelten  lassen. 

Bei  der  Herleitung  des  Priamelspruches  ,W6lich  man  sich 
vil  rümpt  von  frauen^)^  konkurrieren  die  recht  ähnlichen 
Motive  vierzeiliger  Improvisation  ^)  mit  den  Sünden  der  Zunge  und 
des  Mundes,  wie  sie  in  den  Beichtschriften,  auch  versificiert,  auf- 
treten^). Gastfreundschaft  zu  üben,  gehört  unter  die  Werke 
der  leiblichen  Barmherzigkeit.  Sieben  fromme  Oäste  werden 
empfohlen: 

Ein  fruromer  dinstknecht  getrew  und  warhaft, 

Der  all  weg  gehorsam  ist  seiner  herrschaft; 

Und  ein  frumme^)  junkfraw,  der  sich  also  stelt. 

Das  sie  got  und  der  werlt  wol  gefeit; 

Und  ein  frumme  eefraw,  die  nit  nach  get, 

Dann  was  iren  eren  wol  anstet; 

Und  ein  frummer  priester,  der  nit  sünd  hat  getan 

Und  auf  der  kanzel  wol  reden  kan; 

Und  ein  frummer  münch,  der  sein  orden  helt 

Und  sich  von  allen  Sünden  speit; 

Und  ein  frummer  pilgram  auf  dem  gotz  weg, 

Der  die  nacht  halb  auf  seinen  knien  leg; 


«)  A  18a.    Vischer,  Aesthetik  1,  391  f. 

3)  Dazu  Heinzel  S.  114.    Göttinger  Beiträge  2,  59.  Nr.  26.  2, 45.  Nr. 2. 

3)  Gott.  Beitr.  2, 56.  Nr.  22. 

*)  Kap.  VI  S.  302  (Hugo  von  Trimberg),  355,  377.  Von  den  zahllosen 
entsprechenden  Vorschriften  der  sonstigen  ma.  Literatur  kann  hier  abge> 
sehen  werden. 

5)  Weber,  Die  Bamberger  Beichtbncher  S.  18.  Femer  steht  Nr,  822 
des  Florilegium  Gottingense. 

ß)  junge  A. 


588 

Und  ein  frummer  getrewer  arbeiter, 

Den  nie  kein  arbeit  daucht  zu  swer: 

Wer  die  siben  zu  gast  in  seim  haus  hat, 

Der  legt  in  wol  mit  eren  ftir  saltz  und  prot^). 

Bis  ins  16.  Jahrhundert  wirkte  in  den  Sprüchen  vom  Almosen 
der  Libellus  de  eleemosyna  des  Innocentius  III.  nach:  eine 
analoge  Erscheinung  läßt  sich  bei  Sprüchen  und  didaktischen 
Ausführungen  über  das  Alter  beobachten,  auf  die  das  11.  Kapitel 
der  berühmten  Schrift  De  contemptu  mundi  (Migne,  Patrologia 
217,  706  C:  De  incommodis  senectutis)  von  Einfluß  gewesen  ist 
Für  Eustache  Deschamps,  Richard  Bolle  von  Hampoie 
und  Hugo  von  Langenstein  steht  das  fest ^);  Fran9ois  Villen 
behandelt  das  Thema  mit  Selbständigkeit').  Hugo  von  Trim- 
berg,  die  Fiore  di  virtü,  Vintler*),  scheinen  u.  a.  Innocenz 
mittelbar  verpflichtet  zu  sein.  Freilich  gibt  es  schon  in  der 
früheren  deutschen  Literatur  eine  ähnlich  realistische  Schilderung 
des  Alters,  das  bekannte  14.  Fragment  des  Ruodlieb^).  Aber 
wie  Heinrich  von  Melk  (gleich  seinen  Quellen)  zu  Erbauungs- 
zwecken  den  Tod  ausmalt,  so  wird  sich  spätere  Predigt  und  Er- 
bauungsliteratur den  dankbaren  Gegenstand  selten  haben  entgehen 
lassen.  Was  demgegenüber  volkstümliche  Onomik  an  Spruch- 
material über  das  Alter  hervorgebracht  hat,  scheint  nur  (mehr 
oder  minder)  unerheblich  zu  sein.  Es  ist  Zufall,  wenn  ein  Priamel- 
vers  (Vor  alter  wirt  der  man  weiß)^)  im  modernen  Schnader- 
hüpfel  wiederkehrt. 

Und  de  Jugend  hat  ka  Tugend, 
Und  de  Schönheit  ka  Zier, 
Und  im  Alter  wert  der  Mann  weiß, 
Und  so  gehts  hiez  mir^). 

Selbst,  was  wie  unmittelbare  Äußerung  reifer  Lebenserfahrung 
klingt,  Freidanks  schöne  Worte: 

>)  A22a. 

')  Eustache  Deschamps,  Oenyres  completes  11,  145 f.  96.  K5hler, 
Schriften  2, 126.  147. 

3)  Gaston  Paris  S.  106. 

*)  Vergl.  I  30  bei  der  Hätzlerin. 

^)  Koegel,  Geschichte  der  deutschen  Literatur  I^  394  f.  Heyne, 
Fünf  Bücher  deutscher  Haasaltertümer  3, 20  weist  auch  auf  Heliand  150  ff.  hin, 

^)  Göttinger  Beiträge  2,  54.  Nr.  16,  1. 

7)  Pogatschnigg  und  Herrmann  2,50,  Nr.  197, 


543 

Wenn  im  die  siben  stück  wonen  pei. 

So  sol  er  niemantz  klagen,  das  er  krank  sei^). 

Das  letzte  Priamel  dieses  volksmedizinischen  Kreises  ist  das 
Oegeostück  zu  dem  Sprach  ,Nach  dreien  dingen  wirt  man  stark^ 
der  eine  geistliche  Wendung  nahm. 

Nach  dreien  dingen  wirt  inan  swach, 

Das  ist  ein  alte  war  sag: 

Das  erst,  wann  man  hat  gepat, 

Das  peut  den  glidern  schach  und  mat; 

Das  ander  ist  von  grossem  zom 

So  hat  der  mensch  vil  kraft  verlorn; 

Das  drit,  wann  man  pei  frawen  leit, 

Dasselb  auch  grosse  swacheit  gelt: 

Nach  paden  sol  man  kelten  fMehen^), 

So  wirt  sich  kraft  wider  einziehen; 

Nach  grossem  zorn  sol  man  freud  suchen, 

Das  stet  geschriben  in  den  arztpuchen; 

Wer  denn  sleft  nach  dem  werk  der  frawen, 

Der  hat  die  swacheit  al  wider  abgehawen^). 

Die  drei  Warnungen  sind  landläufiger  Bestandteil  der  Volks- 
medizin ^). 

Auf  prahlerischen  und  komisch  übertreibenden  Schwan  k- 
erzählungen  beruhen  zwei  Priamel sprüche  von  Erzfaulpelzen ^); 
regelmäßig  handelt  es  sich  um  eine  hypothetische  oder  fingierte 
Lage,  deren  einzelne  Umstände,  in  parallelen  Beihen  geordnet, 
dem  Aufbau  des  Priamels  dienen;  vor  dem  Abschluß  wird  dann 
hervorgehoben:  der  Faulpelz  rührt  sich  trotz  alledem  nicht ^). 
Die  aller  Textkritik  spottende  Verschiedenheit  der  Fassungen  zeigt, 
wie  lustige  Improvisation  das  Material  ständig  flüssig  erhalten  hat. 
Während  Kellers  No.  24  und  25')  der  Überlieferung  von  C 
folgen,  lauten  die  Sprüche  in  B  E  M  und  B  E: 

1)  A  20b. 

*)  Liedersaal  186,  7.   Regimen  Sanitatis  Salemitanum  (ed.  Düntzer)  14 

3;  B  166  a. 

^)  Heyne  3,  106 f.    Regimen  Sanitatis  Salernitanum  (ed.  Düntzer)  9. 

^)  Über  das  Motiv  Bolte  zu  Schumanns  Nachtbüchlein  273,  13;  oben 
S.  309. 

^)  Auch  im  Fsp.  86,  25  f.  565,  6  f.  Hans  Betz,  ,Die  faul  schelmzunft 
der  zwelf  pfaffenknecht'  131  f.  138  (Wagners  Archiv  1,  75). 

7)  Schw&nke  S.  47  ff. 


542 


Trimberg  gibt  Gesundheitsregeln  ^),  in  den  Traktaten  des  14.  Jahr- 
hunderts wiederholt  sich  das  in  Erbauungs-Schriften  beobachtete 
Schwanken  zwischen  Vers  und  Prosa ^),  des.  Vierzeilers*)  bemäch- 
tigt sich  auch  diese  Art  der  Volksbelehrung.  Was  Rosenplüt 
an  Gesundheitsregeln  in  die  Priaraelform  bringt,  ist  teilweise  für 
praktische  Anwendung  berechnet.  Wenn  er  einen  Laßbrief  ver- 
sificiert*),  braucht  nicht  etwa  auf  Fseudo-Bedas  Traktat  De  minu- 
tione  sanguinis  sive  de  phlebotomia  (Migne  90,  959  C  flf.)  zurück- 
gegriffen zu  werden;  die  aufgezählten  zwölf  Stücke  lieferte  jedes 
Aderlaßmännchen ^).  Ebenso  naheliegendes  Material,  vielleicht 
Kalender*^),  wird  der  Schnepperer  für  die  „neun  schaden  zum 
haubt^)"  und  die  Mensur- Vorschriften®)  benutzt  haben.  Der 
Spruch  von  den  sieben  Zeichen  der  Gesundheit  (Essen,  Trinken, 
Arbeiten,  Minnen,  Schlafen,  Verdauung)  bedarf  ebensowenig  der 
Herleitung  aus  einer  fachwissenschaftlich  medicinischen  Quelle; 
die  sieben  Stücke  decken  sich  bis  auf  eins  mit  den  sieben  größten 
Freuden  der  Volksliteratur  (Essen,  Trinken,  Minnen,  Verdauung, 
Schlafen,  Baden)  ^). 

Ein  man,  der  wol  mag  trinken  und  essen, 
Wann  daz  er  ist  zu  tisch  gesessen; 
Und  wol  mag  gearbeiten,  waz  im  zustet, 
!  Damit  man  sich  mit  eren  heget; 

Und  ein  man  mag  sein  zu  zimlicher  zeit, 
Wenn  er  pei  seinem  eeweib    leit; 
Und  wol  mag  slaffen  frü  und  spat 
Und  zu  rechter  zeit  sein  prunnen  hat; 
Und  wol  mag  unten  ausgedewen, 
Damit  er  mag  ein  saw  erfrewen : 


»)  Renner  9889  ff. 

^)  Friebsch,  Deutsche  Handschriften  in  England  1,314 f. 
3)  Göttinger  Beiträge  2,  61.  Nr.  31.    Oben  S.  364.  373. 
^)  Göttinger  Beiträge  2,  68.  Nr.  45. 
^)  z.  B.  Heyne,  Deutsche  Hausaltertnmer  3,  lU. 

6)  Der  Gredingersche  Kalender  von  1428  enthält  auch  Verse.  Anzeiger 
für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit.    N.  F.  11,  335  f. 

7)  Göttinger  Beiträge  2,  69.  Nr.  47.  Heyne  3,  131.  Der  Kalender  von 
Johannes  Gredinger  gibt  mehrere  Vorschriften  „zu  dem  haupt"  S.  334.  333. 
335.     Zu  Vers  2  vergl.  B.  Parz  229,  46. 

8)  Beiträge  2,  69.  Nr.  46.     Heyne  3,  106. 

9)  Germania  1890  S.  397  f. 


543 

Wenn  im  die  siben  stück  wonen  pei. 

So  sol  er  niemantz  klagen,  das  er  krank  sei^). 

Das  letzte  Priamel  dieses  volksmedizinischen  Kreises  ist  das 
Gegenstück  zu  dem  Spruch  ,Nach  dreien  dingen  wirt  man  stark^ 
der  eine  geistliche  Wendung  nahm. 

Nach  dreien  dingen  wirt  man  swach, 

Das  ist  ein  alte  war  sag: 

Das  erst,  wann  man  hat  gepat, 

Das  peut  den  glidern  schach  und  mat; 

Das  ander  ist  von  grossem  zorn 

So  hat  der  mensch  vil  kraft  verlorn; 

Das  drit,  wann  man  pei  frawen  leit, 

Dasselb  auch  grosse  swacheit  geit: 

Nach  paden  sol  man  kelten  fMehen^), 

So  wirt  sich  kraft  wider  einziehen; 

Nach  grossem  zorn  sol  man  freud  suchen, 

Das  stet  geschriben  in  den  arztpuchen; 

Wer  derni  sleft  nach  dem  werk  der  frawen, 

Der  hat  die  swacheit  al  wider  abgehawen^). 

Die  drei  Warnungen  sind  landläufiger  Bestandteil  der  Volks- 
medizin ^). 

Auf  prahlerischen  und  komisch  übertreibenden  Schwan  k- 
erzählungen  beruhen  zwei  Priamel sprüche  von  Erzfaulpelzen ^) ; 
regelmäßig  handelt  es  sich  um  eine  hypothetische  oder  fingierte 
Lage,  deren  einzelne  Umstände,  in  parallelen  Beihen  geordnet, 
dem  Aufbau  des  Priamels  dienen;  vor  dem  Abschluß  wird  dann 
hervorgehoben:  der  Faulpelz  rührt  sich  trotz  alledem  nicht ^). 
Die  aller  Textkritik  spottende  Verschiedenheit  der  Fassungen  zeigt, 
wie  lustige  Improvisation  das  Material  ständig  flüssig  erhalten  hat. 
Während  Kellers  No.  24  und  25')  der  Überlieferung  von  C 
folgen,  lauten  die  Sprüche  in  B  E  M  und  BE: 

1)  A  20b. 

*)  Liedersaal  186,  7.   Regimen  Sanitatis  Salernitanum  (ed.  Dan tz er)  14 

3;  B  166  a. 

^)  Heyne  3,  106  f.    Regimen  Sanitatis  Salernitanum  (ed.  Düntzer)  9. 

^)  Über  das  Motiv  Bolte  zu  Schumanns  Nachtbüchlein  273,  13;  oben 
S.  309. 

^)  Auch  im  Fsp.  86,  25f.  565,  6  f.  Hans  Betz,  ,Die  faul  schelmzunft 
der  zwelf  pfaffenknecht'  131  f.  138  (Wagners  Archiv  1,75). 

^  Schwanke  S.  47  ff. 


544 


Welch  man  wer  als  faul  und  als  treg. 

Der  an  einer  heissen  sunnen  leg, 

Pis  im  die  fiigen  ab  pissen  sein  om, 

Und  an  seiner  heut  würd  gleich  eim  mom  *}; 

Und  als  lang  schlieff  auf  einer  misten, 

Pifi  im  die  meuß  in  hintern  würden  nisten*); 

Und  pei  dem  fewer  sich  nit  verwent. 

Piß  im  die  pruch  am  hintern  verprent^); 

Und  als  lang  in  eim  kustal  seß, 

Pifi  im  ein  maufi  sein  zagel  abfreß 

Und  im  ped  hoden  dflrkel  piß, 

Und  im  ein  ku  ein  aug  ausschiß: 

Und  dannoch  vor  lafiheit  nit  mocht  weichen. 

Den  mag  man  wol  zu  eim  faulen  hursnn  gleichen^). 

Wer  als  faul  wer  und  als  ableß. 

Und  auf  einer  wagenleiß  seß. 

Piß  im  ein  rat  ein  fuß  abdrückt, 

Ec  er  ein  wenig  hinter  sich  rückt^); 

Und  als  lang  stund  vor  einem  hanfi. 

Piß  im  der  regen  slüg  sein  äugen  auß. 

Und  wenn  der  vor  faulkeit  nit  möcht  rücken  noch  gan*): 

Denselben  halt  ich  gar  für  ein  fauln  man^. 

Eigener  freier  Erfindung  ließ  dabei  die  Überliefenmg  wenig 
Baum;  aber  die  Aasfuhmng  verrät  bei  Sosenplüt  doch  wieder 
selbsttätiges  Oeschick').  Vielleicht  spielt  anch  der  wunderliche 
Sprach  ,Kein  grösser  nar  mag  nicht  werden*^)  auf  eine  Schwank- 
erzäUung  an^®). 


>)  Hans  Beti  93  iL    95  iL    Fsp.  565,  16  IL 

^  Fsp,  752,  5t 

^  Hans  Beti  137  fil 

«)  B  162  h. 

^  Hans  Beti  125  iL    Fsp.  565,  11  ff. 

^  Fsp.  86.  17  ff.    56a,  6  ff.     Hans  Beti  59  ff. 

»)  B  172  b. 

*)  Noch  einmal  erscheint  der  Faole  am  Schloß  eines  Priam<da  t«i  der 
Langweile.  Gott.  Beitr.  2,  53.  Xr.  15,  7.  Freidank  113,  6.  Graff,  Dia- 
tiska  h  324.     Calender  261.     Peter  Len  1160.     Togt,  Salmaa  &  XLIV. 

*)  Göttinger  Beiträge  2^  55.  Nr.  19.    Florilegiom  Gottiagease  Kr.  306. 

*^^  TergL  Keller,  Enihlimgen  ans  altdentschcn  Hsb.  336,  38:  aber 
andi  393.  19.    Wohl  dieses  Tieffers  wegen  Terxichtet  auch  die  Priamefaede 


545 

Die  Hauptgrnndlage  für  Bösen pluts  uichtgeistliche  Priamel 
war,  wie  zu  erwarten  steht  und  sich  auch  schon  vielfach  gezeigt 
hat,  ältere  Onomik  und  Stegreifdichtung.  Die  Ali;  und 
Weise,  wie  der  sinnige  und  gestaltungskrärtige  Nürnberger  Meister 
mit  diesem  Material  verfuhr,  verrät  den  denkenden  Künstler,  der 
sich  von  seiner  Arbpit  wohl  Rechenschaft  zu  geben  pflegt:  so 
selbständig  tritt  er  älterer  Oberlieferung  gegenüber:  ganz  anders 
als  Folz,  ganz  anders  als  die  volksmäßige  Fortentwicklung  der 
Stegreifthemata. 

Improvisierende  volksmäßige  Moralisation  hatte  die  noch  heute 
übliche  Form  mit  ,Seit'  (swenne,  sw&,  die  wile)  geprägt*).  Wenn 
Bosenplüt  das  Motiv  übernimmt,  füllt  er  es  selbständig  mit 
neuem  „temporärem  Qehalt^. 

Seit  daz  man  die  roten  engen  schuchlein^j  erdacht, 

Und  zoten  und  läppen  auf  die  kleider  macht^), 

Und  in  einer  hosen  mer  nestel  trug  dann  drei^), 

Und  ein  mensch  dem  andern  nimmer  wolt  sten  pei, 

Und  die  alten  recht  wart  verkeren, 

Und  die  priesterschaft  nimmer  wolt  haben  in  eren, 

Und  niemanl  mer  auf  den  pan  wolt  achten, 

Den  ettwann  die  frummen  pebst  machten, 

Und  die  reichen  die  armen  wurden  versmehen, 

Und  der  paurn  wart  spotten  und  anpleen, 

Und  puben  und  ptibin  in  rauhen  rocken  wurden  gen^): 

Sider  wolts  nimmermer  wol  gesten^). 

Forderte    man    zehn    oder   zwölf  Stücke,    die  einer  Stadt 
Wohlfahrt  verbürgen  und,  wie  mittelniederländische  Oberlieferung 


Nr.  4  b  auf  das  minderwertige  Stück  nicht.  Selbstverständlich  kann  Rosen- 
plüt  nicht  die  Fassung  seines  fast  zwei  Menschenalter  jüngeren  Schülers 
Claus  Spaun  gekannt  haben;  doch  der  hearbeitetc  auch  nur  bereitliegenden 
Stoff.    Genn.  Abh.  18,  67  ff. 

>)  Oben  S.  350  ff.  372.    Vergl.  290.  305.  309.    Im  Lied  von  den  Türken 
beginnen  mehrere  Strophen  mit  ,SeitS 

«)  Heyne,  Hausaltertümer  3,  286.    Hätzlerin  2,  13,  109.  2,  61,  38. 

3)  Predig  7  ff. 

«)  Seemüller  zu  Seifried  Helbling  1,  240.  2,  60. 

*)  Heyne  3,  281. 

")  A  17b.    Überschrift:    Der  werlt  lawff  darinen   es  ytzunt  übel  stet. 
Erweiterungen  bei  Keller,  Schw&nke  S.  68.  Nr.  35. 

Ealing,  Prüunel  35 


544 

Welch  man  wer  als  faul  und  ; 
Der  an  einer  heissen  sunnen  1« 
Pis  im  die  fligen  ab  pissen  sc 
Und  an  seiner  heut  würd  gl. 
Und  als  lang  schlieff  auf  eii 
Piß  im  die  meuß  in  hintern 
Und  pei  dem  fewer  sich  n-t 
Piß  im  die  pruch  am  hintc* 
Und  als  lang  in  eim  kust.  ' 
Piß  im  ein  mauß  sein  zn. 
Und  im  ped  hoden  dürk« 
Und  im  ein  ku  ein  auü^  ; 
Und  dannoch  vor  laßht 
Den  mag  man  wol  zu 

Wer  als  faul  wer  und 
Und  auf  einer  wagen! 
Piß  im  ein  rat  ein  f. 
Ee  er  ein  wenig  liir 
Und  als  lang  stund 
Piß  im  der  regen  ^ 
Und  wenn  der  vor 
Denselben  halt  i( 

Eigener  freier  Erfin«:' 
Baum;    aber  die  Ausführ 
selbsttätiges  Geschick '^j. 
Sprach  ,Kein  grösser  ik 
erzählung  an^^). 


>)  Hans  Betz  89  1:. 
«)  Fsp.  752,  5  f. 
»)  Hans  Betz  i:  * 
*)  B  162  b. 

5)  Hans  Betz  1 

6)  Fsp.  80,  17  i\ 
')  B  172  b. 

■  i'trwci^''.     <i'"'*t. 


e  . 


547 


.  i  eigentlich  sieben  kleine  dramatische  Seenen,  die  der 
)u?*)  gestaltet: 

Kumpt  kunst  gegangen  für  ein  hauB, 

So  sa^t  man  ir,  der  wirt  sei  auß; 

Kumpt  weißheit  auch  gegangen  dafür, 

So  vindt  sie  beslossen  alle  tür; 

Kumpt  zucht  gegangen  in  derselben  maß. 

So  muß  sie  auch  geen  ire  straß; 

Kumpt  lieb  und  trew  und  wern  gern  ein, 

So  wil  niemant  ir  pfortner  sein; 

Kumpt  warheit  dafür  und  clopfet  an, 

So  muß  sie  lang  vor  der  tür  stan; 

Kumpt  gerech tigkeit  auch  für  das  tor. 

So  vindt  sie  keten  und  rigel  vor: 

Kumpt  aber  der  pfenning  gegangen  oder  geloffen, 

So  vindt  er  tür  und  tor  hinten  und  vorn  offen  2). 

Wie  kunstvoll  ßosenplüt  im  Rahmen  des  alten  ,Ohne'- 
.ivs  völlig  Neues  zu  leisten  versteht,  lehrten  mehrere  geistliche 
r  den  geistlichen  nahe  stehende  Priamel.  Nichtgeistliche  Priamel- 

'üche  desselben  Motivbereichs  bestätigen  diese  Beobachtung, 
zwei   parallelen  Sprüchen,    beide   mit   demselben  noch   heute 

'Iksmäßigen    Witz    abgeschlossen,    erscheinen    wieder  je    sieben 

ypen,   denen   die    contradictio   in  adjecto  als  charakterisierendes 

lerkmal  mitgegeben  ist. 

Ein  spiler,  der  spil  hat  getriben  an 
Dreissig  jar  und  nie  kein  swur  hat  getan; 
Und  ein  wirt,  dem  alltag  gest  zukomen, 
Der  nie  kein  gast  hat  Übernomen; 
Und  ein  kaufman,  der  war  sagt  zu  aller  zeit; 
Und  ein  sneider,  der  all  fleck  wider  geit; 
Und  ein  weber,  den  man  zeit  für  ein  alten, 
Der  nie  kein  faden  doheim  hat  behalten; 
Und  ein  mülner,  der  zu  sein  tagen  ist  komen, 
Der  die  mas  nie  ze  vol  hat  genomen; 
Und  ein  jud,  der  do  hat  ein  graen  part, 
Der  nie  keinem  cristen  veind  wart: 


I  > 


*)  Bei   der  Motiv- Vergleichung   ist   natürlich   hier   immer   der  gleiche 
Vorbehalt  zu  machen  wie  Genn.  Abh.  18,  50. 
2)  B  164  a. 

35* 


548 

Die  siben  wolt  ich  lieber  pei  einander  sehen, 
Den  ein  sneider  an  einer  alten  hosen  neen^). 

Ein  kraoner,  der  do  nimmer  nicht  leugt; 

Und  ein  appoteker,  der  niemant  betreugt; 

Und  ein  jud,  der  an  gesuch  lest  varen, 

Domit  er  wil  sein  sei  bewaren; 

Und  ein  pfarrer,  der  sich  des.  opfers  wert, 

Der  do  meint,  got  hab  im  genung  beschert; 

Und  ein  tumher,  der  sich  in  ein  stock  lies  quelen, 

£e  er  sich  ließ  zu  bischof  welen; 

Und  ein  richter,  der  ee  umb  ein  gülden  köm, 

Dan  das  er  zwen  zu  hantsalb  nem; 

Und  ein  her,  der  all  zoll  abtun  hieß, 

Ee  er  ein  rauber  in  seim  lant  ließ: 

Die  sieben  wolt  ich  auch  lieber  pei  einander  vinden, 

Den  ein  metzler  an  einer  alten  ku  schinden^). 

Den  Ritter  ,äne  ritterlichen  muot'  (Strickers  Karl  4876  flf)') 
schildert  der  behäbige  Meister  in  kleinbürgerlicher  Verkommen- 
heit ab^)  und  zieht  den  rechten  Richter,  Kaufmann,  Handwerker 
und  Bauern  dem  bösen  Ritter  vor. 

Ein  richler,  der  da  richtet  recht 

Dem  armen  als  dem  reichen  und  niemant  versmeht; 

Und  ein  kaufmann,  der  niemant  efift 

Zu  aller  zeit  mit  seinem  geschefft; 

Und  ein  getreuer  frommer  hantwerksman, 

Der  gern  arbeit  und  das  wol  kan; 

Und  ein  paursman,  der  sich  anders  nit  nert, 

Dan  das  er  mit  dem  pflüg  aus  der  erden  erert, 

Damit  im  sein  narung  wirt  säur  und  pitter: 

Die  vier  trügen  vil  pillicher  golt  denn  ein  pöser  ritter^). 

Über  folgendes  Priamel  läßt  sich  ein  förmlicher  concursus 
creditorum  eröffnen:  das  Ergebnis  ist  dem  Dichter  trotzdem 
durchaus  günstig,  er  hat  alles  erworben,  um  es  zu  besitzen,  alles 
in  sein  geistiges  Eigentum  umgeprägt.     Eine  Henne,  die  wie  ein 

1)  A  18b.        2)  A  19a. 

3)  Roethc,  Reinmar  von  Zweier  S.  231  f.  Hugo  yon  Langen- 
stein,  Martina  25, 84.  51,35.  Suchenwirt  21,  81  ff.  Keller,  Erz.  637, 32ff. 
Oben  S.  348. 

*)  Gott.  Beitr.  2,  68.  Nr.  44.        ^)  B  159  b.    A  D  B  29,  229. 


549 


Hahn   kräht,   bedeutet   ünheiP);    alte   Sprüche    vergleichen   mit 
solcher  Henne  eine  Frau,  die  vor  dem  Manne  redet: 

Wann  ein  fraw  claiTet  for  ein  man 

Vnd  ein  henne  krett  für  den  han, 

So  sal  man  dy  henne  braten 

Vnd  dy  fraw  mit  einem  knittel  beraten^). 

Man  geht  wohl  kaum  fehl,  wenn  man  hierin  das  Motiv')  ffir 
den  Priamelspruch  sieht: 

Secht,  wo  der  sun  ftirn  vater  get*), 
Und  der  lai  an  priester  zum  altar  stet^), 
Und  der  knecht  sich  übern  herren  setzt  •), 
Und  der  paur  fürn  edelman  wilpret  hetzt, 
Und  die  henn  kreet  für  den')  han, 
Und  die  fraw  wil  reden  für  den  man^): 
So  sol  mann  sun  straffen  auf  der  matten, 
Und  dem  leien  schem  ein  narrenplatten »), 
.  Und  den  knecht  hinter'®)  die  tür  stellen, 
Und  dem  paurn  ein  ku  niderfellen, 
Und  die  hennen  an  ein  spiß  jagen  ^'), 
Und  die  frawen  mit  eim  scheit  slagen^^): 
So  bat  man  in  aln'^)  das  recht  Ion  geben; 
Got  selber  haßt  ein  unordenlichs  leben**). 

»)  Grimm,  Deutsche  Mythologie  IH*  437,83.  Vergl.  438, 105.  442,230. 

^  Am  Schluß  einer  Wigalois-Hs.  in  Graffs  Diutiska  3,  398.  Als 
Hausinschrift  ähnlich  in  Dobraschütz  bei  von  Padbcrg  S.  112*.  Vergl. 
Goedeke,  Deutsche  Dichtung  im  Mittelalter  S.  908.  Ahnliche  Sprichwörter 
schon  sehr  früh  bezeugt:  Kögel  I'  174.  Müller -Fraureuth,  Lügen- 
dichtnngen  S.  106  f. 

^)  Auch  für  die  Form,  die  zum  Doppelpriamel  führen  mußte.  Übrigens 
wird,  wenn  Belegstollen  zu  den  einzelnen  Versen  in  Anmerkung  gebracht 
sind,  direkte  Benutzung  natürlich  nicht  behauptet. 

*)  Suchen  wirt  30,206.    Renner  2292  ff.    Fsp.  748,7. 

^)  Darauf  standen  die  schwersten  kanonischen  Strafen. 

•)  Eccles.  10,7.  Seifried  Helbling  4,  286  f.  Heinrich  Teichner 
Karajan  S.  172  A.  312. 

^)  Fürn  A.  Xanthippus,  Gute  alte  Sprüche  S.  141  f. 

^  Mones  Anz.  2,  229. 

8)  Vogt,  Salman  S.  XXV.    Germ.  Abb.  18,  82. 

*^)  ynter  A.  Seifried  Helbling  2,  534  f.  Heinrich  Teichner  bei 
Karajan  S.  168.  A.  290. 

»»)  Ordbog  S.  354.        «)  slahen  A.        «)  in  aln]  fehlen  in  A. 

^^)  A  56a.    Überschrift:  Von  ynyernunftigen  leuten  ynd  tieni. 


550 


Das  Seitenstück  zu  diesem  Spruche  vod  den  Verkehrt- 
heiten begnügt  sich  damit,  die  wieder  meist  typischen  Einzel- 
heiten moralisierend  zu  katalogisieren  und  mit  einer  Wendung 
zusammenzufassen,  die  zwar  nicht  ungewöhnlich  ist,  aber  durch 
Zurückgreifen  auf  das  zu  Orunde  liegende  Bild  zu  einem  über- 
raschenden dirpouöoxTjTOv  wird. 

Secht,  wo  der  vater  furcht  das  kint 

Und  sich  lest  fürn,  ee  er  wirt  plint; 

Und  der  wirt  im  bauß  geslairt  get, 

So  er  wol  übel  oder  gut  verstet; 

Und  wer  den  pösen  ert  und  den  frummen  versmeht, 

Und  den  hern  tutzt  und  irzt  den  knecht^J; 

Und  die  gelerten  spiln,  fluchen  und  swern, 

Das  ins  die  leien  müssen  wern; 

Und  der  hert  arbeiter  lang  fast  auf  den  tag, 

Und  der  müsiggeer  frü  fült  sein  sack; 

Und  der  paur  streit  und  der  ritter  fleucht'), 

Und  der  arm  war  seit  und  der  reich  leugt'): 

Ibt  dem  kleid  nit  daz  hinter  herfür  gekeit*), 

So  hat  mich  der  sneider  das  hantwerk  nit  recht  gelert*). 

Was    frühere    Gnomik    und    der    improvisierende    Volkswitz 

innerhalb  des  Motivkreises  von  verlorener  Arbeit  hervorgebracht 

hatten,   faßt  unser  Meister  in  ungefähr  einem  Dutzend   sauberer 

Kabinettstückchen   zusammen,   nicht  ohne  das  überkommene  Erbe 

wieder   selbständig   durchzubilden   und   mit   eigenen  Einfällen  zu 

bereichern. 

Welcher  man  sich  vor  dem  alter  besorgt 

Und  ungern  gilt  und  gern  porgt; 

Und  mit  eim  liirssen  die  wett  wil  springen 

Über  tief  greben  und  über  klingen; 

Und  alzeit  wil  hüten  seiner  frauen 

Und  darumb  wil  stechen  und  hauen; 


»)  Seifried  Helbling  8,  425  ff. 

»)  Von  den  Türken  20,  4. 

3)  Jesus  Sir  ach  25,  3  f.  Florilegiuni  Gottingonse  Nr.  209.  Hans 
von  Bühel,  Diocletian  1848 ff.  vergl.  5961  ff.  u.  o. 

*)  Renner  140.  8477.  Cato-Parodie  (Zarncke  S.  144)  25.  Tei ebner 
bei  Karajan  S.  167.  A.  285. 

5)  A  19b. 


551 


Und  ringen  wil  mit  einem  pern: 
Der  macht  im  selber  unru  gern^). 

Wer  ab  wil  leschen  der  sunnen  glänz, 
Und  ein  geiß  wil  nöten,  das  sie  tanz, 
Und  ein  stummen  wil  zwingen,  das  er  hör, 
Und  ein  ku  wil  jagen  durch  ein  noldes  ör. 
Und  geistlich  münch  wil  machen  aus  schelken, 
Und  auÖ  eim  esel  met  wil  melken, 
Und  an  ein  ketten  wil  pinden  ein  fist: 
Der  arbeit  gern,  das  unnütz  ist'). 

Deutlicheren  Anklang  an  ein  Priamel  der  Bescheidenheit^) 
verrät  der  Spruch:  ,Wer  auf  einem  weichen  moß  wil  stelzen*)/ 
während  der  diesem  sehr  ähnliche:  ,Wer  auf  eim  paum  hoch  wil 
purzeln^  ^),  mit  dem  109.  Fastnachtsspiel  zwei  Einfälle  gemein 
hat^).  Das  Motiv  der  verlorenen  Arbeit  kreuzt  sichtlich  das 
Motiv  ,Gleic]i  und  Ungleich'  (Zusammeogehöriges),  wenn  Dinge 
aufgezählt  werden,  nach  denen  man  an  bestimmter  Stelle  vergeb- 
lich sucht ^).  Aber  auch  sonst  lag  dieses  Nebenmotiv  nahe,  das 
an  der  Gestaltung  folgender  beiden  Priamel  wesentlichen  Anteil  hat. 

»)  C  187  a.  F  48  b  Sp.  1.  K  24  a.  Vergl.  oben  S.  277.  380.  385. 
Freidank  58,  13:  ,swer  elliu  dinc  besorgen  wil,  daz  ist  alles  leides  zilS 
139,  7 :  jSwer  sich  kratzet  mit  dem  bern,  dem  muoz  sin  hant  vil  dicke  swern'. 
Benner  12844:  ,man  spricht:  swcr  vrouwen  hüete  unde  hasen  zeme,  daz  der 
wüete\  11564:  ,der  mac  wol  niht  gar  sinnic  sin,  der  sin  leben  alse  ein  swin 
waget  an  lewen  oder  an  bern.  der  tuot,  des  er  wol  möhte  enbem,  wer  saget 
der  kuonheit  im  danc?'     Opschriften  2,  19. 

^)  B177b.  Vergl.  etwa  Frei  dank  59,  4:  ,swer  sant  und  euch  der 
sterren  schin  wil  zeln,  der  muoz  unmüezec  sin'.  77,  16:  ,8wer  in  die  sewe 
wazzer  treit,  deist  verlorn  arebeit'.  Zu  7  Gervasius,  Otia  111,34:  der 
h.  Caesarius  birgt  den  Wind  in  der  Handtasche.  Proverbia  30,4.  Werle, 
Almrausch  S.  182:  „sei  Lieb  is  a  Wind,   Den  i  niama  dahalt''. 

3)  Oben  S.  286. 

*)  Gott.  Beitr.  2,  57.  No.  23,  3.  Zu  4  Fsp.  784,  31.  Zu  6  Fsp.  1201 
Zeile  6. 

5)  Gott.  Beiträge  2,  57.  No.  22. 

6;  3  ~  Fsp.  858,  3.    6  -  711,  2.    858,  7. 

')  Gott.  Beitr.  2,  55.  No.  18.  Vers  5.  6-No.  13,  5.  6;  vergl.  KpuTrcdtSta 
4,  115.  Nr.  179.  Oben  S.  278.  Zu  Vers  7:  Ring  2  c,  34.  Im  allgemeinen 
Hugo  von  Trimberg,  Renner  22438:  ,swer  äne  wazzer  vischet  mit  netzen, 
riusen  und  mit  angeln,  der  mac  wol  vische  mangeln,  swer  da  tugent  suochen 
wil,  da  mer  untugende  ist  dan  ze  vil,  der  mac  wol  vischen  äne  geluppe,  als 
der  vsehet  der  sunne  gestüppe'. 


s   Seitenstück 
begnügt  sicli 
Dioraltstereiiil   i 
enzufassen,   dii' 
;reifen   auf  iLi- 

len    Ö7t;>'j3r>;/j-^-. 

Secht,  wo  tl  ■ 
Und  sicli  k  ■ 
Und  dur  u;-- 
So  er  wnl    ■ 
Und  wuv  .i 
Und  d.n  I 
Und   iW 


Und  d.. 
Und   d^■ 


553 

Und  pin  tregt  in  ein  pat, 
Und  dorn  streut  auf  enge  pfat, 
Und  trinkfas  mit  nusschalen  swangt: 
Der  arbeit,  des  im  niemants  dankt  ^). 

Auch  unnütze  Sorge  rechnet  zur  verlorenen  Arbeit*). 

Wer  solche  ding  wil  ausstudirn 

Und  darum b  swechen  sein  hirn*): 

Ob  pesser  peten  sei  dan  swem, 

Und  sich  ein  wolf  einer  geiß  müg  erwern*), 

Und  ob  Zucker  süßer  sei  dan  gallen, 

Und  ob  tanzen  nützer  sei  dan  wallen, 

Und  ob  feur  heißer  sei  dan  schnee, 

Und  ob  eim  kranken  menschen  sei  wee, 

Und  ob  weinen  traurger  sei  dan  lachen: 

Der  bekümmert  sich  mit  unendlichen  sachen*). 

Bei  der  Entscheidung  in  scherzhaft  gestellter  Wahl^)  wird 
dem  gesunden  Menschenverstände  das  Wort  geredet. 

Unabhängig  von  dem  Motivkreis  der  verlorenen  Arbeit  er- 
schien das  Motiv  ,61eich  und  Ungleich'  in  der  Improvisation 
der  Fastnachtsspiele,  bequemer  Stegreifdichtung  weitesten  Spiel- 
raum gewährend^).  Das  Oegensatzmotiv  hatte  zwei  Fassungen 
schon  im  14.  Jahrhundert  kontaminiert:  die  eine  stellte  jedesmal 
zwei  Bivalen  im  Streit  um  einen  einzigen  Gegenstand  einander 
gegenüber;  die  zweite  begnügte  sich  mit  Reihen  einfacher  Gegen- 
sätze^). Auch  Rosenplüt  übt  die  Kontamination  in  einem 
Spruche,  der,  vielleicht  aus  einer  Freidankstelle  entwickelt,  nahe- 
liegendes  Material    an   sich  gezogen,    aber  in   Rosenplüts  Art 


0  C  186b.   F  48a  Sp.  1.   K  24b.    L  14b. 

^  Oben  S.  355. 

^  Renner  23458:  ,swer  gerne  swcnden  wöl  sin  hirn,  daz  er  tiefe  wort 
üz  kirn  und  durchbreche  tiefen  sinn ,  der  ncmc  hie  lop  yür  dort  gewin  und 
smelzc  sin  hirn  in  sorgen  tegeP. 

*)  Freidank  137,  21. 

^)  0  187  a.    Die  nur  einmalige  Bezeugung  fällt  auf. 

ß)  Gott.  Beitr.  2,  58.  Nr.  25.  Oben  S.  338.    Fr e i d  an  k  84,  2  f.  142, 10  f. 

7)  Oben  S.  496  f.  283.  Der  Kettenreim  der  Kinderdichtung  verbindet 
ebenso  bequem  gleichartige  Dinge.  Graff,  Diutiska  1,  314  f,  Wacker- 
nagel Lb.  15,  1147  iBf. 

•)  Oben  S.  316  ff. 


552 

Wer  ein  pock  zu  emem  gertner  setzt, 

Und  schaff  und  genß  an  wolf  hetzt,  > 

Und  sein  zen  stürt*)  mit  eim  scheit, 

Und  hunden  pratwürst  zu  behalten  geit, 

Und  gute  kost  selzt  mit  aschen, 

Und  sein  gelt  legt  in  löcherte  taschen, 

Und  in  ein  reussen  geusset  wein: 

Der  dunkt  mich  nit  wol  witzig  sein*). 

Wer  geiß  in  einen  garten  lest, 
Und  Ofenkacheln  den  poden  außstest, 
Und  weiß  sleir  an  kessel  reibt, 
Und  einen  steßt,  der  da  schreibt, 
Und  in  ein  küchen  lesset  swein, 
Und  löcher  port  in  vaß  mit  wein, 
Und  ander  arbeit  nit  enkan: 
.  Der  verdient  gar  und  gar  ein  dein  Ion*). 

N ei dhar tisch  (96,  28.  29)  und  humoristischer  ist  das  Motiv 
in  andern  Sprüchen  gewendet. 

Wer  frauen  die  köpf  stest  an  einander, 

Wenn  eine  heimlich  redt  mit  der  ander, 

Und  scharpfe  messer  haut  in  stein. 

Und  an  ein  tanz  streut  spitzige  pein. 

Und  in  ein  essen  rert  aschen. 

Und  löcher  port  in  peutel  und  taschen, 

Und  den  frauen  hinten  auf  die  langen  mentel  tritt: 

Der  arbeit  auch  gern,  des  man  in  nit  pitt^). 

Wer  holz  auf  krausen  tischen  heut, 
Und  eibeis  auf  ein  stiegen  streut, 
Und  amas  tregt  in  ein  pet. 
Und  neue  sat  nider  tret. 


»)  starckt  B. 

»)Bl71a.  C153a.  E  92b.  Uhl  S.  310.  Oben  S.  278.  348.  Frei- 
dank 137,  11  ff.  123,  4:  ,erst  tump,  der  lieben  sämen  säet  in  starke  bramen^ 
Müller-Fraureuth,  Die  deutschen  Lügen dichtungen  S.  103.  Roethe  zu 
Reinmar  von  Zweier  159,  11. 

^  B  171a.  C  154a.  L  7a.  Freidank  118,  5:  ,8wer  heizes  bcch  rüerot, 
meil  er  dannen  vüerct*.  ühland  No.  132,  13,  1  f.  Graff,  Diutiska  1,  324. 
Froverbia  Heinrici  235. 

*)  B  173a.  C  154a.  E  135b.  K  8a.  L  7a.  In  F  47b  Sp.  1  erweitert 
und  umgearbeitet. 


553 

• 

Und  pin  tregt  in  ein  pat, 
Und  dorn  streut  auf  enge  pfat, 
Und  trinkfas  mit  nusschalen  swangt: 
Der  arbeit,  des  im  niemants  dankt  ^). 

Auch  unnätze  Sorge  rechnet  zur  verlorenen  Arbeit'). 

Wer  solche  ding  wil  ausstudirn 

Und  darum b  swechen  sein  hirn*): 

Ob  pesser  peten  sei  dan  swern, 

Und  sich  ein  wolf  einer  geiß  mUg  erwern^), 

Und  ob  Zucker  süßer  sei  dan  galten, 

Und  ob  tanzen  nützer  sei  dan  wallen, 

Und  ob  feur  heißer  sei  dan  schnee. 

Und  ob  eim  kranken  menschen  sei  wee, 

Und  ob  weinen  traurger  sei  dan  lachen: 

Der  bekümmert  sich  mit  unendlichen  Sachen^). 

Bei  der  Entscheidung  in  scherzhaft  gestellter  Wahl*)  wird 
dem  gesunden  Menschenverstände  das  Wort  geredet. 

Unabhängig  von  dem  Motivkreis  der  verlorenen  Arbeit  er- 
schien das  Motiv  , Gleich  und  Ungleich'  in  der  Improvisation 
der  Fastnachtsspiele,  bequemer  Stegreifdichtung  weitesten  Spiel- 
raum gewährend^).  Das  Gegensatzmotiv  hatte  zwei  Fassungen 
schon  im  14.  Jahrhundert  kontaminiert:  die  eine  stellte  jedesmal 
zwei  Bivalen  im  Streit  um  einen  einzigen  Gegenstand  einander 
gegenüber;  die  zweite  begnügte  sich  mit  Reihen  einfacher  Gegen- 
sätze^). Auch  Rosenplüt  übt  die  Kontamination  in  einem 
Spruche,  der,  vielleicht  aus  einer  Freidankstelle  entwickelt,  nahe- 
liegendes Material   an   sich  gezogen,   aber  in   Bosenplüts  Art 


1)  C  186b.   F  48a  Sp.  1.   K  24b.   L  14b. 

^  Oben  S.  355. 

^  Renner  23458:  ,8wer  gerne  swenden  wöl  sin  hirn,  daz  er  tiefe  wort 
üz  kirn  und  durchbreche  tiefen  sinn,  der  ncmc  hie  lop  vür  dort  gewin  und 
smelzc  sin  him  in  sorgen  tegelS 

*)  Freidank  137,  21. 

^)  0  187  a.    Die  nnr  einmalige  Bezeugung  fällt  auf. 

«)  Gott.  Bcitr.  2,  58.  Nr.  25.  Oben  S.  338.   Freidank 84,  2  f.  142, 10  f. 

^)  Oben  S.  496  f.  283.  Der  Kettenreim  der  Kinderdichtung  verbindet 
ebenso  bequem  gleichartige  Dinge.  Graff,  Diutiska  1,  314f,  Wacker- 
nagel  Lb.  l^  1147 iff. 

•)  Oben  S.  316  ff. 


554 

u 

organisch   verschmolzen   hat').     Geläufiger  sind   ihm    die  Reihen 
ungleichartiger  Dinge,  teilweise  in  recht  harmloser  Verbindung^),  wie 

Ein  weintrinker  und  ein  podenneig, 

Ein  wagenmann  und  ein  hohe  steig, 

Und  ein  jeger  und  ein  lochret  garn, 

Da  alweg  die  hasen  durchfarn, 

Und  lederer  und  lochret  heut, 

Und  reich  pürger  und  arm  edelleut, 

Und  hunt  und  katzen  auf  einer  misten, 

Und  pöß  Juden  und  frum  kristen. 

Und  arm  kaufleut  und  großer  zol: 

Die  vermügen  sich  gar  selten  miteinander  woP) 

teilweise  in  arg  gepfefferter  Mischung*). 

Für  die  Priamelsprüche  vom  Uausgcmach,  Haus  gesind 
und  Hausgerät  hat  die  Vierzeilerdichtung  Motive  und  Stoff 
vorgebildet^),  die  Bosenplüt  maßvoll  benutzte,  um  sie  frisch  und 
flott  auszugestalten.  Dabei  verschlägt  es  nichts,  wenn  einmal  ein 
Einfall  auch  anderswo  auftaucht;   er  schöpfte  doch  aus  dem  Vollen. 

Welch  man  ein  pfert  hat,  das  da  hinkt. 

Und  ein  weip,  der  der  ödem  stinkt. 

Und  ein  ofen,  der  da  reucht. 

Und  ein  pet,  das  alzeit  vol  flöh  kreucht. 

Und  an  tregt  zwen  eng  trückend  schuch, 

Und  auch  an  hat  ein  löchrete  pruch, 

Und  auf  seim  haus  hat  ein  zuprochens  dach: 

Der  selb  hat  gar  selten  guten  gemach^). 


1)  Gott.  Beitr.  2,53.  No.  14.  Oben  S.  316.  274.  Deutsche  Mythologie 
III*  449,  448.  H&tzlerin  S.  LXXI  No.  18.  Leoprechting,  Aus  dem 
Lechrain  S.  293. 

^  Gott.  Beitr.  2,  66.  No.  42.  Es  sind  lauter  auf  der  Hand  liegende 
Einfälle,  was  Goethe  „platte  Lebens-  und  Handwerksbegrilfe^  nannte;  yergl. 
z.  B.  Vers  1  mit  Fsp.  618,  25  ff. 

5)  B  167  a. 

*)  Gott.  Beitr.  2,  52.  No.  13.  KpuTrcdcoi«  4,  115.  Nr.  179.  Borchling, 
Mnd.  Hsn.  1,  211. 

5)  Oben  S.  278  ff.  372.  375. 

«)  C  158  a.  E  399  a.  K  14  b.  Oben  S.  280..  Dieser  nl.  Vierzeiler  ist 
doch  wohl  Bosenplüt  verpflichtet. 


555 

Wer  ein  hennen  hat,  die  nit  legt*), 

Und  ein  sweinsmuter,  die  nimmer  junger  tregt, 

Und  hat  ein  ungetrewen  Unecht, 

Der  im  gar  selten  arbeit  recht, 

Und  ein  katz,  die  über  jar  vecht  kein  mauß, 

Und  ein  frawen,  die  pult  auß  dem  hauß, 

Und  ein  meit,  die  get  mit  einem  kint: 

Der  man  hat  gar  ein  pöß  haußgesind*). 

Alter  Mann   und  junges  Weib  schaffen  keinen   Hausfrieden. 

Welch  man  an  freuden  ist  erloschen 

Und  unten  gar  hat  außgetroschen 

Und  swach  und  krank  ist  an  seim  leib, 

Und  hat  ein  schönes  junges  weib. 

Die  unter  der  gürtel  ist  hungrig  und  geitig: 

Dem  sein  die  kifferbes  über  jar  zeitigt). 

Sehwank,  Fastnachtsspiel  wie  Vierzeiler  arbeiteten  mit  solchen 
Motiven*). 

Parallele  Sprüche  kontrastieren  guten  und  bösen  Hausrat^); 
das  positive  Gegenstück  knüpft  dabei  wörtlich  an  das  vorauf- 
gehende  Priamel  an 

Welch  man  ein  leib  hat,  nit  zu  swer, 

Und  ein  taschen,  die  nimmer  ist  pfenning  1er, 

Und  ein  haus,  das  vol  narung  stat, 

Und  darinn  trew  dinstpoten  hat. 

Und  melkend  küe  und  gemeste  swein. 

Und  frumme  kint,  die  im  gehorsam  sein. 

Und  ein  hunt  hat,    der  des  nachts  wol  hütt. 

Und  ein  frauen  hat,  die  allweg  gut. 

Die  an  iren  eren  ist  frum  und  stet: 

Der  man  hat  gar  ein  gut  hausgeret^). 


0  von  Hörmann,  Schnadorhüpfcln  3  S.  355.  No.  972: 

Z  Taur  untn  ist  a  Baur  untn 

Hat  an  oanzigc  Hcnn, 

Die  solt  alle  Tage  legn, 

Hats  Löchl  viel  'zeng. 
3)  B  164  b.  C  158  a.  E  400  b.  K  15  b. 
3)  B  169b.  E36b.  K  7b. 

*)  Gott.  Beitr.  2,  23  f.    Q  P  77,  153  f.    Oben  S.  280.  372. 
5)  Gott.  Beitr.  2,  47.  No.  4.        ß)  A  23  b. 


556 


Diesem  Reichtum  gegenüber  sticht  der  ziemlich  ärmliche 
stereotype  Inhalt  der  betreffenden  deutschen  Vierzeiler  unvorteil- 
haft ab. 

Ein  Priarael  ,von  Hausmeiden',  das  deren  Arbeit  ernst 
aufzuzählen  beginnt,  endet  mit  dem  obligaten  Witz  der  kleinen 
Hausarbeit^).  Zwei  nach  bekannten  Motiven  gestaltete  Sprüche 
richten  sich  gegen  den  Ehemann;  der  eine^)  im  Sinne  der  all- 
gemeinen Lebens  Vorschriften  und  der  Tischzuchten,  der  andere  im 
Stil  der  Fastnachtsspiele: 

Welch  man  seim   elichen  weih  ist  veint 

Und  allweg  mit  ir  zangt  und  greint 

Und  selten  gütlich  mit  ir  redt 

Und  sie  versmecht  zu  tisch  und  pett, 

Und  außwendig  zu  andern  weibern  get  naschen 

Und  mit  in  spilt  in  der  untern  taschen : 

Der  ist  gern  außwendig  milt  und  stark 

Und  allweg  in  seim  hauß  faul  und  karg^). 

Wie  in  der  Vierzeilerdichtung  wird  vor  dem  Treiben  des 
Lebemannes  gewarnt: 

Welch  man  wandert  in  guter  wat, 

Und  rümpt  sich  mer,  dann  er  hat, 

Und  guft  und  geudet  auf  der  Straßen, 

Und  wil  vil  gelts  zu  letz  an  der  herberg  lassen, 

Und  gut  essen  versmecht  zu  aller  frist. 

Und  herr  will  sein,  da  er  pillich  knecht  ist. 

Und  in  niemant  davon  kan  winken: 

Der  muß  im  alter  aus  dem  angster  trinken*). 

Während  die  Stegreifdichtung  die  Prauenhut  meist  nur 
unter  den  Gesichtspunkt  der  verlorenen  Arbeit  bringt^),  vergleicht 


^)  Bolte  im  Register  zum  Nacbtbüchlein  S.  426.  Gott.  Beitr.  2,  47. 
No.  5.  Zum  Motiv  Falck,  Art  und  Unart  S.  20.  „Wer  a  kreuzbraver  Bua 
sein  will".    Opschriften  1,  90. 

3)  Gott.  Beitr.  2,  52.  No.  12.  Seitenstück  Keller,  Schwanke  No.  54. 
Oben  S.  296  f.  380.    A  D  B  29,  227. 

3)  A  24a.     Fsp.  651,  2  f.  852,  26  f.    Q  F  77,  162.    Oben  S.  392. 

*)  B  175b.  Oben  S.  275.  354.  407.  Opschriften  2,  112.  100.  Dem 
gleichartigen  Spruch:  »Welcher  man  nit  geltend  guter  hat'  (Keller,  Schwanke 
No.  19)  fehlt  die  Bezeugung  älterer  Überlieferung. 

«)  Oben  S.  380. 


557 


Bosenplüt  in  seinem  Uütespruch  allerhand  Hirten,  um  dann  mit 
einem  Schlager  aus  dem  Fastnachtsspiele^)  abzuschließen. 

Ein  sweinshirt,  der  do  hütt  pei  körn, 
Der  tarf  wol  hüttens  hinten  und  vorn; 
Und  ein  roßhirt  pei  eim  haberacker, 
Der  muß  auch  munter  sein  und  wacker; 
Und  ein  scbefFer  zwischen  holzes  lucken 
Der  bedarf  wol  hüttens  für  wolfszucken; 
Und  ein  kuhirt,  der  pei  wisen  fert, 
Der  bedarf,  das  er  unten  und  oben  wert; 
Und  ein  geißhirt  pei  einem  krautgarten 
Der  muß  auch  genaw  zuwarten: 
Aber  einer,  der  ein  Jungs  geils  weib  hat 
Und  derselben  hütten  wil  frü  und  spat, 
Die  hut  ist  ganz  und  gar  verlorn, 
Forcht  si  nit  got  und  irs  mannes  zorn^). 

Die  verhältnismäßig  größte  stoffliche  Selbständigkeit  dürften 
wohl  die  HandwerkspriameP)  haben;  kein  Wunder,  war  doch 
R.  nirgends  so  in  seinem  Element  wie  hier,  außerdem  hatte  die 
bisherige  Literatur  auf  diesem  Gebiete  noch  wenig  Vorbildliches 
hervorgebracht.  Mehrere  Priamel  behandeln  Handwerk  und  Ge- 
werbe im  allgemeinen,  sieben  einzelne  Handwerke;  zwei  Sprüche, 
der  vom  Bauern  und  der  vom  Arzt,  folgen  dem  Motiv  der 
speziellen  Handwerkspriamel. 

Als  Gegenstück  zu  dem  faulen  Handwerksknecht^)  wird  der 
faule  Handwerksmeister  genrehaft  geschildert. 

Ein  hantwerksman,  der  frum  knecht  hat, 

Die  gern  erbeiten  frü  und  spat, 

Und  den  man  übel  zu  essen  geit, 

Und  der  meister  über  wochen  zum  wein  leit, 

Und  alles,  das  do  wirt  an, 

Das  im  sein  werksiat  gewinnen  kan; 

Und  den  knechten  besunder  einkaufen  lat 

Hert  keß  und  auch  grobs  prot; 


»)  Oben  S,  391.        »)  B  161a. 

3)  Der  Spruchcjklus  ,yon  hantwercken'  B  178  ff.  enthält  die  Stücke 
vom  Handwerksmann,  Handwerksknecht,  Schuster,  Schneider,  Hafner,  Weber, 
Schreiner,  Goldschmied,  Botschmied  und  Bauer. 

4)  Oben  S.  526. 


558 

Und  meint,  er  wöU  an  in  ersparn, 

Das  im  ist  durch  sein  plasen  gefarn; 

Und  die  knecht  über  wochen  gern  das  pest  teten 

Und  am  suntag  gern  im  wochenlon  hetten, 

Und  erst  müssen  porgen  irn  herten  lidlon: 

Dem  wirt  gar  selten  in  die  leng  gut  arbeit  getan  ^). 

Den  Arbeitenden  zu  verachten,  der  seiner  Tätigkeit  sich 
nicht  schämt,  wäre  unrecht  und  eines  Ratsherrn  unwürdig;  wie  in 
den  geistlichen  Sprüchen  treten  sieben  Typen  auf. 

Ein  zimmerman,  dem  die  spen  in  den  kleidern  hangen, 

Wann  er  ist  von  seiner  arbeit  gangen; 

Und  ein  koler,  der  swarze  kleider  an  tregt, 

Wann  er  die  kolen  hat  zu  häufen  gelegt; 

Und  ein  mezler,  der  mit  plut  ist  besprengt, 

So  er  ein  rint  abnimpt  oder  ein  sau  gesengt; 

Und  ein  wagenman,    der  an  tregt  beschissen  schuh 

Und  unterweilen  die  hosen  darzu; 

Und  ein  smid,  der  russig  ist  unten  und  oben ; 

Und  ein  mülner,  der  mit  melb  ist  bestoben; 

Und  ein  messner,  der  mit  wachs  ist  betrauft, 

So  er  unter  den  kerzen  umblauft: 

Wer  den  siben  das  für  ein  schant  zeit, 

Der  wirt  gar  selten  Hir  ein  weisen  in  ein  rat  geweit'). 

Doch  fehlt  es  darum  nicht  an  dem  üblichen  Spott  gegen 
allerlei  Handwerk  und  Hantierung,   der  sich  in  die  witzige  Form 

kleidet: 

Wer  sich  einer  solchen  sach  vermeß, 

Der  mit  eim  hoher  eins  kalbskopfs  eß; 

Und  sich  auch  also  ließ  bewirten, 

Und  lorper  eß  mit  eim  geißhirten. 

Er  sei  her,  pürger,  paur  oder  fürst, 

Und  mit  eim  pader  eß  ein  plutwurst; 

Und  ließ  sich  auch  also  laden, 

Und  mit  eim  kuhirlen  eß  eins  ßaden; 

Und  mit  eim  kürsner  eß  eins  hasen: 

Der  bedörft  gar  wol  einer  wolsmeckenden  nasen^). 


»)  A  22  b.   B  178  a.    QF  77,  162. 

2)  A  18b.   B  161b.        3)  B  172a.    C  162b.    E  400b. 


559 

Verglichen  mit  dem  Priamel  ,Wer  von  den  schneidern  hosen 
kaurt'O  erscheint  Bosenplüts  Kauf-Spruch  recht  iiarmlos: 

Wer  umb  den  pecken  kaufet  körn, 
Und  umb  den  pogner  leim  und  hörn, 
Und  umb  den  schuster  kauffet  schmer, 
Und  umb  den  Schneider  nadel  und  scher, 
Und  desselben  nit  vermiet 
Und  koln  kauft  umb  die  smid, 
Und  umb  den  wtirfelmacher  pein: 
Der  reicht  mit  kaufmanschaft  gar  dein'). 

Die  sieben,  einzelnen  Handwerken  gewidmeten  Priamelsprüche 
haben  alle  ein  gemeinsames,  der  Lügendichtung  und  der  Poesie 
von  unmöglichen  Dingen  verwandtes  Motiv  ^):  in  die  Verlebendi- 
gung handwerkerlichen  Kleinbürgertums  mischt  sich  fantastischer 
Witz*),  der  launig  ins  Wunschreich  des  Schlaraffenlandes  seine 
kecken  Streifzüge  unternimmt,  nicht  ohne  dabei  „offen  oder  ver- 
steckt  der   menschlichen  Trägheit  und  Lüsternheit  zu  spotten^ '^). 

Ein  bchuster,  der  mit  rechten  sachen 

Zeh  leder  auß  papier  kunt  machen. 

Und  smer  kunt  machen  auß  kukot. 

Das  im  gut  wer  zu  leder  und  trot; 

Und  ein  frawen  het,  die  solchs  kunt  besinnen, 

Das  sie  guten  drat  auß  heu  kunt  spinnen^). 

Das  er  der  dreier  keins  dorft  kauffen; 

Und  gut  schuch  mecht,  darin  man  lang  wurd  laufifen; 

Und  mit  behender  arbeit  im   niemant  wer  gleich: 

Der  wurd  mit  dem  hantwerk  pald  reich  ^). 

In  diesem  Wuiischleben  gilt  Freidanks  Binsenwahrheit 
nichts: 

nieman  kan  gemachen    - 
von  baste  scharlachen. 


1)  Eschenburg  No.  63.    F  66b.  Sp.  2. 
3)  B  171b.    Vergl.  Logau  bei  Uhl  S.  357. 

3)  Oben  S.  35.     S.  278  sahen    wir,    daß  yierzeilige  Improvisation  das 
Motiv  bereits  aufgegriffen  hatte. 

4)  ühland,  Volkslieder  33,  235. 

5)  Uhland,  Abhandlung^  S.  177. 

6)  Vergl.  Fsp.  617,  25  f.    Heyne,  Hausaltertümer  3,  267. 
')  B  178b. 


560 

Ein  Schneider,  der  vil  knecht  het, 

Das  ieder  nach  seim  willen  tet; 

Und  die  nit  Ions  nemen  und  nit  essen, 

Und  über  tag  ob  der  arbeit  scssen. 

Und  mer  mochten  machen,  den  man  zu  möcht  sneiden, 

Es  wer  von  samat  oder  von  seiden; 

Und  het  dann  ein  fromme  dinstdiern, 

Die  auß  past  kunt  spinnen  gutten  zwirn; 

Wolt  er  vast  arbeiten  und  meßiglich  zern: 

So  würd  er  sich  mit  dem  hantwerk  sanft  ernern*). 

Stets  gewinnt  Bosenplüt  eine  neue  Schlußwendung,  wenn 
auch  der  vorhergehende  (9.)  Vers  mit  geringer  Variierung  immer 
wiederkehrt: 

Ein  hafner,  dem  solch  kunst  kunt  werden. 

Der  hefen  kunt  machen  aus  roher  erden, 

Und  auf  der  scheuben  sie  kunt  bereiten, 

Das  ers  nicht  prennen  dörft  noch  eiten; 

Und  zween  ee  gemecht,  denn  er  ein  zuprech, 

Und  fein  kunt  verglasen  mit  pech; 

Und  krüg  macht,  die  selbß  über  den  prunnen  lieffen. 

Wenn  die  haußmeid  schmorgens  ligen  und  schlieffen ; 

Und  über  tag  het  kaußeut  genung: 

Der  würd  auch  pald  reich,  stürb  er  nit  jung'). 

Ein  Weber,  dem  got  solch  kunst  het  geben. 

Daß  er  gut  tuch  auß  pinzen  kunt  weben. 

Das  varb  het,  die  man  gern  trüg, 

Und  die  da  niemant  nit  verslUg, 

Und  an  d6r  varb  auch  nit  abnem, 

Und  zeh  würd,  wennß  ins  alter  kem; 

Und  macht  adlaß  und  zender  und  daffat, 

Und  ob  der  arbeit  ein  wasser  laffet: 

Wolt  er  vast  arbeiten  und  das  weinhauß  meiden: 

So  dorft  er  im  alter  kein  mangel  leiden^). 

Ein  sclireiner,  der  holz  genung  het  umbsust, 
Das  edel  wer  nach  seins  herzen  lust; 
Und  der  sein  hantwerk  als  wol  kunt, 
Das  im  iederman  seins  geltz  wol  gunt; 


«)  B  178b.   C  184b.   D  309.   E  37b.    Gott.  Beitr.  2,27. 

»)  B  179a.   C  185 a.   D  309.  «)  ß  179a.   C  185b.   D  309.   B  37  a. 


561 


Und  nimmer  kein  poße  arbeit  nit  niecht 
Aus  allem  holz,  krump  oder  siecht, 
Und  hauen  und  hofein  im  als  sanft  tet, 
Als  sam  er  wein  trünk  oder  met: 

» 

Wölt  er  arbeiten,  das  in  der  sweiß  würd  netzen, 
Der  dorft  nimmer  kein  pfant  unter  Juden  setzen*); 

Ein  goltsmid,  der  mit  kunstlichen  sachen 
Fein  golt  auß  rohem  kupfer  kunt  machen, 
Das  dreiundzweinzig  karat  het 
Und  auch  zu  aller  arbeit  recht  tet; 
Und  queksilber  also  kunt  getöten, 
Das  es  sich  smiden  ließ  und  löten; 
Kunt  er  die  zwu  metal  abentewern, 
Das  sie  bestunden  in  allen  fewern: 
Solt  er  pei  den  kunsten  allen  petein  gan: 
So  müßt  es  gar  übel  in  der  weit  stani). 

Ein  rotschmid,  der  seiner  sinn  kunt  genießen. 

Das  er  all  sein  arbeit  auß  pech  kunt  gießen 

Und  kunt  es  als  hübslich  pringen  her, 

Sam  es  zwir  geprenter  messig  wer. 

Und  als  eben  kunt  gießen,  daß  manß  nit  dorft  bereiten, 

Darnach  man  oft  gar  lang  muß  beiten. 

Und  an  dem  gießen  nit  verdürb, 

Und  niemant  die  kunst  im  ab  derwürb: 

Er  wölt  denn  gar  und  gar  studfaul  sein, 

Er  gewunn  damit  fleisch,  prot  und  wein  2). 

Der  Bauern-Spruch  ist  auch  in  der  bandschriftlichen  Über- 
lieferung mit  den  Hand vverksp riamein,  deren  Motiv  er  teilt,  ver- 
bunden. 

Ein  pauer,  dem  got  solch  kunst  wolt  fügen, 

Das  im  die  ecker  ungeackert  trügen; 

Und  im  kein  frucht  auf  dem  feit  verdÜrb, 

Und  nimmer  im  kein  vih  abstürb; 

Und  im  kein  wolf  nit  wonet  pei; 

Und  vor  alln  reubern  wer  sicher  und  frei; 

Und  über  jar  in  gutem  frid  seß; 

Und  messiglich  trünck  und  eß; 


1)  B  179b.   C  185b.   D  310.        »)  B  180a.   C  186a.   D  311. 
Baling,  Priamel  36 


5  Gl) 

•        Ratsherr   und  Nachtwächter,    F 
Knecht,    Mönch    und  Dirne,    Piiesd  - 
^iride,   Meister   und  Gesell,    Hau?   r-^  ' 
Reich   und  Arm,    Jugend    und    A'^»  "• 
dogmatische   Frömmigkeit    und    uutv . 
reichstädtische  Welt   mit   ihrer    eli" 
ihren    Torheiten,  und    Schwäclieu, 
Wünschen  und  Verlangen:    das  ai:.^ 
und  ungeschminkt  in  lebenswalut.. 
Äuge  vorüberziehen,    in    diM-  II. 
Menschenverstandes. 

Die  Form    des  PriameN 
hatte  der  Klassiker  des  Pria  • 
zu  regeln  und  fortzubilden, 
gezeitigt    hatte.      Vor    d 
licherer  Formen,   wie  si-' 
ihn,  wenn  er  sie  gekarr/ 
tümlicher  Begabung   b,  . 
gedieht    geschützt.     I  - 
Anschaulichkeit    strci- 
freiheit.     Kein   viei/ 
geneigt   wäre,    ist   ■ 
sechs   Zeilen    geiii: 
Form  setzte  den  " 
lieh  der  Interpol..* 
und   zur  Langn 
Form  wegen  si- 
zusprechen.     ' 
er  geht  • 
Die  :^ 
des 
tri- 


569 


^y  uoi  Dichter  diese  schlagfertigen  Beihen  wenigstens 

.-»loiter  Wendung  ein;  z.  B. 

Wer  solich  ding  wil  ausstudirn 

Und  darumb  swechen  wölt  sein  htm: 

Ob  pesser  peten  sei  dan  swem  u.  s.  w. 

'    ]( t   er  Glieder  in  mehrzelligen  Paaren,   nicht 
Für  liarmonischen  Aufbau  des  kleinen  Gedichtes; 
iiTial  die  apologische  Gnome  die  Struktur  beein- 
lilstcn  ist  ihm,  wenn  er  unbekümmert  um  strenge 
r  im  Rahmen  seinor  Kunstform,  das  bunte,  reiche 
r  stand,  in  festumrissene  kleine  Bilder  gießen  kann. 
'«^r  wie  beim  Vierzeiler^)  keineswegs  darauf  an,  daß 
^ze  znm  Hauptsätze  in  derselben  grammatischen  Be* 
'  n,  die  logische  Beziehung  genügt.    Nicht  immer  ge- 
if  bau.   Eigensinnig  und  nur  äußerlich  strebt  das  Priamel 
narren  seinem  Abschluß    zu.     Die  geistlichen  Priamel 
den  Schluß   bisweilen  durch  gutgemeinte  fromme  Zu- 
Sprüche des  Typus  A  leiten  ihre  Vordersätze  am  liebsten 
•\  , welcher',  einmal  mit  ,8eit*,  zweimal  mit  ,das*,  dreimal 


Wenn  der  Leu,  der  Wüste  Schrecken, 
Ohne  sich  das  Maul  zu  lecken. 
Für  das  Weiße  Rößl  schw&rmt. 
Wenn  die  Amsel  singt  nach  Noten, 
Und  der  Seehund  seine  Pfoten 
Sich  an  Ibsens  Muse  wärmt  — 

Wenn  der  Telegraph  vom  Cape, 
Der  so  mißlich  reimt  auf  Schlappe, 
Nichts  als  Wahrheit  roferirt, 
Und  die  Kaiserin  der  Inder 
Onkel  Krügers  Pracht-Zylinder 
Mit  dem  „Hosenband ^  verziert  — 

Wenn  das  alles  tut  passiren, 
Dann  soll  nichts  mich  mehr  chokiren, 
Dann  yerwechsl  ich  Bayrisch  Bier 
Heute  noch  mit  Malz-Kathreiner 
Und  wills  glauben,  sagt  mir  einer: 
Zwei  mal  zwei  ist  nicht  mehr  vier. 

t)  oben  S.  504  ff.    ^  Kap.  VI  S.  222  ff. 


562 


Und  sein  Herr  im  al  jar  gult  HB  vam: 

Der  möcht  im  alter  wol  etwas  für  sieb  spam*). 

Dem  Motiv  nach  gebort  endlich  der  Arzt- Sprach  zu  dem- 
selben Kreise. 

Ein  arzt,  der  zenwee  kunt  vertreiben 
Mit  rechter  kunst  an  mannen  und  weihen; 
Und  das  podogram  in  pein  und  in  füssen 
Mit  rechter  bewerter  kunst  kunt  püssen. 
Und  febres  und  die  pestilenz 
Kunt  pflssen  umb  ringe  reverenz; 
Und  plint  leut  kunt  machen  gesehen, 
Als  in  nie  leid  an  äugen  wer  geschehen; 
Und  lam  krtippel  kunt  machen  gerad, 
Das  sie  fürpafi  nimmer  berürt  der  schad; 
Und  sundersiechen  kunt  machen  als  rein, 
Als  do  man  sie  padt  aus  dem  taufstein: 
Wurd  der  pei  den  künsten  allen  petein  gan, 
So  must  es  gar  übel  in  der  werlt  stan^). 

Aus  der  Betrachtung  der  Bosenplütschen  Priamel  nach 
ihren  Sto£fen  und  Motiven  ergibt  sich  bereits  als  gesichertes 
Besultat,  mag  auch  fernere  Forschung  noch  so  viel  Neues  hinzu- 
fügen, daß  das  Schaffen  des  Dichters  einen  selbständig  organischen 
Charakter  trä^t:  diese  Handwerker  wie  Hans  Rosenplüt^  Adam 
Kraft  und  die  Vis  eher  haben  das  rein  Handwerksmäßig-Mechanische 
überwunden;  sie  sind  Handwerker  im  rechten  Sinne,  die  Goethes 
Wort  bestätigen:  „Vom  Handwerk  kann  man  sich  zur  Kunst  er- 
heben, vom  Pfuschen  nie.^ 

Mit  jener  organischen  Arbeit  Bosenplüts  stehen  einige 
(unter  seinen  Priameln  selbst  zum  Teil  in  guten  Handschriften') 
überlieferte)  Stücke  im  Widerspruch,  in  denen  mechanisch  älteres 
Material  zusammengeschoben  oder  unverarbeitet  und  unselbständig 
verbunden  ist^).  Sie  folgen  dem  Verfahren  der  priamelhaften 
Reimpaare  (Kap.  VII);  in  einigen  Fällen  sprechen  auch  metrische 
Erwägungen  gegen  Bosenplüt. 


>)  B  180a.        3)  A  20  b.   B  160b.   C  181a.   E  72  a. 

")  in  A  freilich  nicht;  aber  die  Priamelrede  enthält  solche  Stücke;  un- 
zureichend scheint  auch  die  handschriftliche  Gewähr  für  Gott.  Beitr.  2,  73. 
No.  54. 

*)  Vergl.  oben  8.  529. 


563 


In  folgendem  Priamel  ist  mehr  als  die  Uälftä  nahezu  wörtlich 

entlehnt.  Weisheit  von  trunken  leuten, 

Und  widergeben  nach  peuten, 
Und  alter  weiber  schön, 
Und  zuprochener  glocken  getön, 
5     Und  junger  frauen  sinn, 
Und  alter  man  minn, 
Und  treger  pfert  lauffen; 
Das  sol  niemant  teuer  kauffen '). 

Nicht   viel    selbständiger    verfährt    bis   auf  die   drei  letzten 
Verse  der  Spruch: 

Welcher  her  ein  tauben  wechter  hat 

Und  ein  pfortner,  der  nit  gern  frü  aufstat, 

Und  ein  ungetreuen  keiner, 

Und  ein  hinkenden  laufer, 

Und  ein  koch,  der  nit  smeckt,  ' 

Und  ein  knecht,  der  sich  über  die  frawen  streckt    ' 

Und  mit  ir  schimpft  unter  der  wat: 

Der  her  hat  gar  ein  pösen  hausrat^^ 

Noch  ganz  flüssig  ist  das  altüberlieferte  Material  in  den  ver- 
schiedenen Fassungen  der  beiden  Priamel: 

Wer  einem  plinten  winkt 
Und  ans  einem  leren  pecher  trinkt 
Und  der  kißling  seets) 
Und  auf  einer  plossen  wisen  meet 
Und  Unglück  wil  tragen  feil 
Und  all  Wasser  wil  pinten  an  ein  seil 
Und  in  eim  holz  vischet 
Und  auf  einem  wasser  trischet*) 
\  Und  snee  wil  in  einem  ofen  derren 

Und  wil  wint  in  ein  trüben  sperren 
Und  einen  kalen  wil  beschern: 
Der  arbeit  eitel  unnütz  arbeit  gern^). 

»)  B  174a.  C  156a.  D  299.  E  36b.  F  49a  Sp.  1.  K  8b.  L  l^Ob. 
M  18  a.     N  3  a.    Kap.  VI  S.  315.  365.  287. 

8)  B  165b.  C  158b.  T)  304.  E  92b.  F  73a  Sp.  2.  H  128b.  M  18a.  Motiv 
und  Schluß  kopiert  Gott.  Beitr.  2,  60.  No.  28. 

8)  Kap.  VI  S.  375.        *)  S.  315. 

*)  B  172  a.  Ähnlich  C  154  b.  D  302.  E  48  a.  F  49  b  Sp.  2.  K  15  a.  b  203  b. 

Germania  28,  417.    Fast  jede  Hs.  ändert,  erweitert,  kürzt  aufs  freieste,  wie 

es  lebendiger  Improvisation  entspricht. 

36* 


564 


Wer  paden  wil  ein  raben  weiB^), 
Und  daran  legt  sein  ganzen  fleiß, 
Und  an  der  sunnen  snee  wil  dern') 
Und  wint  in  ein  truhen  wil  spern 
Und  ungeluck  wil  tragen  feil 
Und  alle  wasser  wil  pinten  an  ein  seil 
Und  einen  kalen  wil  beschern: 
Der  tut,  das  unnutz  ist,  gern'). 

Noch  heute  wird  improvisiert: 

Den  Schnee  an  der  Sonne  dorm 
Und  den  Wind  in  a  Kisten  sperrn 
Und  ein  Kalbskopf  glatt  scheern: 
Dös  ka  Keiner  erlernn^). 

Daß  auch  dieses  Stegreifmaterial  einmal  durch  die  Hände 
von  FastDachtsspieldichtern  gegangen,  ist  nicht  unwahrscheinlich; 
wie  viel  Bosenplütsches  aber  unter  Umständen  dabei  mit  unter- 
gelaufen sein  mag,  entzieht  sich  vorläufig  der  Entscheidung.  Am 
günstigsten  läge  vielleicht  noch  die  Sache  bei  dem  Spruch: 

Ein  orglock  und  ein  wollenpogen 
Und  pose  kinder  ungezogen 
Und  eins  herten  dürren  stockvisch  leip 
Und  ein  nußpaum  und  ein  pöß  weip 
Und  ein  alter  esel,  der  seck  sol  tragen: 
Die  sieben  tun  nichts  ungeslagen^). 

Aber  die  letzten  drei  Zeilen  sind  ein  Sprichwort^).  Ob  man 
solche  Sprüche  ebenso  wie  etwa  die  oben  charakterisierten  Spiel- 
Improvisationen  Bosenplüt  absprechen  oder  vielleicht  als  seine 
Anfangs  versuche  ansehen  soll,  bleibt  fraglich,  so  lange  wir  über 
die  dichterische  Entwicklung  der  Individualitäten  des  15.  Jahr- 
hunderts so  wenig  unterrichtet  sind.  In  technischer  Durchbildung 
stehen  jedenfalls   dann  die  auch  inhaltlich  recht  unselbständigen 


1)  Freidank  142, 15.    Koker  S.  368.  Florilegium  Gottingense  No.  103. 
^  Wander  u.  d.  W.  Backen.    Müller- Fraureuth  S.  120f.  88. 
^  G  186a.  F  48a  8p.  1.    Germania  5,  44.    Keller  Nr.  5.  Oben  S.  550. 
«)  Falck,  Art  und  Unart  in  deutschen  Bergen.    Berlin  (1890)  S.  12. 
»)  B  174a.  C  156a.  D  302.  E  398a.  F  49b.  Sp.  1.  L  8b.  0  5a.  a  150. 
^)  z.  B.   Korrespondenzblatt  für  nd.   Sprachforschung   25,  28.       Uhl 
S.  316.  326.  337.  344  n.  o.    Zingerle  S.  29. 


565 

sogen,  geistlichen  Priamel  hinter  den  nicht  spezifisch  geistlichen 
Inhaltes  znrück. 

Bosenplüt  hat,  begabt  mit  dem  Wirklich&eitssinn,  der  den 
Nürnberger  auszeichnet,  im  tätigen  Leben  sein  Verständnis  der 
Welt  erworben^).  Seine  Stoffe  sind  so  reich  und  bantmannig- 
faltig,  wie  das  seine  Werkstatt  umflatende  Leben,  echtes  alt- 
Nümberger  Leben,  in  das  er  hellen  Auges  aus  den  Fenstern 
seiner  Gießhütte  schaute,  das  er  treu  und  virtuos  im  Verse  nach- 
bildete. Freilich  nicht  mit  der  genialen  Begabung  des  großen 
Dichters;  aber  Sinnigkeit,  Beobachtungsgabe,  Laune,  Lebendigkeit 
und  entschieden  künstlerisches  Talent  verraten  auch  seine  PriameL 

Er  fühlt,  daß  er  eine  kleine  Welt 

In  seinem  Gehirne  brütend  hält, 

Daß  die  fängt  an  zu  wirken  und  su  leben, 

Daß  er  sie  gerne  möcht'  von  sich  geben. 

Er  hätt  ein  Auge  treu  und  klug 

Und  war  auch  liebevoll  genug, 

Zu  schauen  Manches  klar  und  rein, 

Und  wieder  Alles  zu  machen  sein. 

Hätt  auch  eine  Zunge,  die  sich  ergoß 

Und  leicht  und  fein  in  Worte  floß. 

Deß  thäten  die  Musen  sich  erfreuen. 

Diese  Verse  Goethes  auf  seinen  größeren  Nachfolger  dürfen 
wir  auch  auf  den  jungen  Botschmid  anwenden.  Auch  zu  ihm 
mochte  die  Muse  sagen: 

Wenn  Andre  durcheinander  rennen, 
Sollst  Dus  mit  treuem  Blick  erkennen. 
Der  Natur  Genius  .  .  . 
Soll  Dir  zeigen  alles  Leben, 
Der  Menschen  wunderliches  Weben, 
Ihr  Wirren,  Suchen,  Stoßen  und  Treiben, 
Schieben,  Reißen,  Drängen  und  Reiben, 
Wie  kunterbunt  die  Wirtschaft  tollert, 
Der  Ameishauf  durch  einander  kollert; 
Mag  Dir  aber  bei  Allem  geschehn, 
Als  thätst  in  einen  Zauberkasten  sehn. 
Schreib  das  dem  Menschenvolk  auf  Erdeni 
Obs  ihm  möcht  eine  Witzung  werden. 


^)  Hampe,  Mitteilungen    12,  93.        Dilthey,    Einbildungskraft   des 
Dichters  S.  348. 


572 


Und  macht  plos  manchen  rauhen  köcher, 
Und  macht  vinster  swarze  arslöcher, 
Und  macht  manchen  frauen  diener  entwicht: 
Das  ist  des  alters  Zuversicht^). 

Ich  find  in  meiner  sinnen  teich, 
Das  alter  ist  eim  rauber  gleich: 
Es  nimpt  der  glocken  ir  gedön, 
Und  mancher  htipschen  fraun  ir  schön, 
Und  nimpt  dem  ochsen  seinen  zug, 
Und  nimpt  dem  vogel  seinen  flug. 
Und  nimpt  dem  man  sein  starkes  ringen. 
Und  nimpt  den  peinn  ir  hohes  springen, 
Und  nimpt  den  füssen  ir  snelles  traben, 
Und  nimpt  die  arbeit  im  nachtgraben. 
Und  nimpt  dem  eüften  finger  sein  leng: 
Das  sind  des  alters  nachkleng'). 

Alle  andern  beim  Vierzeiler  zulässigen  Kombinationen 
finden  statt.  So  stellt  der  Spruch  ,Wer  seim  neehsten  getreu 
wöll  sein')'  den  Typus  C  A  dar,  ,Wer  ab  will  leschen  der  sunnen 
glänz'   und:    „Haußkern  und  windel-waschen"  den  Typus  A  B*). 

Die  Formgebung  der  ßosenplütschen  Priamel  hat  trotz 
aller  Gleichmäßigkeit  der  Orundtypen  doch  nichts  Mechanisches 
an  sich;  ihr  Anfbau  ist  mehr  organisch  als  architektonisch. 

In  höherem  Orade  als  bei  der  älteren  volkstümlichen  Gnomik 
beruht  das  Pointierte,  Schlagende,  und  Belustigende  der  Bosen- 
plütschen  Priameldichtung  auf  dem  Widersprechenden  der 
Antithese.  Der  Witz,  Jean  Pauls  „verkleideter  Priester"  „copu- 
liert  mit  Vorliebe  jedes  Paar,  dessen  Vereinigung  die  Anverwandten 
nicht  wollen"  (Vischer).  Hans  Bosenplüt  besitzt  „das  große 
Geheimnis  des  humoristischen  Talentes,  die  Fähigkeit  zu  unmittel- 
barer Erfassung  der  kleinen  komischen  Gegensätze  im  Alltäglichen 
und  zu  lebenswarmer  Beproduktion"  (Kraepelin),  er  hat  ein 
scharfes  Auge   für   das  Widerspruchsvolle   des  Weltgetriebes;     er 

<)  A  24b.   B  168b.   C  161b.   D  296. 

3)  B  174a.   C  10b.   162a.   D  298. 

*)  6ött.  Beitr.  2,  51.  No.  10.  Ebenso  folgen  A  C  oder  C  A  eine  ganze 
Reihe  geistlicher  Priamel. 

*•)  In  beiden  Fällen  macht  wieder  den  Schluß  der  Klimax  ein  &döo- 
logiseher  WiU. 


567 

alleren  Formen  der  künstlicheren  Sprachdichtung  und  et^a  dem 
Sonett*)  zusammen.  Merkwürdig,  aber  doch  natürlich;  denn 
14  Zeilen  sind  ungefähr  das  Durchschnittsmaß,  das  für  einen 
Gedanken  in  solchen  Formen  sich  noch  festhalten  läßt.  Das  Zu- 
sammentreffen beruht  also  auf  hier  waltendem  richtigen  künst- 
lerischen Instinkt.  Bosenplüt  baut  sich  seine  Normalform,  indem 
er  den  angemessenen  Inhalt  und  die  entsprechende  Form  zu 
harmonisclier  Einheit  verschmilzt  und  durch  reiche  Produktion 
die  Existenz  der  Gattung  sichert.  Die  natürliche  Enge  der  Form 
bändigte  und  begrenzte  des  Dichters  irrlichterierende,  weit 
schweifende  Fantasie  und  zwang  ihn  zur  Konzentration^.  Auch 
in  den  Priameln  Bösen plüts  scheint  der  Auftakt  obligatorisch'), 
die  Verse  sind  vierhebig,  der  Schlußvers  in  den  synthetischen 
Priameln  bisweilen  5  hebig  oder  6  hebig,  ohne  über  13  Silben 
hinauszugehen  ^). 

Für  den  inneren  Bau  des  klassischen  Priamelgebildes  lieferten, 
abgesehen  von  des  Dichters  individuellem  Stil  und  den  formalen 
Anknüpfungspunkten  kirchlicher  Volksliteratur,  die  Typen  der 
Stegreifdichtung  die  Grundlage.  A  überwiegt,  wie  billig,  in  den 
nicht  geistlichen  Stücken;  reiche  Kombinationen  finden  statt, 
Ansätze  zum  Doppelpriamel  liegen  vor:  nichts,  was  nicht  auch 
im  Prinzip  oder  tatsächlich  der  Vierzeiler  und  sonstige  frühere 
Improvisation  bereits  entwickelt  hatten,  vielleicht  mit  einer  Aus- 
nahme: die  Vorbereitung^)  und  Erweiterung  des  Schlusses,  in 
dem  selbst  öfter  noch  ein  neues  Bild  oder  ein  neuer  Gedanke 
sich  einsteilt,  ist  vom  Dichter  mit  ganz  besonderer  Sorgfalt  aus- 
gebildet und  bei  ihm  fast  zur  Begel  geworden.  Der  Grund  dafür 
ist  ohne  Zweifel  in  dem  unbewußten  künstlerischen  Bestreben  zu 
finden,   dem  meist  ziemlich  umfangreichen  Spruch  ein  tragfähiges 


*)  Welti,  Geschichte  des  Sonettes  S.  35  ff. 

2)  Zeitschrift  für  yergl.  Lg.  N.  F.  5,  51. 

3)  Q  P  77,  156. 

^)  A  D  B  29, 225.  Auf  stilistische  Erläuterung  ebenso  wie  auf  Erörterung 
der  Bilder,  der  Sprache,  der  Metrik  mußte  hier  verzichtet  werden,  weil  doch 
nur  Halbes  geboten  werden  kann,  bevor  die  Spruche  Rosenplüts  in 
kritischer  oder  überhaupt  irgend  einer  Bearbeitung  vorliegen. 

^)  Sie  würde  dem  entsprechen,  was  Lipps,  Komik  und  Humor  S.  96 
als  Sammlung  bezeichnet,  das  Finden  der  Pointe;  Lipps  unterscheidet  drei 
Stadien:  Verblüffung,  Sammlung,  Lösung. 


568 

FandameDt  zu  geben  ^).  In  den  sogen,  geistlichen  Priameln 
herrscht  dem  Lehrzweck  entsprechend  Typus  G  (B)  vor;  neben 
häufigen  Kombinationen  ist  A  hier  am  wenigsten  vertreten. 

Die  Hauptform  des  klassischen  Priamels  ist  immerhin  die 
synthetische.  Ihre  Wirkung  kommt  der  des  Epigramms  in  der 
Tat  oft  sehr  nahe;  und  man  wird  bei  der  Häufigkeit  dieser  Form 
den  Irrtum  verstehn,  der  in  ihr  die  eigentliche  oder  ausschließ- 
liche Priamelform  sehen  wollte.  Die  Art  der  Verbindung  in  diesen 
Sprüchen  ist  sehr  mannigfaltig. 

Auf  der  primitivsten  Stufe  verharrt,  unmittelbar  aus  der 
Improvisation  hervorgegangen,  die  Verkettung  identischer  Begriffe, 
Verbindung  von  Gleichartigem  und  ungleichartigem.  Aber  schon 
hier  durchbricht  bald  das  Streben  nach  poetischer  Belebung  die 
knappe,  kunstlose  Foim;  so  wenn  in  dem  Spruch  ,Ein  weintrinker 
und  ein  podenneig^  Vers  3  den  Zusatz  erbält: 

Da  alweg  die  hasen  durch  farn. 


^)  Oben  S.  504.  Als  Anknüpfungspunkt  for  das  Erscheinen  eines  neuen 
Bildes  am  Schluß  des  Priamels  kann  das  Verfahren  der  yierzeiligen  Impro- 
visation gelten,  die  statt  der  Zusammenfassung  ein  neues  Bild  gibt.  Kap.  VI 
S.  307  f.    Ein  Stegreif  gedieht  Edwin  Bormanns  bestätige  das  Verfahren: 

Das  Lied  vom  „Wenn". 

Wenn  der' Backfisch  con  amore 
Auf  melodschem  Benz-Motore 
Nietzsches  „Zarathustra**  liest, 
Und  der  Übermensch  vergebens 
Zur  Versnßung  seines  Lebens 
Pfundweis  Saccharin  genießt  — 

Wenn  der  Medizin-Studente 
Sieht  durchs  Rontgen-Instrumente , 
Was  der  Mädchen  Herz  bewegt, 
Und  der  Mann  im  Mond  verstohlen, 
Längstversäumtes  nachzuholen, 
Eine  Schnurrbartbinde  trägt  — ^ 

Wenn  die  längste  Klapperschlange 
Mit  verklärtem  Bildungsdrange 
Nichts  als  Maggi  mehr  dinirt, 
Und  voll  Inbrunst  Budolf  Mosse 
Jedermann  in  Hütt  und  Schlosse 
Abrät,  daß  er  inserirt  — 


569 


Gern  leitet  der  Dichter  diese  schlagfertigen  Reihen  wenigstens 
mit  behaglicher,  breiter  Wendung  ein;  z.  B. 

Wer  solich  ding  wll  ausstudirn 

Und  darumb  swechen  wölt  sein  hirn: 

Ob  pesser  peten  sei  dan  swern  u.  s.  w. 

Lieber  verbindet  er  Glieder  in  mehrzeiligen  Paaren,  nicht 
ohne  feinen  Sinn  für  harmonischen  Aufbau  des  kleinen  Gedichtes; 
glücklich  hat  dreimal  die  apologische  Gnome  die  Struktur  beein- 
flußt ').  Am  wohlsten  ist  ihm,  wenn  er  unbekümmert  um  strenge 
Besponsion,  aber  im  Rahmen  seino.r  Kunstform,  das  bunte,  reiche 
Leben,  worin  er  stand,  in  festumrissene  kleine  Bilder  gießen  kann. 
Es  kommt  hier  wie  beim  Vierzeiler^)  keineswegs  darauf  an,  daß 
alle  Nebensätze  zum  Hauptsatze  in  derselben  grammatischen  Be* 
Ziehung  stehn,  die  logische  Beziehung  genügt.  Nicht  immer  ge- 
lingt der  Aufbau.  Eigensinnig  und  nur  äußerlich  strebt  das  Priamel 
vom  Liebesnarren  seinem  Abschluß  zu.  Die  geistlichen  Priamel 
schwächen  den  Schluß  bisweilen  durch  gutgemeinte  fromme  Zu- 
sätze ab. 

Die  Sprüche  des  Typus  A  leiten  ihre  Vordersätze  am  liebsten 
mit  ,wer',  , welcher',  einmal  mit  ,seit',  zweimal  mit  ,das',  dreimal 


Wenn  der  Leu,  der  Wüste  Schrecken, 
Ohne  sich  das  Maul  zu  lecken, 
Für  das  Weiße  Rößl  schwärmt, 
Wenn  die  Amsel  singt  nach  Noten, 
Und  der  Seehnnd  seine  Pfoten 
Sich  an  Ibsens  Muse  wärmt  — 

Wenn  der  Telegraph  vom  Cape, 
Der  so  mißlich  reimt  auf  Schlappe, 
Nichts  als  Wahrheit  referirt, 
Und  die  Kaiserin  der  Inder 
Onkel  Krügers  Pracht-Zylinder 
Mit  dem  „Hosenband^  verziert  — 

Wenn  das  alles  tut  passiren. 
Dann  soll  nichts  mich  mehr  chokiren. 
Dann  yerwechsl  ich  Bayrisch  Bier 
Heute  noch  mit  Malz-Kathreiner 
Und  wills  glauben,  sagt  mir  einer: 
Zwei  mal  zwei  ist  nicht  mehr  vier. 

»)  oben  S.  504  ff.    >)  Kap.  VI  S.  222  ff. 


570 

mit  ,wo^  ein.  Das  Doppelpriamel,  das  schon  in  der  Volksdichtung 
vorhanden^)  war  nnd  später  reich  entwickelt  wurde,  ist  bei 
Rosen  plüt  zweimal  vertreten*^).  Trotzdem  hie  und  da  ein  mehr 
oder  weniger  gelungener  Zusatz  stört,  ist  doch  wie  beim  musika- 
lischen Priamel  regelmäßig  nur  ein  Hauptgedanke  in  einer  ein- 
zigen Periode  herausgearbeitet.  Kleine  Freiheiten  ordnen  sich 
bequem  dem  leitenden  Oedanken  unter'). 

Wie  beim  deutschen  Vierzeiler  ist  Typus  B  im  klassischen 
Priamel  minder  entwickelt  Während  die  Umkehrung  der  (an  sich 
schon  meist  in  mühsamer  Reflexion  zurecht  gelegten)  Seligpreisungen 
am  mattesten  ausfällt,  liegen  im  Pfennig-Priamel  und  im  Hüte- 
Spruch  die  besten  Beispiele  dieses  Typus  vor.  Die  Steigerung 
wird  am  Ende  aucii  durch  ädöologischen  Witz  erreicht: 

Vor  alter  wird  der  man  swacb; 

Im  alter  wirt  löchret  manig  tach; 

Im  alter  wachst  auf  hecken  dorn; 

Im  alter  wachst  eim  rint  sein  hörn; 

Im  alter  wirt  manch  weißes  haupt 

An  sinnen  leer  und  darzu  taup; 

Im  alter  wirt  dar  map  partet; 

Im  alter  wirt  der  hafen  schartet, 

Im  alter  wirt  er  gar  zu  scharben: 

Im  alter  wachst  schimal  in  dar  kerben*). 

Dabei  wirkt  nicht  nur  das  Ädöologische  lächerlich,  sondern 
auch  das  komische  Mißverhältnis  zwischen  dem  possenhaft  geringen 
Inhalt  der  letzten  Zeile  und  ihrer  langen  Vorbereitung.  Das  hier 
geübte  epigrammatische  Verfahren ^)  erinnert  an  ein  von  Lessing 


1)  Kap.  VI  S.  241. 

3)  Kap.  IX  S.  543.  S.  549.  Yergl.  534,  ein  Spruch,  dem  im  Aufbau 
das  Dienstbotenpriamel  genau  entspricht. 

^  Im  allgemeinen  scheint  in  kürzeren  Perioden  der  Ton  mit  der  Yers- 
zeile  aufzusteigen.  Q  F  58,  86.  „Eben  das  ists,  was  die  vollkommenste 
aller  Strophenformen,  das  Sonett  zu  epigrammatischer  Verwendung  so  ge- 
eignet macht,  daß,  wie  Wornickc  sagt,  nach  der  letzten  Zeile  die  di-ei 
ersten  wie  in  ihr  Wirthshaus  eilen^.  Vcrgl.  auch  Schneegans,  Geschichte 
der  grotesken  Satire  S.  127.  37. 

*)  B  168b.    C  16a,  131a.   D  303. 

*)  Vergl.  Überhorst,  Das  Komische  2,  657.  Lipps,  Komik  und  Humor 
(Beiträge  zur  Aesthetik  VI.  Hamburg  und  Leipzig  1898)  S.  59, 


571 

(in  seinen  Zerstreuten  Anmerkungen  über  das  Epigramm)  ange- 
zogenes Gedicht  von  Scarron. 

In  dem  Priamel:  ,Ein  stinder,  der  in  sein  Sünden  verzagt' 
weicht  der  Dichter  der  erwarteten  Steigerung  mit  launig  paro- 
distischer  Wendung  aus.  Wie  volkstümlich  übrigens  die  Manier 
ist,  die  Steigerung  durch  eine  Unanständigkeit  herbeizuführen, 
ersieht  man  auch  aus  folgender  Erzählung  Carl  Müllers,  der 
die  Deutschen  Lügendichtungen  bis  auf  Münchhausen  dargestellt 
hat.  Er  hatte  einmal  Gelegenheit,  von  einem  Manne  des  Erz- 
gebirges eine  „große  Lüge"  zu  hören.  Der  Mann  fing  an:  Ich 
las  heute  in  der  Zeitung:  ein  alter  Kurierstiefel  ritt  auf  einem  Stück 
ungesalzener  Butter  in  den  siebenjährigen  Krieg  n.  s.  f.  in  has- 
tender, überstürzender  Weise,  mit  dem  offenbaren  Bestreben,  mit 
jedem  Satze  etwas  Tolleres  zu  bringen,  bis  er  mit  einer  ünfläterei 
den  letzten  Trumpf  ausspielte  ^).  Aber  der  Kunstgriff  des  Parturiunt 
montes  ist  bald  abgenutzt.  Es  bleibt  schon  zweifelhaft,  ob  man 
unserm  Dichter  selbst  mattere  Wiederholungen')  zutrauen  soll. 
Sichere  Nachahmung  scheint  in  einem  dritten  steigernden  Priamel 
vorzuliegen');  hier  erlahmt  der  Nachahmer  gegen  Ende  sichtlich; 
er  ist  einem  kunstgerechten  Priamel  nicht  gewachsen. 

Wie  wenig  im  Grunde  genommen  Bösenplüt  formell  von 
den  katechetischen  Aufzählungen  abhängt,  zefgt  die  Tatsache,  daß 
der  dort  heimische  Typus  G  rein  bei  unserm  Dichter  überhaupt 
nicht  vorkommt*);  wohl  allerdings  in  Kombinationen,  z.  B.  der 
Typen  A  C: 

Das  alter  ist  also  getan: 
Das  es  macht  kint  manchen  weisen  man, 
Und  macht  neus  gewant  beschaben, 
Und  macht  stil  manchen  freien  knaben, 
Und  macht  manchen  wilden  zam, 
Und  macht  manchen  graden  lam, 


0  Die  deutschen  Lügendichtungen  S.  108  f.  Ebenso  Gregor  Beer  bei 
Schaer,  Die  altdeutschen  Fechter  und  Spielleute  S.  157.  Kpuitröffiea  8, 190,  30. 
Fogatschnigg  und  Herrmann  1,287.  No.  1275. 

»)  Gott.  Beitr.  2,  54.  No.  16.  17. 

3)  Oben  S.  540.     Gott.  Beitr.  2,  71.  No.  50. 

*)  Höchstens  könnte  der  Spruch :  ,Da8  tausent  per^  eitel  clar  golt  wem' 
in  Betracht  gezogen  werden.  •  * 


578 

Ähnlichen  Zweck  mochte  der  vielleicht  von  Bosenplüt  selbst 
herrührende  Vers  haben: 

O  werlt,  dein  nam  heist  Spothilt. 

Mein  hertz  dich  lobt,  mein  zung  dich  schilt. 

Noch  wolt  ich  gern  sehen  den  man, 

Der  aller  werlt  recht  künde  tan^). 

Doch  denk  ich  sein  noch  ungepom. 

Wer  herten  stahel  mit  plei  wölt  pom^). 

Das  gieng  vil  nnd  vil  rechter  zu, 

Dann  das  er  aller  werlt  recht  tu'). 

Die  Wirkung,  die  Bosenplüts  Priamelpoesie  auf  spätere 
Literatur  ausgeübt  hat,  darstellen  hieße  die  vollständige  Geschichte 
des  Priamels  schreiben.  Das  kann  hier  schon  aus  dem  von 
Schönbach  (Gesammelte  Aufsätze  S.  VIII)  angedeuteten  Gründe 
nicht  geleistet  werden.  Nur  einige  Hauptgesichtspunkte  lassen 
sich  vorläufig  herausgreifen.  Von  Anfang  an  verbreiteten  sich 
neben  größeren  Sammlungen,  die  jetzt  einmal  ausscheiden  sollen, 
Einzelsprüche.  Der  Weg,  den  diese  durch  die  volkstümliche 
Literatur  genommen  haben,  ist  äußerst  verschlungen  und  unbe- 
rechenbar. Bald  tauchen  sie  in  den  verschiedenartigsten  Hand« 
Schriften,  bald  als  Füllsel  in  Tischzuchten  ^),  bald  als  parodistische 
Zusätze  zum  Liebeslied  ^)  auf,  natürlich  dann  auch  in  freierer 
Umformung;  z.  B. 

Harpen,  Gygen,  Lutenschlagen, 
Vnde  thoschneden  Scho  andragen, 
Mangerley  Varue  an  Kledern  vnd  Gewände, 
Dat  roen  ehrtydes  heeldt  vor  schände, 
Vnd  Houart  dryuen  mit  mannigem  geberde, 
Haar  stdten  dat  ydt  kruß  werde, 
Vnd  des  Nachtes  up  der  Straten  houeren, 
Ock  dantzen,  stecken  vnd  turneren, 
Dat  alles  schüth  men  vmme  de  zarten, 
De  stedes  op  sftlcke  Narren  warten. 


1)  Freidank  106,  18.        »)  Renner  16167. 

»)  C  157b.  D  300.   E  896a.    K  24a. 

*)  Yergl.  The  tyme  (estate)  presente  of  man  im  Debat  and  stryfe  bet- 
wene  Somer  and  wynter  bei  Hazlitt,  Bemains  3,  40. 

^)  Nd.  Volkslieder,  Gesammelt  und  hg.  Tom  Verein  für  nd.  Sprach- 
forschung I  46.    Nd.  Jb.  26,  28. 


579 

Ein  Orgel,  Klocke  vnd  WuUenbagen, 

Vnde  böse  Kinder  vngetagen, 

Fiin  Hoer,  eines  Stockfisches  LirfT, 

Ein  Nöthboem  vnd  ein  vuel  Wyflf, 

Ein  Esel  de  nicht  mehr  Secke  kan  dragen: 

De  Negen  dohn  weinich  vngeschlagen. 

Welchen  Weg  diese  einfache  vom  improvisierten  Genrebild 
zur  Charakteristik  hinstrebende  Volkskunst  einschlägt,  indem  sie 
mehr  und  mehr  literarischen  Anstrich  zu  gewinnen  sucht,  zeigt 
ein  Spruch  von  Niklas  Wolgemut^).  Mit  erstaunlicher  Naivität 
hat  der  Volksdichter  aus  dem  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  Bosen- 
plüt  und  einen  älteren  Spruch^)  von  dem  Hurübel  geplündert, 
um  flott  und  geschickt  die  Liebesnarren  zu  schildern.  Den  An- 
fang macht  Bosenplüts  Priamel  vom  bösen  Hausgesind;  dann 
wird  einfach  angeknüpft: 

D  och  ist  noch  eine  schlimmre  Qual  u.  s.  w. 

Durch  Niederdeutschland  bis  in  die  Niederlande  verbreiteten 
sich  Bosenplüts  Sprüche.  Am  häufigsten  sind  sie  in  gnomischer 
Volksliteratur  Mittel-  und  Süddeutschlands.  Im  Hausflur  eines 
Bauernhauses  zu  Ohrnbach  im  Ansbachschen  steht  noch: 

Wer  einen  Leib  hat  nicht  zu  schwer, 

Und  eine  Tasch,  die  nie  wird  leer, 

Und  ein  Haus,  das  voll  Nahrung  staht, 

Und  darin  fromme  Ehehalten  hat, 

Und  melke  KUh  und  fette  Schwein 

Und  fromme  Knecht,  die  gern  gehorsam  sein. 

Und  einen  Hund  nachts  auf  der  Hut, 

Und  ein  Weih,  die  allezeit  ist  gut. 

Und  auch  in  Ehren  steht: 

Der  Mann  hat  ein  gut  Hausgeräth^. 


1)  Des  Knaben  Wunderhorn  2.  Heidelberg  1808.  S.  62ff.  Birlinger 
und  Grecelius  haben  nnr  das  Priamel  des  Anfangs  wieder  dmcken  lassen 
(2,488),  da  sie,  ebensowenig  wie  ich,  des  alten  Druckes  habhaft  werden 
konnten.    In  preußischen  Bibliotheken  befindet  er  sich  nicht 

^  Germania  21,  205 ff.  Das  Verhältnis  des  Niclas  Wolgemut  zu 
dem  älteren  Spruch  hat  Baechtold  nicht  erkannt;  den  alten  Druck  zitiert 
er  nur  nach  Well  er.  Den  Herausgebern  des  Wunderhoms  ist  es  ebenso 
ergangen. 

8)  Falck,  Art  und  Unart  S.  42. 

87* 


570 

mit  ,wo^  ein.  Das  Doppelpriamel,  das  schon  in  der  Volksdichtung 
vorhanden^)  war  nnd  später  reich  entwickelt  wurde,  ist  bei 
Bösen  plüt  zweimal  vertreten*'^).  Trotzdem  hie  nnd  da  ein  mehr 
oder  weniger  gelungener  Zusatz  stört,  ist  doch  wie  beim  musika- 
lischen Priamel  regelmäßig  nur  ein  Hauptgedanke  in  einer  ein- 
zigen Periode  herausgearbeitet.  Kleine  Freiheiten  ordnen  sich 
bequem  dem  leitenden  Gedanken  unter'). 

Wie  beim  deutschen  Vierzeiler  ist  Typus  B  im  klassischen 
Priamel  minder  entwickelt  Während  die  Umkehrung  der  (an  sich 
schon  meist  in  mühsamer  Reflexion  zurecht  gelegten)  Seligpreisungen 
am  mattesten  ausfällt,  liegen  im  Pfennig-Priamel  und  im  Hute- 
Spruch  die  besten  Beispiele  dieses  Typus  vor.  Die  Steigerung 
wird  am  Ende  auch  durch  ädöologischen  Witz  erreicht: 

Vor  altef  wird  der  man  swach; 

Im  alter  wirt  löcliret  manig  tach; 

Im  alter  wachst  auf  hecken  dorn; 

Im  alter  wechst  eim  rint  sein  hörn; 

Im  alter  wirt  manch  weißes  haupt 

An  sinnen  leer  und  darzu  taup; 

Im  alter  wirt  der  man  pertet; 

Im  alter  wirt  der  hafen  schertet, 

Im  alter  wirt  er  gar  zu  scherben: 

Im  alter  wechst  schimel  in  der  kerben*). 

Dabei  wirkt  nicht  nur  das  Ädöologische  lächerlich,  sondern 
auch  das  komische  Mißverhältnis  zwischen  dem  possenhaft  geringen 
Inhalt  der  letzten  Zeile  und  ihrer  langen  Vorbereitung.  Das  hier 
geübte  epigrammatische  Verfahren '^j  erinnert  an  ein  von  Lessing 


1)  Kap.  VI  S.  241. 

5)  Kap.  IX  S.  543.  S.  549.  Vergl.  534,  ein  Spruch,  dem  im  Aufbau 
das  Dienstboteupriamel  genau  entspricht. 

*)  Im  allgemeinen  scheint  in  kürzeren  Perioden  der  Ton  mit  der  Vers- 
zeile aufzusteigen.  Q  F  58,  86.  „Eben  das  ists,  was  die  vollkommenste 
aller  Strophenformen,  das  Sonett  zu  epigrammatischer  Verwendung  so  ge- 
eignet macht,  daß,  wie  Wcrnickc  sagt,  nach  der  letzten  Zeile  die  drei 
ersten  wie  in  ihr  Wirthshaus  eilen^.  Vergl.  auch  Schneegans,  Geschichte 
der  grotesken  Satire  S.  127.  37. 

*)  B  168  b.    C  16  a.  131a.   D  303. 

*)  Vergl.  Überhorst,  Das  Komische  2,  657.  Lipps,  Komik  und  Humor 
(Beitr&ge  zur  Aesthetik  VI.  Hamburg  und  Leipzig  1898)  S.  59, 


581 

SDob^)  zu  beweisen,  lohnt  nicht;  „ist  es  doch  im  Grunde",  wie 
Gottfried  Keller  meint,  „eine  trübselige  Sache,  den  Leuten  zu 
sagen,  was  gut  ist,  wenn  sie  es  nicht  selbst  einsehen",  in  einer 
Gattung,  deren  Devise  Jean  Pauls  ,vive  labagatelle'  bleibt,  er- 
wartet kein  Verständiger  etwa  Schwung,  Größe  und  Erhabenheit. 

Könnt  in  einem  SprÜcMein  Raum  sein, 
Weltprobleme  zu  erledigen? 
Ein  Spasierstock  will  kein  Baum  sein, 
Ein  Stoßseufzer  nicht  predigen. 

Trotzdem  gibt  es  in  dieser  Kleinkunst  Erscheinungen,  deren 
Reichtum  und  Bedeutsamkeit  überraschen:  eine  ganze  kleine  Welt 
in  den  engen  Bahmen  eines  Gedichtchens  von  wenigen  Versen 
gespannt  und  gefaßt  in  den  Zauber  echter  Poesie.  Die  von 
Oldenberg  unübertrefflich  charakterisierten  indischen  Vierzeilen, 
die  Sapta9atakam  des  Häla,  das  Schnaderhüpfel,  die  Frottole,  die 
Villotte,  das  Ritornell,  das  griechische  Epigramm,  das  Skolion, 
das  internationale  Sonett,  sie  alle  legen  Zeugnis  davon  ab,  wie 
sich  „ein  äußerst  einfacher  Gegenstand  zu  einem  unendlichen 
erweitern"  kann.  Kommt  höchste  Freiheit  und  eine  in  einem 
großen  Individuum  gereifte  geistige  und  sittliche  Kultur  hinzu, 
so  ist  die  ideale  Höhe  Go ethischer  Spruchdichtuug  erreicht^). 
Allerdings  ein  weiter  Weg  von  Bosenplüts  Improvisationen  bis 
zur  weltumfassenden  Poesie  eines  Goethe.  Aber  wenn  es  wahr  ist, 
daß  es  nur  darauf  ankommt,,  ob  Jeder  seinen  Zustand  ergreift  und 
ihn  entsprechend  behandelt,  dann  hat  auch  der  Nürnberger  Meister 
seinen  dichterischen  Beruf  erfüllt.  Auch  er  ergreift  mit  schlichter 
künstlerischer  Ehrlichkeit  seinen  Zustand  und  seine  Welt.  Sie 
ist  nicht  etwa  die  Amarus^),  nicht  voll  Glanz  und  Schönheit, 
sondern  bald  mit  liebevoller  Hingabe,  bald  mit  fantastischem  Witz 
und  Humor  gestaltetes  wahrhaftes  altdeutsches  Nürnberger  Leben 
des  15.  Jahrhunderts. 

Auch  Bosenplüt  beweist  für  Hans  Thomas  Wort:  „Die 
Kunst  kann  sehr  wohl  national,  auch  provinziell,  sowie  ganz  indi- 
viduell,   und  kann   doch  dabei  recht  allgemein  menschlich  sein*^. 


^)  Taine  fand  ja  Goethes  Stil  langweilig,  manche  Leute  die  Briefe 
der  Frau  Aja  triyial. 

>)  von  Loeper,  Werke  (Hempel)  19 ^  10. 

3)  Oldenberg,  Die  Literatur  des  alten  Indien  S.  227^, 


580 


Schließlich  muß  sich  das  Hütepriamel  noch  gefallen  lassen 
von  Reichardt  parodistisch  komponiert  zu  werden*).  Nicolai- 
Beichardt  haben  .3  Strophen  zu  je  4  Zeilen  geschieden. 


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Nachdem  dann  wissenschaftliche  Beschäftigung  die  Aufmerk- 
samkeit wieder  auf  den  Volksspruch  gelenkt  hatte,  erscheint  er 
immer  häufiger  z.  B.  in  Nieritzens  Volkskalendern,  Scheibles 
Kloster,  Wanders,  Falcks,  Limbachs  und  vieler  Anderer 
Sammlungen.  Die  Wiederentdeckung  Nürnbergs  ist  endlich 
auch  dem  Priamel  zu  gute  gekommen.  Wie  heute  niemand  mehr 
an  den  köstlichen  Brünnlein,  an  Labenwolfs  Gänsemännlein  oder 
am  Schönen  Brunnen,  am  Sakraments-Häuschen  von  St.  Lorenz 
oder  an  der  sogenanten  Nürnberger  Madonna  ohne  Bewunderung 
vorübergeht,  so  verdient  auch  der  Rosenplütsche  Priamelspruch 
seinen  Platz  unter  den  merkwürdigsten  Schätzen  literarischer 
Kleinkunst.     Das  mit  abstrakt  ästhetischer  Kritik  dem  literarischen 


*)  Nicolais  Almanach  I  56.  Nr.  VL     Friedl&nder,  Das   deutsche 
Lied  im  18.  Jh.  I  1,  236. 


581 

snob^)  zu  beweisen,  lohnt  nicht;  „ist  es  doch  im  Grunde^,  wie 
Gottfried  Keller  meint,  „eine  trübselige  Sache,  den  Leuten  zu 
sagen,  was  gut  ist,  wenn  sie  es  nicht  selbst  einsehen*^.  In  einer 
Gattung,  deren  Devise  Jean  Pauls  ,vive  labagatelle'  bleibt,  er- 
wartet kein  Verständiger  etwa  Schwung,  Größe  und  Erhabenheit. 

Könnt  in  einem  SprÜcMein  Raum  sein, 
Weltprobleme  zu  erledigen? 
Ein  Spazierstock  will  kein  Baum  sein, 
Ein  Stoßseufzer  nicht  predigen. 

Trotzdem  gibt  es  in  dieser  Kleinkunst  Erscheinungen,  deren 
Reichtum  und  Bedeutsamkeit  überraschen:  eine  ganze  kleine  Welt 
in  den  engen  Bahmen  eines  Gedichtchens  von  wenigen  Versen 
gespannt  und  gefaßt  in  den  Zauber  eclitcr  Poesie.  Die  von 
Oldenberg  unübertreiflich  charakterisierten  indischen  Vierzeilen, 
die  Sapta9atakam  des  Häla,  das  Schnaderhüpfel,  die  Frottolc,  die 
Villotte,  das  Ritornell,  das  griechische  Epigramm,  das  Skolion, 
das  internationale  Sonett,  sie  alle  legen  Zeugnis  davon  ab,  wie 
sich  „ein  äußerst  einfacher  Gegenstand  zu  einem  unendlichen 
erweitern"  kann.  Kommt  höchste  Freiheit  und  eine  in  einem 
großen  Individuum  gereifte  geistige  und  sittliche  Kultur  hinzu, 
so  ist  die  ideale  Höhe  Go ethischer  Spruchdichtuug  erreicht^). 
Allerdings  ein  weiter  Weg  von  Bosenplüts  Improvisationen  bis 
zur  weltumfassenden  Poesie  eines  Goethe.  Aber  wenn  es  wahr  ist, 
daß  es  nur  darauf  ankommt,,  ob  Jeder  seinen  Zustand  ergreift  und 
ihn  entsprechend  behandelt,  dann  hat  auch  der  Nürnberger  Meister 
seinen  dichterischen  Beruf  erfällt.  Auch  er  ergreift  mit  schlichter 
künstlerischer  Ehrlichkeit  seinen  Zustand  und  seine  Welt.  Sie 
ist  nicht  etwa  die  Amarus^),  nicht  voll  Glanz  und  Schönheit, 
sondern  bald  mit  liebevoller  Hingabe,  bald  mit  fantastischem  Witz 
und  Humor  gestaltetes  wahrhaftes  altdeutsches  Nürnberger  Leben 
des  15.  Jahrhunderts. 

Auch  Bosenplüt  beweist  für  Hans  Thomas  Wort:  ^Die 
Kunst  kann  sehr  wohl  national,  auch  provinziell,  sowie  ganz  indi- 
viduell,   und  kann   doch  dabei  recht  allgemein  menschlich  sein". 


^)  Taino  fand  ja  Goethes  Stil  langweilig,   manche  Leute  die  Briefe 
der  Frau  Aja  triyial. 

*)  von  Loeper,  Werke  (Hempel)  19*,  10. 

3)  Oldenberg,  Die  Literatur  des  alten  Indien  S.  227  f.v 


572 


Urrd  macht  plos  manchen  rauhen  köcher, 
Und  macht  vinster  swarze  arslöcher, 
Und  macht  manchen  frauen  diener  entwicht: 
Das  ist  des  alters  Zuversicht'). 

Ich  find  in  meiner  sinnen  teich, 
Das  alter  ist  eim  rauber  gleich: 
Es  nimpt  der  glocken  ir  gedön, 
Und  mancher  htipschen  fraun  ir  schön, 
Und  nimpt  dem  ochsen  seinen  zug, 
Und  nimpt  dem  vogel  seinen  ilug, 
Und  nimpt  dem  man  sein  starkes  ringen, 
Und  nimpt  den  peinn  ir  hohes  springen, 
Und  nimpt  den  füssen  ir  snelles  traben, 
Und  nimpt  die  arbeit  im  nachtgraben, 
Und  nimpt  dem  eüften  finger  sein  leng: 
Das  sind  des  alters  nachkleng^). 

Alle  andern  beim  Vierzeiler  zulässigen  Kombinationen 
finden  statt.  So  stellt  der  Spruch  ,Wer  seim  nechsten  getreu 
wöU  sein^)'  den  Typus  C  A  dar,  ,Wer  ab  will  leschen  der  sunnen 
glänz'   uiid:    „Haußkern  und  windel-waschen"  den  Typus  A  B*). 

Die  Formgebung  der  ßosenplütschen  Priamel  hat  trotz 
aller  Gleichmäßigkeit  der  Orundtypen  doch  nichts  Mechanisches 
an  sich;  ihr  Aufbau  ist  mehr  organisch  als  architektonisch. 

In  höherem  Grade  als  bei  der  älteren  volkstümlichen  Gnomik 
beruht  das  Pointierte,  Schlagende,  und  Belustigende  der  Bosen- 
plütschen  Priameldichtung  auf  dem  Widersprechenden  der 
Antithese.  Der  Witz,  Jean  Pauls  „verkleideter  Priester"  „copu- 
liert  mit  Vorliebe  jedes  Paar,  dessen  Vereinigung  die  Anverwandten 
nicht  wollen"  (Vischer).  Hans  Bosenplüt  besitzt  „das  große 
Geheimnis  des  humoristischen  Talentes,  die  Fähigkeit  zu  unmittel- 
barer Erfassung  der  kleinen  komischen  Gegensätze  im  Alltäglichen 
und  zu  lebenswarmer  Beproduktion"  (Kraepelin),  er  hat  ein 
scharfes  Auge   für   das  Widerspruchsvolle   des  Weltgetriebes;    er 

«)  A  24b.   B  168b.   C  161b.   D  296. 

3)  B  174a.   C  10b.   162a.   D  298. 

^  Gott.  Beitr.  2,  51.  No.  10.  Ebenso  folgen  A  C  oder  0  A  eine  ganze 
Reihe  geistlicher  Priamel. 

^)  In  beiden  Fällen  macht  wieder  den  Schluß  der  Klimax  ein  ädöo- 
loj^cher  Wits. 


573 


liebt  den  sinnlich  angeschauten  Unverstand^);  er  ist  Meister  der 
Dialektik  sich  gegenseitig  aufhebender  Trübungen  der  sittlichen 
Idee^).  Die  Kontrastierung  mag  ihm  auch  als  Hülfsmittel  der 
poetischen  Erfindung  gedient  haben').  Mit  Ausnahme  einiger 
streng  geistlichen  Priamel  wirkt  er  fast  überall  durch  Kontraste. 
Die  Antithese  durchwuchert  seine  ganze  Priamelpoesie.  Sehr  viele 
Sprüche  sind  ganz  darauf  gebaut^).  Was  der  unvermeidlichen 
stumpfen  Monotonie  der  ständigen  Antithese  entgegen  wirkt,  ist 
die  große  Mannigfaltigkeit  ihrer  Verwendung.  Bosenplüts  Ver- 
fahren hat,  mit  späteren  öden  Nachahmungen  verglichen,  immer 
etwas  künstlerisches.  Selbst  in  kurzen  Oedichtchen  von  8  Versen 
wechselt  er  sinnig  ab,  und  hütet  sich  vor  sklavischer  Durchführung 
stereotyper  Formen;   z.  B.  *): 

Wer  gerne  spilt  und  ungern  gilt, 
Und  Juden  lobt  und  pfafien  schilt, 
Und  ungern  pet  und  gern  swert 
Und  also  sein  zeit  all  verzert, 
Und  ungern  fast  und  gern  leugt, 
Und  kirchen,  meß  und  predig  fleucht, 
Und  frü  und  spat  ist  gern  vol: 
Der  taug  zu  keim  kartheuser  wol. 

Witz  und  Humor  sind  kein  notwendiger,  aber  der  wirksamste 
Bestandteil  des  in  die  volksliterarische  Sphäre  empor  gehobenen 
Stegreifgedichts.  Das  geistliche  Priamel  verschmäht  ihn  grund- 
sätzlich; und  außer  den  streng  geistlichen  Priameln  sind  etwa 
zwei  Dutzend  durchweg  ernst  gehalten.  Der  liaimlose  fantastische 
Humor  der  Rezepte  genügt  ihm  nicht®).  Er  streift  ihn  wohl 
einmal,   wenn   er  den  Wein  in   einer  Fischreuse,    die  Gänse   in 


0  Jean  Paul,  Vorschule  §  28. 

^)  Vischer,  Ae8tlietikI373.  Kraepelin  in  denPhilos.  Studien2, 133f. 

3)  Hippel,  Über  die  Ehe  S.  2. 

*)  z.  B.  No.  11.  12.  13.  14.  18.  22.  23.  25.  34  meiner  Sammlung.  Keller, 
Schwanke  No.  1.  2.  3.  4.  5.  10.  12.  13.  14.  16.  17.  33.  34.  36.  38.  41.  51. 
Meyer,  Die  altgermanische  Poesie  S.  460 ff.  512.  522.  Gaston  Paris, 
Villon  S.  59.  Neue  Heidelberger  Jb.  11,  170. 

5)  Gott,  Beitr.  2,52.  No.  11. 

«)  Müller-Fraurenth  S.  13.  94 f. 


574 

einer  Flasche,  die  verpöDten  ^)  ,zoteD  and  gefrens^  an  einer  Mönchs- 
kutte^) u.  ä.  zusammenstellt.  Der  Witz  des  Einderreims  waltet 
in  der  Aufzählung  selbstverständlicher  Wahrheite^^).  Geläufiger 
sind  ihm  Motive  der  Lügendichtung^);  besonders  in  den  eigent- 
lichen Handwerkspriameln.  Der  ideale  Goldschmied  soll  Feingold 
aus  rohem  Kupfer,  der  Töpfer  Krüge  aus  Roh-Erde  machen,  die 
von  selbst  zum  Brunnen  liefen:  der  Botschmied  gießt  all  seine 
Arbeiten  aus  Pech,  die  Schneidersdirne  spinnt  gute  Seide  aus  Bast, 
der  Schuster  macht  Leder  aus  Papier,  seine  Frau  den  Drat  aus 
Heu,  der  Weber  webt  sein  Tuch  aus  Binsen,  dem  Bauern  tragen 
die  Felder  ungeackert.  An  den  Aufschneidereien  der  Ärzte  er- 
götzten sich  Fastnachtsspiel ^j  und  Spruchdichtung ^):  In  Bosen- 
plöts  Priameln  begegnet  einmal  der  Doktor  Eisenbart,  aber  noch 
harmlos  und  anständig,  nicht  in  der  grotesken  Karikatur  Folzens^). 
Sonst  müssen  Karthäuser,  Juden  und  Nonnen  die  Kosten  des 
primitiven  ironischen  Witzes  tragen.  Den  Wortwitz®)  liebt  er 
nicht;  einmal  spielt  er  mit  dem  Scheltwort  Schwengel,  ein  andermal 
mit  dem  Doppelsinn  der  kifierbes.  Die  gewöhnlichste  Art  des 
Witzes,  der  in  Boscnplüts  Priaraeln  waltet,  ist  mit  der  Vorliebe 
für  die  Antithese  gegeben.  Es  wirkt  komisch,  Abtötung  und 
Gebet  auf  Fastnacht  zu  verschieben,  Zerknirschung,  Beue  und  Leid 
beim  Tanz  mit  schönen  Frauen  zu  erwecken,  im  Weinhaus  beim 
Spiel  zu  beten  und  seine  ,Zucht  zu  sparen^,  bis  man  betrunken  ist. 
Es  ist  in  der  halb  automatischen  Entstehung  des  Stegreif- 
gedichts begründet,  daß  die  Zuspitzung  der  Schlußpointe  nicht 
Selbstzweck')^  nicht  die  Hauptsache  sein  kann.  Bisweilen  ist 
sogar  die  Pointe  äußerst  schwach,   z.  B.  in  dem  Spruch:    , Welch 


^)  Baader  S.  101.  Übrigens  arbeitet  auch  der  Humor  der  Bezepte 
mit  Motiven  der  Lügendichtung.  Hundert  Priameln  23,  6(>,Fsp.  1201,  Z.  6. 
Müller-Fraureuth  S.  23. 

3)  Hundert  Priameln  Nr.  18. 

3)  Keller  No.  1.     *)  Keller  No.  13. 

»)QF  77,52.    Heinzel  WSB  134,  55ff. 

«)  Fsp.  1197. 

7)  Keller  No.  28.    Müller-Fraureuth  S.  13 f. 

8)  R.  M.  Meyer  in  den  Neuen  Jahrbüchern  1903,  3. 

*)  A  D  B  29,  227 :  „Die  Zuspitzung  der  Schlußpointe  ist  nicht  gerade 
Bs.  Stärke,  ist  ihm  auch  nie  Selhstzwek:  doch  ist  ihm  manches  hübsch  ge- 
lungen^.   Das  dann  folgende  Beispiel  versagt;  s.  oben  S.  531. 


575 


man  seim  elichen  weib  ist  veint.'  Seine  gelungensten  Schlüs&e 
sind  zweiteilig  und  enthalten  wieder  einen  aDtithetisch  oder 
wenigstens  mit  komischer  Limitation  ausgedrückten  Gedanken. 
Der  Schelm  der  huraoristisch-apologischen  Gnome*)  guckt  gern 
am  Ende  hervor.  Zu  den  besten  der  Art  gehört  das  Priamel 
,Wol  essen  und  trinken  nach  aller  begier/  das  hauptsächlich  wieder 
die  leidige  Wirklichkeit  mit  dem  Ideal  kontrastiert,  um  dann  zu 
schließen: 

Wenn  die  ding  den  menschen  heilig  machen, 

So  vint  man  mangen,  der  zu  himel  fert, 

Im  hab  dann  got  niendert  kein  glück  beschert. 

Ein  andermal  schildert  er  einen  ganz  armen  Teufel,  der  den 
Ärzten  mit  ihren  Affensalben  verfallen  ist,  einem  Zöllner,  dem  er 
den  Zoll  unterschlagen,  in  die  Hände  gerät,  der  von  mahnenden 
Juden,  bannenden  Pfaffen,  Erpressungen  eines  Bäubers  und  dem 
Zank  eines  bösen  Weibes  gequält  wird  und  endigt: 

Wer  dem  dazu  eines  pösen  jars  gan, 

Der  tet  gar  nahend  ein  teglich  sUnd  daran. 

Ähnlich  schließt  er,  nachdem  alle  Zeichen  einer  robusten 
Gesundheit  aufgezählt  sind:  ein  Mann,  der  dies  alles  hat,  soll 
niemand  klagen,  daß  er  krank  sei.  Oder  wenn  er  realistische 
Züge  einer  unglaublichen  Faulheit  vorgeführt  hat,  heißt  es  am 
Schluß: 

Ich  mein,  ich  lUgc,  hieß  ich  den  ein  reschen. 

Noch  besser  gelingt  ihm  mit  solchen  Mitteln  die  Charakte- 
risierung eines  Typus,  wie  ihn  Gottfried  Keller  in  den  ge- 
rechten Kammachern  gezeichnet  hat: 

Die  siben  wolt  ich  auch  lieber  peieinander  finden, 
Dann  ein  metzler  an  einer  altn  ku  sen  schinden 

oder 

Dann  ein  sneider  an  einer  alten  hosen  nen. 

Die  Subjektivität  Bosenplüts  tritt  nicht  nur  in  unpersön- 
lichem Humor  zu  Tage,  sondern  der  Dichter  erscheint  in  seinen 
Versen  anch  selbst  ganz  ohne  Scheu  vor  dem  Publikum^);  wie 
er  andre  mitnimmt,  so  hat  er  sich  auch  selbst  zum  besten. 
Launig  bekennt  er,  er  schlafe  Nachts  gern  auf  weichem  Bett,  tue 


^)  WachBmuth,  Geschichte  deutscher  Nationalität  1,  143 f. 

»)  Hundert  Priameln  25,  14.  22.  8.   Keller  34,  .14.  13, .8.  25, 10.  .51, 14. 


576 


sich  gfitlich,  bete  selten  und  fluche  oft,  meide  die  Kirche  und 
suche  das  Weinhaus  ^).  In  der  Tat,  bittere  Satire  stünde  ihm 
übel  zu  Oesicht.  So  kecker  Satire,  wie  Scherers  Beim  aufs 
Konstanzer  Konzil  übt,  war  er  doch  nicht  fähig. 

Beitzenstein  hat  gezeigt,  daß  wie  das  Skolion  so  auch  die 
Elegie  und  das  Epigramm  fürs  Gelage  bestimmt  waren  ^).  Nicht 
anders  das  Priamel;  Stegreifdichtung  und  Priamelrede  setzen 
Geselligkeit,  Unterhaltungs-  und  Belehrungsbedürfnis ^)  voraus. 
Die  Priamelsprüche  des  von  Peter  Wetzel  abgeschriebenen 
Büchleins  tragen  die  Überschrift: 

Hierin  vindt  ainer  mangen  guten  schwangk, 
Lustig  ze  hören  bei  dem  weintrank  ^). 

Ähnlich  der  Mainzer  Druck: 

Hierin  in  diesem  bUchleyn 
Findt  mann  vil  guter  reymen  feyn, 
Manchen  seltsam  guten  schwanck, 
Lustig  zu  hören  bey  dem  weinßtranck. 

Früh  nimmt  der  eigentliche  Träger  der  Stegreif-  und  Gelegen- 
heitsdichtung, der  Sprecher,  der  Freihart,  der  Fahrende  die  klassische 
Priamelpoesie  in  sein  Bepertoir  auf  und  verbrämt  sie  mit  seinen 
oft  nicht  feinen  Einfällen.  Ist  er  geschmäht,  gestoßen  und  ge- 
prügelt, so  rächt  er  sich  mit  Witzen,  indem  er  etwa  seine  Zuhörer 
Schälke   und   Lecker   nennt   und   sie    mit   geistreichseinsollenden 


^)  Hundert  Priameln  No.  26,  13.  Natürlich  hat  man  die  Einschränkung 
izn  machen:  „Der  Dichter  erlebt  den  Inhalt  der  Dichtung  als  Dichter^  d.  h. 
als  ideelle  Persönlichkeit,  nicht  als  dieser  bestimmte  Mensch,  sondern  als 
deeller  Repräsentant  des  Menschen.  Sein  etwaiges  wirkliches  Erleben  ist 
hierfür  nur  Vorbild''.  Lipps,  Komik  und  Humor  S.  244.  Weil  Marc 
Monnier  S.  197  f.  nicht  daran  gedacht  hat,  hält  erBosenplüt  wegen  seiner 
Weingrüße  für  einen  tüchtigen  Trinker;  „sein  Zeitgenosse  Lorenz o  der 
Prächtige  hätte  ihn  unter  die  Zahl  der  beani  aufgenommen". 

')  Epigramm  und  Skolion.    Gießen  1893. 

*)  Vergl.  Jahrbuch  für  nd.  Sprachforschung  10,  54.  Wunderliche  Zu- 
sammenhänge mit  einer  spezifischen  Gattung  von  Schmähgedichten  konstruirte 
Wendeler  De  Preambulis  S.  46  „Haec  quidem  carmina  contumeliis  impleta 
.  .  .  yagis  Ulis  causam  (!)  praeambula  componendi  fuisse  Tidentur**. 

^)  Keller,  Alte  gute  Schwanke^  S.  15.  Im  Kuhländchen  heißen  die 
weltlichen  Volkslieder  Sticheleien  und  Schwanke,  Hoke  onn  Schnoke.  Meinert 
S.  IX.    D  W  B  9,  2245. 


577 


Unanständigkeiten  regaliert^).  Ein  Holzschnitt  zur  Freiharts- 
predigt  stellt  eine  Wirtshausszene  dar^).  Auch  im  Exemplar« 
des  Sprechers  Kebitz  sind  Priamel  enthalten^).  Aus  der 
Donaueschinger  Priamelrede  kann  man  sich  jetzt  vom  Einzel- 
vortrag des  Sprechers  eine  Vorstellung  machen.  Von  der  Mischung 
geistlicher  und  weltlicher  Spruchdichtung  dieser  Art  lieferte  die 
Donaueschinger  Hs.  0  ein  Bild^).  Besonders  zur  Einleitung  und 
zum  Beschluß  der  Spruchbticher  steuerten  wohl  Sprecher,  Schreiber, 
Leser  und  Benutzer  bei.  Meistens  sind  es  Bettel-  oder  Heische- 
sprüche und  Entschuldigungen.  So  schließt  eine  Münchener  Samm- 
lung des  Cgm  713  mit  einem  volksmäßigen  Spruch: 

Ach  got,  durch  dein  gute, 

Bescher  mir  kappen  und  hüte, 

Mentel  und  rock, 

Zigen  und  pock, 

Schaf  und  rinder, 

Und  ein  schone  frawen  on  kinder^). 

Bettelspruchartig  klingen  Verse  der  Leipziger  Hs.  L  (Bl.  13  b 

''  Kom  spot  ader  fru. 

Gib  gleich,  zcech  zu: 
Dy  rede  gefeUet  mir  wol: 
Pait  pis  ich  auch  werde  vol, 
Spat  kam,  sere  tranck, 
Beczal  mit  ,hab  ymmer  danck.' 

Der  Schreiber  erwähnt  sich  in  einem  ,Spruch  von  dissen  Puch' 
(E  405b):  __.     .         ^  ,         ^     y.  -, 

Wer  das  puch  lesen  oder  hören  wil, 

Der  nem  jm  des  ein  messigs  zil 

Vnd  pesser  sich  des  guten  in  seinem  herczen 

Vnd  hör  das  pöß  mit  großem  schmerczen; 

Wann  vil  vnnutzer  wort  darynn  steen, 

Pit  euch  der  Schreiber:   das  lat  für  äugen  geen. 


0  Die  bei  Wendeler  S.  46  f.  und  wieder  bei  Uhl  S.  95  f.  gedruckten 
Verse  sind  ganz  in  Ordnung;  ein  ,carmen  valde  depravatum'  ist  es  nicht, 
und  Vers  3  heißt  eben  nur:  mihi  antea  abeundum  est  cacandi  causa.  Vergl. 
oben  III  S.  66. 

2)  Wendeler  beschreibt  ihn  S.  47 ff.        3)  MSB  1891  S.  674. 

*)  Vergl.  die  Überschriften  in  C  bei  Keller  Fsp.  1166  (Wendeler  S.  49) 
und  F  G  bei  Uhl  S.  93. 

5)  K  24  b.  Vergl.  Bartsch,  Katalog  der  altdeutschen  Handschriften 
zu  Heidelberg  I  S.  8.    Uhl  S.  310. 

Euling,  Priamel  37 


578 

Ähnlichen  Zweck  mochte  der  vielleicht  von  Bosenplüt  selbst 
herrührende  Vers  haben: 

O  werlt,  dein  nam  heist  Spothilt. 

Mein  hertz  dich  lobt,  mein  zung  dich  schilt. 

Noch  wolt  ich  gern  sehen  den  man, 

Der  aller  werlt  recht  künde  tan  ^). 

Doch  denk  ich  sein  noch  ungeporn. 

Wer  herten  stahel  mit  plei  wölt  porn^). 

Das  gieng  vil  mid  vil  rechter  zu, 

Dann  das  er  aller  werlt  recht  tu^). 

Die  Wirkung,  die  Bosenplüts  Priamelpoesie  auf  spätere 
Literatur  ausgeübt  hat,  darstellen  hieße  die  vollständige  Geschichte 
des  Priamels  schreiben.  Das  kann  hier  schon  aus  dem  von 
Schönbach  (Gesammelte  Aufsätze  S.  VIII)  angedeuteten  Grunde 
nicht  geleistet  werden.  Nur  einige  Hauptgesichtspunkte  lassen 
sich  vorläufig  herausgreifen.  Von  Anfang  an  verbreiteten  sich 
neben  größeren  Sammlungen,  die  jetzt  einmal  ausscheiden  sollen, 
Einzelsprüche.  Der  Weg,  den  diese  durch  die  volkstümliche 
Literatur  genommen  haben,  ist  äußerst  verschlungen  und  unbe- 
rechenbar. Bald  tauchen  sie  in  den  verschiedenartigsten  Hand- 
schriften, bald  als  Füllsel  in  Tischzuchten  ^),  bald  als  parodistische 
Zusätze  zum  Liebeslied  ^)  auf,  natürlich  dann  auch  in  freierer 
Umformung;  z.  B. 

Harpen,  Gygen,  Lutenschlagen, 
Vnde  thoschneden  Scho  andragen, 
Mangerley  Varue  an  Kledern  vnd  Gewände, 
Dat  men  ehrtydes  heeldt  vor  schände, 
Vnd  Houart  dryuen  mit  mannigem  geberde, 
Haar  st6ten  dat  ydt  kruß  werde, 
Vnd  des  Nachtes  up  der  Straten  heueren, 
Ock  dantzen,  stecken  vnd  turneren, 
Dat  alles  schüth  men  vmme  de  zarten, 
De  stedes  op  sftlcke  Narren  warten. 


1)  Freidank  106,  18.        ^)  Renner  16167. 

^  C  157b.   D  300.   E  396a.    K  24a. 

*)  Y&tgL  The  tyme  (estate)  präsente  of  man  im  Debat  and  stryfe  bet- 
wene  Somer  and  wynter  bei  Hazlitt,  Bemains  3,  40. 

^)  Nd.  Volkslieder,  Gesammelt  und  hg.  vom  Verein  für  nd.  Sprach- 
forschung I  46.    Nd.  Jb.  26,  28. 


579 

Ein  Orgel,  Klocke  vnd  Wullenbagen, 

Vnde  böse  Kinder  vngetagen, 

Rin  Hoer,  eines  Stockfisches  Lyff, 

Ein  Nöthboem  vnd  ein  vuel  Wyflf, 

Ein  Esel  de  nicht  mehr  Secke  kan  dragen: 

De  Negen  dohn  weinich  vngeschlagen. 

Welchen  Weg  diese  einfache  vom  improvisierten  Genrebild 
zur  Charakteristik  hinstrebende  Volkskanst  einschlägt,  indem  sie 
mehr  und  mehr  literarischen  Anstrich  zu  gewinnen  sucht,  zeigt 
ein  Spruch  von  Niklas  Wolgemut^).  Mit  erstaunlicher  Naivität 
hat  der  Volksdichter  aus  dem  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  Bosen- 
plüt  und  einen  älteren  Spruch^)  von  dem  Hurübel  geplündert, 
um  flott  und  geschickt  die  Liebesnarren  zu  schildern.  Den  An- 
fang macht  Bosenplüts  Priamel  vom  bösen  Hausgesind;  dann 
wird  einfach  angeknüpft: 

D  och  ist  noch  eine  schlimmre  Qual  u.  s.  w. 

Durch  Kiederdeutschland  bis  in  die  Niederlande  verbreiteten 
sich  Bosenplüts  Sprüche.  Am  häufigsten  sind  sie  in  gnomischer 
Volksliteratur  Mittel-  und  Süddeutschlands.  Im  Hausflur  eines 
Bauernhauses  zu  Ohrnbach  im  Ansbachschen  steht  noch: 

Wer  einen  Leib  hat  nicht  zu  schwer, 

Und  eine  Tasch,  die  nie  wird  leer, 

Und  ein  Haus,  das  voll  Nahrung  staht, 

Und  darin  fromme  Ehehalten  hat, 

Und  melke  KUh  und  fette  Schwein 

Und  fromme  Knecht,  die  gern  gehorsam  sein, 

Und  einen  Hund  nachts  auf  der  Hut, 

Und  ein  Weih,  die  allezeit  ist  gut. 

Und  auch  in  Ehren  steht: 

Der  Mann  hat  ein  gut  Hausgeräth^). 


")  Des  Knaben  Wunderhorn  2.  Heidelberg  1808.  S.  62  ff.  Birlinger 
und  Grecelius  hahen  nnr  das  Priamel  des  Anfangs  wieder  drucken  lassen 
(2,488),  da  sie,  ebensowenig  wie  ich,  des  alten  Druckes  habhaft  werden 
konnten.    In  preußischen  Bibliotheken  befindet  er  sich  nicht. 

^  Germania  21,  205  ff.  Das  Verhältnis  des  NiclasWolgemut  zu 
dem  älteren  Spruch  hat  Baechtold  nicht  erkannt;  den  alten  Druck  zitiert 
er  nur  nach  Well  er.  Den  Herausgebern  des  Wunderhorns  ist  es  ebenso 
ergangen. 

8}  Falck,  Art  und  Unart  S.  42. 

87  • 


580 


Schließlich  muß  sich  das  Hütepriamel  noch  gefallen  lassen 
von  Reichardt  parodistisch  komponiert  zu  werden^).  Nicolai- 
Reichardt  haben  3  Strophen  zu  je  4  Zeilen  geschieden. 


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Nachdem  dann  wissenschaftliche  Beschäftigung  die  Aufmerk- 
samkeit wieder  auf  den  Volksspruch  gelenkt  hatte,  erscheint  er 
immer  häufiger  z.  B.  in  Nieritzens  Volkskalendern,  Scheibles 
Kloster,  Wanders,  Falcks,  Limbachs  und  vieler  Anderer 
Sammlungen.  Die  Wiederentdeckung  Nürnbergs  ist  endlich 
auch  dem  Priamel  zu  gute  gekommen.  Wie  heute  niemand  mehr 
an  den  köstlichen  Brünnlein,  an  Labenwolfs  Gänsemännlein  oder 
am  Schönen  Brunnen,  am  Sakraments-Häuschen  von  St.  Lorenz 
oder  an  der  sogenanten  Nürnberger  Madonna  ohne  Bewunderung 
vorübergeht,  so  verdient  auch  der  Rosenplütsche  Priamelspruch 
seineu  Platz  unter  den  merkwürdigsten  Schätzen  literarischer 
Kleinkunst.     Das  mit  abstrakt  ästhetischer  Kritik  dem  literarischen 


')  Nicolais  Almanach  I  56.  Nr.  YL     Friedl&nder,   Das   deutsche 
Lied  im  18.  Jh.  I  1,  236. 


-581 

snob*)  zu  beweisen,  lohnt  nicht;  „ist  es  doch  im  Grunde**,  wie 
Gottfried  Keller  meint,  „eine  trübselige  Sache,  den  Leuten  zu 
sagen,  was  gut  ist,  wenn  sie  es  nicht  selbst  einsehen*^.  In  einer 
Gattung,  deren  Devise  Jean  Pauls  ,yive  labagatelle*  bleibt,  er- 
wartet kein  Verständiger  etwa  Schwung,  Größe  und  Erhabenheit. 

Könnt  in  einem  Sprüchlein  Raum  sein, 
Weltprobleme  zu  erledigen? 
Ein  Spasierstock  will  kein  Baum  sein, 
Ein  Stoßseufzer  nicht  predigen. 

Trotzdem  gibt  es  in  dieser  Kleinkunst  Erscheinungen,  deren 
Reichtum  und  Bedeutsamkeit  überraschen:  eine  ganze  kleine  Welt 
in  den  engen  Bahmen  eines  Gedichtchens  von  wenigen  Versen 
gespannt  und  gefaßt  in  den  Zauber  echter  Poesie,  üie  von 
Oldenberg  unübertrefflich  charakterisierten  indischen  Vierzeilen, 
die  Sapta9atakam  des  Häla,  das  Schnaderhüpfel,  die  Frottolc,  die 
Villotte,  das  Bitornell,  das  griechische  Epigramm,  das  Skolion, 
das  internationale  Sonett,  sie  alle  legen  Zeugnis  davon  ab,  wie 
sich  „ein  äußerst  einfacher  Gegenstand  zu  einem  unendlichen 
erweitern"  kann.  Kommt  höchste  Freiheit  und  eine  in  einem 
großen  Individuum  gereifte  geistige  und  sittliche  Kultur  hinzu, 
so  ist  die  ideale  Höhe  Go ethischer  Spruchdichtuug  erreicht^). 
Allerdings  ein  weiter  Weg  von  Bosenplüts  Improvisationen  bis 
zur  weltumfassenden  Poesie  eines  Goethe.  Aber  wenn  es  wahr  ist, 
daß  es  nur  darauf  ankommt,,  ob  Jeder  seinen  Zustand  ergreift  und 
ihn  entsprechend  behandelt,  dann  hat  auch  der  Nürnberger  Meister 
seinen  dichterischen  Beruf  erfüllt.  Auch  er  ergreift  mit  schlichter 
künstlerischer  Ehrlichkeit  seinen  Zustand  und  seine  Welt.  Sie 
ist  nicht  etwa  die  Amarus^),  nicht  voll  Glanz  und  Schönheit, 
sondern  bald  mit  liebevoller  Hingabe,  bald  mit  fantastischem  Witz 
und  Humor  gestaltetes  wahrhaftes  altdeutsches  Nürnberger  Leben 
des  15.  Jahrhunderts. 

Auch  Bosenplüt  beweist  für  Hans  Thomas  Wort:  ^Die 
Kunst  kann  sehr  wohl  national,  auch  provinziell,  sowie  ganz  indi- 
viduell,   und  kann   doch  dabei  recht  allgemein  menschlich  sein*^. 


^)  Taine  fand  ja  Goethes  Stil  langweilig,  manche  Leute  die  Briefe 
der  Frau  Aja  trivial. 

^)  von  Loeper,  Werke  (Hempel)  19 S  10. 

^)  Oldenberg,  Die  Literatur  des  alten  Indien  S.  227f,v 


582 

Die  praktische  ^)  Bestimmung  eines  Teils  dieser  Oedichtchen  stört 
ebensowenig  wie  etwa  der  Umstand,  daß  die  herrlichen  Werke 
der  Erzplastik  in  der  Innsbrucker  Hofkirche  zum  Einstecken  von 
Kerzen  .bestimmt  waren.  Das  Individuelle  in  Bosenplüts 
Priamelpoesie,  seine  dichterische  Originalität  ist  nicht  gering. 
Es  gab  ja  Vortreffliches  derart;  davon  kannte  er  wohl  nur  das 
Landläufige.  Minnegesang  und  Meistersang  ignoriert  er,  er  kennt 
Burchiello  nicht,  er  versteht  Deschamps  nicht,  er  hat  Petrarca 
nicht  gelesen,  nordische  Skaldenpoesie  gibt  es  für  ihn  nicht.  Er 
schafft  aus  sich  heraus,  aus  ganz  individuellen  Verhältnissen,  aber 
ganz  aus  dem  Oenins  der  Form,  Oeist,  Naivität  und  Sinnlichkeit 
in  seinen  besten  Stücken  vereinend.  Eigentliche  Volkspoesie  sind 
natürlich  Bosenplüts  Priamel  ebenso  wenig  wie  die  Oedichte 
von  Pran9ois  Villen^). 

Wollten  wir  endlich  diese  Poesie  unter  dem  verlockenden 
Gesichtspunkt  eines  Kapitels  nationaler  Ethik  betrachten,  so  wäre 
zunächst  darauf  hinzuweisen,  daß  sie  doch  nur  einen  unselbständigen 
Ausschnitt  aus  Bosenplüts  Didaktik  darstellt,  und  dann,  daß  wir 
von  einer  historischen  Beurteilung  dieser  ganzen  Zeit  noch  weit 
entfernt  sind.  Eine  individuelle  Ethik  scheint  hier  erst  aus  der 
nationalen  und  konventionellen  heraus  sich  zu  entwickeln,  noch 
vielfach  unklar  und  tastend.  Den  heute  so  beliebten  lärmenden 
Streit  über  die  Sittlichkeit  historischer  Epochen  muß  man  schlicht 
ablehnen;  für  das  ausgehende  Mittelalter  kann  nur  eine  wahrhaft 
wissenschaftliche  Volkskunde  diejenige  Entscheidung  geben,  die 
leider  bei  fast  allen  Historikern  dieser  und  der  Beformationszeit 
regelmäßig  im  voraus  feststeht. 

Eine  individuelle  Sittlichkeit  Bosenplüts  zu  konstruieren 
und  nach  irgend  einem  modernen  absoluten  oder  relativen  Maß- 
stabe zu  messen,  ist  müssiges  Beginnen:  die  gab  es  in  Wirklich- 
keit wohl  noch  nicht.  Wie  bürgerliche  und  kirchliche  Moral  meist 
noch  zusammenfielen  und  sich  entscheidend  von  der  heutigen  ent- 
fernen, haben  an  krassen  Beispielen  Petit  de  Juleville  und 
Gaston  Paris  gezeigt.     Stoffe  und  Ädöologie  beweisen  in  diesem 


')  Über  außer&sthetische  praktische  Zwecke  in  der  Kunst  Hirn,  Der 
Ursprung  der  Kunst.  Leipzig  1904.  S.  8ff.  Spitzer,  Hettners  kunst- 
philosophische Anfänge  1,  158  ff. 

>)  Gaston  Paris  S.  49.